Cover

Prolog
Nur soviel vorweg: Ich war ein Zocker, und ich stecke bis zum Hals in der Scheiße. Spielschulden. 2800 Mark. Das war Mitte der Achziger viel Geld für einen arbeitslosen Jugo, und mir blieben noch genau 12 Tage, um die Kohle abzuliefern, die ich gut verwahrt bei mir trug. Sie haben richtig verstanden, es ging nicht darum, das Geld zusamen zu kratzen, es ging darum, es pünktlich abzuliefern. Schaffte ich das nicht, dann war ich meines Lebens nicht mehr sicher und wurde von einem Verrückten und seinen Helfershelfern in halb Europa gesucht. Dummerweise in der Hälfte Europas, die mir gefiel. Was jenseits des Eisernen Vorhangs lag, war nicht mein Ding.
Ich saß fest und der Frust saß tief. So tief, dass ich in den letzten Tagen sogar schon über ein Leben in Afrika nachgedacht hatte.
Zu allem Verdruss lag nun auch noch dieser bewusstlose Hippie vor mir auf dem Boden. Er brachte mich völlig durcheinander. Ich sollte ihn auch so schnell nicht wieder loswerden, und das lag in erster Line nicht an den Umständen, sondern an mir, besser gesagt in mir! Eigentlich fand ich Typen wie ihn so interessant wie eine Fliege die saubere Kloschüssel. Mit anderen Worten, Hippies, oder sagen wir besser, Späthippies, denn wir schrieben den April 1986 und nicht den Sommer ´68, waren das letzte, was mich interessierte. Und wenn mir so einer zu nahe kam, sorgte ich dafür, dass er künftig einen großen Bogen um mich machte. Dieser hier war mir sehr nahe gekommen, auch und vor allem innerlich, und ich konnte nichts dagegen machen! Aber dazu komme ich gleich. Zunächst noch ein paar Fakten über mich:
Ich war Rocker, stand auf Biken, Rocken und Zocken. Und auf Falko. Daher nannten Freunde mich Falko oder Igor, der Falke. Mein Äußeres trug einiges dazu bei, dass ich diesen Spitznamen hatte: rabenschwarzes, dichtes Haar, das über der Stirn nach vorne abstand, dazu schwarze eng stehende Augen und eine schmale Hakennase. Das alles gab mir etwas falkenhaftes. Und meine 1,80 mit der Statur eines Ringers sorgten dafür, dass ich respektvoll Falko oder Igor, der Falke genannt wurde.
Der Hippie da unten war eine ganz andere Nummer. Seine Oberschenkel glichen meinen Bizeps, und von seinen Oberarmen rede ich gar nicht erst. So weit ich das beurteilen konnte, reichte er mir bis zum Kinn. Nicht auf gleicher Augenhöhe mit mir, weder körperlich noch sonst wie. Im Gesicht trug er etwas, das in einer Woche vielleicht einmal ein Dreitagebart werden könnte. Und eine verbogene Brille mit runden Gläsern. An der rechten Wange klebte eine blutige Haarsträhne. Ein Treffer hatte genügt, um ihn nieder zu strecken. Es sah so aus, als ob er sich nicht einmal gewehrt hatte. Dann hätte er nämlich richtig Prügel bezogen. So wie ich.
"Kein ehrenhafter Kampf, Kumpel," murmelte ich vor mich hin und beugte mich über ihn, "ich hab ganz anders ausgesehen, und die Arschlöcher da draußen tragen immer noch meine Autogramme im Gesicht!"
Seine Striemchen und Fleckchen würden schnell verblassen, und zwei, spätestens drei Tage später dachte man, er wäre gestolpert und ungeschickt auf die Schnauze gefallen.
"Du bist sicher auch einer, der blöd hinfällt," flüsterte ich ihm zu, "schätze, ich muss dir beibringen, wie man hier überlebt,... und überhaupt, wie man lebt."
Ruckartig fuhr mein Kopf hoch. Ich starrte erstaunt an die
Wand. Warum quatschte ich überhaupt mit ihm? Und vor allem, was quatschte ich da? Verwundert stellte ich fest, dass eine Gefühlsregung in mir aufgekommen war, von der ich gar nicht wusste, dass ich zu ihr fähig war, jedenfalls nicht Hippiegesocks gegenüber.
'Igor, jetzt werd´ mal nicht sentimental!' rief ich mich zur langweiligen Tagesordnung zurück. Aber das Gefühl und die Tatsache, dass ich hier und jetzt so fühlte, brachten mich automatisch ins Grübeln. Wie nannte man dieses Empfinden? Am ehesten Liebe und zärtliches Mitgefühl. Einem Weichei gegenüber! Warum, Igor?
Ohne es zu wollen spürte ich dieser Empfindung nach, und das ärgerte mich. Ich musste zugeben, dass sie aus der Tiefe meiner Seele kam, und das ärgerte mich noch mehr! Da waren bildhafte Gedanken an den Klang einer seit Urzeiten nicht gespielten Saite, verrostet und verstimmt, vergessen und doch bekannt, und dieses ohnmächtige Weichei, ein Deutscher,
mehr wusste ich nicht über ihn, brachte sie in mir zum
klingen.
Wütend sprang ich auf. Jetzt war ich ohne mein Dazutun auch noch lyrisch geworden! Wer war hier eigentlich ohnmächtig? Er oder ich? Ich lief im Kreis, die Fäuste geballt und den Kopf gesenkt, als wollte ich damit durch die Wand. Ich kannte diesen Kerl noch nicht einmal, und ich hasste ihn schon! Ich wollte ihn auch nicht kennenlernen, und woher dieser Hass kam, wollte ich gar nicht wissen!
Ich wünschte ihm wirklich den Tod, und die Frage war nur, ob ich den Job erledigen musste, oder ob die Natur das übernehmen würde? Hirnblutung und tschüss!
Noch während ich dies dachte, machte ich mich lächelnd und kopfschüttelnd zugleich an die Arbeit. Mein schmutziges T-Shirt war das sauberste Stück Stoff, das ich zur Hand hatte. Ich zog das Hemd aus, tauchte es in den Wassereimer und tupfte damit vorsichtig das Blut von seinem Gesicht.
Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass ich gerade im Knast saß. Vermutlich in Al Hoceima, vielleicht auch irgendwo anders in Nordmarokko, genau wusste ich das zu diesem Zeitpunkt nicht. Heute war mein fünfter Tag hinter Gittern und gleichzeitig das Ende meiner Einzelhaft.
Nun aber der Reihe nach...

1
Ich lebte in Dortmund. Von Glücksspiel, gelegentlicher Schwarzarbeit als Fleischer und von der Stütze. Und ich lebte nicht schlecht. Bis zum 6. März 1986 jedenfalls, jenem unglückseligen Tag, an dem ich zum ersten mal in meiner zehnjährigen Karriere so richtig verzockt hatte. Über 2000 Mark. Das war damals viel Geld für einen arbeitslosen Jugo. Aber scheiß auf das Geld. Das kam und ging und war nicht das Problem. Das Problem war, dass ich meinen Meister ausgerechnet in der serbischen Schabe gefunden hatte.
Ljubi¨a Petrović, so hieß der Schädling, war schon an guten Tagen ungenießbar. Über ihn waren die unmöglichsten Geschichten im Umlauf, und wenn auch nur die Hälfte davon halbwegs stimmte... Jugoslawische Kumpel, die nach der Nachtschicht wegen der Nachbarskinder keine Ruhe fanden, ermahnten die Brut der anderen Jugofamilien mit Worten wie "Wenn ihr nicht sofort still seid, holt euch der Ljubi¨a!" Das zog. Die Vier- und Fünfjährigen liefen
heulend rein zur Mama!
Petrović war Dortmunds unbestrittener und gefürchteter Jugokönig. Ein schmächtiger Kerl von Einsfünfundsechzig, der stets einen schwarzem Anzug mit Weste, eine schmale schwarze Krawatten und ein blütenweißes Hemd trug. Sein blauschwarzes Haar war streng nach hinten zusammen gebunden. Ohne diesen Schopf wäre er als Bestatter durchgegangen, und man munkelte, dass er gelegentlich auch anonyme Beisetzungen vornahm. Wer es konnte, mied ihn, und wer mit ihm zu tun hatte, schwieg wie ein Grab. Die Dortmunder Polizei war machtlos.
Was dem König an Körpergröße fehlte, kompensierte er durch
seine Truppe: Ehemalige Bullen, Söldner und ähnliches Pack, das für ihn die Drecksarbeit machte. Sie "beschützten" die jugoslawischen Restaurants im Großraum Dortmund vor Brandstiftung, Vandalismus, Erpressungen und Schutzgeldforderungen eines anderen als Ljubi¨a Petrović selbst. Die Mannschaft für´s Grobe, unscheinbare, aber harte
Burschen, die nie in der unmittelbaren Nähe des Königs
auftauchten.
Im zwielichtigen Glanz Ihrer Majestät standen die drei Kleiderschränke mit der Glatze, Marke Zweimaleinmeter, kahl geschoren und in schwarze Anzüge eingenäht. Ljubsi¨as Elite und die einzigen Serben im Team. Sie hielten den Kontakt zur Truppe und übernahmen sehr öffentlichkeitswirksam Hol- und Bringedienst der besonderen Art. Was sie genau taten, wollte niemand wissen. Zu ihrer Arbeit nur so viel: Wenn sie irgendwo vorfuhren, bekreuzigten sich unsere Großmütterchen.
Sie fragen sich jetzt sicher, warum ich so blöd war, mich
ausgerechnet auf ein Spielchen mit dem König einzulassen.
Ganz einfach: Ich hatte keine andere Wahl!

*

Der Abend jenes 6. März war gut angelaufen. Ich saß in einer Balkangaststätte in der Nähe der Kronenburg und spielte mein Spiel, Siebzehnundvier. Wir waren ein bunt gemischter Haufen. Zwei Deutsche und ein paar Jugos: ein Mazedonier, zwei Slowenen, ein Kroate und ich, ein bosnischer Kroate. Es lief gut für mich, und ich hatte Hunger nach mehr. Auf einmal stand der blaublütige Schädling in Begleitung seiner Glatzen am Tisch.
"Играм са!" rief er mit seiner heiseren Stimme in die Runde. Die beiden Slowenen schauten sich kurz an und räumten
wortlos das Feld. Die Runde war voll, und es sah wie eine Huldigung aus, so als wollten sie dem König ihre Plätze anbieten. Dabei packten die zwei nur schlau wie sie waren die Gelegenheit beim Schopf, sich zu verdrücken, ohne den König zu verärgern. Hätten wir nur zu dritt oder viert gespielt, wäre ihnen nicht anderes übrig geblieben als brav sitzen zu bleiben. So wie der Mazedonier und der Kroate, die nicht schnell genug waren. Ich konnte mich sowieso nicht unauffällig aus der Affaire ziehen, weil ich gerade das Buch hatte. 'So´n Scheiß!' dachte ich nur.
Inzwischen wandte Ljubsi¨a sich an die erstaunten Deutschen:
"Dies ist jugoslawischer Boden, und ich spiele jetzt mit. Wenn ihr damit ein Problem habt, dann verzieht euch!"
Die beiden Deutschen, vierschrötige, muskelbepackte Malocher
kannten unseren König nicht, sonst hätten sie sein Angebot dankend angenommen. Sie beobachteten den Serben neugierig, wie er da vor dem Tisch stand und warfen sich belustigte und skeptische Blicke zu. Die hatten wirklich keine blassen Schimmer. Ljubsi¨a nahm mit königlicher Eleganz mir gegenüber Platz, und einer der Schränke schob ihm hochachtungsvoll den Stuhl zurecht. Das Gehabe des Königs und seines Gefolges war respekteinflößend, und den Deutschen verging das Grinsen. Sie rutschten unruhig auf ihren Stühlen hin und her und schauten mich verstohlen an. Ich gab mich unbekümmert und miemte den Talkmaster:
"Darf ich vorstellen ..."
"Умукни и јагма!" unterbrach er mich böse. Er wusste also, dass ich aus Jugoslawien kam, und ich fragte mich, wie das möglich war. Ob er Jugos witterte? Ich hätte genauso gut als Italiener durchgehen können: Schwarzes Haar, schwarze Augen,
ein mediterraner Typ halt. Na gut, ich überragte jeden
bekannten Italiener um eine Kopflänge.
Ljubsi¨a streifte die Deutschen mit einem verächtlichen
Blick.
"Fangen wir an!"
Die serbische Schabe hatte eine besondere Meise. Er redete, obwohl er alle jugoslawischen Sprachen und Dialekte beherrschte, nur Serbisch. Und er erwartete, dass jeder Jugo ihm auf Serbisch antwortete. Selbst eine Ansprache auf Kroatisch empfand die Landplage als Affront. Von der Schrift einmal abgesehen sind beide Sprachen sich nahezu identisch, aber eben nur nahezu und damit für die Schabe inakzeptabel.
Ich wohnte seit 1976 in Dortmund, und ich hatte mein Leben hier von Anfang an so geführt, dass ich der Schabe nicht über den Weg laufen konnte. Das hieß vor allem, die üblichen Cliquen und Orte der Jugos zu meiden, und von drei bosnischen Kroaten einmal abgesehen, die sich im Übrigen genauso verhielten wie ich, hatte ich einen rein deutschen Freundeskreis. Da besuchte ich alle Jubeljahre einmal ein jugoslawisches Restaurant, und mit dem schönen, anonymen Leben war es aus und vorbei! Die Schergen des Serben würden in Kürze alles über mich heraus gefunden haben: Wer ich war, woher ich kam, wer zu meiner Familie gehörte... einfach alles. Hätte ich diesen Laden doch nie betreten!
Ljubsi¨a unterbrach meine Gedanken:
"Како се зовеш?"
Ich sah ihm in die wässrigen, gierigen Augen. 'Nee, Alter', dachte ich, 'so leicht mache ich dir das nicht.'
"Das tut nichts zur Sache. Wenn du einen Namen brauchst,
dann nenn mich Walter."
Das Gesicht der Schabe zog sich zusammen, als hätte er in
eine Zitrone gebissen. Angewidert wandte er sich an einem der Schränke hinter ihm. Der neigte sein Ohr. Sie flüsterten. Die Schabe nickte kurz zu mir rüber, dann flüsterten sie weiter. Ich wollte gar nicht wissen, was die da ausheckten. Ich wusste nur eins: Wenn ich in dieser Nacht unbehelligt nach Hause kam, würde ich meine Sachen packen.
Den Malochern wurde es zu bunt. Einer meinte:
"Was soll der Scheiß? Dreht euren Film doch alleine!" Sie standen auf, nahmen ihre Jacken und zogen ab. Der König
strafte sie mit Ignoranz.
"Дакле, сада смо међу собом. на крају хватање на микс, 'Валтер'!" Er spie den 'Walter' regelrecht aus.
Ich gab mein Bestes, und dieser Zock ging aus folgenden Gründen als denkwürdig in die Geschichte ein: Weil ich zum ersten mal an den König geraten war, und weil der König die Situation im Lokal über Stunden nicht beherrschte.
Es war 22 Uhr. Die anderen Jugos hatten eine Stunde zuvor ihr Geld am Tisch gelassen und das Weite gesucht. Weil kein anderer einstieg, spielten wir zu zweit. Es hätte eine gemütliche und unauffällige Runde werden können, wenn die königlichen Möbelstücke nicht wie eine Garde hinter Ihrer Dekadenz gestanden und so für reichlich Aufsehen gesorgt hätten. Es war ein Bild für die Götter: Um den Tisch herum eine wachsende Zahl von Kibitzen, und zwar überwiegend Deutsche, die sich vom König der Jugos nichts sagen ließen, auf meinen Schoß eine heiße Tussi, die mir regelmäßig am Ohrläppchen züngelte und vor mir nicht nur meine 500, sondern auch gut 2100 serbische Mark. Der König hatte mächtig Federn gelassen, und er war recht schweigsam geworden. Und verstimmt. Es ging ihm längst nicht mehr um´s Geld. Es ging um seine Ehre. Keine Ahnung, was ihn mehr nervte: die Schaulustigen und die Tatsache, dass er denen nichts befehlen konnte oder die Tussi. So eine konnte er sich nur kaufen, freiwillig kam die nie auf seinen Schoß.
Angepisst war er von Anfang an gewesen, weil ich mit ihm nur Deutsch sprach. Jetzt aber war er richtig wütend. Er beugte sich in seiner ganzen Häßlichkeit über die Tischplatte und
zischte mich an:
"Неприхватљиво је да нема такав момак ради као што си ти горе обријао. ћу паузу две утакмице 'све или ништа'пре".
Die paar Jugos in der Menge flüsterten den Deutschen die Übersetzung zu. Die breitete sich wie ein Lauffeuer aus, sorgte für jede Menge Gesprächsstoff und zog noch mehr Kibitze an.
"Warum hast du damals nicht einfach 'Nein' gesagt?" wollen Sie wissen? Weil ich wie besoffen war, obwohl ich den ganzen Abend nur Cola getrunken hatte. 'Ich schröpfe den Schabe! Ich kastrier die Kakerlake! Der Bestatter kann sich einsargen lassen!' So jubilierte ich.
Deshalb antwortete ich wie aus der Pistole geschossen:
"Geht klar, Ljubi¨a. Einmal ich das Buch, einmal du."
Ljubi¨a nickte selbstgefällig.
Ich mischte. Das Fluppen der Karten war das einzige Geräusch
im Raum. Ich hielt ihm den Stapel hin. Er winkte generös ab. Ich zog eine Dame als Deckblatt, dann teilte ich aus. Eine Karte für ihn, eine für mich, die zweite für ihn. Ich schaute ihn fragend an. Er hob seine Karten an, zeigte sie seiner Garde. Dann legte er sie wieder ab und lehnte sich zurück. Er überlegte. Einer der Schränke flüsterte auf ihn ein. Ljubi¨a schüttelte den Kopf und lockte mit dem Zeigefinger. Der Schrank unterdrückte einen Schrei, schlug die Hände vor´s Gesicht und drehte sich weg, hin zu den anderen Kahlköpfen. Die stürmten fassungslos an den Tisch und schauten mir wie gebannt auf die Finger. Was für ein Theater! Was hatte der Kerl auf der Hand? Die Atmosphäre war zum Knistern gespannt. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Meine Kehle war wie zugeschnürt und staubtrocken, mein Hemd schweißnass. Ich hielt die Tussi mit der Linken, mit der Rechten, die merklich zitterte, deckte ich die dritte Karte auf und schnippste sie dem Schädling zu. Ein Bube.
'Das war´s dann wohl für ihn,' dachte ich und tat einen Seufzer der Erleichterung. 'Der hat jetzt bestimmt nicht mehr als 15 oder 16 Augen auf der Hand. Er wird passen, damit er nicht über die Wupper geht!' Die Tussi bekam einen Kuss.
"То је то добро, 'Валтер'." krächste Ljubi¨a trocken und deckte ein Ass und eine Acht auf. 21!
Betretenes Schweigen rund um den Tisch, das sich in Raunen und schließlich in ein lärmendes Tohuwabohu verwandelte: Das Volk schrie Kreuz und quer durch das Lokal. Die Glatzen lagen sich lachend und jubelnd in den Armen und beglückwünschten ihren Boss. Irgendwelche blöden Deutschen zollten dem siegreichen Unbekannten ihren Respekt. Ich saß da, als hätte ich einen Schlag mit dem Hammer bekommen. Wie konnte man so bescheuert sein und bei 19 noch eine Karte verlangen? Und das beim ersten Spiel? Hatte er einen Röntgenblick? Die Tussi gab mir einen tröstenden Kuss und drückte mich zärtlich.
Milde lächelnd blickte der König auf den ausgeflippten Mob. Er hatte seine Ehre wiedererlangt. Mit einem leichten Kopfnicken gab er dem Volk zu verstehen, dass er dessen verspätete Huldigung annahm und ihm nichts nachtrug. Er sonnte sich eine Weile in seinem Triumph, dann zeigte er auf mich. Automatisch kehrte Ruhe ein. Es folgte eine kurze Ansprache an das Volk:
"So sieht ein Verlierer aus." Das Volk nickte betreten, einige murmelten Sätze wie "Da hat er wohl recht." und "Armer Kerl!"
Ich hatte mich inzwischen gefasst. 'Scheiß Schabe!' dachte ich und schob der königlichen Kakerlake die Kohle über den Tisch.
Ljubsi¨a hob gebietend die Hand. Mit Rücksicht auf seine neuen Untergebenen überging er sogar seine Meise und zischte mit dem Charme einer Schlange auf Deutsch:
"Stop, 'Walter'! Lass es in der Mitte liegen. Darum spielen wir doch jetzt, nicht wahr? Ich hoffe, du bist noch flüssig. Sonst leih ich dir das Geld." Er grinste hämisch.
"Hör auf, Mann!" rief einer aus der Menge.
"Nein!" schnarrte die Schabe gereizt. "Dieser Mann wollte zwei Spiele spielen, also spielt er auch zwei Spiele!" Er schaute mich bohrend an.
"Nicht wahr, 'Walter'?"
Wie ich diese wässrigen Augen hasste!
Die Tussi kuschelte sich an mich und wisperte mir ins Ohr:
"Das musste du doch nicht tun, oder?"
"Doch, ich muss", flüsterte ich zurück, "er ist so was wie unser König hier in Deutschland. Wenn ich mein Wort nicht halte, dann ist das in seinen Augen ein Vertragsbruch. Schau dir die Typen hinter ihm an! Weist du, was mit mir passiert, wenn ich jetzt aussteige?"
Sie nickte und drückte mich einmal fest an sich. Dann stand sie auf.
"Ich geh mal zur Toilette."
Sie kam nicht wieder. Ich redete mir ein, dass sie keine Lust hatte, auch über den Tisch geschoben zu werden. Ljubi¨a steckte die Finger ineinander, presste die Handflächen nach außen und ließ die Gelenke knacken.
"Was ist nun, 'Walter'? Hast du genug Geld dabei?"
Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste, dass es in dem Lokal niemanden gab, der mir mal eben 2600 Mark zustecken würde, und Ljubi¨a wusste das auch.
"Ich gebe dir Kredit...", krähte er und grinste.
"... falls nötig." Er sah mich prüfend an.
"Du kennst die Regeln?"
Ich nickte. Natürlich kannte ich seine Regeln:
Regel Nr.1
Du zahlst fünf Prozent Zinsen und hast ganze drei Tage Zeit,
um reinen Tisch zu machen.
Wenn du das nicht leisten kannst, gilt für dich
Regel Nr.2
Du stotterst das Geld ab , was du dir erst recht nicht
leisten kannst; denn einer Arithmetik zufolge, wie sie nur einem Schabenschädel entspringen kann, zahlst du die 5 Prozent der Gesamtsumme an jedem Zahltag obendrauf, Rate für Rate, Monat für Monat, bis zur vollständigen Tilgung.
Als Ratenzahler betrifft dich auch automatisch
Regel Nr.3
Du schiebst der Schabe das Geld regelmäßig und pünktlich in den Arsch.
Das Kleingedruckte
Bei Verstoß gegen Regel Nr.3 sucht dich der serbische Stoßtrupp. Der findet dich immer und bringt dich zum König. Besser, du bist gut bei Kasse, wenn du dein Date mit ihm hast. Dann tut es einfach nur weh, und du bist 'mit einem blauen Auge davon gekommen', wie es im Volksmund heißt. Versteif dich aber nicht darauf, denn es kann auch sein, dass du ohne Auge davon kommst!
Die letzte Klausel
Muss die kopfkranke Kakerlake bei dir auch nur einmal ihrem Geld hinterherlaufen, darfst du am nächsten Stichtag alles blechen. Zuzüglich der Zinsen, die die Schabe normalerweise noch Monat um Monat eingenommen hätte. Und für den Fall, dass du erneut säumig bist... Es gibt niemanden, der davon berichten kann.
Ich hatte nichts auf der hohen Kante. Regel Nr.2 also! Wenn ich verlor, kam mich dieser Zock sehr teuer zu stehen.
Ljubi¨a nahm den Stapel Karten und mischte. Dann hielt er ihn mir hin. Ich hob ab. Sicher ist sicher. Er teilte aus. Eine Sieben als Deckblatt, eine Karte für mich, eine für sich. Die zweite für mich. Totenstille im Saal. Ich linste vorsichtig unter mein Blatt, darauf bedacht, dass die Kibitze sie nicht einsehen konnten. Ein Ass und ein König. Die reinste Kakerlakenkacke! Ich hatte mich aber im Griff, und weder mein Gesicht noch meine Stimme verrieten, was ich von diesen Karten hielt.
"Passe!" sagte ich auf seinen fragenden Blick.
Die Kakerlake tastete mich Zentimeter um Zentimeter ab. Er schaute mir in die Augen, auf die Hände, auf die Karten, die vor mir lagen, blickte mir wieder in die Augen. Und dachte nach. Was gab es da zu überlegen? Er hatte doch erst eine Karte!
"Mach hin, ich will hier nicht übernachten!" maulte ich.
"Ich mache, wann ich es für richtig halte, 'Walter'. Und ich sage dir, du hast nur Dreck auf der Hand!"
Dann deckte er seine Karte auf. Eine Dame. Er zog. Eine Zehn. Sie zog weiter. Ein Bube. Ohne mit der Wimper zu zucken zischte er:
"Sechzehn zieht."
Mit diesen Worten stand die serbische Landplage auf, einfach so, ohne einen Blick auf mein Blatt zu werfen, und schritt, eine Glatze im Gefolge, zum Ausgang. Über die Schulter rief er mir zu.
"Die Formalitäten kannst du mit meinen Leuten klären, 'Walter'!"
Ein Deutscher wollte mir seelischen Beistand leisten.
"Was bist du denn für einer?" schrie er dem Serben hinterher. "Mach hier nicht so einen Kappes! Guck erstmal,
ob du überhaupt gewonnen hast!"
Ljubi¨a drehte sich langsam um und blickte fragend zu den beiden Glatzen, die noch am Tisch standen. Eine von ihnen deutete auf einen kleinen dicken Mann in der zweiten Reihe. Ljubi¨a schaute sich den Schreihals sehr lange, sehr genau und sehr böse an. Schließlich führte er Zeige- und Mittelfinger zu seinen Augen und zeigte dann mit ausgestrecktem Arm auf ihn.
"Ich bin Ljubi¨a Petrović, und dies ist jugoslawischer Boden. Merk dir das und lass dich hier nie wieder blicken!"
Dann ging er. Die Kibitze bildeten sprachlos eine Gasse. Was für ein Abgang!
Ich war am Ende. Mit den Nerven, mit den Finanzen, mit allem und starrte wie doof auf meine beiden verdeckten Karten. Die Leute bestürmten mich mit Fragen. Was ich auf der Hand hätte und so. Ich deckte meinen Schrott auf und schüttelte fassungslos den Kopf. Was für ein Abgang!
"Име?" fragte einer der Kahlköpfe und zückte Block und Stift, während der andere das Geld auf dem Tisch zählte.

*

Ich stand am Westfalendamm und keine Sau scherte sich um mich. Selten hatte ich mich so einsam gefühlt. In meiner Hand der Zettel, den der serbische Kleiderschrank mir gegeben hatte. Ich hatte mal eben 500 Mark in bar verzockt und 2153 Mark und 40 Pfennige auf Pump. Kurz und gut: Der laufende Monat war für mich schon nach sechs Tagen gelaufen. Auf kyrillisch las ich, was ich wann und wie zu zahlen hatte:
398,01 Mark monatlich bis Dezember 1986
verschlossener Briefumschlag
erste Rate: 15. März
Raten ab April: 1. Werktag des Monats
Treffpunkt: "Alina", 20.00 Uhr

Den Rest des Jahres konnte ich also auch knicken. Ich kannte schließlich die Regeln.

*

Die erste Rate hatte ich irgendwie zusammengekratzt und die Kohle bei "Alina", der Stammkneipe des Schabe abgeliefert. Vor der Tür traf ich auf einen mit einem Briefumschlag in Hand. Tach, Kollege!
Mit der Wahl dieser Kneipe hatte der Kleiderschrank nichts dem Zufall überlassen. Hier verkehrten nur die verkehrten Jugos, Ganoven und solche, die es werden wollten. Speichellecker und andere Widerlinge, die dem König treu ergeben waren. Und für Ljubi¨a und seine Glatzen war immer geöffnet, selbst am Ruhetag. Wenn der Erste des Monats also auf einen Montag fiel, dann dann galt "Regel Nr. 4: Montags klopft du an die Tür." Ein Jugo, der Ljubi¨a etwas schuldig war, wusste das natürlich. Ich hätte mich also nicht damit heraus reden können, dass der Laden am Stichtag geschlossen war. Wie gesagt kannte ich die Regeln, aber das hielt mich nicht davon ab, die zweite Raten sausen zu lassen. Ich neigte dazu, Spielschulden zu vergessen, und Schabenschulden bildeten da keine Ausnahme.
So war ich wie vor den Kopf geschlagen, als Ljubi¨a mich am 2. April zum Rapport bestellte. Es geschah auf die ihm eigene Weise: Die drei Kleiderschränke fingen mich ab, als ich abends das Haus verließ. Wortlos und diskret. Einer zeigte mit dem Kopf zur Limosine – ein weißer Pullmann, was auch sonst - einer öffnete die Autotür, einer schob mich rein. Nach hinten natürlich, und ehe ich mich versah, saß ich zwischen zwei Glatzen eingeklemmt wie eine Bulette im
Brötchen.
Ich hatte ja schon beschrieben, dass ich alles andere als schmächtig war. Muss ich noch ergänzen, dass ich mit meinen Fäusten etwas anzufangen wusste, und wer mich kannte, sich nicht mit mir anlegte? Die Serbenschergen kannten mich offensichtlich nicht, und ich dachte nicht im Traum daran,
sie aufzuklären.
Während der Fahrt zum Hauptquartier der Schabe sprachen die drei kein Wort. Sie sprachen so gut wie nie, weil sie für´s Arbeiten und nicht für´s Reden bezahlt wurden.
Das Büro, besser gesagt der Thronsaal der serbischen Landplage befand sich in Lütgendortmund, zehn Etagen über Normalnull in einem Penthouse. Raus aus dem Auto, rein in den Bau. Ehe ich mich versah, flog ich in den Fahrstuhl, der schon auf mich wartete. Rauf in´s Dachgeschoss. Oben angekommen ging es so schnell wieder raus wie rein. Schrank Nummer 1 ging voraus, Nummer 2 und 3 folgten mir. Die Schrankwand schob mich gnadenlos durch einen protzig dekorierten Korridor. Vorbei an Türen, die wie Spiegel glänzten, mit Knaufen aus blank poliertem Messing. Die Leuchter an der Wand verbreiteten ein dezentes, warmes Licht, Textiltapeten und ein dicker Teppichboden schluckten jeden Laut. 'Es gibt schlechtere Orte zum Abdanken!' dachte ich, und 'Ob die Türen wohl verschlossen sind?' Ich drehte im Vorbeigehen spaßeshalber an einem der Türknaufe. Postwendend erhielt ich einen Tritt ins Kreuz
und fiel lang auf´s Maul.
"Schon gut, Jungs. Immer geschmeidig bleiben.", murmelte ich mit Velours im Mund, "Ich hab´ nur die Toilette gesucht."
Die Glatzen rückten mir mächtig auf die Pelle. Ich stand auf
bevor die beiden auf mir standen, und sah einer ungewissen Zukunft entgegen. In Form einer Tür am Ende des Korridors.
Abgesehen von der Fahrstuhltür, die nicht wirklich zählte, war dies die einzige offene Tür. Der Stoßtrupp drängte mich da durch, wo der Maurer das Loch in der Wand gelassen hatte,
und wider Willen ich stand in Ljubi¨as Thronsaal.
Eleganz und der Gestank von Geld ließen meinen Atem stocken.
Edelste Büroschränke zur Linken, dunkles Holz, die Fassaden,
wie auch sonst, spiegelblank. Zur Rechten Gemälde. Moderne Kunst, die ich nicht verstand. Eine große Palme hatte ihren Platz zwischen den Fenstern der rechten Wand. Gegenüber ein riesiger Fernseher, natürlich farblich auf das Mobiliar abgestimmt. Auf dem hellen Parkett lag ein langer, roter Teppich, der irgendwie nicht nach Ikea aussah. Ein überdimensionaler Schreibtisch beherrschte die hintere Hälfte des Saals, und der Rote Teppich lief geradewegs darauf zu.
Eine Stehlampe und ein kleiner Leuchter tauchten den Raum vor dem Schreibtisch in schwaches Licht. Jenseits des Lichtscheins, nur schemenhaft zu erkennen, saß Ljubi¨a Petrović in einem monströsen Chefsessel. Der serbische Schädling verschwand fast hinter seinem Schreibtisch. Nicht Sessel und Schreibtisch war zu groß, die Schabe war zu klein. Das sah witzig aus, aber mir war nicht zum Lachen zumute.
Wie angewurzelt blieb ich an der Teppichkante stehen. Das Schicksalsspiel mit dem König lief wie ein Film vor meinen Augen ab. Ich ließ meine Antwort auf sein Alles-oder-nichts-Angebot Revue passieren und prüfte meine Motive. Wenn ich hier schon den Löffel abgab, wollte ich mich vorher noch ohne Scham im Spiegel anschauen können. Zugegebener Maßen waren meine Motive scheiße gewesen. Ich war geradezu darauf versessen gewesen, ihn abzuzocken. Das wäre DIE Trophäe für mein Ego gewesen. Geschissen! Aber zu meiner Ehrenrettung hielt ich dem entgegen, dass sowieso andersherum ein Schuh draus wurde: Denn den König um 2000 Mäuse zu erleichtern und dann einfach den Tisch zu verlassen hätte mir auch nur Ärger eingebracht. Undenkbar, dass ich mit meinem dicken Portemonaise heil nach Hause gekommen wäre! Spätestens auf dem Parkplatz hätten die Glatzen mir ein paar auf´s Maul gehauen, weil man so nicht mit seinem König spielte. Und zur Strafe dafür, dass dem König die Möglichkeit vergönnt worden war, sein Gesicht zu wahren, hätten sie mir die ganze Kohle wieder abgenommen. Ich hatte mir also außer der versäumten Ratenzahlung nichts weiter vorzuwerfen. Spiegel wo bist du?
Die Schrankwand gab mir einen derben Stoß und ihren ersten Laut von sich:
"Иди сада!" knurrte sie.
Während ich vorwärts stolperte, riskierte ich einen Blick über die Schulter. Die Wand stand. Ich ging weiter wie das berühmte Lamm zur Schlachtbank, bis ich vor meinem König und Henker stand.
Ich spürte, wie er mich mit seinen wässrigen Augen aus dem Halbdunkel heraus abtasteten. Dann räusperte er sich. Seine Rechten griff langsam in die Jackentasche, und ich begann mein Leben zu ordnen. Nach drei Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, brachte er eine Schachtel Zigaretten zu Vorschein. 'Gott sei Dank, nur Zigaretten' dachte ich und atmete auf. Er rauchte Marlboro. Cowboy-Zigaretten nannte ich dieses Kraut. Ein Feuerzeug klickte. Der Schein der Flamme beleuchtete kurz sein faltiges und eingefallenes Gesicht, und ich sah ihn versonnen lächelnd die Fluppe anzünden. Ljubi¨a wusste, dass ich Schiss hatte. Man konnte es förmlich riechen. Lässig lehnte er sich zurück, schlug die Beine übereinander und paffte genüsslich ein paar Ringe. Die Augen geschlossen. Der König genoss den Auftritt.
Ich muss zugeben, dass mich die ganze Vorstellung ein wenig nervös machte. Ich kriegte feuchte Hände. Ein Königreich für eine Zigarette. Ich hatte welche dabei und traute mich nicht zu rauchen. So etwas war mir vorher noch nie passiert!
Ich verdrängte meine Sehnsucht nach einer Zigarette mit tausendundeinen Gedanken darüber, was mir alles zustoßen konnte. Gedankenverloren schaute ich mich um und blieb an dem imposanten Schreibtisch hängen. Er war von derselben Machart wie die Büromöbel. Dieselbe spiegelglatte Oberfläche. Merkwürdig, ungewöhnlich, ja geradezu störend war die große Holzplatte, die rechts auf dem Tisch lag. Es war so eine, wie meine Mutter sie immer zum Kneten von Brotteig verwendet hatte, nur dicker. Und sie war fleckig, regelrecht versifft und mit groben, tiefen Kerben versehen.
'Warum liegt hier so etwas rum? Passt überhaupt nicht ins Bild. Und woher stammen die Kerben?' fragte ich mich.
Ich schüttelte den Gedanken ab.
'Scheiß auf die Kerben, scheiß auf die Platte, scheiß auf
den Serben!'
Auf die Idee, dass dieses Drecksbrett vielleicht extra für mich auf den Tisch lag, kam ich gar nicht.
Ljubi¨a rauchte schweigend und ungerührt zu Ende - ich war
für ihn Luft - und erst, als er sich ein wenig vorbeugte und den Stummel energisch ausdrückte, schaute er mich an. So, als zerdrückte er mich.


"Ти немаш пара? " fragte er mit der üblichen heiseren Stimme.
Ich versuchte gewinnend zu lächeln, hob die Schultern
und zeigte ihm meine leeren Hände. Wie gerne hätte ich ihm jetzt eine Mitleid erregende Fabel ins Ohr gesäuselt. Aber selbst, wenn ich eine auf Lager gehabt hätte, ich kam nicht mehr dazu, sie zu erzählen.
"Е то ће пуно да те боли " meinte er ungerührt und nickte seinen Männern zu. Die Schränke waren sofort zur Stelle. Sie sprangen auf mich und hielten mich mit eisernen Griffen fest. Einer fasste mich wie ein Karnickel im Nacken, und einer drehte meinen linken Daumen solange in jede mögliche und unmögliche Richtung, bis ich vor Schmerz und Wut brüllend meine Hand öffnete. Im Nu presste er sie auf die Holzplatte und schlug mir mit der anderen Faust auf den Handrücken. Wie ein Hammer. Ich stöhnte auf.
"Тако лаж!" knurrte es von hinten. Der andere hielt mein Handgelenk wie in einem Schraubstock fest. Und bei jeder kleinsten Regung drückte er fester zu.
"Постављена тако рецимо хаб'ицх! "
Ljubi¨a lehnte sich zurück und tastete nach etwas in der
Innentasche seiner Jacke. Dann beugte er sich wieder zu mir
rüber und hielt mir seine Faust unter der Nase. Einer der Schränke erhöhte den Druck auf meinen Nacken. Ich mag weder Fäuste im Nacken noch unter meiner Nase. Und schon gar nicht, wenn es in ihnen unter meinem Riecher 'klick' macht. Eine scharfe zweischneidige Klinge schnellte hervor und schlitze mir den Nasenflügel auf. Und weil der Hänfling gerade am schnippeln war, verpasste er mir auch noch einen kunstvoll geschlängelten Schnitt längs über den kleinen Finger! Ich biss die Zähne zusammen, konnte aber ein Stöhnen nicht unterdrücken. Es tat nicht weh, es tat sauweh!
Dann lehnte er sich wieder zurück und betrachtete zufrieden sein Werk: eine etwa drei Zentimeter lange Wunde, aus der reichlich Blut auf die Platte kleckerte, was den Serben nicht im geringsten störte. Dazu war die Platte schließlich da. Keine Frage, auf diesem Tisch war schon öfter Blut vergossen worden. Mein Blut füllte schnell die Kerben und
bildete eine kleine Lache.
Ich musste an Franjo denken, einen Jugo aus Herne. Der hatte
seinen Zahltag im wahrsten Sinne des Wortes verschlafen. In
Vollnarkose auf dem OP-Tisch. Mit geplatztem Blinddarm und dem Bauch voller Eiter und Dreck. Die Ärzte hatten um sein Leben gekämpft, und nach ihrem Sieg lag er noch zwei Wochen in der Klinik. Mit einer 20 cm langen Narbe, die nicht gut verheilte. Franjo hatte dem Serben insgesamt nur um die 400 Mark gschuldete, und er konnte die dritte und vorletzte Rate aus verständlichen Gründen nicht rechtzeitig zahlen. Ich finde, so jemand ist wirklich entschuldigt. Aufgrund höherer Gewalt oder wie man das nennen will. Ljubi¨a lies aber keine höhere Gewalt als seine eigene gelten. Er legte den Entlassungstag als neuen Stichtag fest. Die drei Glatzen holten ihn aus der Klinik ab. Sie gaben sich beim Stationsarzt als seine Brüder aus, und der Arzt hatte nicht die Eier, den Schränken das nicht zu glauben. Den Rest kennen Sie ja: Einer zeigte mit dem Kopf zum Ausgang, einer öffnete die Tür des Krankenzimmers und einer stützte Franjo, damit er nicht aus Versehen in die falsche Richtung lief. Ob der arme Kerl hier auf dem Schreibtisch operiert wurde, ist nicht überliefert. Fakt ist aber, dass Ljubi¨a das mit dem Stichtag wörtlich nahm und dem armen Schwein die Narbe der Länge nach wieder aufschlitzte. Weil er keine 120 Mark auf Tasche hatte! Nach der Klinik ist vor der Klinik. Und die Schabe soll Franjo geschworen haben, dass er ihm einen Reißverschluss einnähen würde, wenn er in vier Wochen nicht alles zahlte. Zuzüglich Zinsen, versteht sich!
Aus meiner Nase tropfte es wie Wasser auf die
Schlachterplatte. Ein wenig Blut fand allerdings auch seinen
Weg den Rachen herunter. Ich musste husten und prusten und bedeckte irgendwelche blöden Papiere auf dem Schreibtisch mit einem hellroten Sprühfilm. Das rief den Schrank in meinem Nacken auf den Plan. Er drückte mein Gesicht in die Blutlache, und dann war Schluss mit Prusten. Ich hörte, wie die Schabe eine Schublade aufzog und nach kurzem Herumkramen wieder zuschob. Aus den Augenwinkeln nahm ich eine schnelle Bewegung und etwas metallisch Blinkendes wahr. Das metallische Etwas war ein Metzgerbeil, und Ljubi¨a holte
auch wie ein Metzger aus.
Ich sah das Beil in Zeitlupe auf meine linke Hand niederfahren. Ich bin zwar Rechtshänder, aber das tut der Liebe zu jedem Finger meiner Linken keinen Abbruch. In stiller Trauer verabschiedete ich mich von ihnen allen. Ein besonderes Ade galt meinem kleinen, blutenden Finger, den ein jahrelang gepflegter stabiler und formschöner langer Nagel zierte. Nach dieser Zeremonie schloss ich die Augen. Amputationen waren einfach nichts für mich. Ohne Zucken, Rucken und Mucken ließ ich das Unausweichliche auf mich zukommen, damit die zum Schlachter mutierte Schabe mir garantiert nur die Finger und nicht etwa die halbe Hand
abschlug.
Die Holzplatte federte, als die Hacke jaulend eine neue Kerbe schlug. Blut spritzte mir ins Gesicht. Die Schränke ließen mich los. Ich schrie wie wild, riss meine Augen auf und sah meinen Lieblingsfinger geköpft, nagellos vor der breiten Schneide liegen. Der erwartete Schmerz blieb aus. Der verrückte Serbe hatte nur den Nagel abgetrennt. Haarscharf vor der Fingerkuppe.
Dennoch, was zu viel ist,ist zuviel,und mir wurde übel. Ich schwankte auf meinem Stuhl hin und her. Die ekelige Kakerlake sah ich nur noch undeutlich hinter seinem Schreibtisch stehen, und was links und rechts neben ihm war, verschwamm gänzlich vor meinen Augen. Kurz bevor ich wegtrat, hörte ich Ljubi¨a noch wie durch eine Wand sagen:
"Ја ти се кунем у све што ми је свето, следећи пут ћу ти прсте отсећи, ако ти не платиш!"

*

Als ich wieder zu mir kam, saß mit dem Kinn auf der Brust ich an einer Mauer gelehnt. Hemd und Hose feucht von Blut, den Geschmack von Blut im Mund, und mir war kotzübel.
Automatisch betastete mein Gesicht, meine Zähne, meine
Finger. Alles klebrig-feucht, aber alles noch dran.
Es dauerte noch eine Weile, bis ich wach genug war, um einen ersten klaren Gedanke zu fassen. Der galt meiner Geldbörse. Hektisch klopfte ich die Taschen meiner Jacke ab, fand sie aber nicht. Da fiel sie mir geöffnet vom Schoß. Ich nahm sie und zählte mein Geld. 55 Mark. Genau 400 Piepen fehlten. Die Schweine hatten sich also selbst bedient und auch die Zinsen nicht vergessen. Ich versuchte das positiv zu sehen: Die nächsten vier Wochen hatte ich also vor dem Bestatter und seiner Bande Ruhe. Aber so richtig ruhig wurde ich darüber nicht; denn unweigerlich drängte sich mir die Frage auf, wo und wie ich binnen vier Wochen zusätzliche 2800 Mark herbekam.
Die Gedanken führten zu nichts, also gab ich sie auf. Ich schaute mich um. Wo hatten die Schränke mich eigentlich raus geschmissen? Vor mir eine Straße, über mir Leuchtreklame von Coke und Sinalco und gegenüber, auf der anderen Straßenseite eine Bäckerei. Den kannte ich. Alles klar, ich saß an der Hörder Straße, in der Nähe des alten Nazi-Arbeitslagers, etwa fünf Kilometer von meiner Wohnung entfernt. Ich machte mich auf die Socken. Während des Fußmarsches überlegte ich mir dann doch, wie ich zu Geld kam, weil ich sonst meines Lebens nicht mehr sicher war, nicht in Deutschland, nicht in Jugoslawien. Und ob der dürre Arm der Kakerlake nicht auch bis nach Holland, Belgien oder Österreich reichte, wer wusste das schon genau?
Es war grundsätzlich nicht meine Art, Finanzplanungen ohne Zettel und Stift machen. In diesem besonderen Fall brauchte ich allerdings keinen Zettel und anstelle des Stiftes nur drei Finger:
1. Meine 55 Mark waren zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel. Unter der Hand arbeiten brachte nicht die Kohle, die ich brauchte. Und unter Druck binnen vier Wochen 2800 Eier und das Geld für´s tägliche Leben erzocken... vergiss es einfach, Igor! Es war schon hart genug, die erste Rate unter Druck zu erzocken.
2. Auf meinem Bankkonto herrschte Ebbe, und das würde auch so bleiben. Darüber musste ich mir also nicht den Kopf zerbrechen.
3. Die Miete und alle Abgaben waren bezahlt, die Suzi vollgetankt, der Kühlschrank gut bestückt. Wenigstens hier war für die nächsten Tage alles im grünen Bereich.
Nichts desto Trotz: Guter Rat ist teuer, und ich hatte kein Geld.
'Was würden andere in deiner Situation machen, Igor? Denk doch mal nach!' Ich ging meinen Freundeskreis der Reihe nach durch und blieb bei Lui hängen. Hatte der nicht auch mit 50 Mark ein großes Ding angefangen? Mein alter Freund lebte in Bork, einem kleinen Kaff vor Selm, und wir sahen uns nur noch selten, seit ich nach Dortmund gezogen war. Als ich noch in Selm wohnte, waren wir die besten Kumpels gewesen. Wir hatten quasi dieselbe Blutgruppe, standen beide auf Zocken, Rocken und Biken. Ab und zu fuhr der eine beim anderen vor, oder wir trafen uns mit anderen Bikern sonntags auf der Syburg.
Ich wusste, dass Lui mir helfen würde. Ohne es recht zu merken, erhöhte sich die Schlagzahl meines Schritts. Adrenalin! Ich hatte einen Plan. Jetzt schnell nach Hause, Duschen, Wunden versorgen. Tetanus? Egal! Essen? Mir war immer noch übel. Hauptsache, ich konnte schlafen. Morgen würde ich zusammen mit Lui in die Zukunft investieren! Zocken, was das Zeug hält, und zwar nach der "Methode Lui", wie er sie augenzwinkernd nannte. Und logischer Weise nicht mit blaublütigem Ungeziefer. Mein erstes Ziel war, die 400 Eier Bares wieder rein zu holen! Und dann mal sehen, wie es lief. Das war, auf den Nenner gebracht, mein ganzer Plan. Sie finden das kläglich? Ich fand das großartig!
Ich hatte nicht viel Zeit und einem Finger zu verlieren. Aber am Horizont sah ich schon, wie mein bischen Geld sich verdoppelte, verdreifachte, verzehnfachte.
Ich war eben ein Zocker. Und dafür, dass das Glück uns auf jeden Fall hold war, würden Lui und ich schon sorgen.

2
Am Morgen rief ich Lui an. Lui war ein Phänomen. Ein Typ mit einem offenen, fast kindlich anmutendem Gesicht, der sich freuen konnte wie ein kleiner Junge. Gleichzeitig hatte er das Feuer eines Kerls in den Augen, der genau wusste, was er wollte. Er konnte die Menschen mit seinem kindlichen Scharm umgarnen, und doch nahm ihm jeder ab, dass er genau wusste, was er wollte. Er litt so authentisch mit den Leidenden, dass die Zocker es ihm nicht übel nahmen, wenn sie gegen ihn zu verloren. Sie spielten immer wieder gerne mit ihm. Sie liebten ihn.
Schon beim üblichen Smalltalk, wie denn so geht’s und so weiter kamen wir zu meinem Problem. Lui machte mich erst einmal zur Sau. Er kannte Ljubi¨a Petrović zwar nicht persönlich, aber so ziemlich jede mögliche und unmögliche Geschichte über ihn.
"Eh Scheiße, Mann! Wie konntest du nur so bescheuert sein
und mit dem zocken! Da muss man sich ja schämen, dich zu kennen! Ich sollte dir die Freundschaft kündigen, du Idiot!"
"Ja Mann, ich weis! Aber das ist einfach Scheiße gelaufen. Aber du hast ja gut Reden. Bist du schon mal gezwungen gewesen, mit einem Psychopathen zu spielen?" Lui wollte weiter schimpfen, aber ich lies ihn nicht zu Wort kommen.
"Du sucht dir deine Spielkameraden aus. Aber bei der Schabe geht das so nicht. Er sucht dich aus! Und wenn du als zockender Jugo am falschen Ort bist, dann bist du ihm ausgeliefert. Ein Spiel mit ihm ablehnen heißt ihn ablehnen. Dann ist er beleidigt und schickt dir seine Meute auf den Pelz. Gegen ihn gewinnen heißt ihm den Krieg erklären. Ohne Armee. Was sollte ich tun, Lui? Hier und da absichtlich eine fette Nummer in den Sand setzen, bis er am Ende seine Kohle zurück gewonnen hat? Junge, der Mann ist so was von krank, der spürt, wenn du nicht ehrlich gegen ihn verlierst! Verstehst du? Er will ehrlich gewinnen! Das hört sich jetzt lächerlich an, ist aber so. Ljubi¨a Petrović ist ja auch lächerlich. Wenn er bloß nicht so gefährlich wäre! Und jetzt mal unter uns, unter Brüdern, und lassen wir deine Methode mal außen vor: Kannst du in einem echten Spiel absichtlich verlieren, ohne dass es auffällt? Und angenommen, du kannst es, rein theoretisch, würdest du das bringen?"
Lui schwieg. Ich grinste. Man sollte nie unvorbereitet in ein Telefongespräch gehen.
"Okay Igor, das hast du dir ja schön zurecht gelegt. Wie lange hast du dich auf diese Predigt vorbereitet?"
"Oh, äh, wie bitte?" Hatte ich schon erwähnt, dass Lui ein Phänomen war?
"Stell dich nicht blöder als du bist! Aber gut, du hast
gewonnen; denn ganz ehrlich, wenn es nicht um meine Methode geht, dann kann ich auch nicht absichtlich verlieren. Und wenn dann noch die Birne vor mir steht und hinter ihm ein Trupp der GSG 9, dann würde ich auch alles tun, was Birne sagt. Wegen der GSG 9, versteht sich." Er wieherte sein Kinderlachen in die Muschel. Manchmal wollte ich ihn küssen.
"Also, wenn ich das jetzt richtig verstanden habe," fuhr er fort, als er wieder bei Atem war, "willst du mit mir ein großes Ding abziehen, ja? Wen willst du denn ausnehmen?"
So kamen wir ohne weitere Umwege zur "Methode Lui, einem Ding, das Lui in Bork regelmäßig abzog. Zusammen mit einem Kumpel, aber nur zwei bis drei mal im Monat, damit niemand Verdacht schöpfte. Lui selbst spielte täglich, ein weiterer Grund dafür, warum das krumme Ding nicht auffiel. Wenn er und sein Partner die Methode anwendeten, beschissen sie die vier, fünf Leute, mit denen sie Siebzehnundvier spielten,
pro Abend nie um mehr als 300 Mark. Immerhin handelte es sich bei den Mitspielern um Studenten der Polizeihochschule Bork. Das waren keine Großzocker waren, und er wollte seine Kundschaft ja auch nicht vergraulen. Die Kerle zockten doch so gerne. Sorgen, dass ihm die Kunden einmal ausgingen, musste Lui sich nicht machen. Die Spieler sorgten selbst immer wieder für frisches Blut. Und wie das bei einer Bullenschule eben so war, hagelte es sowieso jährlich neue Bullenschüler und damit neue Spieler. Die "Methode Lui" war nichts, womit er in Bork, gerade an diesem Klientel reich werden konnte. Beim ehrlichen Zocken verdiente er weitaus mehr, aber es machte ihm einfach Spaß, die Jungbullen
gelegentlich hoch zu nehmen.
Ich wollte allerdings richtig Kasse zu machen. Lui war alles
andere als begeistert, als ich ihm meinen Plan im Detail steckte. Er dachte an die Risiken.
"Ach hör mal, wir wissen ja nicht, wen wir dann vor uns haben. Am Ende gibt es statt jeder Menge Kohle jede Menge Prügel. Ich mach dir einen Vorschlag. Ist ein Kompromiss, und ich mach das auch nur, weil du es bist: Einmal, damit du die 400 wieder rein kriegst. Aber nicht Selm oder Bork und erst recht nicht in Dortmund! Okay? Das ist mein Angebot!"
Na immerhin! Ich nickte und ergänzte:
"Und nicht mit Schaben und Jugos!"
Die Sache war abgemacht. Abends fuhren wir nach Essen, weit weg von irgend welchen bekannten Gesichtern. Dort trieben wir uns in den Kneipen rum. Wir setzten uns allein an einen Tisch, in eine Nische oder irgendwo am Rand, allerdings nicht so weit vom Schuss, dass uns niemand bemerkte. Und dann spielten wir zu zweit Siebzehnundvier und belegten uns gegenseitig mal laut, mal halblaut mit Hohn und Fluch. Das lockte andere Zocker an wie das Licht die Motten. Hatten die Mitspieler etwas in der Birne, dann spielten wir nicht lange mit ihnen und zogen eine Kneipe weiter. Trafen wir allerdings auf Deppen, dann schnappte die Falle zu: Wenn Lui das Buch hatte und der Pott voll war, dann verzockte er gegen mich. Ich kassierte den Pott. Umgekehrt lief das genauso. Und bevor unsere Spielkameraden blickten, dass sie beschissen wurden, schmiss einer von uns die Karten hin, knurrte was von "Ach leckt mich! Ich hab keinen Bock mehr" und verlies die Kneipe. Der andere schaute verdutzt hinterher, sprang auf und folgte ihm mit den Worten "Eh! Warte, du Arsch, ich komm mit!" Weil wir unsere Getränke immer sofort bezahlten, konnten wir jederzeit weg. Ab ins Auto, startklar zur nächsten Deppenabzocke in einem anderen Stadtteil. Wir zogen das Ding erfolgreich in sechs oder sieben Kneipen durch, und nur einmal hätten wir beinahe Schläge kassiert. Der Hammer passierte aber in der letzten Kneipe: Dort warteten ein paar Deppen von der Sorte "Reiche Vollpfosten" auf uns. Die schmissen ihr Geld in einem Hinterzimmer nur so auf den Tisch. Und sie waren derart ahnungslos, dass wir die übliche "Ach-leck-mich-Nummer" gar nicht abziehen mussten. Wir hörten auf, als die Kneipe schloss, und Lui zerfloss beim Abschied vor Mitgefühl.
"Das ist ja sooo schade, dass Ihr jetzt nicht mehr die Möglichkeit habt, wenigstens etwas zurück zu gewinnen. Aber vielleicht ein andermal. Man sieht sich!"
An einer Tankstelle auf der Strecke nach Dortmund machten wir Kassensturz und Halbe-Halbe. Wir waren jeder rund 1000 Kröten reicher. Kapital verzwanzigfacht! Lui lachte sich halbtot und rief:
"Eh Alter, was für ein cooler Zock! Du hast einen bei mir
gut!"
'Einen gut haben' bedeutete leider nicht, dass er sich auf eine weitere Abzocke in Herdecke oder Hagen einließ. Ein Mann mit Prinzipien, der Lui. Wir wollten den Erfolg aber auf jeden Fall noch begießen, nur nicht am nächsten Tag. Da hatte Lui keine Zeit für mich, weil seine Bullenschüler auf ihn warteten.
Also ging ich an jenem Nachmittag alleine auf die Piste. Ich hatte von einer Kneipe am Borsigplatz gehört, in der angeblich in einem Hinterzimmer Roulette gespielt wurde. Nicht mit Jetons, man setzte Cash. Das zwar nicht mein Spiel, ich ging da aber trotzdem hin und checkte die Lage. Ein, zwei Cokes am Tresen, dann mal mit dem Wirt tuscheln, und Bingo! Er zeigte unauffällig auf eine schmale Tür am Ende des Tresens und nickte einem Kerl zu, der alles andere als unauffällig neben der Tür saß. Ich huschte wie ein Schatten durch den Türspalt. Ein kleiner Raum, ein großer Tisch, sechs Spieler, ein freier Platz. Auf denselben pflanzte ich mich und baute einem Stapel von 11 Heiermännern vor mit auf. Ehe ich mich versah, fragte mich einer der Spieler, der nicht wie ein Jugo aussah, auf kroatisch, wo ich denn herkäme. Ich tat so, als hätte ich ihn nicht verstanden. Er verstand, die anderen allerdings auch. 'Denkbar schlechter Einstieg,' dachte ich, 'aber was soll´s?'
Ich setzte auf Farben. Nur auf Farben, abwechselnd Rot und Schwarz, mal eine Serie nur Rot, mal nur Schwarz, und ich setzte gut. Nach etwa einer Stunde hatte ich rund 550 Piepen in Münzen und Scheinen vor mir liegen. Ich wurde unruhig. Genauso wie der Loser links neben mir, dem um die 500 Eier abhanden gekommen waren. Ich witterte, dass mein Gewinn gerade noch im Rahmen dessen lag, was ein Fremder hier einstecken durfte, ohne Schläge einzustecken. Außerdem sprach es sich rum, wenn so ein Jugo das Volk ausgenommen und das Volk das nicht witzig gefunden hatte. Und Ljubi¨a hatte seine Ohren überall, zumal, wenn Jugos im Spiel waren. Das war nun mal so in Dortmund. Er würde sich mit den Ratenzahlungen nicht mehr zufrieden geben, sondern die Hand aufhalten und eine Sondertilgung verlangen. Hier kam Regel Nr. 5 zum Zug: Verdien dein Geld geheim, dann bleibt es dein. Dummerweise hatte ich es nicht geheim verdient. Aber immerhin hatte in zwei Tagen 1500 Mark gemacht, und die wollte ich gerne behalten. Nix wie weg also, bevor es für mich eng wurde, in eine andere Kneipe, wo ich in Ruhe meinen Sieg begießen konnte. Ich trank mein Bier nicht gerne am Ort meiner Glückssträhne. Man weis doch, wozu Menschen fähig sind, die nicht verlieren können.
In einer Kneipe zwei Straßen weiter wollte ich eigentlich nur Zigaretten kaufen. Ich blieb dort aber hängen, weil ich am Tresen Landsleute ausgemacht hatte. Echte Landsleute, bosnische Kroaten, wie ihr Dialekt verriet. Großes Hallo, und dann gaben wir uns die Kante. Wir kannten uns gar nicht und waren uns noch nie zuvor begegnet. Na und? Ich wollte Jugos meiden – auch na und – denn das war mir ja im Casino schon nicht gelungen.
Wir hatten mehr oder weniger gesittet ein Pivo nach dem anderen gekippt, als plötzlich einer rein kam, der wie eine
schlechte Kopie von Dolph Lundgren aussah.
"Tach, Langer, wieder mal am Rekrutieren?" begrüßte der Wirt
ihn mürrisch. Der Lange antwortete nicht. Er hob nur lässig einen Finger zum Gruß und schaute sich um. Viel zu sehen gab es nicht, wir waren die einzigen Gäste. Also drängte er sich die Theke und uns ein Gespräch auf. Darüber, wie man irre viel Kohle machen konnte, wenn man für seinen Boss PKW´s nach Nordafrika überführte. Ich war der einzige, der ihn verstand, darum überließen die anderen mir den Langen, das Reden und den Job. Die Kurzfassung: Man konnte quasi im Urlaub aus 1000 Mark 4500 machen, und zwar noch in diesem
Monat.
'Nicht schlecht, wenn´s denn stimmt', dachte ich. 'Da könntest du deinen Gewinn möglicherweise verdreifachen. Nebenbei lässt du dir weit weg im Süden die Sonne auf den Pelz brennen, und wenn der Job in die Hose geht, dann ist eh alles egal. Wenn aber alles glatt läuft, dann bleibst du noch ein paar Tage im Land und knüpfst Kontakte für einen eigenen Autohandel. Und wenn es sich auch Scheiße anfühlt, du tauchst pünktlich zum Stichtag wie der Phönix aus der Asche bei Alina auf, knallst ihm 2800 Mäuse auf die Theke, eine Stange marokkanischer Cowboy-Zigaretten obendrauf und dann: Leck mich, Alter! Ich mach jetzt in Autos!' Na ja, das behielt ich lieber für mich. In diesem Sinne hinein in die Rinne!

*

Die Suzi blieb besser da stehen, wo sie stand, dachte ich mir, als ich den Laden gegen 20 Uhr verließ. Ich nahm mir ein Taxi - man gönnt sich ja sonst nichts – und döste vor mich. Stillschweigendes Abkommen zwischen mir und dem Fahrer: Er lässt mich in Ruhe, bis wir vor der Haustür stehen.
"Das sieht man ja auch selten!" meinte der Taxifahrer plötzlich.
Ich blinzelte. Wir waren noch nicht zuhause. Musste ja sehr interessant gewesen sein.
"Hmh?"
"Ja, dass hätten sehen müssen. Ein nagelneuer Pullmann. Ein weißer auch noch. Ein Traum von einem Auto! Kam uns gerade
entgegen."
Der Wachmacher des Abends! Ich schaute mich um. Nichts zu sehen.
"Getönte Scheiben, Kennzeichen DO – LP 1?"
Der Taxifahrer sah mich erstaunt an und ich wieder nach hinten. Hatten die Glatzen gewendet, oder ließen sie es für heute damit bewenden?
"Äh, ja, die Scheiben waren getönt, stimmt. Aber das Kennzeichen, hmh, ein Dortmunder auf jeden Fall, und ein klitzekleines. Kann schon sein. Ein Freund von Ihnen?"
Ich verdrehte mir zum dritten mal den Hals. Kein Pullmann am Horizont. Ich beruhigte mich etwas.
"Ein Bekannter. Nicht weiter tragisch, dass wir uns verpasst
haben. Hier können Sie mich rauslassen."
200 Meter von meinem Wohnhaus entfernt stieg ich aus, überquerte die Straße und tat so, als kramte ich nach meinem Haustürschlüssel. Das Taxi fuhr ab. Als es außer Sicht war, ging ich nach Hause. Niemals zuvor hatte ich mich auf 200 Meter so oft umgeschaut.
Wenn man die quietschende Haustür öffnete, ging meistens auch im Parterre die linke Wohnungstür Tür auf, und die neugierige Alte, die sich meinen Namen nicht merken konnte, steckte ihren hageren Kopf durch den Türspalt. So auch diesmal.
"Ach Herr Messick, schade, dass Sie jetzt erst kommen" fiepte sie, "Ihr Bruder war hier und wollte Sie besuchen."
"Macht nichts, Frau Menke, wir sind uns noch auf der Straße begegnet." sagte ich im Vorbeigehen. Vor der Treppe blieb ich dann aber doch stehen und lauschte ihrer hohen Stimme, auch wenn es mir in den Ohren schmerzte. Sie nahm das zum
Anlass, die Sicherungskette zu entfernen und ins
Treppenhaus zu treten.
"Also, ich wusste ja gar nicht, dass Sie einen Bruder haben"
meinte sie mit vorwurfsvollem Ton.
"Warum haben Sie ihn mir nicht mal vorgestellt? Dann hätte ich ihn glatt rein gebeten, damit er hier auf Sie wartet."
Sie hob ihren Zeigefinger, um dem ganzen Nachdruck zu verleihen.
"Aber ich lass doch keine wildfremden Leute in meine Wohnung!"
"Hat mein Bruder hier lange gewartet? Ich meine, als wir uns auf der Straße trafen, hatte er keine Zeit mehr, um groß zu reden. Er musste schnell weg. Er meinte nur, er hätte sich kurz mit Ihnen unterhalten. War da noch was?"
"Also, so richtig gesagt hat er nichts. Nur gefragt, wann und wie er sie am besten erreichen kann. Er sollte vorher einfach anrufen, hab ich ihm geraten, das sei doch besser, als einfach so rein zu platzen" meinte sie mütterlich. Dann schüttelte sie den Kopf.
"Aber darauf hat er gar nichts gesagt. Er hat wohl irgendwas überlegt. Na ja, ich hab ihm nochmal gesagt, dass Sie ein Telefon haben, aber dass man auch schon von weitem sehen kann, ob Sie da sind oder nicht."
Ich schaute sie fragend an. Frau Menke grinste zahnlos. "Wegen dem knallgelben Motorrad, das dann vor dem Haus steht!"
"Danke, Frau Menke. Ich geh jetzt erstmal hoch." Die Glatzen liefen an dem Abend nicht mehr auf. Möglich, dass sie am Haus vorbeifuhren, und das war´s. Was aber war, wenn sie mich anriefen? Telefonierte ich dann gerade, wussten sie, dass ich zuhause bin, weil besetzt war. Wenn ich abnahm, wussten sie auch Bescheid. Wenn mich jemand anders anrief und ich ging nicht ran, und die Glatzen riefen im selben Moment an, dann dachten die sich auch ihren Teil. Scheiße, egal wie ich es auch drehte und wendete. Evakuierung war angesagt und Telefonieren verboten. Ich musste Lui erreichen.
"Ach Frau Menke, ich hab da einen Bitte..."
"Ja, was denn, Herr Messick?"
"Mein Telefon ist doch kaputt, fällt mir gerade ein. Dürfte ich gleich einmal von Ihnen aus ein kurzes Gespräch führen? Müsste jetzt, nach 20 Uhr, ein Ortsgespräch sein."
"Ja, selbstverständlich. Sie können jederzeit runter kommen. Aber nur bis 22.00 Uhr! Dann geh ich nämlich zu Bett."
Ich nickte verständnisvoll.
"In einer halben Stunde bin ich wieder unten. Und das Gespräch dauert auch nicht lange."

*
Mir war, als hätte ich mit meinen Landsleuten den ganzen Tag über nur Limo getrunken. Völlig klar im Kopf überdachte ich die neue, zugespitzte Situation:
Der Jugo am Roulettetisch hatte vermutlich geplaudert, und jetzt stand ich vor der Wahl, ob ich mein Geld an Ljubi¨a abdrückte, oder ob ich mit ihm Katz und Maus spielte. Ihm darauf hinzuweisen, dass eine Sondertilgung nicht vereinbart war, machte keinen Sinn. Auf so was schiss der König. Dann war da noch der Marokko-Deal. Der mögliche Marokko-Deal! Bis ich nicht sicher wusste, dass die Sache garantiert im Grab endete, wollte ich die Kohle auf jeden Fall behalten. Eine Sondertilgung konnte ich in drei oder vier Tagen immer noch leisten, wenn ich dem Autohändler auf die Finger geschaut hatte. Solange also Katz und Maus. Heute abend hatte ich noch Ruhe vor der Katz. Eine Galgenfrist von zwölf Stunden. Morgen würde ich umziehen. Entweder zu Lui, oder zu meinem alten Vermieter, dem Bauern in Selm. Ich zog Selm grundsätzlich vor. Lui hatte sich in einer Art Wohnklo eingemietet, das gerade mal Platz für ihn alleine bot. Na gut, ich konnte notfalls in seiner Badewanne schlafen, wenn beim Bauern nichts frei war.
Ich ging aber stark davon aus, dass die möbilierte Dachkammer in Selm frei war. Er hatte nie einen anderen Mieter gehabt als mich. Gülle und Dreck haben auch ein Gutes! Meine Wohnung würde ich nur im Notfall betreten, um Mitternacht durch die Kellertür hinter dem Haus und leise die Treppen rauf.
Nun zu dem Langen: Viel hatte er in der Kneipe nicht erzählt. Nur, dass ich das Auto erst einem gewissen Marty Auto abkaufen musste, um es anschließend an einen Kunden in Marokko weiter zu verkaufen. Das Auto war vorbestellt, der Kunde stand also schon fest und ich sollte den Wagen nur überführen. Das waren jedenfalls seine Worte. Die Adresse der betreffenden Werkstatt in Herdecke hatte er mir auf den Bierdeckel gekrickelt, der vor mir auf dem Küchentisch lag. Nicht viel, was ich da wusste! Ach ja, und das noch: Wenn mir das Auto gefiel, war eine Anzahlung von 500 Mark fällig. Das machte mich aber auch nicht klüger. Ich erinnerte mich daran, wie der Wirt ihn begrüßt hatte. Er sagte was von "Rekrutieren". Aha! Wenn dieser Lange also Land und Leute anquatschte, dann wussten andere vielleicht etwas mehr über
diesen Job und seine Nebenwirkungen.
Ich brauchte Lui als Kundschafter. Deshalb wollte ich ihn von Frau Menke aus anrufen. Ich ging runter. Lui war gleich am Apparat. Er hatte gut Kasse gemacht, er war entsprechend gut drauf und er war nüchtern, weil er nur nüchtern arbeitete. Ich fühlte mich zwar nüchtern, aber nicht nüchtern genug, um nach Bork zu fahren. Womit denn auch? Ich hielt mich am Telefon kurz, knapp und unverfänglich, weil Frau Menke um die Ecke stand und lauschte. Bat ihn einfach, zu mir nach Dortmund zu kommen. Schließlich hatte ich noch einen bei ihm gut.
Lui kam. Er brachte ein Sixpack mit und hörte sich drei Flaschen lang die Geschichte vom Langen an. Er war bereit, am nächsten Nachmittag die Kneipen und Trinkhallen rund um den Borsigplatz und darüber hinaus abzuklappern und nach einem langen blondierten Kerl zu fragen, der Autojobs vermittelte. Das Bier, dass er dafür in jeder Kneipe trinken musste, sollte auf meine Rechnung gehen. Lui übernachtete auf dem Sofa, und als er wieder wach war, inhalierte er meinen Kühlschrank leer. Lui war ein in jeder Beziehung teurer Freund. Gemeinsam machten wir uns auf die Socken, während Frau Menke ihren Mittagsschlaf hielt, er mit allen Instruktionen, ich mit einem Handkoffer.
Abends, ich saß schon in meinem Zimmer in Selm, kam er wieder und präsentierte mir eine Spesenrechnung von rund 98 Mark, 20 Mark davon für die Rückfahrt mit einem Taxi. Er war breit und ich stinkensauer. Aber die Informationen, die er mir rülpsend servierte, besänftigten mich bald.
Auch das gehörte zum Phänomen Lui: Selbst sturzbesoffen
konnte er noch seinen außergewöhnlichen Scharfsinn und sein schauspielerisches Talent abrufen.
"Also, ich musste ein paar Leute zu Bier und Kurzen einladen, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen." erzählte er mir mit schwerer Zunge. "Der Lange zieht alle paar Wochen durch die Kneipen am Borsigplatz. Möglicherweise ist er in der Zwischenzeit in anderen Gebieten tätig. Er kennt die Leute und Szenen ganz gut, denn er spricht gezielt Leute an, die neu sind oder die selten kommen oder die keiner so richtig kennt. Außerdem geht er nachmittags in die Kneipen, wenn nicht viel los ist und er den Laden überblicken kann. Der Wirt in deiner Jugo-Kneipe gestern, der hat dem einen oder anderen mal auf den Zahn gefühlt, wenn der sich die Zunge locker getrunken hatte. Das waren nicht viele, denn wie gesagt, der Lange spricht nur neue Gesichter an und solche, die keine Stammgäste sind. Zumindest von drei Männern wusste der Wirt aber, wann sie einen Termin in Marokko hatten. Es war immer Al Hoceima, und es war immer dieselbe Story, die auch du mir erzählt hast. Gleich mehr!"
Lui bemühte sich, in den aufrechten Gang zu kommen, schwankte rülpsend zum Kühlschrank auf und erweiterte seine Spesenrechnung um ein weiteres Bier. Dann torkelte er
zurück zum Sessel und sah mich schief grinsend an.
"Und nun pass mal auf, Alter!" Er beugte sich über den Tisch
und drückte mir den Zeigefinger fast auf die Nase.
"Dieser Wirt, der meinte, dass die Leute, die beim Langen anbeißen, nach Al Hoceima nicht mehr auftauchen. Das muss natürlich nichts heißen, weil das sowieso keine Stammkunden waren, und es gibt ja viele, die siehst du nur ein- oder zweimal am Tresen und danach nie wieder. Aber wie Wirte so sind: Die haben einen guten Riecher, wenn´s um Menschen geht, und der Lange mit seinem Marokkokram stinkt ihm gewaltig. Denk darüber mal nach! Prost!"
Lui setzte zum finalen Schluck an, stoppte dann so abrupt, dass er sich verschluckte. Husten, Schlucken, Kleckern, sich hinstellen, die Flasche abstellen und in seine Hosentasche greifen war eins. Er reichte mir einen speckigen Zettel mit einer Telefonnummer und sah mich wie ein großer Junge an.
"Das hätte ich jetzt fast vergessen. Du sollst diesen Typen da anrufen. Ein Marokkaner. Der hat Jahre lang Autos in seine Heimat importiert, nicht für den Langen, versteht sich. Der weis, wie der Hase läuft. Die Nummer hat mir sein Schwager gegeben. Soll, so viel ich gehört habe, eine saubere Sache gewesen sein. Der Typ hat wohl in Marokko tüchtig geschmiert. Also doch nicht 100%ig sauber, das Ganze, aber er hat wenigstens seine Fahrer nicht verheizt. Ich nehm mir noch ´ne Flasche, ja?"

*
Während Lui sich noch grunzend auf einer Gästematraze herumwälzte und seinen Rausch ausschlief, hatte ich längst meine Suzi vom Borsigplatz geholt und saß bei Machmut, einem netten Marokkaner, der eine nette deutsche Frau geheiratet hatte, in einem Wohnzimmer voller orientalischem Kitsch und wurde von ihm in bestem Deutsch über deutsch-marokkanischen Autohandel informiert. Allein schon die Telefonnummer, die Lui mir gesteckt hatte, war die Spesen wert.
Der Hase lief nämlich so: Wer die marokkanische Grenze mit
dem Auto passierte, erhielt zwei Visavermerke in seinen
Reisepass. Stempel mit lateinischer und arabischer Schrift. Der eine bescheinigte die Einreise des Passinhabers, der andere die Einfuhr eines Fahrzeugs. Wenn man seinen Wagen im Land verscheuerte und den Deal wider Erwarten problemlos abwickelte, war man wegen des Autostempels spätestens bei der Ausreise gearscht.
Zunächst einmal musste man aber überhaupt ins Land kommen, und das war die größte Verarschung überhaupt, eine einzige Katastrophe!
Viele, wenn nicht die meisten, die im Sommer ins Land
wollten, waren Auslandsmarokkaner und in der Regel Menschen mit Familiensinn. Wenn sie in den Ferien zur Verwandtschaft fuhren, schleppten sie alles mögliche mit, was die Verwandten in der Heimat gebrauchen konnten oder in Auftrag gegeben hatten, Konsumgüter, die im Land selbst nur schwer und teuer zu erstehen waren. Das galt vor allem für diejenigen, die den Rest des Jahres in Spanien oder Frankreich lebten. Den Offiziellen war das allerdings ein Dorn im Auge. Marokkaner, die außerhalb der Staatsgrenze lebten, galten Ihnen an sich schon als Vaterlandsverräter. Allein die Tatsache, dass sie ihr Glück fern der Heimat suchten, drückte ihnen diesen Stempel auf. Folgerichtig war die Obrigkeit 'not amused' über Menschen, die der Heimat den Rücken gekehrt hatten, und das Land für den Jahresurlaub missbrauchten. Wenn diese dann obendrein noch alles mögliche einführen wollten, schlug aus Sicht der Behörden dem Fass den Boden aus . Solch Ansinnen machte sie in den Augen König Hassans zu Ungeziefer, zu Schädlingen, zu Schmarotzern, und so wurden sie an den Grenzen auch behandelt.
Kilometerlange Staus an den Grenzen bei Melilla und Ceuta.
Schlangen zum Teil schrottreifer Gefährte, deren Achsen sich unter der Last der fünf Personen im Auto und dem Gedöns auf den Dach durchbogen. Die Einreisenden mussten ihre Fahrzeuge komplett leer- und abräumen. Dann untersuchten die Zöllner alles! Und war der Stau auch noch so lang, die Marocs winken keinen durch, der nicht wie ein Marokkaner aussah, und Marokkaner sowieso nicht. Hatte man als Europäer 10 marokkanische Autoladungen vor sich - die erkannte man schon von weitem – dann wurde es langweilig.
Mit zunehmender Wut und als wäre es erst gestern passiert,
erzählte mein Gastgeber, der übrigens Machmut hieß und mir immer wieder sehr leckeren Tee nach schenkte, dass das Ganze nur noch von den Diskriminierungen getoppt würde, die ihm und seinen Landsleuten immer wieder im spanischen Almeria widerfuhren. Seine Schläfenadern pulsierten, als er mir davon berichtete:
Die wirklich nicht reichen Marokkaner mussten jede Pesete umdrehen. Deshalb schlugen sie den teuren Service der örtlichen Reisebüros aus und bemühten sich selbst um einen Platz auf der Autofähre nach Melilla. Das bedeutete stundenlanges Warten in zwei Hallen am Strand vor dem Ableger. Die Hallen waren Rohbauten ohne Toiletten und ohne Getränkeautomaten, von Klimatisierung ganz zu schweigen. Die Hitze war unerträglich. In Halle 1 gab es nur einem Schalter, um sich für die Fähre anzumelden. Nach einer gefühlten Ewigkeit erhielt man dort die Anmeldeformulare, mit denen man in Halle 2 marschierte, einem Betonklotz mit zwei Schaltern . Dort hieß es, an Schalter 1 anzustehen, um die Papiere abzugeben, die man in Halle 1 erhalten hatte. Wenn die Männer das überstanden hatten, standen sie, Stühle oder Bänke gab es nicht, in Pulks zusammen und warteten auf einen persönlichen Aufruf von Schalter 2, der sie ermächtigte, die ersehnten Tickets abzuholen. Mit jedem Grad ansteigender Hitze erhitzten sich die Gemüter. Der Spanier hinter Schalter 2 rotzte die marokkanischen Familiennamen der Reihe nach übellaunig in ein Mikrophon, und die megaphonähnlichen Lautsprecher in der kahlen Halle machten das Gespei nahezu unverständlich. Ebenso übellaunige Polizisten lehnten an den Wänden der Halle. Die "Namen", wenn man das so nennen wollte, wurden im 30-Sekundentakt aufgerufen. Wer seinen Namen nicht verstand, wenn er aufgerufen wurde oder gerade zum Pinkeln draußen war, hatte Pech gehabt. Denn wenn der nächste schon am Schalter stand, war der arme Tropf aus dem Rennen. Es kam auch vor, dass jemand die Schlange vor Schalter 1 verließ, sei es um zu pinkeln oder um nach seiner Familie zu schauen und von seinen Landsleuten nicht mehr zurück in die Reihe gelassen wurde. Dann wurde gedrängelt, geschubst und geschoben, geschimpft und geschlagen, und ehe man sich versah, knüppelten die spanischen Bullen wahllos auf die Leute ein. Sie zogen willkürlich Marocs aus der sich auflösenden Schlange und droschen sie aus der Halle. Das taten sie solange, bis der Mob klein bei gab und wieder eine ordentliche Reihe bildete. Dann marschierten sie neben den Wartenden auf und ab und klatschen mit den Schlagstöcken rhythmisch in ihre Handflächen. Wer raus geschmissen worden war, durfte sich wieder in Halle 1 anstellen. Do it again, Sam! Pech für ihn, wenn die Fähre dann ausgebucht war oder schon abgelegt hatte. Das bedeutete, mit Kind und Kegel am
Strand auf die nächste Fähre zu warten.
Machmut empfahl mir natürlich, die Fähre auf jeden Fall über ein Reisebüro zu buchen. Dann fragte er mich, wohin ich das Auto bringen sollte, und was für ein Auto.
"Al Hoceima? Einen /8? Dann geht die Karre vermutlich nach Ketama, und das Ganze wird von Ketama aus organisiert. Das könntest du unter Umständen nicht überleben. Die Drogenbosse dort sind skrupellos."
"Überlege dir das gut!" meinte er und sah mich eindringlich an. "Rechne damit, dass du über´s Ohr gehauen wirst. Und das nicht zufällig, sondern vermutlich schon von Deutschland aus geplant! Du bist jung und ein harter Bursche, vielleicht schaffst du es. Du musst alles sehr genau planen. Lass dir bloß in Al Hoceima keinen Kiff andrehen, und vor allem: Fahre nicht nach Ketama! Weder allein noch mit deinem Mittelsmann. Wickel den Deal, wenn überhaupt, in Al Hoceima ab. Nur dort hast du wirklich eine Überlebenschance!" Klang
rosig, nicht wahr?
"Ketama", erklärte er weiter, "ist eine autonome Provinz. Hauptanbaugebiet von Haschisch für den europäischen Markt. Die Barone dort schmeißen mit dem Geld nur so um sich. Als ich das letzte mal in Nordmarokko war, gab es in Ketama, einem Gebiet im Rifgebirge, nur einen Polizisten, und der hatte ein Dienstfahrrad. Das wird sich in den letzten drei Jahren nicht geändert haben, weil das auch nicht erwünscht ist. Die Barone zeigen ihm die lange Nase, wenn sie ihn mit ihrem Daimler überholen. Mit einem Schrottdaimler 200/ 8 wohlgemerkt. Denn gemessen am Straßenverkaufswert von umgerechnet acht bis 10 Mark pro Gramm Haschisch hier in Deutschland erhalten die Großen in Ketama für ihre 'Ware' einen Witzbetrag. Dennoch leben sie für marokkanische Verhältnisse in großem Luxus, und ihr alter Benz ist ein echtes Statussymbol."
Machmut unterbrach sich und sah mich wieder bohrend an:
"Igor, ich glaube, ich mag dich. Deshalb noch einmal: Überlege dir gut, was du tust."
Weiterhelfen, zum Beispiel, indem er für mich Kontakte vor Ort herstellte, wollte er nicht. Er hatte mit der Sache komplett abgeschlossen. Warum, wollte er nicht sagen. Das merkte ich und fragte nicht nach. Er stand auf. Das Gespräch war für ihn beendet. Er begleitete mich zur Tür, und es kam mir vor, als hätte er auch mit mir abgeschlossen. Trauer lag in der Luft. Es war keine Verabschiedung, es war ein Abschiednehmen. Ich wollte von meinem Geld und von meinem Finger noch nicht Abschied nehmen. Deshalb fuhr ich allen Unkenrufen zum Trotz zu Marty.

3
Der Blickfang war ein verdreckter Kühlschrank, auf dem eine ebensolche Kaffeemaschine und mindestens zehn benutzte Tassen standen. Der blanke Estrich vor dem Schrank war mit Kaffeepulver, leeren Milchtüten und den Überresten der Tassen übersät, die auf dem Kühlschrank keinen Platz mehr gefunden hatten. In den Ecken - und nicht nur dort - lagen Stapel alter Zeitungen und Automagazine. Es roch nach Schmierstoffen und Benzin und irgendwie auch nach Moder. Die Tapetenreste an den Wänden waren schwarz gesprenkelt. Durch die Fenster drang kein Licht hinein, weil die Löcher mit Lamellenjalousien, Spinnweben und Dreck verhangen waren.
Als ich eintrat, las ich über dem Türrahmen auf einem Schild
die Aufschrift "BÜRO". Das beugte allen Missverständnissen vor: Jawohl Igor, du befindest dich hier im Büro einer Kfz-
Werkstatt.
Auf dem Weg zu dieser Rumpelkammer hätte ich mir beinahe die
Beine gebrochen. Ich musste durch eine Halle stelzen, deren Boden komplett mit Schrott, Müll und Öllachen bedeckt war. Die Halle erinnerte mich sehr an die Scheune meines Bauern. Der alte Herr war hatte im Krieg einiges abbekommen und dafür nach dem Krieg keine Frau. Er war gehbehindert, mit nur einen Arm und ohne Kohle für einen Knecht. Deshalb beschränkte er sich auf das Wesentliche. Aufräumen der Scheune gehörte nicht dazu. Marti war ein Kerl von Anfang 50, hatte zwei gesunde Arme, Kohle für mehrere Knechte und ob er eine Frau hatte, war mir scheißegal. Er setzte aber die gleichen Prioritäten wie mein alter Vermieter und hatte für Ordnung und Sauberkeit genau so wenig übrig, wie mein Bauer. Ich hätte ja dem Langen schon aus Jux und Dollerei einen Besen in die Hand gedrückt.
Als ich einen Fuß in die Halle gesetzt hatte, war mir sofort klar, dass hier kein vernünftiger Mensch einen Gebrauchtwagen kaufen würde. Aber ich war ja ein Zocker und
nicht immer vernünftig.
Ich betrat also den miefigen Raum. Marty saß seitlich, ein
Bein über das andere geschlagen, hinter einer zum Schreibtisch umgebauten Werkbank. Er rauchte, blickte kurz von seiner Zeitung auf und grinste, um sich dann wieder seiner Zigarette und der Zeitung zu widmen. Ich lümmelte mich auf einem schäbigen Stuhl vor dem Tisch und schaute ihn mir meinen "Arbeitgeber" genau an.
Marty war ein Bär von einem Kerl. Ein Gelbbär. Seine Haut, die Haare, die Zähne beziehungsweise das, was davon noch übrig war, ... alles gelb. Nur nicht die Finger seiner rechten Hand, die waren braun. Einer dieser Menschen also, die auch im Schlaf rauchten. Ich unterzog Martys "Schreibtisch" einer kritischen Prüfung. Auf Schreibtischen hatte ich jüngst einfach zu schlechte Erfahrungen gemacht, um so ein Möbelstück einfach zu ignorieren. Da standen ein speckiges Telefon und ein überquellender Aschenbecher drauf, daneben zwei angebrochene Schachteln Reval. Als einzige Lichtquelle diente eine altmodische Schreibtischlampe.
An der rechten Seite lehnte aus mir schleierhaften Gründen eine alte Käferstoßstange mit nur einem Horn. Ich spürte ein Drücken in der Magengegend und riss mich mit aller Gewalt aus einem Gedankenwust über mit Käferstoßstangen erschlagene Menschen. 'Nee, Igor, Marty ist keine Schabe, der ist einfach nur ein Schwein. Und die Stoßstange passt ins Bild. Fahr wieder runter!' Mein Magen beruhigte sich wieder und erlaubte mir alle mögliche Gedanken über Marty.
Dieser Bär mit seinem schütteren, zurück gekämmtem Haar, die Lampe, überhaupt die ganze Szenerie erinnerte mich an den Detektiv in dieser Fielmann-Reklame, die seit Monaten immer mal wieder über die Mattscheibe flimmert. Nur dass hier anders als in dem Werbespot alles pottdreckig, Marty gelb und nicht allein war. Der Lange stand hinter ihm und brachte seine Einfünfundneunzig in martialischer Pose zur Geltung: Muskel-Shirt, die Arme vor der Brust verschränkt und der Blick eines, der entschlossen war, die Welt zu vernichten.
"Also zur Sache, Mann" nuschelte Marty und legte gelangweilt
die Zeitung zur Seite.
"Der Lange hat mir erzählt, dass´de aus Jugoslawien komms´ un´ Lust auf´en Zusatzverdiens´ hast. Stimmt´s oder hab ich Recht?"
Entweder hatte er einen Sprachfehler oder er war einfach nur zu faul, um den Mund weit aufzumachen. Ich tippte auf letzteres. Der Kerl nervte mich vom ersten Moment an.
"Ja, das stimmt, und du hast Recht", gab ich ebenso gelangweilt zurück.
"Has´te ´nen deutschen Pass?"
Ich lehnte mich zurück und schaute ihn ein paar Sekunden lang stumm an, bevor ich antwortete:
"Nein, einen jugoslawischen. Bin Gastarbeiter. Ist das ein
Problem?"
"Kein Problem, es sei denn, du bis´ eins. Führerschein?"
Ich schnaufte hörbar und zeigte mit dem Daumen auf meine Motorradjacke.
"Was meist´e denn, womit ich hier bin?"
Völlig unbeeindruckt fuhr Marty fort:
"Zeig mir ma´ den Lapp´n, vielleicht hast´e ja nur´n jugoslawisch´n Mopedführerschein. Und dein´ Pass un´ die
Papiere von deiner Karre auch!"
"Was soll denn das jetzt?" maulte ich. "Bist du ein scheiß
Bulle oder was geht hier ab?"
"Blödsinn! Will nur wiss´n, wer´de wirklich bis´ und wo´de
herkomms´, Mann. Kanns´ mir ja all´n möglich´n Scheiß
erzähl ´n!"
Das war mir ja dich richtige Mischung: Leute verheizen und misstrauisch obendrein! Ich gab mich empört.
"Ist das nicht egal? Ich meine, du bekommst die Kohle hier bar auf die Hand, und dass ich den Transfer durchziehe, liegt ja wohl in meinem eigenen Interesse!"
"Pass, Lapp´n un´ Papiere!"
Ich hätte auch gegen die Wand reden können.
"Wenn´s denn sein muss." Ich zückte meine Brieftasche und suchte darin umständlich und mit verdrehten Augen nach den gewünschten Papieren.
"Bitte sehr!" Ich warf ihm den Lappen, den Pass und den Schein rüber. Wie einem Hund.
Marty ignorierte das mit dem Hund. Er beugte sich ein wenig vor und nahm die Papiere mit der ihm eigenen Ruhe vom Tisch. Dann lehnte er sich wieder zurück, schlug die Beine wieder übereinander und blätterte in meinem Reisepass.
"Igor Iovan Mesič, Igor unterstrich´n" murmelte er, "gebor´n
1954 in Mostar. So, so."
Ehe ich mich versah, flog der Pass über den Tisch, tat einen
tückischen Aufsetzer und landete vor meinen Füßen. Das war
für den Hund.
Statt mich zu rühren, schaute ich ihn nur an. Ich hob erst die rechte, dann die linke Augenbraue und wartete auf irgendeine Reaktion dieses blöden Kerls. Fehlanzeige. Marty griff sich den KFZ-Schein.
"Brackeler Straße 3. So, so, Borsigplatz. Geile Gegend"
brummte er. Er erwartete keine Antwort und nahm sich meinen Führerschein vor.
"Tatsächlich, Klasse Eins un´ Drei." Und dann unerwartet:
"Wieso kenn´ter Lange dich nich´, wenn´de dort wohn´s? Der hat da öfter zu tun!"
Wie Lui gesagt hatte! Kleiner Goldjunge! Ich schenkte dem Langen einen kurzen abschätzigen Blick und wandte mich genervt wieder Marty zu:
"Kennst der hier jeden oder was?" Dann beugte ich mich etwas über die Werkbank und sagte langsam und beherrscht:
"Ich wohne da, und das war´s. Reiner Zufall, dass der da mich in einer Kneipe aufgegabelt hat. Ich bin nämlich kein Kneipenhänger. Aber weil du es bist, sag ich es dir, wie das war: Bin da nur rein, um Fluppen zu kaufen. Ich traf auf Landsleute und blieb dort hängen! Und auf einmal stand der Lange am Tresen."
Damit war die Sache für mich erledigt.
Marty schaute zu seinem Gorilla hoch. Der verzog das Gesicht und wusste da nichts zu zu sagen.
"Keine Freunde oder Verwandte in der Gegend? Kein Stammlokal?"
"Nein. Ich mag keine Kneipen, hab ich doch schon gesagt! Und wenn er den Borsigplatz abläuft, bis ihm schwindelig wird – er wird mich dort in den Pinten oder Trinkhallen nicht antreffen! Normalerweise jedenfalls nicht!"
So leicht ließen die beiden sich nicht überzeugen. Den Eintrag in meinen Papieren konnten sie zwar nicht leugnen, aber irgendwie kam ihnen die Sache komisch vor. Ich ging auf´s Ganze und stand auf, die Hand nach den Papieren ausgestreckt.
"Okay, Alter, gib mir meine Papiere wieder. Die Sache läuft so nicht."
Marty machte keine Anstalten, die Papiere raus zu rücken. Er
schaute mich an, dann den Langen, dann wieder mich.
"Also was jetzt?" fragte ich sauer.
Marty schnaufte: "Setz dich wieder hin, Mann! Die Sache läuft!"
Ich setzte mich wieder.
"Und wie soll das bitteschön laufen?"
"Blöde Frage" grunzte er und drückte seine Zigarette aus.
"Du überführ´s n´ Auto. Das hat´er Lange dir doch schon gesagt."
"Und das war dann auch alles, was mir der Lange gesagt hat. Nun rede mal Tacheles und mach´s nicht so spannend!"
Marty betrachtete mich von oben bis unten. Mit zusammen gekniffenen Augen. Er holte tief Luft und beugte sich etwas über den Tisch, wobei er seine mächtigen Pranken auf die
schmierige Tischplatte stemmte.
"Hör zu, du Wurst. Du kaufs´ hier´n 200/8 für 1000 Mark und überführs´ ihn nach Marokko. Wir ham ´n bischen Druck. Ham´zur Zeit nur ein´ Fahrer, un´ der is´ abgesprun´n. Sind aber noch voll im Zeitplan. Nur, dass die Karre nächste Woche raus muss. Nach Al Hoceima in Nordmarokko. Dein Abnehmer erwartet dich dort nächste Woche. Am 13 April. 13. April, Al Hoceima, Nordmarokko!. Merk dir das! Der Abnehmer zahlt dir 3500 Mark beziehungsweise´n Gegenwert in US-Dollar. Der Endkunde steht jetz´ schon fest, die Zahlung is´ also garantiert."
Er machte dem Versuch einer rhetorischen Pause. Ich sollte das alles auf mich wirken lassen. Mit einer neuen Reval im
Maul und erhobenem Zeigefinger fuhr er grinsen fort:
"Jetz´ rechne ma´ nach! Du verdiens´ 3500 Eier und machs´
obendrein noch Urlaub in Nordafrika. Oder eben nich´, wenn´de gleich wieder abhaus´. Un´ überhaupt, was soll das Gequatsche hier? Will´ste nich´ ers´mal das Auto seh´n?"
"Nee, ich will erst mal wissen, mit wem ich es zu tun habe. Rechnen kann ich später, und das auch nur, wenn ich weis, wer den Sprit, die Maut und die Fähre bezahlt. Und die Rückreise natürlich. Wenn du mir das sagst, dann kann ich rechnen."
Der Lange starrte mich böse an. Marty gab sich gelassen. Die Reval war im Ascher verqualmt. Er steckte sich eine neue zwischen die wulstigen Lippen und zündete sie in aller Seelenruhe an, bevor er losbrummte:
"Was denk´ste dir? Spesen oder was? Nee, nee, dein´ Urlaub muss´te schon selbst bezahl´n. Mach´s billig, dann bleibt mehr für dich übrig. Kannst zum Beispiel den Diesel in Holland tank´n und´n Kofferraum mit Reservekanistern vollpack´n. Und du kannst auf´er Landstraße bleib´n. Dann spar´ste die Maut. Die Rückreise dann zweiter Klasse mit´er Bummelbahn. Hat dein Vorgänger Sven auch immer so gemacht. Am Ende hatte er jedes mal 3200 Mäuse in´ ner Tasche. Alles
klar?"
Ich schaute ihn belustigt an. Hin- und Rückreise für lausige
300 Piepen? Die Reise kostete mich mindestens 500!
Ich überlegte. Wenn ich das durchzog, blieben drei Tausender für mich. Plus die 550, die ich noch übrig hatte. Besser als nichts. Das Leben in Marokko war für einen Touristen günstig, hatte Machmut gesagt. Wenn man nicht gerade ein Hotel mit europäischem Standard wählte, sondern so etwas wie eine Pension. Meinen Kühlschrank musste ich wegen Luis Fressattacke zwar wieder auffüllen, aber ich brauchte nur den üblichen Aldikram. Das passte schon. Ich kam, wenn alles glatt lief, pünktlich zum Empfang meiner Stütze nach Dortmund zurück. Dann könnte ich die Schabe ausbezahlen und hätte immer noch ein dickes Portemonaise. Dennoch: Die Sache hatte mir zu viele 'wenns', zu viele 'hätte und könnte'! Aber was hatte ich zu verlieren? Jetzt die 2000. Und wenn nicht irgendwie 1200 plus Lebensunterhalt aufbrachte, einen Finger. Mindestens. Eine weitere Regel: Reichst du dem König den kleinen Finger, nimmt er vielleicht die ganze Hand. Bis jetzt schlug die Waage, besser gesagt der Kompass eindeutig in Richtung Al Hoceima aus. 'Aber mal sehen', dachte ich weiter, 'was ich aus diesem gelben Kerl und seinem blonden Knecht noch so alles heraus kitzeln kann. Ein bischen provozieren und kucken, was passiert.'
"Also, Sven hat die Autos nicht nach Afrika gefahren, sondern geschoben, um Sprit zu sparen. Den Rückweg ist er gelaufen, und von der Kohle hat er sich anschließend orthopädische Schuhe gekauft, oder was?" zählte ich ihm mit drei Fingern vor.
Marty, dieses altes Schwein, blies mir den Rauch seiner Reval ins Gesicht. Dann hob er bedächtig den Zeigefinger und
setzte ungerührt nach, als hätte er meinen Einwand nicht
gehört:
"Ach so, und für den Marokkodeal gibt’s natürlich kein´ Vertrag. Kriegs´ ´ne Quittung über´n Autokauf, mehr nich´. Das ganze is´ nämlich ´n bischen illegal, zumindest auf marokkanischer Seite. Aber da drüben merkt ja eh keiner, was
abläuft. Wir mach´n das Geschäft mit Al Hoceima schon seit
Jahr´n, un´ es gab noch nie Schwierigkeiten. Frag´n?"
Er blies mir wieder ins Gesicht.
"Ja. Kannst du mal aufhören, mich anzublasen? Und noch was:
Wo steht der Wagen, und warum ist dieser Sven ausgestiegen?"
Diesmal lies Marti sich mit der Antwort keine Zeit.
"Ich blas´ an, wen ich will, den Daimler zeigt dir der Lange
gleich, un´ dein Vorgänger hat sich im Frühjahr in Ketama verliebt. Hat sich am Schwanz rumschnippeln lassen un´ irgend so ´ne Berberschickse geheiratet, ´ne Nichte uns´res Mittelsmanns. Jetz´ lebt´er als braver Moslem in Ketama un´ hat uns ausricht´n lass´n, wir könnt´n ihn alle mal am Arsch leck´n."
Er bleckte seine gelben Zähne.
"Wir wiss´n, wo er wohnt un´ werd´n ihn beizeiten in denselben tret´n."
Die Retoure war aalglatt.Sie ging ihm für seine Mundfaulheit ein wenig zu schnell von den Lippen, und der Langen hatte ein Grinsen unterdrückt, als Marty mir die Story vom verliebten Sven auftischte. Es gab keinen Grund zum Grinsen, denn Marty war nicht witzig. Und wenn dieser Sven witzig war, dann gab es für den Langen keinen Grund, sich das Grinsen zu verkneifen. Das alles bestätigte Machmuts und Luis Verdacht, und letztlich auch meinen Eindruck, dass hier alles oberfaul war. Und ob dieser Typ nun Sven hieß oder Hans Wurst, war egal, denn er war sowieso ohne Grabstein irgendwo in Nordafrika entsorgt worden.
Von dem Moment an nahm ich mir um so fester vor, den Deal durchzuziehen,... und Marty zu bescheißen. Aber so richtig! Weil ich ein Zocker war. Und weil ich es nicht leiden konnte, wenn man mich verheizen wollte. Meine Verbindlichkeiten Ljubiča gegenüber spielten keine Rolle
mehr. Breit grinsend zog ich die nächste Provo-Nummer ab:
"Ist doch ganz normal, dass man sich in Ketama oder wie das heißt verliebt. Also verrate mir doch mal, warum dein Babysitter krampfhaft versucht, sich das Lachen zu
verkneifen!"
Das Gesicht des Langen wurde schmallippig. Er kniff die Augen zusammen und setzte sich wütend in Bewegung.
"Alter, ich klopp dir..." Marty hob rechte Hand und unterbrach den Langen, ohne mich aus den Augen zu verlieren:
"Halt´n Rand, Langer!" Dann beugte er sich über den Tisch und zischte mich an:
"Und was dich angeht, du kleines Stück Jugoslawenscheiße, ich brauch keinen Babysitter. Merk dir das ein für alle mal! Und wenn du hier weiterhin den dicken Max markierst, dann bind ich dir die Stoßstange als Krawatte um den dreckigen Hals und jag dich vom Hof. Hast du das verstanden, du Wichser?"
Das war deutlich, und zwar in jeder Hinsicht! Wenn er wollte, dann konnte er also doch richtig sprechen.
Das mit der Stoßstange nahm ich ihm ab. Das mit dem Wegjagen nicht. Er brauchte mich ja. Nichtsdestotrotz hob ich entschuldigend die Hände und machte einen auf kleinlaut:
"Geht klar, Marty. Nichts für ungut. Kann ich mir jetzt mal
das Auto ansehen?"
"Sieh´ste, geht doch", meinte der Boss gönnerhaft und fiel
wieder ins Nuscheln zurück. Dann tauchte er unter und kramte
in den Schubladen der Werkbank nach dem Autoschlüssel. Der Lange grinste hämisch.
Marty hatte mich nicht im Blick. Das war die Gelegenheit, dem Langen zu zeigen, wo der Hammer hängt. Ich stand langsam auf, spannte meinen Brustkorb und stemmte die Arme in die Hüften. Das machte immer Eindruck, gerade mit der offenen Motorradjacke. Ich war genau so gut gebaut wie er, wenn auch einen halben Kopf kleiner. Na und, kleineren Menschen begegnete der Lange Tag für Tag, aber die Botschaft, die in meinen Augen aufblitzte, bekam er mit Sicherheit nicht täglich zu lesen: 'Ich mach dich fertig' stand in ihnen geschrieben, 'und wenn du willst, hier und jetzt.' Und siehe da, er konnte lesen. Sein Grinsen verschwand nämlich, weil er schlucken musste.
Mit einem Falken legt man sich besser nicht an. Es sei denn,
man hatte das Kaliber dieser Serbenschergen und lief zu dritt auf.
"Langer, zeig´ ihm den Wagen!" unterbrach Marty die Schreckstarre seines Handlangers und hielt ihm kopfüber den Schlüssel unter die Nase. Der Lange hatte sich schnell gefangen und zeigte mit dem Daumen nach links zu einer Seitentür. Bitte nach Ihnen, signalisierte ich und hob meinen Pass auf. Die anderen Papiere klaubte ich vom Tisch. Der Dolph-Lundgren-Verschnitt stampfte durch die Tür nach draußen und knallte mir dieselbe direkt vor der Nase zu. Ich
hatte mit nichts anderem gerechnet und Abstand gehalten.
Marty lachte scheppernd auf: "Hä, hä, hä! Was bin ich froh,
dass ihr nich´ zusamm´ nach Marokko fah´t! Dann wär´ der Wagen hin!"
Ich verließ die Bude, Marty kam hinter. Vor der Tür blieb
ich stehen. Musste mich nach dem Aufenthalt in der Dunkelkammer erst wieder ans Tageslicht gewöhnen. Es war zwei Uhr, ein Bilderbuchwetter, die Sonne lachte. Marty tauchte neben mir auf, mit Sonnenbrille. Ich blinzelte und
und suchte den Langen.
"Da steht er." Marty zeigte zum Ende des Hofes, etwa zwanzig
Meter von uns entfernt. Der Lange hatte schon Türen und Motorhaube geöffnet. Ich ging zum Auto. Ein Mercedes Benz 200D, bestimmt fünfzehn Jahre alt. Strahlend weiß. Bei näherem Hinsehen entpuppte der Lack sich nur als ein Verkaufsanstrich, und die Banausen hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Zierleisten vor dem Lackieren zu abzunehmen. Nur abgeklebt, wie man an zwei Stellen sehen konnte. Ich marschierte einmal um die Karre herum. Der zweite Eindruck besänftigte mich etwas: keine Beulen und, oberflächlich betrachtet, auch kein Rost, Profile tolerabel, neue Wischblätter. Und womit ich im Traum nicht gerechnet hätte: Der Wagen war innen und außen sauber!
"Warum habt den umgespritzt?" wollte ich wissen.
"Weil die Marokkaner ´nen Spleen für Weiß haben", schnarrte Marty, "wir´ste noch seh´n, wenn´ de dort bis´. Alles weiß. Ein Zeichen für Reinheit is´ das für die. Tja, wenn man schon so ´ne Rußschleuder fährt, sollte ´se wenig´sens rein ausseh´n."
Er lachte allein über seinen Witz alleine. Ich schaute mir das Nummernschild am Heck genauer an. Damit war der Deal eigentlich gelaufen, und mit meiner Show war auch Schluss.
"Der hat ja nur noch bis Mai TÜV!" rief mit echter Empörung.
Marty schlenderte gemütlich zu mir hin und meinte trocken:
"Na und? Du fährs´ im April. Schon vergess´n? Wo is´ das Problem?"
"Das Problem, Herr Kfz-Meister", schimpfte ich, "ist folgendes: Diese Karre ist so keine 2000 Mark wert!"
Marty ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er nahm seine Sonnenbrille von der Nase und grinste. Richtig lieb sah er aus, wenn man ihm nicht in die kleinen kalten Schweinsaugen schaute.
"Stimmt! Die Karre is´ sogar 4500 Mark wert. Denk dran, du verkaufs´ dieses Schmuckstück in´nem Land, das weder TÜV noch ´ne Begrenzung der Insassenzahl kennt, un´ in dem selbst das Fahr´n mit defekt´n Brems´n nich´ ungewöhnlich is´."
Als er von defekten Bremsen sprach, zuckte ich unwillkürlich
zusammen.
"Hä, hä, hä" schepperte er wieder und klopfte mir auf die Schulter, "hast´e Schiss? Bis´ doch nich´ so hart, wie´de immer tus´, wa? Komm, mach dir nich´ ins Hemd, Kleiner, der Wagen is´ Werkstatt geprüft. Würd´ so durch´n TÜV geh´n!"
"In welcher Werkstatt denn? Hier etwa? Dass ich nicht lache!" platze ich heraus.
Der Lange hatte die ganze Zeit neben der Fahrertür gestanden
und die Klappe gehalten. Aus Respekt. Vielleicht, weil Marty mir lachend Schiss bescheinigt hatte, traute er sich aus seiner Ecke. Er sah zugegeben etwas dümmlich aus, wie er ums
Auto herumlief und mit den Fingern schippte, so als wollte er sich zu Wort melden. Er stotterte sogar:
"Che-chef, das..., das können wir nicht auf uns sitzen
lassen! Jag den Wichser endlich vom Hof!"
Der Lange spielte den Affen und Marty hatte seinen Spaß daran. Ich nahm mein Spiel wieder auf, indem ich klein bei gab:
"Okay, okay, deine Werkstatt ist schon in Ordnung, Marty." Ich drückte die Kofferraumhaube zu und fragte:
"Kann ich mal eine Probefahrt machen?"
"Na klar" meinte er. Der Lange verlor an Fahrt.
"Der Schlüssel müss´te steck´n. Langer, mach ma´ vorne dicht."
Das bremste den Langen völlig aus. Marty war der Boss. Missmutig schlich er nach vorne und knallte die Motorhaube zu. Ich schwang mich hinter´s Steuer, ließ vorglühen und fuhr die Hofzufahrt rauf. Das Wohnhaus und die Werkstatt waren in den Vaerstenberg hinein gebaut. Die Zufahrt war so steil, dass mir die Karre beinahe absoff. Durch den Rückspiegel sah ich den Langen schimpfend vor Marty herum hüpfen und gestikulieren. Und ich sah den ersten Hügel Dortmunds, der sich am Horizont hinter Marty und seinem Äffchen abzeichnete. Meine Heimat, Dortmund-Schnee. Wenn ich wollte, konnte ich den Langen mit dem Fernglas beim Popeln beobachten. Aber wer wollte sich das schon antun?
Marty und Dolph glaubten, dass ich am Borsigplatz wohnte. Hätten die gewusst, dass ich quasi ihr Nachbar war, dann wäre der Lange wohl möglich noch auf die Idee gekommen, mich nachts zu besuchen.
Am Borsigplatz hatte ich nie wirklich gewohnt. Das wollte ich wohl mal, weil meine damalige Tussi in der Brackeler Straße wohnte. Ich hatte von meinem Bauern und seinen Güllepfützen die Nase voll gehabt und mich sowieso mehr bei ihr auf als in Selm aufgehalten. Nach drei Monaten wollten wir offiziell zusammen ziehen und uns die Miete teilen. Ich war also morgens ganz gegen meine Art zum Amt gelatscht und hatte alles klar gemacht, und das auch nur, weil sie darauf bestanden hatte. Für Pia, so hieß die Süße, musste alles immer seine Ordnung haben. Ihr zu Liebe hatte ich Stunden auf dem Amt zugebracht. Als ich damit durch war, und bei ihr, besser gesagt bei uns an der Haustür klingelte, flog ein Fenster auf und meine Klamotten raus. Die Schallplattensammlung kam gleich hinterher. Sie hatte davon Wind bekommen, dass ich noch eine andere Tussi am laufen hatte. Dumm gelaufen. Ich ließ die kaputten LP´s und die Klamotten auf dem Gehweg liegen - man hat schließlich seinen Stolz – und zog mit dem, was ich am Leibe trug, wieder bei meinem Bauern ein. Etwa ein Jahr später, ich war gerade nach Schnee gezogen, lief mir der Lange zufällig am Borsigplatz über den Weg. Ich hätte meine Suzi schon zweimal ummelden müssen. Der Zufall und meine Schlampigkeit in amtlichen Dingen schnürten das alles zu einem passenden Gesamtpaket.
Ein Blick auf meine Aufenthaltserlaubnis hätte natürlich einige Fragen aufgeworfen. Aber Marty hatte nicht danach gefragt, und wenn, dann hätte ich sie in meiner Brieftasche
nicht finden können. Leider zuhause liegen gelassen.
Ich fuhr über den Vaerstenberg in Richtung Schanze. Der Daimler machte sich gut: Federung und Spur okay, keine
Probleme mit den Steigungen in Kirchhörde, gutes Bremsverhalten, und auf der A 45 machte er ohne weiteres Sprints mit 150 bis 160 Sachen. Zurück zur Werkstatt. Die 30 Kilometer Probefahrt hatten mich von den Qualitäten des Daimlers überzeugt. Mit TÜV ging die Karre auch in Deutschland noch für gut 3000 Eier durch. Der Hase lag klar in Marokko im Pfeffer, und das war eben das Problem. Wenn ich Marty jetzt schon 500 Mark in den Hintern blies, kam ich
aus der Nummer nicht mehr so ohne weiteres raus. Und um in
der Nummer drin zu bleiben, musste ich noch mehr wissen.
Ich stellte den Wagen ab, ging auf direktem Weg zum Büro und hämmerte gegen die Seitentür. Der Lange öffnete wortlos.
"Un´?" fragte Marty. "Was sag´ste zu dem Schätzchen?"
"Geht wohl. Nicht schlecht, euer Schätzchen."
Ich hatte die Anzahlung in der Tasche, verlor aber keinen Ton darüber. Stattdessen versprach ich, das Auto am nächsten Tag abzuholen. Er könnte ruhig schon mal den Kaufvertrag aufsetzen.
"Moment", schnarrte Marty, "du has´da was vergess´n!" Er rieb Zeige- und Mittelfinger aneinander.
Ich stellte mich doof.
"Häh?"
"Die Anzahlung! Das hat der Lange garantiert gesagt. Sag´ter immer!" Marty schaute mich böse an.
"In echt?" Ich hob die Schultern. "Nö, keine Ahnung."
Das passte ihm gar nicht.
"Ohne Anzahlung keine Deal."
Ich schüttelte den Kopf.
"Das sehe ich anders. Ohne Deal kein Fahrer!"
Marty drohte aus der Haut zu fahren. Er stemmt wieder seine Pranken auf den Tisch.
"Cool bleiben, Marty!" Und mit Blick auf den Langen sagte ich:
"Als der da mich schräg von der Seite angequatscht hat, war mein Deckel schon fast rund. Hat er dir das nicht gesteckt? Also, ich hatte zwar keinen Filmriss, aber an alles, was er gequakt hat, kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Und jetzt sag ich dir, wie es weitergeht und wie nicht: Ich fahr jetzt bestimmt nicht zurück nach Dortmund, um die Kohle zu holen. Ich komme morgen ohne Motorrad hier her und fahr mit dem Benz nach Hause. Und ich bringe die 1000 Mark mit. Da kannst du einen drauf lassen, Marty!"
Wenn Blicke töten könnten! Er murmelte ein paar Verwünschungen vor sich hin.
"Gut, oder auch nich´ gut." schnappte er schließlich. "Morg´n geg´n 14 Uhr. Un´ wehe, du komms´ nich´! Wir wiss´n, wo du wohns´!"

*

Ich fuhr vom Vaerstenberg aus direkt zu einem Schlüssel- und Schilderdienst und ließ mir ein einfaches Klingelschild mit meinem schönen Namen prägen. Dann weiter zur Brackeler Straße. Meine Hoffnungen wurde nicht enttäuscht: Das schäbige Haus Nummer 3 hatte wie erwartet Leerstand. Ich beklebte die Klingel einer leerstehenden Wohnung. Nur für den Fall, dass der misstrauische Marty den Langen los schickte, um meine Adresse kontrollieren.
Dann erstmal zu Lui. Meine Karre war zu auffällig, und die Glatzen kannten sie. Wir vereinbarten einen Motorradtausch, Lui war das egal, weil so gut wie nie nach Dortmund fuhr, und ich fuhr zum ersten mal eine Gummikuh.
Es war 17.00 Uhr, als ich an einem kleinen Tischchen in meiner Dachkammer mit Zettel und Stift überlegte, was ich wie, wann und warum vorbereiten musste. Ich erstellte eine Liste mit diversen "Was-wäre-wenn-Fragen":
worst case möglich (j/n) Wenn "nein", warum nicht? Wenn möglich, was tun?
Wagen verreckt unterwegs auf der Piste ja Marty in den Arsch treten
werde bei der Einreise vom Zoll hops genommen nein Zöllner sind von Marty informiert und geschmiert
werde auf dem Weg nach Al Hoceima abgezogen ja eine andere Route hin wählen, als die Gauner erwarten
werde am Übergabeort vor der Übergabe abgezogen ja mind. einen Tag vorher vor Ort die Lage checken, anderen Übergabeort bestimmen, Auto woanders abstellen
werde während der Übergabe abgezogen ja s.o.
werde nach der Übergabe abgezogen ja s.o. und Kohle rechtzeitig sichern
verliere alles und/ oder bin am Stichtag nicht oder ohne Kohle in Dortmund ja bin total am Arsch, verliere mind. einen Finger; Plan B: besser irgendwo in Afrika bleiben
der Deal klappt, ich stehe ohne Auto mit meinen Stempeln im Pass an der Grenze ja nach dem Deal Wagen, Papiere, Ausweis etc als gestohlen melden, einen Raubüberfall anzeigen?
So sah es aus. Deprimierend, finden Sie nicht? Aber ich hatte weniger Angst um mein Leben als mehr Sorge darum, dass ich Marty nicht auf´s Kreuz legen konnte. Ich las die rechte Spalte noch einmal durch und machte mir dazu Notizen:
– Marty in den Arsch treten: nicht möglich, weil auf der Flucht
– Straßenkarte von Marokko besorgen; Al Hoceima über Umwege anfahren
– Abreise am 8. April
– wie sichere ich die Kohle? Zigarrenhülsen?
– Wagen ummelden, einen Tag später Fahrzeugschein als
verloren melden und einen neuen beantragen
– Ersatznummernschilder; wie komme ich an Stadt- und TÜV-Siegel? Klauen!
– Spaten oder Klappspaten, Benzinkanister, Heizöl vom Bauern
– Zelt, Luftmatratze und Schlafsack für alle Fälle von Lui
– Fremdenverkehrsbüro
– Konsulat oder Botschaft in Marokko: Wo? Und bekam man dort ohne weiteres Ersatzpapiere? Und geht das schnell?
Was ich in kürzester Zeit noch alles regeln und klären musste! Die Sache mit den Stempeln und den Plaketten bereitete mir am meisten Kopfzerbrechen. Darum wollte ich mir aber später einen Kopf machen, denn ein Blick auf die Uhr, es war 17.20 Uhr, setzte mich erst einmal in Gang. Ich schmiss mich auf´s Moped, um wenigstens die Straßenkarte und etwas zum Verstecken der Kohle zu besorgen, bevor die Läden schlossen.
In einer Reisebuchhandlung erstand ich eine Maiers-Straßenkarte von Marokko. Karten von Spanien und Frankreich besaß ich schon, wenn auch nicht die aktuellsten. Nebenan in einer Schreibwarenhandlung einen Stoß Löschpapier gekauft und um 17.50 Uhr saß ich wieder auf Luis Kuh und fuhr weiter. Hohe Straße Ecke Malinkroth gab es eine gut sortierte Tabakwarenhandlung. Ich parkte beim Gericht und rannte, als ging es um mein Leben. Gegen 17.55 Uhr stürmte ungebremst den Laden, las die Öffnungszeiten im Vorbeilaufen. Mir blieb noch gut eine halbe Stunde. Außer Atem schaute ich mich um:
Edelzigarren hinter Glas. Einzeln verpackt in Aluminiumröhrchen. Meine Augen flogen vor den Auslagen hin und her wie die eines Falken über die Kaninchenwiese. Genau so stumm, und Minuten lang. Ich war der einzige Kunde im Laden, und dachte, ich wäre allein. Aber da stand doch einer hinter dem Verkaufstresen. Ich fixierte ihn. Er hatte die Augen eines ängstlichen Kaninchens. Wie passend! Seinen kugelförmigen Kopf verunstaltete eine Hornbrille mit Lupengläsern. Der Mann sah absolut geschäftsschädigend aus, und er rauchte bestimmt auch nicht, was er verkaufte. Er schaute mich eine Weile verlegen an. Als es ihm unangenehm wurde, senkte er den Kopf. Ich ignorierte ihn höflich und sichtete wieder die Auslagen. Er folgte meinen Blicken. Und meinen Schritten, als ich vor der Glasvitrine auf und ab ging. Klar, ich sah für ihn nicht wie jemand aus, der Zigarren für fünf oder zehn Mark das Stück kaufte, sondern eher wie einer, der ihm ein paar auf´s Maul haute und die Zigarren klaute. Wenn er sich nun in die Hosen machte und irgendeinen versteckten Alarmknopf drückte? Scherereien mit der Polizei standen nicht auf meiner Liste, also sah ich ihn bewusst freundlich an und sagte:
"Keine Angst, ich tue Ihnen nichts. Ich suche nur etwas bestimmtes."
Nicht, dass ihn das beruhigt hätte. Er schwieg. Ich schwieg. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und trat nervös auf der Stelle. Er räusperte sich und putzte umständlich seine Brille. Der arme Kerl stand Todesängste aus. Erneutes Räuspern, das irgendwie auch umständlich klang. Der ganze Mensch war ein Umstand. Endlich brachte er unter Aufwendung all seiner Kraft diesen einen Satz hervor:
"Suchen Sie etwas Bestimmtes?"
Ich stöhnte innerlich auf. Wie erklärte man einem Verkäufer
Marke Heinz Erhardt, dass man Zigarren in Aluminumhüllen suchte, die echt was für den Arsch waren? Nicht die Zigarren, sondern die Hüllen. Aluminiumhüllen á la Papillon.
Feuchtigkeitsdicht eben.
Sie kennen 'Papillon' nicht? Dann sollten Sie Ihn lesen, nachdem Sie meine Geschichte gelesen haben. Sehr spannend und wenn auch voller Schicksalsschläge, so doch Mut machend. Als ich mit Zwanzig seinen Roman gelesen hatte, dachte ich nicht im Traum daran, dass mich die Sache mit den Stöpseln einmal so inspirieren würde.
"Geben Sie mir bitte mal diese beiden Zigarren!" sagte ich schließlich und zeigte auf zwei unterschiedliche, in Röhrchen eingepackte Artikel, die neben einer Kiste
Handelsmarke lagen.
Heinz zierte sich. Ich blieb freundlich und gelassen, aber fragen Sie mich nicht, was mich das kostete! Zu seiner Sicherheit legte ich ihm 15 Mark auf die Glasablage. So teuer war das Scheißzeug nämlich.
"Seh´n Sie, ich will Sie nicht über´s Ohr hauen."
Wohl in der Annahme, dass ich an den Zigarren schnuppern wollte, öffnete er zwei Zigarrenkisten, die hinter ihm im Regal standen.
"Nein! Bitte geben Sie mir die einzeln verpackten hier!"
Er sah mich fragend an, und Stress hin und her, er vergaß nicht, das Geld vom Tresen zu klauben. Sicher ist sicher!
"Ich interessiere mich vor allem für die Hüllen. Der Inhalt ist mir eigentlich egal. So was rauche ich nicht."
Der Verkäufer starrte mich ungläubig an und tauchte wortlos hinter der Theke unter. Ich hörte ihn mit einer Plastiktüte rascheln. Danach folgte eine Reihe dumpf metallisch
klingender Geräusche.
Heinz Erhardt der Zweite tauchte wieder auf und hielt mir mit hochrotem Kopf eine kleine weiße Einkaufstüte offen hin. Sie war zur Hälfte mit Zigarrenhülsen aller möglichen Kaliber gefüllt. Atemlos presste er unter Husten und Räuspern hervor, dass die meisten Kunden die Hülsen zur Entsorgung auf dem Tresen liegen ließen, und ob mir damit geholfen wäre?
Ich hätte am liebsten einen Satz über die Theke gemacht und den Heinz an meine Brust gedrückt. Aber dann wäre er wohl in meinen Armen gestorben. Ich beließ es lieber dabei, ihn wie ein Kind anzustrahlen, das vor dem Weihnachtsmann steht.
"Hey Mann, das ist ja klasse. Und ob Sie mir damit geholfen
haben! Was wollen Sie dafür haben?"
Er hatte meine 15 Mark die ganze Zeit über in der Faust gehalten. Hastig legte er sie wieder auf die Glasplatte, schluckte und stotterte:
"Nein, nein, nichts! Gar nichts! Hier haben Sie Ihr Geld
zurück, und wenn ich Ihnen geholfen habe, dann sind wir jetzt doch fertig, nicht wahr?" Er wies mich mit flehendem Blick zum Ausgang.
Ich wollte mich aber dankbar zeigen und hielt ihm einen Fünfer hin:
"Dann geben Sie mir doch bitte einfach zwei Schachteln Camel 'ohne'."
Schlaganfall, Herzinfarkt, plötzlicher Hirntod... Heinz war all dem sehr nahe. Er hastete zum Zigarettenregal und aushändigte mir das Gewünschte aus. Jetzt erst nahm er meinen Fünfer wahr. Die Kaninchenaugen starrten mich wie die Schlange an.
'Der traut sich nicht, für eine Mark Wechselgeld die Kasse zu öffnen!' dachte ich.
Ich hob beschwichtigend die Hände und meinte, er sollte den Rest behalten, nahm die Tüte mit den Stöpseln und die Schachteln und trat raus auf die Malinkrothstraße.
Hinter mir schepperte es. Ich drehte mich um und sah gerade
noch, wie der arme Kerl in affenartiger Geschwindigkeit die Tür zudrückte, abschloss und ein Schild mit der Aufschrift "Bin gleich wieder da!" an die Scheibe hängte. Und weg war er! Auf´s Klo oder zur Mama, weis der Geier, wohin. Leute gibt´s!
Ladenschluss! Heute ist es unvorstellbar, dass die Geschäfte in einer Haupteinkaufsstraße um 18.30 Uhr schließen, aber 1986 war das noch Gang und Gebe. Also fuhr ich nach Hause. Während der Fahrt konzentrierte ich mich mehr auf das Problem mit den Stempeln und den Plaketten, als auf den Verkehr. Die BMW fuhr wie von allein nach Selm. Ich würde nachts nach Dortmund fahren, um die Häuser ziehen und Nummernschilder klauen. Dann die Plaketten abpuhlen, und das war´s. Dachte ich jedenfalls. Und nach dem Deal den Bullen in Marokko was von einem Raubüberfall erzählen? 'Entschuldige, Chef, alles weg, böse Marokkaner. Ich guter Jugo, jetzt ohne Papiere!'. Ein Schelm, wer da was Böses dachte! Das würde nicht klappen. In Al Hoceima konnte ich bei meinem Glück genau an den Bullen geraten, der von Marty gekauft worden war. Aber auch in jedem anderen Kaff war so ein Auftritt irgendwie nicht angesagt. Wenn die Uniformierten dort im Dreck rum wühlten, nach Zeugen suchten und keine fanden, wenn sie mir im Verhör das Wort im Mund herum drehten.... Abgehakt! Dringender als alles andere brauchte ich einen zweiten Reisepass! Und der Stempel? Ich konnte den Zöllnern ja schlecht zwei Ausweise hinhalten, 'und diesen hier bitte nur einmal abstempeln!' Irgendwie war ich froh, dass ich für das Auto keine Anzahlung gemacht hatte. 'Wahnsinn, dieses Projekt, der totale Wahnsinn, Igor! Du bist bescheuert, wenn du das machst! Einen Finger verlieren ist aber auch bescheuert!' So schossen meine Gedanken hin und her, und ich merkte gar nicht, wie das Moped vor dem Bauernhaus zum Stehen kam. Da stand ich nun mit meinem Talent. Nur gut, dass noch Bier im Hause war!
Nach einem kühlen Blonden und einer gepflegten Lucky probierte ich alle Alu-Hülsen aus, die mir irgendwie geeignet schienen. Nicht, dass ich sie mir alle hinten rein steckte. Später, wenn zwei oder drei zur engeren Wahl standen, dann ja. Der Job war irgendwie beschissen. Aber zunächst sortierte ich alle Röhrchen mit verbeultem Verschluss oder kaputtem Gewinde aus. Die restlichen füllte ich mit Löschpapier, dichtete die Schraubverschlüsse mit Fett und Binsen ab, legte sie in die Badewanne und ein Handtuch drüber. Zum Abpolstern. Ich beschwerte das ganze mit Kalksandsteinen – im Hof lagen genug davon rum – und ließ Wasser in die Wanne ein. So hoch, bis die Steine bedeckt waren. Morgen früh würde ich sehen, welche Röhrchen meines Hinterns würdig waren und welche nicht.
Zwei Nummernschilder besorgte ich mir in der Nacht auf einem Parkplatz am Stadtrand. Wegen der Plaketten. Ich hatte Erfolg, sprich ich wurde nicht dabei erwischt, und das, obwohl ich mit meinen Gedanken ganz woanders war. Die kreisten nämlich in einer Tour um Pass und Stempel.
Daheim beim Bauern misslang allerdings jeder Versuch, eine Plakette, ob nun Stadt- oder TÜV-Siegel, unbeschädigt von den Schildern zu entfernen. War wohl von Amts wegen so gedacht, dass immer ein Stück vom Siegel am Blech kleben blieb, egal, wie ich es anstellte. Was tun? Die Plaketten mit einer Blechschere ausschneiden und auf die Ersatzschilder aufkleben oder nieten war keine gute Idee. Es sollte wenigstens echt aussehen, wenn ich mit geklauten Plaketten unterwegs war. Keine Ahnung, wie ich das hinkriegen konnte, aber einen weiteren Satz Schilder brauchte ich auf jeden Fall.
Die Idee kam mir auf dem Weg zu Luis Moped! Es gab doch auch Kennzeichen, die so komische Töpfe auf den Nummernschildern hatten. Offiziell hießen diese Dinger Siegelnäpfe. So etwas gab es in Dortmund nicht, und es war die Frage, ob es solche Kennzeichen überhaupt in NRW gab. Gesehen hatte ich so etwas bislang nur bei einem Auto aus Kassel, und bei einem aus München. Also fuhr ich dort hin, wo Hessen oder Bayern in Dortmund ihre Autos parkten: in den großen Parkhäusern und Parkplätzen in der Innenstadt. Also die Nacht zum Tag machen und mich nicht erwischen lassen.
Um drei Uhr saß ich wieder in meiner Kammer, und ich hatte ganze Arbeit geleistet: Je zwei Sätze Kennzeichen mit diesen komischen Siegelnäpfen und je zwei Sätze Dortmunder Schilder. Dortmund war bald kennzeichenlos, aber 'Sicher ist sicher', dachte ich mir, 'für den Fall, dass ich mit der Blechschere Murks mache.' Weitermachen konnte ich leider erst, nachdem ich bei der Zulassungsstelle und im Schilderladen war. Morgen früh, aber der Drops war quasi schon gelutscht. An dem Pass lutschte ich noch.

*

Es gibt Probleme, die nimmt man mit ins Bett. Ich wollte und ich musste schlafen, war aber total aufgekratzt, wohl auch wegen meiner "Erfolge", aber vor allem, weil mir dieser Reisepass nicht aus dem Kopf ging. Irgendwann, im Halbschlaf, meine Gedanken zogen weite Kreise, dachte ich an den geplatzten Urlaub mit Pia´s Vorgängerin. Mein letzter Urlaub, geplant, gebucht und festgeklopft, ihr Jahresurlaub. Wir wollten nach Spanien fahren, und während der Vorbereitungen hatte ich meinen Reisepass nicht finden können. Spurlos verschwunden. Das Mädel probte den Aufstand, und mir blieb nichts anderes übrig, als bei der jugoslawischen Botschaft einen neuen Pass zu beantragen. Der Botschaftsangehörige beteuerte, dass ich das Dokument garantiert bis zum Abreisetag in den Händen halten würde. Geschissen, es dauerte mehrere Wochen. Als ich den Reisepass endlich abholen konnte, hatte die Tussi mir längst den Laufpass gegeben und war alleine in den Urlaub gefahren. Es war nicht wirklich ein Trost gewesen, dass ich nun einen nagelneuen Pass und aktuelle Straßenkarten von Frankreich und Spanien besaß. Wie ich mich damals geärgert hatte...
Der alte Reisepass! Ich stand senkrecht und hellwach im Bett. Es musste rein gar nichts bedeuten, dass ich ihn damals nicht gefunden hatte! Hatte ich beim letzten Umzug nicht die Schubladen der Schränke und Kommoden so wie sie waren abtransportiert? Und meine Kästen, Kisten und Kartons, die auf dem Speicher standen, nicht ebenso? 'Zeit für eine Nachtschicht, Igor!' dachte ich.


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Tag der Veröffentlichung: 11.09.2011

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