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Gegen 21 Uhr ist die Bar im Untergeschoss des "Astor" noch kaum besucht. Am Tresen des halbdunklen Raumes ein einzelner Gast, einsam wie ein vergessener Regenschirm, die Unterarme auf die Theke gestützt. Ein hagerer, fahlgesichtiger Mensch von etwa 60 Jahren, mit kurzgeschnittenem grauen Haarkranz am sonst kahlen Schädel. Er trägt einen dunklen, vor Jahren einmal modischen, sorgfältig gebürsteten Anzug. Über einem tadellos weißem Hemd sticht eine blaue, ein wenig grell gestreifte Krawatte hervor. "Gewiß kein Geschenk von zarter Hand - wahscheinlich Junggeselle" meditiert der Kellner, der ihn gelangweilt von der Seite mustert. Die randlose Brille hat der Gast abgenommen, seine wässrigen Augen mit den dicken Tränensäcken darunter blicken ausdrucklos auf die Parade der Flaschen des verspiegelten Regals hinter der Theke. "Ohne weibliche Begleitung und mit einem ordinären Bier vor sich" taksiert der Kellner weiter, "zweiffellos ein kleiner Angestellter, verdient sein Brot ehrlich als Verkäufer, Kassierer, Buchhalter oder Hauptsachbearbeiter. Sieht müde und deprimiert aus. Halte jede Wette, dass er spätestens nach dem dritten Bier anfängt, irgend etwas Langweiliges abzuspulen. Sein Trinkgeld wird nicht mickrig ausfallen - diese Leute geben reichlich, aus Unsicherheit oder um Weltläufigkeit vorzugeben. Werde ihm zuhören."

Ein Paar betritt den Raum, zieht sich in eine entferntere Niesche zurück. Der Herr, eine elegante Erscheinung in Begleitung einer augenscheinlich um einiges jügeren Schönheit, bestellt Champagner, während der Kellner eine Kerze auf ihrem Tisch anzündet und ein Schälchen mit Erdnüssen anbietet. Der Gast an der Theke nimmt keine Notiz von den Neuankömmlingen. Er ordert ein weiteres Bier und einen Cognac. "Der Cognac wird seinen Sermon wohl noch beschleunigen" stellt der Kellner fest, während er gekonnt den Champagner entkorkt.

"Heute war für mich ein großer Tag" beginnt der graue Gast nach einigen Minuten an den Kellner gewandt, "zumindest glaubte ich heute Morgen, dass es d e r Tag in meinem Leben werden würde". Der Barmann wirft ihm einen kurzen Blick zu und tut interessiert, während er die Schöne in ihrem schicken, großzügig ausgeschnittenen Cocktailkleid beobachtet, wie sie gerade mit kokettem Lachen ihr Glas an dem ihres Begleiters klingen läßt.
"Es war ein großer Tag, weil ich endlich die Gelehgenheit erhielt, während einer geschäftlichen Verhandlung als Dolmetscher auftreten zu können. Dabei handelte es sich nicht um irgendeine Besprechung, wie sie tagtäglich an der Tagesordnung sind. Tatsächlich standen für das Unternehmen enorm wichtige Verhandlungen an. Deshalb war ich besonders stolz. Alle die Jahre hoffte ich immer wieder, dass einmal auch für mich die Chance kommt, dass ich zeigen kann, was wirklich in mir steckt, der ich immer von allen unterschätzt wurde. Ich fühlte mich glücklich wie ein Junge, der seinen ersten Kuss bekommen hat." Er lächelt bitter und hält einen Moment inne."Sie müssen wissen. ich wuchs mit meiner älteren Schwester auf dem Land in Bayern auf. War nur auf der Dorfschule und auf dem Kleinstadtgymnasium. Mein Vater floh mit der Familie aus dem zerstörten Berlin, war Schuster und ließ mich Buchalter in der örtlichen Brauerei lernen. Er hatte vor, dass ich einmal seinen Schuhladen übernehmen sollte. Seine Einnahmen reichten fürs Nötigste. Er wollte, dass ich den später ganz groß aufziehen sollte. Vielleicht wäre ich heute glücklicher, wenn ich ihm seinen Wunschtraum erfüllt hätte..."
Die elegante Dame steht auf und greift nach ihrem Handtäschchen. Mit einem Stakkato ihrer hohen Absätze bewegt sie sich in Richtung Toilette. Der Barmann schaut ihr beim Gläser Blankreiben bewundernd nach und taxiert versonnen, nach wieviel Champagner sie sich wohl erobern ließe. Mit einem unterdrückten Seufzer wendet er sich wieder dem gewesenen Brauereibuchhalterlehrling zu und ermuntert ihn mit einem Kopfnicken, worauf dieser dankbar mit seinem Monolog fortfährt.
"Ich verdanke es meiner Mutter, dass ich fließend Schwedisch spreche. Sie hat es von meiner Geburt an mit mir gesprochen. Mein Vater, damals Requisiteur an einem Berliner Theater, schwängerte sie, die damals eine bekannte schwedische Schauspielerin war. Sie hat es niemals verwunden, dass ihr Talent auf den Misthaufen eines bayerischen Dorfes verkam. Sie hoffte insgeheim, dass ich mal Schauspieler würde. Aber sogar für eine Rolle im Schülertheater fehlte mir die Begabung. Ich verkorkste den Text, unterdrückte mühsam das Heulen und und wollte nie wieder auf eine Bühne. Aber ich pflegte immer sorgfältig die Sprache meiner Mutter, las die schwedischen Dichter von Alfhild Theresia Agrell über Vilhelm Ekelund und Lars Forssell bis Emil Zilliacus. Ich lernte Gedichte von Gunnar Ekelöf auswendig, unterrichtete Schwedisch in der Volkshochschule und schrieb auch Artikel für schwedische Zeitungen. Meine Urlaube verbrachte ich regelmäßig in Skandinavien. Sie lachen vielleicht darüber, aber diese zweite Sprache war für mich ein wertvoller Besitz, ein Schatz, der mich zu etwas Besonderem machte, das mich aus der Schar der Fußball kickenden Lausejungen und Schützenvereinsbengeln heraushob. Dennoch konnte ich aus dieser Fähigkeit keinen beruflichen Vorteil ziehen. Wer benötigt zwischen Kirchturm und Kuhstall denn schon einen Übersetzer für Schwedisch? Nach meiner Lehre fand ich Arbeit hier in der Stadt in einem großen Möbelhaus. Bedauerlicherweise hatte ich auch in meinem späteren Berufsleben nie die Chance, Schwedisch anzuwenden. Niemals, bis heute. Heute nun wurde ich für die Firma wegen meiner Sprachkenntnis sehr wichtig - für einen Tag. Und das vor allem auch nur in meiner Einbildung. Langweile ich Sie auch nicht?" Der Kellner schüttelt den Kopf, Aufmerksamkeit vorgebend stellt er unterdessen fest, dass die Schöne frisch geschminkt, anziehend und unternehmungslustig an den Tisch zurückkehrt.

"Ich liebte meinen Beruf. Menschen können oft nicht begreifen, wie befriedigend Buchhalten und Bilanzieren sein können. Wirklich! Vor deinen Augen entsteht in der Bilanz das ganze Unternehmen quasi in einem Zahlencode. Darin spiegeln sich Erfolge und Verluste, Entwicklungen und Tendenzen. Du bemerkst als erster, ob eine Angelegenheit ein Erfolg oder ein Flop wird. Und sogar die nackten Ziffern besitzen ihre eigene Magie und einen verborgenen Zauber. Weißt du, es kommt vor, dass du abends eine Differenz entdeckst. Das war für mich nie Stress. Im Gegenteil. Ich machte mich mit Vorfreude auf die Fehlersuche. Ich ging dabei vor wie ein Kriminalkommissar - pedantisch jede Spur verfolgend, bis ich - manchmal nach Stunden - den Schuldigen ermittelt hatte: eine verdrehte Zahl, einen Tippfehler oder ein verrutschtes Komma."
Der Barmann stellt für sich fest, dass ihn Ziffern gewöhnlich anöden, sofern sie sich nicht auf Banknoten befinden.
"Mein vor 5 Jahren verstorber Chef erkannte meine Fähigkeiten an. "Lars", sagte er, "Ich vertraue dir. Schade dass du nicht Mathematik studiert hast." Aber sein Herr Sohn, das junge, ach so dynamische Arschloch, ist da leider ganz anders. Ein Modernisierer, ein arroganter Besserwisser. Durchforstete das ganze Unternehmen, führte neue Prozesse und Prozeduren ein, änderte Vorschriften und Gewohnheiten. Vor allem brauchte er natürlich eine große neue Computeranlage. Diesen digitalen Tausendsassas traute er dann natürlich mehr als meinen Zahlenkolonnen. Für alles und jedes gab es nun eine neue Software - auch Buchhaltung und Bilanzerstellung wurden jetzt maschinell zusammengestrickt. Mit weniger Leuten, klar. Ich, der ich mich niemals mit diesen seelenlosen Monstern und den hinterlistigen Anwendungsprogrammen anfreunden konnte, verlor den Kampf mit der Maschine und wurde überflüssig. Ich musste ja dankbar sein, dass er mich nicht ganz feuerte, dieser furchtbare Wohl-Täter!"

Der elegante Herr bittet um die Rechnung, begleicht großzügig. Der Kellner dankt eine Spur zu unterwürfig und schaut dem Arm in Arm davon gehenden Paar neidisch nach, das den Aufzug nach oben zu den Hoteletagen nimmt. Der Mixer schaut auf die Uhr, stellt das Radio an.
"Er schob mich in das Archiv ab, wo ich nun über vergilbende Folianten regiere, die die bald einhundertjährige Geschichte des Unternehmens dokumentieren. Außerdem gebe ich die Mitarbeiterzeitung heraus, ein lobhudelndes Blatt, das keiner liest. Stell dir vor! Ich blühte auf wie ein alter Baum, der nach einem warmen Frühlingsregen nochmal knospt, als ich erfuhr, dass man mich als Übersetzer braucht. Der Junior lies mich kommen und informierte mich über die mit einem schwedischen Konzern zu führenden Verhandlungen. Dass man eine umfassende Zusammenarbeit plane und dass die Schweden unter Umständen Geld in unser Unternehmen, das sich -vertraulich gesagt - in einer etwas misslichen finanziellen Lage befindet, investieren wollten. Die Gäste würden es im übrigen vorziehen, in Schwedisch zu verhandeln. Der Verhandlungserfolg hinge also zum großen Teil von einer präzisen Übersetzung ab. Ich sollte heute um Viertel vor neun im Astor sein, wo die Gäste auch übernachten. Ich versprach enthusiastisch, mein Bestes zu tun und er könne sich voll auf mich verlassen. Was für eine Chance! Ich nährte die Hoffnung, dass ich wegen der angstrebten Zusammenarbeit auch künftig übersetzen würde und vielleicht bis zur Pensionierung als Übersetzer arbeiten würde...."
Der Aushilfsübersetzer bestellt ein weiteres Bier und noch einen Cognac, erhebt sich von seinem Barhocker und geht etwas schweren Schrittes zur Toilette. Die nun gähnend leere Bar betreten etwas geräuschvoll einige seriöse Herren in dunkelblauen Anzügen. Sie nehmen an der Bar Platz, belegen auch den Hocker des Dolmetschers für einen Tag. Dieser kehrt zurück und wählt ohne Aufhebens einen entfernteren Platz am Ende der Theke. Vergebens versucht er dem Kellner zu signalisieren, dass er ihm seinen Cognac und sein bereits abstehendes Bier an seinen neuen Platz stellen soll. Nachdem er seinen Zuhörer verloren hat, schaut er etwas hilflos auf die neuen Herren, die den Kellner jetzt voll und ganz beschäftigen. Aber er muss das noch unverdaute Erlebnis des heutigen Tages immer wieder durchkauen und die Galle loswerden, die ihm die Seele bitter macht. "Von Anfang an und bis zur Mittagspause befand ich mich ganz in meinem Element" wiederholt er für sich selbst.
"Mein Schwedisch kam flüssig und untadelig, ich war freudig bei der Sache. Es war überhaupt keine Arbeit, eher eine Lust. Zum ersten Mal genoss ich es, dass mir alle aufmerksam zuhörten was ich zusagen hatte. Jeder sah mich an, keiner ignorierte mich. In meinem Eifer gab ich nicht nur den wesentlichen Inhalt, sondern auch subtile Details der Diskussion wieder, war gar so kühn, den Stil und die Wortwahl meines Chefs zu verbessern, ohne natürlich den Sinn seiner Aussagen zu verfälschen." Langer Seufzer. Als er jetzt endlich sein Bier und seinen Cognac serviert bekommt, ergreift er die Chance, sich erneut an den Barmann zu wenden. während die drei Herren sich etwas ausgelassen in ihrer Sprache unterhalten.
"Es kam die Zeit für das gemeinsame Mittagesssen. Bornemann nahm mich zur Seite: >Sie haben sich ja heute Morgen eigentlich ganz brauchbar aus der Affäre gezogen, Schmidt. Jedenfalls haben sich die Herren nicht über Ihre Übersetzungen beschwert. Halten Sie nur ja aus heute. Am Nachmittag gehen die Gespräche in die entscheidende Phase, es gibt eine Reihe heikler Fragen des Vertrages zu klären. Bedauerlicherweise kommt unser neuer junger Mann erst nächste Woche. Studierter Übersetzer und Dolmetscher, habe ich selbst ausgewählt. Geben Sie also Ihr Bestes, morgen können Sie sich dann wieder in aller Ruhe Ihrem Archiv widmen.< Kein Wort der Anerkennung, nicht eine Silbe des Dankes! Offensichtlich hatte dieser verdammte Ignorant nicht die geringste Ahnung von der makellosen Qualität meiner Arbeit!" Die Zunge des dolmetschenden Archivars ist schon ein wenig schwer, seine Bewegungen nicht immer ganz kontrolliert, aber er hält Contenance. "...eigentlich ganz brauchbar aus der Affäre gezogen... Schwachkopf, elendiger! Studierter Dolmetscher! Vermutlich ohne praktische Erfahrung. ER SELBST hat ihn ausgewählt. Lächerlich. Das steck ich doch in die Tasche, das Jüngelchen. Ich könnte ihn nach Belieben stolpern lassen und lächerlich machen. Abgrundtiefe Enttäuschung ergriff mich und gleichzeitig erfasste mich eine unendliche, blinde Wut. Der Schlag traf mich ganz unerwartet, quasi aus dem Hinterhalt. Mein gedemütigtes Selbstwertgefühl wollte Rache. Ich verließ das Mittagessen nach der Vorspeise. Das Blut pochte immer noch in meinen Schläfen. Nach und nach reifte in mir ein einfacher, aber irrwitziger Plan. Morgens hatte man schon generelle Einigkeit darüber erzielt, dass der schwedische Konzern die erfolderlichen Geldmittel bei uns investieren würde, vorausgesetzt, dass die Schweden einen entsprechenden Einfluss auf die künftige Strategie und die Produktpalette unserer Firma bekämen. Für die verbleibenden Stunden blieben die hartnäckigen Verhandlungen über die Details, Punkte und Kommas. Außerdem würde es um die künftige Rolle und Entscheidungskompetenz Bornemanns gehen. Der wollte das Geld, aber möglichst wenig fremden Einfluss. Ist ja klar. Mir schien es so, dass ihm einige der Schweden deutlich die Schwingen stutzen und ihn ganz aus der Geschäftsführung raushaben wollten. Er schien das auch zu ahnen, trat aalglatt auf und vermied es, zu weitgehende Forderungen zu stellen. Er wusste offensichtlich, dass, wenn er den Bogen überspannen würde, er die Übereinkunft noch gefährden könnte. Also wollte ich Bornemann seine Ignoranz heimzahlen, indem ich seine Fordernungen boshaft ins Unverschämte aufblasen würde. Dass ich damit auch dem Unternehmen, den Angestellten und mir selbst schaden konnte, wischte ich in meiner dumpfen Wut beiseite.
Ich arbeitete wie geplant. Es war leicht. Ich verkaufte seine Vorschläge als Forderungen, die Antworten der Schweden verwandelte ich ab: ein "nein" gab ich als "wir müssen darüber nachdenken" wieder, "unter der Bedingung" übersetzte ich mit "das können wir uns vorstellen", "kaum" wurde zu "ja". So gaukelte ich Bornemann die Chance vor, weitergehende Vorstellungen äußern zu können, die ich dann kaltschnäuzig als Anmaßungen formulierte. So drehte sich das Karussel einige Male. Am Ende zogen sich die Schweden zu einer langen Beratung zurück." Der graue Gast trinkt aus und atmet schwer. "Um zum Schluss zu kommen: zu meiner Bestürzung akzeptierten die Schweden alles Wesentliche. Dort sitzen übrigens drei aus ihrer Delegation. Ihr Sprecher betonte, dass ihnen mehrheitlich Bornemanns forsche, manchmal etwas freche Art, die Verhandlungen zu führen, imponiert habe. Sie seien zu dem Ergebnis gelangt, dass er die richtige Person für einen Posten im künftigen Vorstand sei. Du kannst dir vorstellen, dass Bornemann nicht eine Sekunde lang bezweifelte, dass seine Klugheit und Rafinesse ihn ans Ziel geführt haben."

Der Unglückliche legt eine größere Banknote auf die Theke, rutscht von seinem Hocker, macht grußlos kehrt und bewegt sich unsicheren Schrittes zum Ausgang.

"Hat dieser Mann nicht heute bei uns gedolmetscht!", fragt einer der verbliebenen Gäste. "Sehr fähiger Mann, scheint mir. Hat die Situation bravurös gemeistert. Ich wollte ihm ein Angebot bei uns machen... aber offenbar trinkt er. Schade."


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Tag der Veröffentlichung: 18.01.2009

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