Ich habe da eine ungewöhnliche Geschichte für Dich.
Vor zwei Monaten unternahm unser fünfköpfiges Kammermusik-Ensemble eine Tournee durch mehrere Kleinstädte. Unter anderem gastierten wir auch in einigen weniger bekannten Kurorten. Wir Kollegen, allesamt Mitglieder des Sinfonieorchesters der städtischen Oper, lieben es, während der Orchesterferien durch die Provinz zu touren, und zwar nicht nur, um uns eine willkommene Nebeneinnahme zu verschaffen. Es hält uns in der nötigen Übung, außerdem vermissen wir während der Ferien bald den Applaus des Publikums, den Antrieb und Lohn für unsere Arbeit. Obwohl das Publikum in der Provinz von Ausnahmen abgesehen ja nicht so über die Maßen kompetent ist, liebt es dort die Musik doch umso unverstellter, verzeiht oder überhört kleine Patzer und spendet wirklich begeistert und verschwenderisch Beifall. Insbesondere die Patienten in den Kur- und Badeorten strömen sehr dankbar zu den Konzerten, die für sie Höhepunkte im bescheidenen kulturellen Angebot des Kurbetriebs sind.
Die Geschichte ereignete sich in einem abgeschiedenen Ort im schwärzesten Winkel des Schwarzwaldes. Wir spielten sogar an zwei Abenden dort, unfreiwillig und nur deswegen, weil der im nächsten Ort für den kommenden Tag im voraus gemietete Saal erst kürzlich bei einer Wahlkundgebung der Rechten von Linken demoliert worden und "unbespielbar" war. Dennoch wurden beide Veranstaltungen ein großer Erfolg für uns. Da machte es nichts aus, dass am zweiten Abend nicht alle Plätze verkauft worden waren. Wir spielten wirklich exzellent, der Applaus war überwältigend. Der Ort wirkte allerdings ganz und gar nicht inspirierend. Zwischen den beiden Konzerten hatten Eva und ich einen ruhigen, ja langweiligen Tag. Wir verbrachten ihn zwischen dem Kurhaus am künstlich angelegten Teich mit seinen pompösen Blumenrabatten und dem eigentlich phantasielosen Kurpark mit den typischen geraden Alleen, den vom Verkehrsverein gestifteten Parkbänken und den bemoosten Statuetten der versteinerten griechischen Heroen. Es kam uns so vor, nein, es war wirklich so, dass die dumpfen Stundenschläge der Kirchturmuhr den Zeitablauf d e h n t e n und ver l a n g s a m ten. Denn auch die Einwohner der Pensionen und der Reha-Kliniken bewegten sich, als schritten sie gemessen durch ihre eigene Vergangenheit. Hin und wieder lag ein ein Hauch von Karbol in der Luft und verfärbte den Gesang der Vögel. Ich erinnere mich, dass Eva und ich wirklich erleichtert waren, als sich der Abend näherte und wir Freundinnen uns zum Konzertsaal begaben.
Eva, meine bezaubernde Kollegin, spielt Cembalo und Piano. Wir übernachten gewöhnlich gemeinsam in einem Hotelzimmer. Sie ist eine talentierte, reife Virtuosin, die in früheren Jahren auch einige Preise gewonnen hat. Ihre Interpretationen von Bach sind bemerkenswert, die von Mozart und Grieg bravurös, aber Chopin spielt sie einfach genial und hinreißend. Sie ist noch immer eine grazile, schöne Frau. Jedes Mal verzaubert sie das Publikum und gewinnt die Herzen Aller. Sie ist unbestreitbar der hellste Stern in unserem Quintett. Es wunderte mich überhaupt nicht, als für sie am Morgen nach dem ersten Konzert in dem besagten Ort im Hotel ein Strauß dunkler roter Rosen und ein handgeschriebener Brief abgegeben wurden. Eva nimmt diese Aufmerksamkeiten durchaus nicht als selbstverständlich hin. Sie ist keine Diva, die die Huldigungen langweilen. Im Gegenteil, sie weiß jede einzelne auf das Podium geworfene Blüte zu würdigen und freut sich aufrichtig über die ihr entgegen gebrachte Wertschätzung. Wenn der Absender eine Karte oder einen Brief beigefügt hat, hält sie immer ein ganz bestimmtes Ritual ein. Sie lässt den Umschlag so lange wie möglich verschlossen, gerade so, als ob er ihr nichts bedeutete. In Wahrheit liebt sie es, noch insgeheim ein wenig zu träumen und sie versucht, sich vorzustellen, wer oder was sich wohl dahinter verbirgt. Der unverhoffte Ruf an ein weltbekanntes Orchester? Eine Einladung von einem verliebten Kavalier? Nun, Liebeserklärungen - in ihrer Jugend häufiges Beiwerk der Blumen in gereimter Form - sind heute selten. Dennoch würde es mich nicht wundern, wenn .... Eva vermag mit ihren 44 Jahren noch immer Männer in ihren Bann zu ziehen...
Heute öffnete sie den abgegebenen Brief erst, nachdem sie zu Bett gegangen war. Sie blinzelte mir zu und begann zu lesen. Ich versuche dann, die Botschaft anhand ihres Mienenspiels zu dechiffrieren. Ich bemerkte so, dass sich in ihrem Gesicht bald heitere Überraschung und Verwunderung spiegelten. "Angenehme Lektüre, ein alter Bekannter" mutmaßte ich und wandt mich meinem Roman zu. Als ich einige Minuten später ihren Blick suchte, sah ich einen gänzlich veränderten Gesichtsausdruck: ihre Lippen waren zusammen gepresst, die Wangen gerötet. Ihre unruhigen Hände verrieten eine unübersehbare innere Anspannung. Sie legte den Brief auf die Bettdecke und sah einige Minuten schweigend in die Ferne, als würde sie Erinnerungen zurück verfolgen. Ihre Züge heiterten sich nach und nach wieder etwas auf. Dennoch wagte ich es nicht, sie zu stören und wandte mich erneut meinem Gute- Nacht-Roman zu. Als sie mir wortlos den Brief zum Lesen gab, hatte sie zu einem bleichen Lächeln zurück gefunden und ihre feuchten Augen schienen Freude auszudrücken. Ich begann zu lesen.
"Liebe Eva, meine erste und schönste Liebe! Ich grüße Dich, meine unvergessene Lehrerin, die mir in meinen Jugendjahren beständig, aber vergeblich das Klavier spielen beizubringen versuchte. Ich habe nicht mehr zu hoffen gewagt, Dich noch einmal zu sehen. Du kannst Dir nicht ausmalen, welche Freude mich ergriffen hat, als ich Dein Foto auf dem Konzertplakat in unserer Klinik bemerkte. Obwohl wir uns fast 20 Jahre lang aus den Augen verloren hatten, erkannte ich Deine vertrauten Züge sofort wieder, trotz der winzigen Spuren, die die Zeit auch bei Dir darin hinterlassen hat. Sie machen Dich nur noch schöner. Auch die Tatsache, dass Du offensichtlich einen Künstlernamen angenommen hast, konnte mich nicht irre machen: Eva-Maria Hansen ist ohne Zweifel meine Eva Marten! Natürlich, Du bist meine heitere Lehrerin, die mich zwar wegen meines mangelnden Talentes nicht in das Land der Musik einführen konnte, wohl aber sehr einfühlsam, wonnevoll und unvergessen in das der Liebe. Erkennst Du nun Deinen damals kaum 17-jährigen Adepten Karel wieder? Mit den Augen verschlang ich das Plakat, welches das Unglaubliche verkündete, dass Euer Ensemble an zwei Abenden bei uns, in diesem öden Nest im Hinterwald gastieren werde. Fast zwei Tage lang würdest Du mit mir unter demselben Himmel weilen. Diese Kenntnis gab mir sogleich und nachhaltiger als die morgendliche Injektion neue Kraft, und eine Welle der Lebensfreude überwältigte mich, wie ich sie schon lange nicht mehr gefühlt habe. Und als ich gestern Nachmittag verstohlen nach dem Kleinbus mit demselben Plakat vor dem Hotel sah, da konnte ich sicher sein, dass Du ganz nah warst. Aber auch wenn ich das Fahrzeug nicht gesehen hätte, Deine Anwesenheit hätte ich doch an dem Zauber bemerkt, den Du überall zu bewirkt hast: die gläsernen Fassaden des Sanatoriums hatten ihre kerkerhafte Strenge verloren und spiegelten einen heiteren Himmel wieder, das Klinikpersonal überwand seine standardisierte Freundlichkeit und lächelte herzlich. Die Kirchturmglocken läuteten heller herüber und trieben ungeduldig die Zeit vor sich her und drängten zum Beginn des Konzertes.
Die Entfernung zwischen uns betrug vielleicht fünf, sechs Meter, denn man hatte meinen Rollstuhl bis an die erste Reihe hin geschoben. Als Du das Podium betratest, ergriff ein weher Schmerz mein Inneres, Puls und Atem spielten für Momente verrückt. Du erwidertest meinen Blick für eine Zehntelsekunde. Aber Deine Augen bemerkten nicht das Leuchten in meinen. Du hattest ja keine Chance, Deinen Geliebten wieder zu erkennen. Zu sehr hat mich die Krankheit verändert. Das Konzert begann. Die ganze Zeit sah ich nur Dich. Verzeih, aber die Musik habe ich kaum gehört. Dein Spiel hat mich sogleich wie einen Schlafwandler über die Dächer geführt, in deren Schatten unsere Erinnerungen auf Wiederbelebung warteten. Da war wieder der Moment, in dem ich mich in Dich verliebte. Weißt Du noch? Im Edekamarkt hast Du zwei Pampelmusen aus einer gerissenen Tüte verloren. Wir bückten uns gleichzeitig danach und schlugen mit unseren Köpfen geräuschvoll zusammen. Was haben wir gelacht! Mein Herz stand in Flammen. Ich habe es nicht gewagt, Dich um ein Rendezvous zu bitten, aber der heilige Valentin hatte ein Einsehen. Ich sah Dir nach und bemerkte, dass Du einen Zettel an das Info-Brett gepinnt hattest: "Klavierstunden gibt Eva Marten, Telefon..."
Meine Eltern wunderten sich über meine plötzliche Liebe zum Klavierspiel, umso mehr als ich mich bisher allen Ermunterungen meiner Mutter, ein Instrument spielen zu lernen, unaufgeschlossen gegenüber gezeigt hatte. Mutter hielt den Gesinnungswandel für ein Zeichen beginnender Reife und überredete Vater, die Unterrichtsstunden zu bezahlen. Drei Monate lang besuchte ich Dich fleißig und genoss vor allem Deine wohltuende Anwesenheit. Heldenhaft verbarg ich meine Liebe in der Krypta meines Herzens und misshandelte das elterliche Piano mit den Etüden, die Du mir zur Übung aufgetragen hattest. Es zeigten sich indessen nicht die kleinsten Fortschritte. Eines Tages erschrecktest Du mich mit der Feststellung, dass ich kein Talent hätte und Du es nicht fair fändest, meinen Eltern dafür noch länger Geld abzunehmen. Nun da mein heimliches Glück derart bedroht war, wagte ich errötend die Anspielung, dass meine Liebe nicht dem Klavier gälte und ich käme, um Dich zu sehen. Um das Geld meiner Eltern mögest Du Dir keine Sorgen machen. Dass ich meine Eltern hinterging, das würde ich gern auf mein Gewissen nehmen, wenn Du mich nicht hinaus werfen würdest. Du musstest lachen und kniffst mir in meine puderroten Wangen. Nach einigem Überlegen bemerktest Du listig zwinkernd: "Gut, wenn Du nur meine Gesellschaft suchst, warum sollen wir dann diesen beständigen Kampf gegen die Musik fortsetzen? Wäre es nicht weiser, das Studierzimmer von Zeit zu Zeit zu verlassen und etwas Angenehmeres zu unternehmen?" Ich dankte meinen lieben Eltern im Stillen für mein mäßig ausgebildetes Musiktalent, das mir nun wirkliche Rendezvous mit Dir gerade erst eröffnete. Während der Unterrichtsstunden tranken wir Kaffee, gingen spazieren oder fuhren auf einsamen Wegen Rad. Mein halbes Liebesgeständnis hatte ich noch nicht vervollständigt, aus Angst, alles zu verlieren. Ich wusste deshalb nicht, ob Du Zuneigung für mich spürtest oder ob Du Dich nur deswegen mit mir trafst, weil mein Vater pünktlich Dein Honorar überwies. Egal, das Leben war doch leicht und ich war glücklich mit dieser Situation. Du warst wirklich hinreißend. Unsere freitäglichen Nachmittage wurden mir niemals langweilig. Wenn es regnete, backten wir gemeinsam, sahen fern, lasen uns vor oder Du spieltest Klavier. Ich reparierte Dein hinfälliges Fahrrad, ich bewunderte Dich, während Du in der Unterwäsche Dein Kleid bügeltest. An einem glänzenden Sonnentag wagten wir gar ein Sonnenbad - auf einer versteckten Waldwiese und sogar gänzlich unbekleidet: Während einer Ruhepause auf einem unserer Spaziergänge legtest Du Deine Kleider ab und sagtest: "Schließ die Augen, wenn Du Angst hast zu erblinden, aber tu es mir gleich, es ist wunderbar, sich so frei zu fühlen." Dieses Erlebnis entfesselte in mir ein wahres Testosterongewitter und hinterließ ein inwendiges Chaos von Gefühlen und Sinnen. Es war mir nicht mehr möglich, an etwas anderes zu denken als daran, auf welche Art und Weise ich wohl Deine sicher jungfräuliche Tugend besiegen könnte. Während mehrerer fiebrig durchwachter Nächte erdachte und verwarf ich 100 verworrene Pläne, Dich zu verführen. Schließlich schlug ich Dir stotternd eine mehrtägige Radtour vor. Wundersamerweise versprachst Du, meiner Einladung zu einem gemeinsamen Wochenende in ein nicht zu fernes, aber dennoch abgelegenes Dorf zu folgen. Ich rief den heiligen Valentin an, er möge dafür sorgen, dass sich keiner meiner Bekannten und Verwandten sich während dieser Tage in diese dörfliche Abgeschiedenheit verirren wolle. Das Geld für die Übernachtung borgte ich mir von einem älteren Bekannten, der mir mit dem süffisanten Lächeln eines mitwissenden Komplizen den Geldumschlag überreichte und mir "ein erfolgreiches Wochenende" wünschte. Ich hätte ihn für das unbarmherzige Aufdecken meines unzüchtigen Vorhabens umbringen können.
Da ich es auch am Telefon nicht wagte, ein Doppelzimmer zu reservieren, erhielt ich folglich zwei einzelne, deren Preis meinen finanziellen Spielraum schmerzlich beschnitt. Um unseren Ausflug zu verheimlichen, bat ich Dich, wir sollten getrennt zum Gasthof radeln. Du warst einverstanden und Dein Lächeln zeigte nicht die mindeste Spur feinen Spotts. Aber würdest Du kommen? Du bist um einiges älter und reifer als ich... Als Du meinen mit rotem Kopf vorgetragenen Vorschlag annahmst, war mir so, als müsstest Du ein Lächeln unterdrücken. Würdest Du Dich über mich lustig machen? Und wenn Du kämest? Würde ich ein verstecktes Zeichen Deines Einverständnisses in Deinen Gesten finden? Und dann? Wie sollte ich Dich in mein Zimmer locken und mit welcher klugen Strategie verführen, ohne Dich zu verletzen? Trotz ununterbrochenen Nachdenkens enthüllte sich mir keine taugliche Idee. In meinem nervösen Magen keimte die Furcht, ich könnte alles verderben und Deine Zuneigung verlieren. Mann zu werden bedeutet, Eingang in ein Paradies zu suchen, das jenseits eines scheinbar unüberbrückbaren finsteren Abgrunds liegt. Dein Fahrrad war nicht fahrtüchtig. Du bist dennoch mit Deinem 2 CV gekommen, gibst mir sogleich noch durch das geöffnete Wagenfenster einen flüchtigen Kuss und zerstreust meine Zweifel durch einen zärtlichen Blick. Es folgen ein Händedruck und eine Umarmung, die für eine nur freundschaftliche Geste deutlich zu lang ist. Dass wir zwei Einzelzimmer haben werden, hast Du mit keinem Wort kommentiert. Ich darf Deinen Koffer tragen. Du bittest mich, ihn in Dein Zimmer stellen und schließest ganz selbstverständlich die Tür hinter mir. Stehend schmiegst Du Dich etwas an mich und gibst mir einen Kuss zum Dank für die Einladung, einen weiteren für die Zimmerreservierung, einen dritten für das Koffertragen. Ich erwidere keck geworden mit Küssen für Dein Kommen, für Dein Einverständnis mit dieser einfachen Herberge... und und und. Mein Erfindungsreichtum für ein rundes Dutzend weiterer Kussdanksagungen ist nicht zu bremsen... Unsere Zungen und unsere Hände beginnen sich zaghaft in das Spiel einzumischen. Verdreht und berauscht fühle ich, wie sich Dein warmer schlanker Leib leicht an mich schmiegt und kaum merklich, aber deutlich genug auf meine immer kühneren, stummen Fragen zustimmend antwortet. Nach einer Ewigkeit musst Du Luft holen und bedeutest mir, mich auf das Bett zu setzen, damit Du Deine Blusen, Hemdchen, Strümpfe, BHs und Höschen auspacken kannst. Während Du all diese delikaten Dinge ordnest, folge ich Deinen anmutigen Bewegungen und genieße das vertraute Miteinander in unserem unwohnlichen, aber sonnenhellen Einzelzimmer. Später werde ich wissen, dass dieser Tag einer der wunderbarsten in meinem Leben gewesen sein wird.
Du schließest den Schrank und der Zauber liegt noch in der Luft. Du nimmst neben mir auf dem Bett Platz und streckst Dich nach einem Moment darauf aus: "Leg Dich zurück, mein Lieber, bis zum Kaffee ist noch genug Zeit!" Ich nehme Deine Hand und mit wild galoppierendem Herzen flüstere ich, durch unsere zärtliche Vertrautheit ermutigt: "Eva...!" "Ja?" "Ich......" "Nun?" "Ich möchte Dich besuchen, ......... und heute Nacht ..... bei Dir liegen". Jetzt sterbe ich fast, bereue schon meine Kühnheit und wage es nicht, Dich anzusehen. Aber Du legst ein Ja in einen innigen Kuss, schaust mich lange an und schließest lächelnd die Augen. Welch ein Augenblick! Es ist verabredet! In meinen Arterien brennt ein Gemisch aus 20 endokrinen Substanzen, die einen noch niemals gefühlten, an Wahnsinn grenzenden Schwindel bewirken. Mein sehnlichster Wunsch wird heute Abend erfüllt werden! Wellen des Glücks und des Stolzes überstürzen sich in mir, bewirken dieses Prickeln im Bauch und - oh verdammt - auch weiter abwärts. Deine verheißungsvolle Nähe bewirkt die Auferstehung meiner noch unerprobten Männlichkeit. Ich habe reichlich Grund zu der Annahme, dass diese die Spannung nicht lange ertragen wird, und nach einer durchlittenen kleinen Ewigkeit flüstere ich Dir mit rauer Stimme ins Ohr: "Ich bitte Dich, treib die lahmende Zeit an, verscheuche die Stunden, zaubere die Nacht herbei, oder ich werde irre!" "Ich habe keine Zauberformel, um die Minuten davon fliegen zu lassen, mein lieber ungeduldiger Drängler. Aber wir können uns die Zeit mit einigen Übungen vertreiben. Ein Pianist sollte jede Gelegenheit nutzen, um die Geläufigkeit seiner Hände zu trainieren," gibst Du mit engelhafter Miene zurück - und lässt meine Hand unter Deine Bluse gleiten.
Welch eine hinreißende Premiere dieses weltweit gegebenen Lustspiels ließest Du mich erleben! Nach einer stummen Ruhepause tipptest Du mit dem Zeigefinger auf meine Nase und orakeltest sibyllinisch: "Du wirst immer ein mickriger Pianist bleiben, Karel. Aber ich spüre, dass Du das Talent für einem großen Liebhaber hast." Du lobtest meinen Eifer, aber Du fügtest auch sogleich nachsichtig hinzu, dass noch weitere gemeinsame Bemühungen notwendig werden würden, um sozusagen eine feine Abstimmung zwischen unseren Instrumenten vorzunehmen und den vollendeten Gleichklang erreichen zu können. Du warst auch sogleich selbstlos bereit, mich bei der Verbesserung meiner ansatzweise vorhandenen Fähigkeiten nach Kräften zu fördern. Es sei allerdings noch ein weiter Weg, weshalb wir keine Zeit verlieren sollten. "Übung macht den Meister," lächeltest Du ermunternd. Ich hatte keine Einwände. Im Gegenteil.
Noch oft pilgerten wir während der Wochenenden verstohlen zu unserem Dorfgasthof, der zum Versteck für unsere Liebe wurde und dessen kariert bezogene Bettstatt - nun schon im Doppelzimmer - für unsere Übungen so tauglich war. Ich nahm pflichtbewusst jede Übungsstunde wahr, umso mehr als Du, meine liebe Kursleiterin, Dich auch körperlich über den bereits erreichten Grad meiner künftigen Meisterschaft begeistert zeigtest. Öfter kommentiertest Du jetzt die Anstrengungen mit spontanen Ja?s und Oh?s. Damit ich wenigstens meine musiktheoretischen Kenntnisse nicht gänzlich vergessen sollte, flochtest Du zur Auffrischung die italienischen Satzbezeichnungen in die Unterrichtsstunden ein und fordertest mich auf, sie körperlich auf richtige Art und Weise zu übersetzen. Ich buchstabierte also italienisch nach Deinen Vorgaben, erinnerst Du Dich, Eva? "Beginne piano, Liebster, poco vivace". Oder: "Tute come sopra, Karulo! Jaaa!" Und ein wenig später: "Presto, ma con spirito bitte." Es kam auch vor, dass ich zur Belohnung da capo beginnen oder selbst ein tema con variazioni erproben durfte. Bald drängtest Du mich zum vivace, molto vivace oder auch passione. "Gut, ma non troppo, jaa!" Und, wenn nötig, hieltest Du mich an, immer con amore vorzugehen, niemals aber con forza.. Nach einem abschließenden crescendo folgt gewöhnlich ein schläfriges Intermezzo. Ich begann, das Italienische zu lieben. Während eines gemeinsamen morgendlichen Schaumbades kündigtest Du an, ich sei jetzt genügend vorbereitet, um das Examen abzulegen. Die Aufgabe würde sein, den berühmten "Bolero", dieses erotisierende Meisterstück von Maurice Ravel, in die Körpersprache zu übersetzen. Mit anderen Worten, ich hatte die Satzbezeichnungen, die Stimmung, die Harmonien und Dissonanzen, das Tempo und die Betonungen zu studieren und phantasievoll aufs karierte Laken zu übertragen. Ich hatte mich folglich während einiger Tage in das Musikstück hinein zu hören. Ich erarbeitete eine ausgefeilte Choreografie und legte gewissenhaft, kunst- und lustvoll all mein erworbenes Wissen hinein. Der Tag des Examens rückte heran. Ich war sehr aufgeregt. Du gabst mir einen aufmunternden Kuss gegen meine lampenfiebrige Nervosität. Die Musik lief an und wir vollführten den Bolero nach meiner Choreografie. Du wirst Dich erinnern, wie brillant ich Deine Prüfung bestand. Das Diplom buchstabiertest Du mir mit Küssen auf die Brust und setztest einen Knutschfleck als Sigel darunter. Champagner ließ unser Glück diese Ewigkeit bis zum Morgen dauern.
Das Leben ließ uns getrennte Wege gehen. Wir gingen auseinander, als Du dem Ruf an ein bekanntes Orchester folgtest und ich mein Auslandsstudium aufnahm. Der Abschied, der uns damals grausam vorkam, hatte auch etwas Gutes; wir gingen sehnsüchtig, traurig, mit feuchten Augen, aber als Freunde. Unsere Erinnerungen, unsere Träume und Räusche blieben uns so erhalten. Sie wurden nicht durch späteren Streit entwertet und sie widerstanden dem Dahinwelken in der tagtäglichen Rutine. Ich werde immer liebevoll..... "
Hier brach der Brief abrupt ab. Auf einem gesonderten Blatt war mit anderer Handschrift folgendes hinzu gefügt worden:
"Sehr verehrte Eva Marten, erlauben Sie, dass ich, Ingo van Bergen, Karel Jordans bester Freund und Mitpatient, dessen Brief "vervollständige". Karel kann leider weder heute Ihr zweites Konzert besuchen, noch konnte er seinen Brief an Sie beenden. Heute Morgen erlitt er einen schweren Anfall, der ihn wieder ans Bett fesselt. Seien Sie stark. Sie müssen wissen, dass er, was er Ihnen verschweigen wollte, an Lungenkrebs erkrankt ist; die Krankheit befindet sich schon in einem fortgeschrittenem Stadium. Er hat nur noch einige Monate vor sich. Wenn das für Sie ein Schock ist, sollten Sie wissen, dass das unerwartete Wiedersehen mit Ihnen letztlich Gutes für ihn mit sich brachte: Karel akzeptiert jetzt gefasst seinen bevorstehenden Tod. Bisher hat er sich immer gegen sein Schicksal aufgelehnt, er hat nicht wahrhaben wollen, dass sein Leben zu Ende gehen soll, noch bevor er es richtig gelebt hat. Viele Ideen und Vorhaben gingen ihm im Kopf herum. Als er mich bat, seinen Brief für Sie im Hotel abzugeben, sagte er: "Ich habe Sie wiedergesehen, Ingo! Mein ganzes großes Glück von damals habe ich heute Nacht nochmals erlebt. Mein baldiger Abgang wird mir nun nicht mehr so schwer fallen."
Mit Hochachtung, Ihr Ingo van B.
p.s. Bitte besuchen Sie ihn nicht. Er möchte nicht, dass Sie ihn von Nahem in seinem jetzigen Zustand sehen. Aber schreiben Sie ihm, wenn er Ihnen einmal etwas bedeutet hat."
Ich gab ihr gerührt den Brief zurück. "Ich wusste nicht, dass Du eine solch beneidenswerte Liebesbeziehung hattest. Welche Zärtlichkeit, welche Lebensfreude. Du hast Deinen Karel aber sorgsam vor mir verborgen, muss ich sagen," warf ich ihr milde vor, " genau so wie Dein Pseudonym. Aber was geht jetzt in Dir vor?"
"Ich habe nichts vor Dir verborgen, meine beste Freundin: ich habe in dieser Liebesgeschichte nicht mitgespielt, leider. Und ich war und bleibe immer Eva-Maria Hansen. Ich habe diesen Karel vorher nie gesehen, aber gestern habe ich ihn tatsächlich bemerkt. Als der Applaus anhob, sah ich einen ganz begeisterten Menschen im Rollstuhl. Während er Beifall klatschte suchte er anscheinend meinen Blick. Er sah so glücklich und dankbar aus...."
Inzwiscchen hatte Eva begonnen, einige Zeilen zu schreiben. "Willst Du behaupten, dass dieser Karel die ganze Geschichte fantasiert hat?"
"Er hat wahrscheinlich keineswegs fabuliert", fuhr sie fort, "aber offensichtlich liebte er eine andere Eva. Die zufällige Übereinstimmung der Vornamen, die Musik und die starke Erinnerung zauberten ihm seine Geliebte auf das Podium." "Der arme Kerl, welcher Selbstbetrug!" sagte ich zu ihr, "und nun hast Du die unschöne Pflicht, ihm mit klaren, aber nicht zu schroffen Worten die Augen zu öffnen. Ich beneide Dich nicht. Hoffentlich hält der Ärmste die kalte Wahrheit aus!"
"Nein, meine Liebe, ich werde meine Rolle zu Ende spielen. Ich werde antworten, wie es Eva die andere getan hätte. Und ich werde ihm die frischeste Rose zurück senden. Eva Marten, die ich gestern für ihn vertrat, würde mein Tun sicher nicht tadeln."
"Aber das bedeutet, ihn zu täuschen, ihn nicht ernst zu nehmen, ihn wie ein Kind zu behandeln", beharrte ich weiter, "er ist ein Mann und verdient es, die Wahrheit zu erfahren."
"Die Illusion hat ihn diese Zeit und seine wahrhaftige Liebe noch einmal erleben lasssen. Die >Wahrheit über mich
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2009
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