„Ich HASSE dich!“
Mein Schrei hallte durch das große Wohnzimmer, in dem ich zitternd vor Wut kauerte, während meine Mutter entsetzt die Hände vor das Gesicht hielt.
„Liebling, ich...“
„NEIN!“, brüllte ich und ein erstickter Laut kam aus meiner Kehle. Ich spürte, wie sich dicke, heiße Tränen hinter meinen Augenwinkeln bildeten und warm an meinen Wangen herab flossen.
„Es tut mir Leid, Schatz...“
„Du lügst! DU LÜGST! Wie konntest du dich nur von Dad scheiden lassen? WIESO?“
Ich konnte mich nun nicht mehr länger zurückhalten und in einem Strudel aus Trauer und Verzweiflung brach die Welt über mir zusammen. Schluchzend schlang ich die Arme um meine Brust und konnte meine Mutter nur noch durch eine verschwommene Wand aus Tränen ausmachen.
„Wir haben uns nicht mehr geliebt...es war aus und vorbei...“
„ICH HASSE DICH!“, kreischte ich wieder und sah mich nach irgendeinem Gegenstand um, den ich nach meiner Mutter werfen konnte. Ich fand die Fernbedienung und fackelte nicht lange. Meine Mutter fing sie jedoch auf und legte sie rasch beiseite. „Liebling, bitte beruhige dich! Du machst es nur noch schlimmer...“
„ICH? Ich mache es schlimmer? DU hast doch alles zerstört! Wegen DIR ist unsere Familie zerbrochen. Wegen DIR habe ich keinen Dad mehr. Wegen DIR hat er sich das Leben genommen.“
Dieser letzte Satz hatte meine Mutter so sehr getroffen, dass sie verletzt das Gesicht verzog und ebenfalls anfing, zu weinen. „Das ist nicht wahr, und das weißt du. Tief in deinem Inneren bist du dir bewusst, dass dies nicht der Grund war, weshalb sich dein Vater umgebracht hatte.“
Ich wollte ihre Stimme nicht mehr hören. Die Wörter. Die Wahrheit. Es fühlte sich an, als würde mir jemand den Boden unter den Füßen davon reißen und mein Herz zerquetschen.
„Ich habe keinen Vater mehr“, flüsterte ich tonlos und meine Pupillen starrten ausdruckslos auf den Parkettboden. Meine Augen brannten bereits. „Ich habe keinen Vater mehr.“
Meine Mutter schluchzte laut auf und wollte auf mich zugehen, doch ich hob die Hand und wies sie zurück. „Fass...mich...nie...mehr...an.“
„Schatz, du weißt, dass niemand von uns die Schuld trägt. Die Entscheidung lag allein bei deinem Vater.“
„Du bist Schuld“, murmelte ich kraftlos und sah wieder auf. Unsere Blicke kreuzten sich und ich erkannte die Verlorenheit in den Augen meiner Mutter. „Du, du, du...“
„Dein Vater war krank, Liebling. Er hatte Krebs, er wollte so nicht mehr weiterleben. Jeder Tag war für ihn ein Kampf, er hatte keinen Willen mehr.“
Es kostete meine Mutter so viel Mut, das auszusprechen. Doch sie hatte Recht. Ich wusste, dass mein Dad krank war. Und das er nur noch wenige Monate zum Leben gehabt hatte. Aber wenn meine Mutter sich nicht von ihm getrennt hätte, dann hätte er etwas besessen, wofür sich sein Kampf gelohnt hätte.
„Dein Vater hat dich geliebt, Süße. Du warst sein ein uns alles. Er wollte nicht, dass du eines Tages dabei bist, wenn er zu schwach zum reden gewesen wäre. Er wollte, dass du ihn gesund und fröhlich in Erinnerung behältst.“
„Das ist mir egal!“, protestierte ich. „Ich vermisse ihn, Mum, verstehst du? Ich vermisse ihn so schrecklich.“ Plötzlich war die Mauer zwischen mir und meiner Mutter gefallen und ich rannte auf sie zu, damit sie mich in den Arm nehmen konnte.
„Ich vermisse ihn auch...er war ein guter Mensch“, flüsterte sie mir ins Ohr und küsste meine Stirn.
Während wir uns schluchzend aneinander krallten und uns gegenseitig trösteten, festhielten, hauchte ich ganz leise und mit dünner Stimme: „Es tut mir so Leid, Mum...ich liebe dich.“
Tag der Veröffentlichung: 01.08.2012
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Widmung:
Verloren sein heißt, den Boden unter den Füßen zu verlieren