Der alte Löwenzahn hatte es satt. Nun trampelten die kleinen Elfen schon wieder auf ihm herum. Sein Stängel bog sich unter ihrem Gewicht und ein paar weitere seiner Samen fielen zu Boden. Traurig sah er ihnen hinterher und die Wut kochte in ihm hoch. Seine Geduld erreichte den Endpunkt und seine Gutmütigkeit verschwand. Das war ein Schritt zu weit von ihnen.
Er beschloss etwas dagegen zu tun. Mira hüpfte und brachte seinen Stiel dem Boden bedrohlich nahe, bevor er weiter darüber nachdenken konnte. Für eine Sekunde dachte er er würde brechen und erleichtert atmete er auf, als dies doch nicht geschah. Einige weitere Samen fielen herab und wurden vom Wind davon getragen. Traurig sah er ihnen zu, wie sie sich inmitten des Elfendorfs verteilten, dann kam ihm eine Idee und grimmige Schadenfreude stieg in ihm hoch. Sie wollten mehrere von ihm. Wenn das das war was sie wollten würden sie es bekommen. Es würde nur so von Löwenzahn wimmeln. „Das haben sie sich verdient“, dachte er sich und Widerstand dem Drang sich zu schütteln, als Lizzie sich nun zu Mira gesellte und ausgelassen anfing auf ihm herumzutanzen. Er war noch nicht bereit. Ruhig und fliesend schoss seine Wut und seine Rachegedanken in die noch übrig gebliebenen Samen. Er würde es vielleicht nicht erleben, aber sie würden kriegen was sie verdient hatten. Dann landete auch noch Ella auf ihm und mit einem letzten Ächzen brach sein Stängel und die restlichen Samen fielen gemeinsam mit seinem Kopf zu Boden. Einige wurden weggeweht und weiter in das Elfendorf getragen.
Betrübt betrachteten Mira, Lizzie und Ella den abgebrochenen Löwenzahn. Das hatten sie nicht gewollt. „Denkst ihr er ist uns böse“, fragte Ella niedergeschlagen. „Das kann er doch nicht mehr. Er ist doch tot“, erwiderte Lizzie. Mira flatterte zu seinem Kopf aus dem nun die letzte Lebensenergie verschwand. „Jetzt kann er es nicht mehr“, stellte Mira fest. „Wir sollten in Zukunft einfach vorsichtiger und rücksichtsvoller sein.“ Die andern zwei stimmten ihr mit einem Nicken zu, erwiderten aber nichts.
Wortlos erhoben sie sich in die Luft und flatterten weiter zur nächsten Blume. Trotz ihres Entschluss vorsichtiger zu sein hielten sie sich nicht daran. Gelassen schwangen sie von einer Blüte des Veilchens zur nächsten. Erst als Mira ein Blatt davon abriss flogen sie weiter. Sie erreichten ein Gänseblümchen und tanzten auf dessen Blütenblättern so lange bis alle von ihnen zu Boden gefallen waren.
Noch merkten sie nichts. Noch wirkte alles normal. Nun suchten sich die Samen des Löwenzahns einen guten Platz zum ruhen. Einen Platz an dem sie zu liegen kommen konnten. Sie breiteten sich aus und sanken in die Erde, während sich die drei Elfen zur nächsten Blume weiter bewegten.
„Die ist hübsch“, rief Ella ihren Freundinnen zu und gemeinsam landeten sie auf einer großen gelben Blume. „Wisst ihr eigentlich wie die heißt“, fragte Lizzie sie interessiert. Die anderen beiden zuckten ratlos mit den Schultern. „Die heißt Sonnenhut“, beantwortete Lizzie ihre eigene Frage und sie ließ sich in die Mitte der Blüte sinken. „Meine Mutter hat mir das erklärt.“ Mira und Ella setzten sich zu ihr. Der warme Wind strich ihnen durchs Haar, als Lizzie wieder anfing zu sprechen. „Neben unserem Haus kommen jetzt ganz viele von denen aus dem Boden.“ Mira strich mit ihren Fingern durch die feinen, braunen Härchen der Blume. „Es können aber doch nicht so viele sein. Sonst hätte euer Haus ja gar keinen Platz mehr“, erwiderte Ella. Lizzie lachte. „Es sind ganz viele. Vielleicht krieg ich auf einer von ihnen ein eigenes Zimmer.“ Die drei lachten leise und ihre fröhlichen Stimmen klangen über das ganze Feld. Unter ihnen streckten die größten Löwenzahn Samen schon ihre ersten Wurzeln aus, während sich die letzten noch auf dem Feld verteilten.
„Wart ihr heute schon bei der großen Sonnenblume“, erklang Miras helle Stimme erneut. „Nein, die ist immer so voll“, erwiderte Lizzie genervt. „Sie ist einfach beliebt“, fügte Ella hinzu. „Stimmt“, pflichtete Mira ihnen bei. „Aber wisst ihr was, ich einen noch viel schöneren Platz gefunden. Kommt!“ Sie sprang auf und flatterte dabei aufgeregt einige Millimeter in die Luft. Begeistert folgten die beiden ihrem Beispiel. Die Samen des Löwenzahns regten sich. Langsam bekamen sie Kraft und vorsichtig streckten sie ihre ersten Blätter aus der Erde und spürten zum ersten mal die warme Sommerluft.
Mira war schon ein gutes Stück weiter bis die anderen beiden bei ihr waren. Vergnügt flog sie einen Salto und landete in einer schönen großen Mohnblume. Sie war die einzige in der Umgebung und begeistert landeten sie auf dem schwarzen Stempel. „Wie hast du die denn nur gefunden“, fragte Lizzie begeistert. „Das ist doch ganz einfach. Sie ist rot“, erwiderte Mira lachend. Ella ließ sich mit dem Rücken in das schwarze Innere der Blume fallen. Ihre zarten Flügel flatterten aufgeregt links und rechts von ihr. „Das ist wunderschön.“ Verträumt sah sie die roten Blätter hinauf und in den klaren Himmel. „Oh ja. Sie ist wirklich toll und man kann hier prima herum springen.“ Mira machte es ihnen vor und voller Freude begannen sie in der Blüte auf und ab zu springen, während sie dazwischen immer wieder stückweise ihre Flügel verwendeten, um noch höher in die Luft zu gelangen und stärker wieder in der Blüte anzukommen. Die Blume wankte stark. Zu ihrem Fuß entstanden schon die ersten Knospen der Löwenzähne.
Er öffnete seine Knospe und betrachtete den armen Mohn. Er ächzte unter dem Gewicht der Elfen und sah hilfesuchend zu ihm hinunter. Mit aller Kraft wuchs er noch ein Stück hinauf, um den Mohn besser anzusehen. Er sah ihn verstehend an. Die Wut seines Vorfahren gab ihm die Stärke sich noch ein Stück weiter zu strecken. Mit einem Blick stellte er fest, dass es ihm seine Geschwister gleich getan hatten, denn nun waren wesentlich mehr Löwenzahnblüten, als noch vor wenigen Minuten zu sehen. Zufrieden streckte er seine Blütenblätter der Freiheit entgegen. Nun war seine Zeit gekommen.
Der erste Schrei erschallte. Es war in der Nähe des Elfendorfs. Das konnte er sofort feststellen. Er bedauerte nicht der erste gewesen zu sein, der zugeschlagen hatte. Erschrocken flogen die Elfen aus der Mohnblüte heraus. Dies war seine Chance. Zielsicher schnellte er vor. Eine der Elfen erwischte er sofort. Ihr Schrei wurden sofort gedämpft, als er seine Blütenblätter um sie schloss. Er quetschte das Leben aus ihr und sie wurde ruhig. Achtlos ließ er sie auf den Boden fallen und schnappte sich die nächste der Elfen, die offenbar ihrer Freundin helfen wollte und viel zu nah zu ihm hingeflogen war. Sie wehrte sich wesentlich mehr und riss ihm eines seiner Blütenblätter ab, bevor er sie vernichtet hatte. Die dritte entwischte ihm, doch zufrieden sah er zu wie einer seiner Brüder sie keine zwei Sekunden später an sich riss.
Mehrere Schrei schallten ihm entgegen und eine Gruppe Elfen schoss in seine Richtung. Leider teilten sie sich auf und so kamen nur zwei von ihnen in seine Reichweite. Nun hatte er schon Übung und die beiden Elfen waren ihm schutzlos ausgeliefert. Eine nach der anderen fiel tot zu Boden. Ihr Blut gab ihm Kraft.
Er sah sich um. Das Elfendorf war nun leicht zu erkennen. Es war der größte rote Fleck im ganzen Feld. In ihm waren die Schreie verstummt und stolz reckten seine Geschwister die Köpfe in die Luft. Zufrieden betrachteten sie einander.
Das letzte Elfenblut tropfte von einem der Löwenzahnköpfe auf den Boden und färbte alles um ihn herum rot. Zufrieden ließ die Blüte die zerquetschte Elfe fallen. Elegant streckte sie ihre blutdurchtränkten Blütenblätter der Sonne entgegen. An manchen Stellen war es schon getrocknet, doch sie war so prachtvoll wie eh und je.
Der alte Löwenzahn wäre auf seine Kinder und deren Arbeit stolz gewesen. Nun konnte er für immer in Frieden ruhen.
Bildmaterialien: Anthea Rainel
Tag der Veröffentlichung: 11.11.2021
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch allen Löwenzähnen, die sich gegen Elfen zu wehr gesetzt haben.