Ich nahm den unangenehm stechenden Geruch des Benzins nur noch entfernt wahr, die dröhnenden Kopfschmerzen vernebelten meine Wahrnehmungen.
- Was tu ich hier?
- Das was ich schon immer tun wollte, verdammt.
Auch der innere Dialog zwischen meinem Gewissen und all den Aggressionen wurde immer leiser, war inzwischen nur noch ein kaum existierendes Flüstern.
Letztendlich waren da nur noch ich und meine Gefühle. Und der soeben geöffnete Kanister voller Benzin. Ich konnte nicht sagen, wie lange ich ihn ohne einen klaren Gedanken fassen zu können anstarrte, vielleicht waren es nur ein paar Sekunden, mir kam es jedoch vor wie eine Ewigkeit.
Das was ich schon immer tun wollte, verdammt.
Ich hatte zu lange nichts getan. Hatte zusehen müssen wie geliebte Menschen aus meinem Leben verschwanden, manchmal war die Distanz schleichend gekommen, manchmal auf einen Schlag, ohne eine richtige Chance um sich zu verabschieden.
Ich wand meinen Blick dem Benzinkanister ab und ließ ihn über das düstere Zimmer schweifen.
Es war ein großer, schlicht gehaltener Raum, früher einmal regelmäßig als Wohnzimmer benutzt, jetzt hielt ich mich so wenig wie möglich darin auf, da mich schlichtweg zu viel an irgendetwas Vergangenes erinnerte, immer hin hatte ich hier bis jetzt mein ganzes Leben verbracht.
Da war der dunkelgrüne Ledersessel in der Ecke am Fenster, in dem früher immer meine Mutter gesessen und Schallplatten gehört oder einfach nur nachgedacht hatte (wahrscheinlich über meinen Vater, den ich nie kennen gelernt hatte).
Und natürlich der Kamin aus eckigen Steinen in allen erdenkbaren Graunuancen. Hier hatten mein älterer Bruder und ich eine Zeit lang jede Nacht vor Weihnachten verbracht und mit dieser kindlichen Neugier auf den Weihnachtsmann gewartet, wie er durch den Kamin kam und unsere Geschenke brachte. Natürlich wurden wir jedes Jahr aufs Neue enttäuscht.
Ich konnte es nicht verhindern, dass ein resigniertes Lächeln über mein Gesicht huschte, obwohl mir wirklich nicht danach zu Mute war.
-Wieso lächelst du? Das sind keine guten Erinnerungen, er lebt nicht mehr, hast du das vergessen?
Da war es wieder. Schmerz. Hass.
Aber vor allem Wut.
Ja, das waren keine guten Erinnerungen, wirklich nicht. Mein Bruder war vor einigen Jahren gestorben, unerwartet, ich hatte ihn Monate nicht gesehen…
Du willst daran nicht mehr denken. Deine Kindheit ist vorbei. Es ist Zeit, dass hier hinter dir zu lassen. Es ist Zeit diese Erinnerungen zu zerstören. Das macht dich nur kaputt. Er ist tot. Ja.
Ich betrachtete wieder den bereits geöffneten Benzinkanister in meiner Hand, nahm den beißenden Geruch war und empfand ihn das erste Mal in meinem Leben als angenehm.
Es würde all das beseitigen, die Dinge, die mich jedes Mal an eine vergangene Zeit erinnerten, die jedes Mal die Tränen hervorlockten, die ich einfach nicht mehr ertragen konnte.
Zerstöre, was dich zerstört.
, hatte er mir damals immer geraten.
Erst kippte ich das Benzin vorsichtig aus dem Kanister, es tropfte regelrecht auf den abgenutzten Holzboden, und mir gefiel was ich sah. Es würde alles weg sein, verschwinden. Nichts würde mich je wieder daran erinnern.
Dann verschüttete ich auch den Rest, entschlossen und fast sogar etwas wie Hoffnung empfindend, ich würde endlich abschließen können.
Über den hässlichen Dielenboden.
Über den alten, speckigen Sessel meiner Mutter, die sich seit dem Tod meines Bruders nicht mehr gemeldet hatte.
Über den persischen Teppich vor dem Kamin, auf dem wir beim Warten auf den Weihnachtsmann gelegentlich eigenschlafen waren.
Über das Wandregal mit all den Büchern, Kindergeschichten, Märchen.
Ein Schrei. Ich zuckte zusammen. Es brauchte ein paar Augenblicke, bis ich begriff, dass er von mir stammte. Meine Wangen waren feucht, ich weinte tatsächlich.
Aber alles würde besser werden, also machte ich weiter, verteilte das Benzin auch auf der Holztreppe, die zum ersten Stock führte, in dem sich damals unsere Kinderzimmer befanden.
Das würde reichen.
Hoffentlich.
Während ich mich durch die Benzinlachen zur Tür schleppte, suchte ich in meinen Hosentaschen nach einem Feuerzeug, fand aber nur eine halb leere Schachtel Streichhölzer, was auch vollkommen genügen würde.
Zerstöre, was dich zerstört.
Das Streichholz brannte sofort, ich hielt es noch einige Augenblicke in der Hand, bevor ich es schließlich ein paar Meter vor mir auf den Boden warf.
Die Streichholzflamme fraß das Benzin, wuchs und wuchs. Das Zimmer war nun erfüllt von hellem, angenehmem Licht, die Schatten an den Wänden wurden immer größer und beeindruckender, die Hitze wurde für mich langsam aber unerträglich.
Ich warf einen letzten Blick auf das in Flammen untergehende Zimmer, drehte ihm schließlich den Rücken zu und zog die schwere Tür hinter mir zu.
Das Feuer würde seinen Weg in unsere alten Kinderzimmer finden, da war ich mir sicher.
Es wird nichts mehr übrig sein, nichts wird mich je wieder an seinen Tod und unsere Kindheit erinnern.
Ich konnte jetzt glücklich sein. Abschließen. Neu anfangen. Vergessen.
Ich zwang mich zu einem Lächeln, es kam nicht von alleine.
Die Vergangenheit war tot.
Doch mich beschlich das Gefühl, dass noch lange nicht alles beseitigt war.
Gedanken kann man nicht anzünden.
Tag der Veröffentlichung: 15.07.2012
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