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Prolog




Mit polternden Schritten bestieg Corin die Treppe und machte keinen Halt vor der verschlossenen Tür zu Eddies Zimmer. Sie platzte lauthals rein, ohne Rücksicht auf Verluste.
„Eddie!“, begrüßte sie freudig ihren besten Freund.
Wie üblich fand sie ihren kleinen Streber über seinen Schreibtisch gebeugt. Oft fragte sie sich ob er, wenn er erwachsen ist, noch genauso ernsthaft über seinen Büchern saß, oder sogar noch verbissener sein würde, wenn es um seine Studien ging. Seit sie ihn kannte, was schon der Fall war, als sie in den Kindergarten kamen, galt sein Interesse ausschließlich Meermenschen, wie er sie immer nannte. Eines Tages wollte er welche entdecken, denn er war absolut davon überzeugt, dass es sie tatsächlich gab.
Unnötig war es dabei zu erwähnen, dass er wegen seines außergewöhnlichen Hobbys, in der Schule immer gehänselt wurde. Die Kinder nannten ihn oft Fischfresse, Meerjungmann – oder auch mal Meerjungfrau – und machten dabei immer diese Fisch-Schnute mit den Lippen. Deshalb war es auch nicht einfach für Corin mit ihm befreundet zu sein. Über die Hänseleien, die sie auch ihr wegen ihrer Freundschaft zu Eddie an den Kopf warfen, darüber konnte sie hinwegsehen. Aber zur Weißglut brachte es sie schlicht, dass sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen konnten. Oft genug flogen deshalb auch schon die Fäuste und Corins Schulakte war voller Vermerke von Prügeleien mit den anderen Jungs ihrer Klasse.
Und obwohl ihr ihre Freundschaft zu Eddie in Verbindung mit ihrer hitzköpfigen Persönlichkeit bisher viel Ärger eingehandelt hatte, konnte und wollte sie diese Freundschaft nicht aufgeben. Eddie war zu wichtig für sie. Er faszinierte sie. Dass ein Mensch so fest an etwas so fantastisches glauben konnte, war einfach unbegreiflich. Vielleicht würde ihre Freundschaft sich ändern, wenn sie dieses Mysterium für sich auch entdeckte. Aber bis dahin, ließ sie sich von niemand einreden, dass ihr bester Freund ein Spinner war – was im Grunde eigentlich auch stimmte. Meerjungfrauen gibt es einfach nicht, musste sie sich eingestehen.
„Eddie!“, ermahnte sie ihn um seine Aufmerksamkeit zu erhaschen. „Was machst du denn schon wieder?“ Vorsichtig bei ihrer Annäherung an ihn, nicht auf seine wertvollen Bücher über Meere und Unterwasserleben zu steigen, trat sie nur auf die sicheren Stellen, dem blanken Teppichboden seines Zimmers. Das war aber gar nicht so einfach, denn Eddie´s Zimmer war kaum zu sehen, unter all den Wälzern. So sah es oft bei ihm aus. Sogar kurz nachdem seine Mutter sein Zimmer aufgeräumt hatte, weil sie es nicht mehr aushielt, dass man es nicht mehr betreten konnte. Diese Eigenschaft machte Eddie für Corin nur noch sympathischer.
Über seine Schulter blinzelnd, versuchte sie zu erkennen, was er da schon wieder an seinem Schreibtisch trieb. Er zeichnete etwas. Aber kein Bild, sondern eine Tabelle.
„Was machst du da?“, fragte sie erneut, weil er sie wie immer, wenn er „arbeitete“ ignorierte. „Wofür ist das? Etwa eine Hausaufgabe von der ich nichts weiß?“ Beinahe panisch dachte sie angestrengt nach. Es wäre übel, würde sie wieder eine Hausaufgabe vergessen. Ihre Klassenlehrerin hatte sich da unmissverständlich ausgedrückt.
Aber Eddie zeigte mit seinem Daumen nur über seine Schulter. Corin folgte ihm mit einem Blick und erkannte eine erfreuliche Neuanschaffung in Eddies Zimmer. Mit langen Schritten streifte sie durch sein Zimmer auf den Tisch zu, auf dem ein Aquarium aufgebaut war. Diesmal machte sie sich keine Mühe seinen Büchern auszuweichen und balancierte über sie hinweg.
„Du hast ein Aquarium?“, fragte Corin ihren Freund. „Mit Fischen drin?“
Sie starrte durch das dicke Glas des Bottichs und suchte nach Leben im Wasser. Aber alles was sie darin fand war Dreck. Enttäuscht entfernte sie sich einen Schritt und runzelte die Stirn. Sie drehte sich zu Eddie um und sagte, „Da ist ja gar nichts drin.“
„Natürlich ist da was drin.“, sagte Eddie fast schon aufgebracht und verließ seinen Arbeitsthron um sich zu mir an meine Seite zu gesellen. Er starrte selbst durch das Glas und deutete mit seinem Finger auf etwas. „Da, siehst du?“ Er deutete auf eine andere Stelle. „Und da. Und da. Und da.“ Jedes Mal zeigte er auf ein neues Nichts.
Corin aber konnte ihm nicht folgen, beugte sich ihm zu Liebe aber wieder nach vorn und versuchte erneut etwas zu erkennen. Sie schüttelte mit dem Kopf. „Nein, da ist doch nichts. Ich seh jedenfalls nichts.“
„Naja, jetzt ist auch noch schwer zu erkennen. Ich hab sie auch gerade erst heute eingefüllt.“, gab Eddie zu.
„Eingefüllt?“, fragte Corin ungläubig. Was meinte er damit? Was eingefüllt?
Als Antwort nahm er etwas vom Tisch, neben dem Aquarium, und zeigte es ihr. Was war das? Corin nahm es selbst in die Hand um es besser begutachten zu können. Eine Verpackung. Und was stand drauf? Seapeople – Meermenschen. Einen Augenblick starrte sie verdutzt auf die aufgerissene Papierverpackung in ihrer Hand. Dann rollte sie mit den Augen.
„Eddie.“, sagte sie mit langgezogenen Vokalen. „Was erwartest du, dass da rauskommt?“
„Meermenschen.“, sagte er schlicht und nahm Corin die Verpackung eingeschnappt aus der Hand.
„Das glaubst du wirklich, oder?“, fragte sie vorsichtig. Fasziniert war sie von seiner Glaubensstärke, aber manchmal befand sie das woran er so fest glaubte als es nicht wert.
In die Ecke gedrängt sagte Eddie, „Ein Versuch ist es wert.“ Sie hatte ihn verletzt, soviel war klar. Aber zurücknehmen konnte sie das Gesagte nun auch nicht mehr. Also stand sie dazu.
„Und wie lange wird es dauern, bis man was lebendes erkennen kann?“, fragte Corin herausfordernd.
Er antwortete eher kleinlaut, „Keine Ahnung“, setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und widmete sich erneut seinen Büchern. Eingeschnappt.
„Kannst du deine Bücher zur Abwechslung mal liegen lassen?“, fragte Corin in der Hoffnung ihr möge es gelingen das Thema zu wechseln. „Die Chanukka-Kerzen werden bald angezündet.“
Corins Familie war nicht jüdisch, aber Eddies. Und Aufgrund der engen Freundschaft ihrer beider Familien, wurde ihre immer zu Chanukka eingeladen mit Eddies zu feiern. Sie waren auch nicht die einzigen Gäste. Zur Freundschaft gehörte noch eine dritte Einheit. Die Familie eines Klassenkameraden von Corin und Eddie. Nur konnten sie nicht behaupten, dass diese Freundschaft auch für diese drei galt. Simon, so der Name des Klassenkameraden, war einer der schlimmsten Peiniger Eddies. Nur hielt er sich im Zaun, wenn Eltern in der Nähe waren. Da gab er sich immer wie ein Musterknabe.




Kapitel 1




Das Telefon klingelte etliche Male bevor Corin sich dazu aufraffen konnte nach dem Hörer in der Dunkelheit zu tasten. Wie spät es war schaffte sie jetzt nicht herauszufinden, aber laut ihrer inneren Uhr war es sehr spät.
„Hallo?“, meldete sie sich schlaftrunken am Telefonhörer. Verflucht sei derjenige, der am anderen Ende verharrte, dafür dass er Corin geweckt hatte.
„Ich hab sie!“, verkündete die Stimme auf der anderen Seite der Leitung aufgeregt.
„Was?“, fragte Corin den Unbekannten verwirrt. Wer hat was?
„Corin, ich habe den wohl besten Beweis für ihre Existenz! Der Fund des Jahrhunderts – nein, was red ich denn da, des Jahrtausends. Glaub mir, es is – es is unglaublich!“
„Was? Wer spricht denn da überhaupt?“, fragte Corin, jetzt aufrecht im Bett. Sie drehte ihren Radiowecker zu sich und schärfte ihre müden Augen um die rotleuchtende Uhrzeit zu erkennen.
„Äh – Eddie“, sagte die Stimme und wurde darauf noch wahnwitziger und aufgeregter, „Hier ist Eddie, Corin! Und ich habs geschafft! Ich hab den perfekten Beweis für ihre Existenz. Du musst kommen und es dir ansehen – Bitte!“
„Wessen Existenz?“, fragte sie Eddie.
Eine kurze Pause entstand in der Leitung. „Die von Meermenschen natürlich!“
Ihr stockte der Atem. Aber nicht weil sie ihm blind so einfach glaubte. „Meermenschen?! Hast du überhaupt eine Ahnung wie spät es ist, Eddie?!“
„Was? Äh – keine Ahnung, irgendwann am Spätnachmittag.“, antwortete er.
„Spätnachmittag?! Wo bist du? Australien?“
„Naja, ja, vor der Küste von Australien.“, sagte er verdutzt. „Aber zurück zu den Meermenschen. Corin, bitte, du musst herkommen und es dir ansehen.“
„Was ansehen, Eddie?“, fragte sie seufzend und rieb sich dabei ihre brennenden Augen. „Hast du etwa einen Fisch gefunden, der Ähnlichkeiten mit Menschen aufweist?“, fragte sie spöttisch.
Nach der High School gingen Eddie und Corin noch zusammen aufs College und zur Universität. Ihre Freundschaft behielten sie immer bei. Das war auch nicht schwer, immerhin hingen sie immer zusammen.
Eddie hatte Meeresbiologie studiert und seine Doktorwürde mit Auszeichnung erhalten. Nach dem Studium erhielt er sogar ein Forschungsstipendium eines renommierten Instituts. Seit dieser Zeit, als er mit seiner exzessiven Arbeit erst so richtig anfing, litten ihr Kontakt und damit auch ihre Freundschaft. Corin hegte immer noch eine tiefe freundschaftliche Zuneigung für ihn, aber er machte es einem nicht leicht mit ihm befreundet zu sein, wenn er sich nie meldete.
„Äh, so etwas in der Art.“ Jetzt wurde Corin doch ein wenig hellhörig. Widerwillig. „Ich habe echte Exemplare, Corin. Eine Frau, einen Mann und ein Junges.“
Ihr Hirn arbeitete nun auf Hochtouren. Was erzählte er ihr da eigentlich? Meermenschen? Er hat Exemplare davon? Soll das ein Scherz sein? Nach Monaten der Funkstille meldete er sich plötzlich mitten in der Nacht und faselte etwas davon, dass er echte Meermenschen gefunden hat. Doch unglaublich das auch klang, sie war gewillt seiner Einladung nachzukommen und zu ihm zu reisen. Sie wollte einer der ersten Menschen sein, die diese Schwesternspezies, die im Meer zu Hause war, zu Gesicht bekamen – Vorausgesetzt sie existieren wirklich.
„Was ist? Kommst du, wenn ich dir ein Flugticket schicke?“, fragte er erwartungsvoll. „Ich will, dass du sie siehst.“ Corin sagte zögerlich, außer Stande einen klaren oder vernünftigen Gedanken zu fassen, zu. „Klasse!“, platzte er heraus. „I-I-Ich freue mich.“, stotterte er. „Ich will unbedingt, dass du sie siehst.“ Seine Freude darüber war deutlich durch das Telefon zu hören. „Sie sind wunderschön.“, schwärmte er gedankenverloren und legte auf.

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Tag der Veröffentlichung: 13.06.2011

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