Prolog
Unsicher darüber, ob ich das Geschenk, das mir meine Eltern mit ihrem Tod hinterlassen haben, so einfach wegwerfen sollte, stellte ich die Holzkiste, die ich mir mit auf den Markt genommen hatte, auf den relativ stabil wirkenden Boden und stellte mich auf den trotzdem wackligen Untergrund. Es war nicht leicht das Gleichgewicht zu behalten. Aber ich schaffte es. Ich stand auf der Kiste und konnte über den gesamten Markt sehen. Noch nie zuvor war es mir möglich gewesen über all die miteinander handelnden Köpfe hinwegzusehen. Ich war nicht besonders groß. Doch jetzt machte das nichts mehr.
Schon als ich zusammen mit der Kiste den Markt betreten hatte, sahen sich einige Händler und Käufer zu mir um, versessen darauf meine Ware zu inspizieren, bevor ihnen jemand zuvor kommen konnte. Aber die Kiste war leer. Ich nicht vor etwas zu verkaufen – oder auch etwas zu kaufen. Ich hatte ein weit gefährlicheres Ziel vor Augen.
Trotzdem blickte ich in den ersten Augenblicken meiner neu gewonnenen Größe nervös und etwas unsicher in die Menge. Jetzt, wo ich hier oben war, fiel mir auf, dass ich mir gar nicht überlegt hatte, wie ich die Aufmerksamkeit aller auf mich ziehen konnte. Denn offensichtlich reichte es nicht mich einfach hier aufzustellen.
So schnell, wie sich die ersten Köpfe zu mir gedreht hatten, wendeten sie sich desinteressiert wieder von mir ab. Sie hatten erkannt, dass ich keine Waren anzubieten hatte. Und das war im Grunde der einzige Beweggrund, warum man sich auf den Überfüllten Platz in der Mitte der Stadt in Distrikt 26 wagen würde. Hin und wieder kam es hier sogar zu zerquetschten Menschen als Folge einer Massenpanik. Doch heute war es nicht ganz so überfüllt, sodass es zu einer Massenpanik kommen würde. Außer die Menschen hörten das, was ich zu sagen hatte. Ich hätte nämlich vor, ein äußerst sensibles Thema anzusprechen.
Und als dieser Gedanke wieder durch meinen Kopf streifte, wusste ich, dass ich die gesamte Aufmerksamkeit der Händler und Käufer – und erst recht die, der Wachen – auf mich ziehen würde, sobald ich die ersten Worte meiner vorbereiteten Rede ausgesprochen hatte.
„Telepathen, hört mich an!“, schrie ich regelrecht über das wilde und durcheinander gehende Feilschen hinweg. „Erhebt euch und kämpft um eure Rechte!“ Obwohl meine vorbereitete Rede weit länger war, kam ich nicht dazu sie vorzubringen. Ich hatte gehofft, ich würde wenigstens zu dem Teil kommen, in dem ich jeden Telepathen und nicht-Telepathen Ansprach, und um eine offene und friedliche Koexistenz flehte.
Doch der gleißende Blitz, der meinen Körper durchzog, verhinderte weiter Worte. Die Wachen hatten den strikten Auftrag, bei jeglichem Verdacht auf einen Telepathen zu schießen. Jetzt war das Opfer meines Vaters mit Sicherheit zunichte gemacht. Es tat mir leid. Aber ich hatte ein weit größeres Ziel, als nur zu überleben, wie meine Eltern es sich gewünscht hatten. Ich wollte eine Verbesserung. Eine Verbesserung für meine Leute, die Telepathen.
Meine Eltern sollten stolz darauf sein, was ich mit meinem, mir geschenkten Leben, angestellt hatte. Auch, wenn ich es nun riskierte dieses Geschenk zu verlieren, hatte ich einen Plan, der beinhaltete, dass ich ins Gefängnis kam. Natürlich durfte niemand mit Sicherheit wissen, dass ich ein waschechter Telepath war. Sonst würde man mich sofort in die Zone deportieren. Weitab von NAA, unserem zu Hause. Dort, wo die Zombies nach all den Jahren noch immer ihr Unwesen trieben.
Bevor ich das Bewusstsein vollkommen verlor, konnte ich gerade noch mitbekommen, wie einer der in schwarz gekleideten Wachen meinen Arm ergriff und mich anhob, um mich weg zu schaffen. Wenn ich wieder zu mir kam, würde ich schon in einer Zelle sitzen. Von dort aus würde man mich in einen Raum schleppen, in dem man mich einen Test unterzog, der feststellen würde, dass ich ein Telepath sei. Und schließlich würde ich meine Reise in die Zone antreten. Von einem Verfolger beobachtet, war es mir dann möglich, den Ruf der Telepathen wiederherzustellen.
Die Verfolger waren Teil einer exzentrischen und brutalen Unterhaltung der Bewohner von NAA. Den deportierten Verbrechern werden Computerchips eingepflanzt, dessen Signal die Initiatoren dieser Unterhaltungsshow verfolgen konnten. Doch die Verfolger, die nichts anderes waren als Mini-Satteliten, mit Kameras ausgestattet, verfolgten ihren eigenen Verbrecher ganz automatisch. Die eingefangenen Bilder und Szenen wurden von den Initiatoren schließlich öffentlich geschaltet, wenn dem Verbrecher gerade etwas Interessantes passierte.
Meinen Eltern war es bestimmt nicht Recht, dass ich mein Leben so leichtfertig riskierte. Doch ich verspürte einen inneren Drang, der mich dies vergessen ließ.
1.
Da war dieses Gefühl in meinem Körper, das ich nicht ganz ausmachen konnte, das mich aber wieder zu Bewusstsein brachte. Es war irgendwie heiß und kalt zugleich, wie es durch jede Faser meiner Muskeln drang, jeden versteckten Winkel meiner Adern durchfloss und in meinem gesamten Körper ausstrahlte.
Ich hörte Stimmen, die mir aus weiter Ferne etwas zuflüsterten. Konnte aber nicht ganz heraushören, was sie mir mitteilen wollten. Und als sie näher zu kommen schienen, war ich mir auch gar nicht mehr so sicher, dass sie mit mir kommunizierten. Es waren zwei verschiedene Stimmen. Sie reagierten aufeinander, weshalb sie wohl nicht mit mir redeten. Immerhin war ich ja auch Bewusstlos. Zumindest für sie.
„Wie lange dauert das denn noch?!“, sagte der ruhelosere von beiden.
„Es kann sich nur noch um Augenblicke handeln, Zhi Zhe.“, erwiderte der andere in Demut.
Zhi Zhe?! Der Zhi Zhe war hier in meiner Zelle? Was machte er hier?
Normalerweise wurde man bei Verdacht auf Telepathie mittels Bewusstlosigkeit in seinen eigenen Körper gesperrt, damit man niemanden etwas anhaben konnte, bis man deportiert wurde. Deshalb überraschte es mich umso mehr, dass ausgerechnet der Zhi Zhe in meiner Zelle war, und man mich aus der Bewusstlosigkeit holte.
Der Großvater des heutigen Zhie Zhe, hatte zu seiner Zeit unser zu Hause aus dem Nichts aufgebaut und sich infolgedessen selbst zum König ernannt. Dazu erschuf er Titel für seine Familienmitglieder. Diese Titel waren einfache Wörter in einer längst vergessenen Sprache, so hieß es.
Mit jeder Menge mutiger und starker Männer und Frauen reiste er zu dem Kontinent, der vor dem Zusammenbruch der damaligen Zivilisation, den Namen Afrika trug. Daher kam auch der heutige Name, NAA – das stand für Neues Altes Afrika.
Es wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als meine Augen zu öffnen, wenn ich herausfinden wollte, was gerade dieser Mann hier wollte. Noch nie zuvor war ich ihm persönlich begegnet. Lediglich von Bildern in den Märkten, oder aus den Übertragungen auf den öffentlichen Leinwänden der Märkte, kannte ich sein Gesicht. Man sagte, er verließ nur selten die Hauptstadt. Und wenn er sich dort mal raus wagte, dann ganz sicher nicht in meine Heimat, die zu einer der ärmsten zählte.
Der Schein des Lichtes durch meine Augenlieder warnte mich bereits davor, dass der Raum hellerleuchtet war. Trotzdem konnte ich nicht gleich etwas Genaueres erkennen. Aber es war nicht schwer zu begreifen, dass ich der weißen und sterilen Decke des Raumes entgegen blickte, da ich immerhin noch ein Gefühl dafür, ob ich lag, saß oder stand. Aus meinen Augenwinkeln war der Zhi Zhe ganz deutlich zu meiner Rechten sehen. Üblicherweise zeigte er sich in der Öffentlichkeit in einem offiziellen Gewand, wie zum Beispiel eine aus teuren Stoffen gefertigte Robe. Doch ich schätze, das hier konnte nicht ganz als offizieller Besuch gelten.
Ohne danach gebeten zu werden, richtete ich mich auf, um am Rand der Liege zu sitzen, auf der ich lag. Und genau darin lag das Problem. Das Geräusch einer aufladenden Impulswaffe, zwang mich dazu inmitten meiner Bewegung zu stoppen und an Ort und Stelle zu gefrieren. Das führte dazu, dass ich meine ohnehin schon angeschlagenen und schmerzenden Muskeln anstrengen musste, um die Wachen, die zu beiden Seiten mit ihren Waffen auf mich zeigten, nicht zum Schießen zu provozieren.
„Keine schnellen Bewegungen.“, sagte einer der beiden. Als ich meine Augen noch geschlossen hatte, hatte ich die beiden nicht bemerkt.
Offensichtlich hatten diese Männer keine Ahnung, wozu ich im Stande war. Ich brauchte mich nicht zu bewegen, um mich verteidigen zu können. Nicht einmal, wenn es sich um zwei Männer mit Impulswaffen handelte.
„Setz dich auf.“, befehligte mich der Zhi Zhe.
Ich konnte ihn auf den Tod nicht ausstehen. Zwar hatte ich den Eindruck, dass er sein Möglichstes tat um ein guter Herrscher zu sein. Aber das änderte nichts daran, dass ich seinetwegen mein ganzes Leben verborgen verbringen musste. Und das Blut meiner Eltern klebte an eben diesen, in weißen Handschuhen gekleideten, Hände. Ironisch, dass er Weiß trug. Als ob er sich keiner Schuld bewusst war und seine Hände in purer, weißer Unschuld wusch.
Umso mehr hasste ich ihn dafür, dass ich ihm die Macht über mich gab, mich herum zu kommandieren. Doch sein Besuch verwunderte mich so sehr, dass ich beschloss, ihn erst einmal anzuhören. Außerdem waren da noch die beiden Kerle mit den Impulswaffen, die jeden Augenblick auf mich schießen könnten. Natürlich ich die beiden entwaffnen, aber dann hätte ich ein Problem in Bezug auf meinen Plan. Sie würden mich sofort in der Zone aussetzen, ohne mir einen Verfolger auf die Fersen zu schicken. Dann würde niemand sehen, dass Telepathen nicht so grausam waren, wie alle immer annahmen.
Der Schmerz in meinen, vom Schock angestrengten Muskeln, ließ in dem Moment nach, in dem ich mich entspannt hinsetzen und an der Wand, an der meine Liege stand, anlehnen konnte. Doch das Atmen brachte immer noch ein Unwohlsein hervor, das ich überwinden musste.
Obwohl ich nichts als Hass für diesen Mann empfand, erwies ich ihm dennoch den Respekt, ihm nicht direkt in die Augen zu sehen und meinen Kopf gebeugt zu halten. In Sekundenschnelle war es ihm möglich, wenn es ihm beliebte, mich töten zu lassen. Und auch, wenn es mir auch möglich war, war ich dennoch nicht dazu bereit jemanden das Leben zu nehmen.
„Ich will alleine mit ihr sprechen.“, sagte der Zhi Zhe.
Augenscheinlich, bedeutete mit mir alleine zu sprechen, es zusammen mit den beiden Wachen zu unternehmen. Denn nur der Mann, der in Demut zum Zhi Zhe gesprochen hatte, verließ den Raum, während die beiden zu meiner linken und rechten, sich keinen Zentimeter bewegten.
„Der Test hat ergeben, dass du einer von ihnen bist.“, sagte der Zhi Zhe, gleich nachdem die Tür geschlossen war. „Ein Telepath.“
Test? Sie haben den Test schon gemacht? Wann? Ich dachte immer, dass es dabei nötig war bei Bewusstsein zu sein. Zu meinem Plan gehörte es den Test zu manipulieren. Sie sollten, bis ich in der Zone war, denken, dass ich ein normaler Mensch war – ein nicht-Telepath. Sonst würden sie mich wohl nicht am Leben lassen.
War er deshalb persönlich hier? Um mir mein Todesurteil persönlich mitzuteilen? Aber ich konnte nicht sehen, warum er sich deshalb dem Risiko aussetzen würde, einem Telepathen zu nähern. Für den Zhi Zhe, den wichtigsten Mann der Nation, war das zu gefährlich. Besonders, wenn man bereits wusste, dass ich telepathisch war.
„Seit drei Jahren haben wir keinen richtigen Telepathen mehr gefunden.“, erzählte er mir. „Und es musst wohl Schicksal sein, dass uns gerade jetzt einer ins Netz ging.“
Was bin ich? Ein Fisch?
„Es gibt da eine Aufgabe für dich.“ Aufgabe? „Wenn du diese Aufgabe zu meiner Zufriedenheit erfüllst, lassen wir dich nach Neo Gaia gehen. Damit wirst du deren Problem.“
Neo Gaia war neben NAA die einzige richtige Zivilisation, die sich aus der Asche der Apokalypse vor mehr als vierhundert Jahren erhoben hatte, und nicht wieder in sich zusammen gefallen war. Früher hieß es Australien.
„Aufgabe?“, fragte ich. Diesmal sah ich ihm sogar direkt in seine Augen. Schon aus den Übertragungen kannte ich die unnatürlich wirkenden, gefärbten Iris seiner Augen, die in den reicheren Distrikten üblich waren. Doch als ich sie jetzt so nah und in natura erlebte, war irgendwie surreal. Das Weiß war so wider die Natur und auch ein wenig gruselig. Ich fragte mich, ob sie im Dunkeln vielleicht sogar leuchteten.
„Vor drei Tagen ist der zweite Erzi aus unseren Gärten entführt worden.“, erklärte er mir.
Der erste Erzi, beschrieb den Titel des erstgeborenen Sohnes des Zhi Zhe. Es bedeutete lediglich Sohn. Der zweite Erzi war der zweitgeborene männliche Nachkomme des Zhi Zhe.
„Die Entführer kontaktierten mich und sagten mir, dass sie meinen Sohn schutzlos in der westlichen Zone gelassen hätten.“
„Und was soll ich da tun? Ich bin ein einfaches Waisenkind, das auf der Straße lebt. Glauben sie vielleicht ich kenne die Entführer, und könnte sie zu ihnen führen?“
„Achte auf deinen Ton!“, motzte mich der Wachmann an, der zu meiner rechten stand und schlug mir mit dem Lauf seiner Waffe an meinen Kopf. „Das ist der Zhi Zhe, mit dem du hier sprichst.“
Ich rieb mir meine lädierte Schläfe, aus der sich bald eine Beuel heraus bilden würde. Der Zhi Zhe beruhigte den schlagwütigen Wachmann mit einer einfachen, fast zu übersehenen Kopfbewegung.
„Ich will, dass du in die westliche Zone gehst und ihn findest. Mir kam zu Ohren, dass das, für einen Telepathen, ein leichtes war.“, sagte der Zhi Zhe weiter.
„Leicht ist es nicht.“, widersprach ich ihm. „Und vollkommen unmöglich, wenn ich bedenke, wer mich darum bittet.“
Ich schätze, so hat noch nie jemand mit ihm gesprochen. Nicht einmal ein Mitglied seiner Familie. Außer höchstens sein Vater, der aber schon lange tot ist. Doch irgendwann gab es immer ein erstes Mal. Auch für den Zhi Zhe. Und warum sollte ich es dann nicht sein. Immerhin sah ich immer noch das dickflüssige, rubinrote Blut meiner Eltern an seinen Händen – auch wenn dort natürlich nichts weiter ist, als seine weißen Handschuhe.
„Du hast Mut, so mit mir zu sprechen.“, sagte er, nachdem er den schlagwütigen Wächter daran gehindert hatte, mich erneut zu schlagen. „Ich schätze Mut an Menschen. Das ist eine der wichtigsten Eigenschaften, die ein Mensch in der heutigen Zeit haben kann.“
Wenn man bedenkt, in was für einer Hölle wir lebten, hatte er wohl Recht. Selbst, wenn wir relativ behütet in NAA waren. Natürlich durfte man dabei die Kriminalität, die innerhalb der Mauern herrschte nicht beachten, wollte man sich hier sicher fühlen.
„Und sie haben nerven, mich um so etwas zu bitten, nachdem sie meine Eltern getötet haben.“ Ich war vorbereitet ihm noch mehr an den Kopf zu werfen, doch dazu kam es nicht. Wieder wurde ich von dem schlagwütigen Wachmann geschlagen. Diesmal aber mitten ins Gesicht. Automatisch griff ich mir an die Nase, wo der Lauf der Waffe des Wachmanns, einen unumstößlichen Schaden angerichtet hatte. Blut klebte an meinen Fingern, als ich sie mir ansah. Wegen des Schmerzes wagte ich kaum meine Nase anzufassen.
„Vielleicht bist du auch einfach nur dumm. Es ist wirklich unklug in deiner Lage aufsässig zu sein. Gibst du mir nicht Recht?“, fragte der Zhi Zhe.
„Soll ihr Sohn doch verrecken!“, sagte ich. „Dann wissen sie vielleicht, wie es ist, jemanden zu verlieren, den man liebt.“
Das vage Kopfnicken, das er dann von sich gab, signalisierte mir, dass gleich etwas passieren würde. Und natürlich sollte ich Recht behalten, denn dem Wachmann war es ein Signal mich wieder zu erschießen. Derselbe gleißende Blitz, der mich auf dem Marktplatz außer Gefecht gesetzt hatte, traf mich wieder.
„Wahrscheinlich wärst du ohnehin dumm genug, dich von Zombies auffressen zu lassen, noch ehe du beide Beine auf den Boden der Zone gesetzt hättest.“, hörte ich den Zhi Zhe, als ich langsam wieder das Bewusstsein verlor.
Als ich wieder zu mir kam, hatte ich keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist, aber ich vermutete mich bereits am Rande der Zone. Da der Test, der mich als Telepath entlarven sollte, offenbar schon gelaufen war, bevor mich der Zhi Zhe zurück in die Realität holen ließ, um mich darum zu bitten seinen Sohn zu finden. Wobei bitten zu weit gegriffen war. Es glich eher einer Aufforderung, auf die er allerdings nicht sehr hartnäckig bestand. Hätte ich eine Chance meine Eltern zurück zu holen, würde ich alles tun, was dafür nötig war und würde nicht eher locker lassen, bis sie wieder an meiner Seite waren. Entweder er liebte seinen Sohn nicht genug und es war ihm nicht so wichtig, was aus ihm wurde. Oder er traute mir nicht genug, weil ich ein Telepath war. Ich ging mal davon aus, dass es sich um die erstere der beiden Möglichkeiten handeln musste. Immerhin ging es hier um seinen Kind. Auch, wenn er den Telepathen gegenüber kein Herz zeigte, so musste er es doch bei seinem Sohn tun. Oder?
Weit überraschter als bei dem unerwarteten Besuch des Zhi Zhe, war ich, als ich vernahm, dass ich immer noch in meiner Zelle war. Und das wieder einmal nicht alleine. Wieder hörte ich stimmen, bevor ich meinen Kopf überhaupt zu meiner Rechten drehen und die Anwesenden sehen konnte.
„Wie lange dauert das denn noch?“, fragte ein ungeduldiger junger Mann. Ich glaube, ihn irgendwoher zu kenne. Doch mir wollte nicht in den Sinn kommen, woher.
„Ihr müsst Geduld haben, mein Erzi. Es ist nur wenige Stunden her, dass ich sie für euren Vater aufgeweckt habe.“, sagte der selbe demütige Untergebene, der schon mit dem Zhi Zhe hier war.
Jetzt war auch der Erzi hier. Da der jünger Sohn des Zhi Zhe entführt worden war, war es eindeutig der ältere von beiden. Ich fragte mich, was er nun wieder hier wollte. Bestimmt hatte er das gleiche Anliegen wie auch schon sein Vater.
Seine Augen, die meinen regungslosen Körper scannten, waren, bis auf seine Pupillen, weiß. Unter den reichen Bürger von NAA, war es üblich nicht nur die Haare in den verrücktesten Farben zu färben, sondern auch die Iris der Augen. Doch niemanden, außer der Familie des Zhi Zhe war es erlaubt die Farbe Weiß zu benutzen – aus welchem Grund auch immer. Die weißen Augen waren nicht das einzige, das an seinem Äußeren wider die Natur war. Seine Haare waren auch weiß gefärbt. Diese Farbe schien mir so wie so eine beliebte Farbe der Familie des Zhi Zhe zu sein. Bei jedem öffentlichen Auftritt, war die dominanteste Farbe ihrer Kleidung weiß. Das war immer das erste, was mir auffiel, wenn ich eine Übertragung mitbekam.
„Na endlich.“, sagte der Erzi, als er bemerkte, dass ich ihn ansah. „Kann sie sprechen?“, fragte er, an den anderen Mann im Raum gewandt.
„Ja.“, antwortete dieser. „Aber ich bitte euch nochmals, zwei Wachen anzufordern. Telepathen sind gefährlich. Und sie ist noch dazu wütend auf euren Vater…“
„Ja, ja. Ich kann schon gut auf mich selbst achtgeben.“
„Aber –“, fing der andere Mann an.
„Danke, sie können sich jetzt zurückziehen.“, befahl der Erzi mit Nachdruck. Wie auch schon sein Vater, bei seinem Besuch bei mir, wartete der Erzi ab, bis die Tür wieder geschlossen war, ehe er mit mir sprach. „Ich weiß, dass mein Vater schon bei dir war. Und ich weiß, was deine Antwort war.“
„Was willst du dann von mir?“, fragte ich verächtlich.
„Du hast wohl keine Ahnung wie man mit jemanden meines Standes spricht.“, sagte er mindestens so abfällig, wie ich.
„Doch das hab ich. Mir ist es nur vollkommen egal. Besonders, weil ich bald nicht mehr hier bin.“
Wobei, wenn mein Plan aufging, so wie ich mir das vorstellte, würde ich irgendwann wieder zurück nach NAA kehren. Nur würde ich in ein anderes, ein besseres NAA kommen, als das ich es verlassen hatte. Ich war nicht so naiv zu glauben, dass allein mein Auftrete in der Zone alles verändern würde. Ich wusste, dass es nur ein kleiner Schritt in die richtige Richtung war, wenn die Bewohner von NAA mich, einen Telepathen, zurück wählen würden.
„Hör zu.“, sagte der Erzi. Er klang fast schon verzweifelt. „Ich kann dafür sorgen, dass man dich nicht in die Zone deportiert. Du könntest einfach nach Neo Gaia gehen und dort ein neues Leben anfangen. Das heißt, wenn du meinen Bruder findest. Aber selbst dann würde ein Elite Team dafür sorgen, dass auch dir nichts passiert, während ihr auf der Suche nach meinem Bruder seid.“
„Leider widerspricht das meinen Plänen.“, sagte ich, ohne zu viel zu verraten. Er durfte meinetwegen zwar wissen, dass ich in die Zone wollte, aber nicht, dass ich beabsichtigte mich anzusträngen, dass die Bevölkerung mich wieder zurück wählte. Denn dann könnte er mich ganz einfach erpressen und damit meine Pläne durchkreuzen, indem er einfach veranlasst, dass ich keines Falls zurückkommen dürfe.
„Du bist der erste richtige Telepath, den man seit drei Jahren gefunden hat. Du bist unsere einzige Hoffnung ihn wieder zu finden. Wir haben nämlich keine Ahnung wo er ist. Und es würde zu lange dauern überall nach ihm zu suchen. Bis wir ihn gefunden haben, ist er wahrscheinlich schon tot. Er ist erst zwölf Jahre alt, noch ein Kind. Er kann sich nicht verteidigen. Du musst ihn suchen. Bitte.“
Ich wusste nicht, dass der Junge noch so jung war. Da, wo ich herkam, erfuhr man herzlich wenig von der Obrigkeit in der Hauptstadt. Erst recht, wenn man als Kind ganz alleine war und kein zu Hause hatte, in dem es einen Fernseher gab.
Es tat mir Leid, was mit dem Jungen geschehen ist. Trotzdem konnte ich nicht von meinem ursprünglichen Plan abweichen. Der Zhi Zhe hatte doch sowieso alle möglichen technischen Mittel und Wege ihn ausfindig zu machen. Der Junge musste also höchstens ein paar Stunden oder Tage ausharren, bis man ihn fand.
Die Telepathen hingegen konnten meiner Meinung nach nicht mehr warten. Seit Jahrhunderten behandelte man uns schlecht. Man unterdrückte uns, machte alles möglichen erniedrigenden und unmenschlichen Experimente mit uns und man hasste sie zu Unrecht. Wir waren normale Menschen. Gut, wir mögen ein wenig mächtiger sein als die nicht-Telepathen, aber das hieß noch lange nicht, dass wir sie unterdrücken würden. Ich konnte dem Jungen nicht helfen.
„Ich kann nicht.“, sagte ich.
„Aber –“
„Ich sagte ich kann nicht.“ Ich schrie ihn regelrecht an. Es fiel mir schwer abzulehnen, jetzt wo ich wusste, dass es hier um ein halbes Kind ging. Da konnte ich nicht auch noch gebrauchen, dass er mich schon fast anflehte. Es ist kalt, so zu reagieren. Das wusste ich. Aber hunderte von Soldaten konnten ausschwärmen, um den zweiten Erzi zu suchen. Doch niemand dieser Soldaten würde sich für einen Telepathen einsetzen. Irgendjemand musste das ändern.
Und mal abgesehen davon, würde der Zhi Zhe vielleicht sogar daraus lernen, dass er die Telepathen nicht so behandeln konnte. Dass er sogar hin und wieder auf unsere Hilfe zurückgreifen muss, sie aber nicht bekommt, wenn uns ausrottet oder unterdrückt. Aus fatalen Fehlern lernt man mehr und nachhaltiger, als aus einfachen Lektionen, die sich leicht vergessen lassen. Diese Situation kam mir daher sogar etwas gelegen.
Sofort als ich diesen Gedanken in meinem Kopf gefasst hatte, hasste ich mich dafür. Ich hatte allen Grund dazu wütend auf den Zhe Zhi zu sein, nachdem er meine Eltern hat ermorden lassen, weil sie etwas waren, wofür sie gar nichts konnten. Dennoch hatte ich nicht das Recht die Entführung eines kleinen Jungen als Glücksfall für meinen Plan anzusehen. Das war grausam von mir. Meine Eltern hatten mich mit Sicherheit nicht zu so einem herzlosen Monster erzogen, das ich gerade herausgelassen hatte.
„Bitte. Er ist doch noch so jung.“, flehte mich der Erzi an.
Ich wagte es nicht ihm in die Augen zu sehen, als ich ihm mit meinem Schweigen ein weiteres „Nein“ signalisierte. Ich durfte einfach nicht von meinem Plan abweichen. Wer weiß, wie lange ich dort draußen in der Zone den Helden geben musste, bis die Bevölkerung darüber hinweg sah, dass ich ein Telepath bin und mich zurückkommen ließ.
„Du kannst doch nicht einfach so zu sehen, wie mein Bruder stirbt, obwohl du etwas dagegen machen könntest.“ Ich schwieg weiterhin und zog damit seinen Hass auf mich. „Und da wunderst du dich, dass wir Telepathen hassen? Wenn ihr uns nicht umbringt oder manipuliert, dann weigert ihr euch, uns zu helfen! So wird niemand anfangen euch zu vertrauen!“
Am liebsten würde ich ihn auch anschreien und ihm etwas an den Kopf werfen, wie ich es bei seinem Vater tat. Aber das konnte ich nicht. Er hatte sogar irgendwie Recht, mit dem, was er über das Vertrauen sagte. Doch wie konnten wir jemandem helfen, der uns solange schon unterdrückt und Familien wie meine auseinander riss.
„Wann ist die Hinrichtung?“, fragte er, als ich wieder nichts sagte.
Hinrichtung?
„In zwei Tagen, mein Erzi.“, sagte eine Stimme über einen Lautsprecher über uns in der Decke.
Hinrichtung?! Meine … Hinrichtung?
Natürlich. Wie konnte mir das nur entgehen? Sie wussten bereits, dass ich ein Telepath war und alle Telepathen wurden nicht einfach in die Zone entlassen. Dort würden sie eine viel zu große Bedrohung darstellen. Sie könnten sich zusammen tun, eine Armee bilden und sich rächen. Bei besonders begabten Telepathen musste es nicht einmal eine große Armee sein, um katastrophalen Schaden anzurichten. Dieses Risiko konnte der Zhi Zhe selbstverständlich nicht eingehen. Also tötete man sie.
Wie konnte ich nur nicht daran denken, als der Zhi Zhe wusste, dass ich ein Telepath war? Vermutlich hatte ich einfach nicht genug Zeit um über meine Begegnung mit ihm nachzudenken. Ich konnte mich nämlich nicht daran erinnern, dass es mir möglich war nachzudenken, als ich in diesem bewusstlosen Zustand war. Es war, als ob ich tief und fest schlafen würde, nur ohne Träume.
Das machte einfach alles zunichte. Diese Hinrichtung durchkreuzte nicht nur meine Pläne, den Ruf der Telepathen widerherzustellen, sondern auch das Geschenk meiner Eltern. Als sie herausfanden, dass es zwei Telepathen in unserer kleinen und damals noch glücklichen Familie gab. Aus irgendeinem Grund war man sicher, dass meine Mutter eine war. Doch man wusste nicht, ob mein Vater oder ich der zweite Telepath war. Also stellte sich mein Vater und behauptete er sei es, um mich zu schützen. Um mir eine Chance zu geben, ein erfülltes Leben zu leben.
„Kriegen sie es hin, dass es noch heute ist?“ Mit dieser Frage holte der Erzi mich aus meinen Gedanken. Was hatte er da gerade gefragt? Ob sie mich noch heute töten können?
Kalter Schweiß brach überall an mir aus. Panik war das einzige zu dem ich noch im Stande war. Sie wollen mich töten. Und das sobald wie mögliche. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, als sich mein Atem, bedingt durch die Panik und das Adrenalin, beschleunigt. Plötzlich konnte ich, egal was ich tat, meine Lungen nicht mehr mit genügend Sauerstoff füllen. Als ob mein Körper versuchen würde, den Sauerstoffbedarf eines ganzen Lebens auszugleichen. Dasselbe galt für mein Herz, das aus meiner Brust zu entkommen versuchte. Vielleicht dachte es, es könne ohne mich weiter leben, dass ich lediglich eine Last war.
„Nun ja,“, sagte jemand durch den Lautsprecher, „es bedarf einiger Vorbereitung. Und zudem ist es eigentlich auch gegen das Protokoll.“
„Das ist mir egal. Ich bin der Erzi. Und ich will, dass sie noch heute hingerichtet wird.“ Als er den letzten Teil sagte, sah er mir direkt in die Augen. Sein Blick war hart, eisern und kalt. So musste ich wohl auf ihn wirken.
„Jawohl.“, sagte der Lautsprecher.
Ich war so in Schock, wie einfach man hier über mein Leben entschied, dass ich weder wusste wohin ich sehen sollte, um meinem Zustand Ausdruck zu verleihen, noch, dass ich etwas sagen konnte. Doch es machte wohl auch keinen Unterschied, wenn ich es könnte. Niemand hier würde mein Leben verschonen, nur weil ich einen schockierten Gesichtsausdruck hatte. Und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein Kopf war vollkommen leer. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Denn jeder Gedanke formte sich sofort in: Sie wollen mich töten.
„Gut.“, sagte der Erzi selbstzufrieden. „Ach und wenn du meinem Bruder begegnest, da wo du nach deinem Tod hin gehst, sag ihm ruhig, dass du Schuld an seinem Tod hast.“
Gerade, als ich genug Sinn in mich hinein gebracht hatte, dass ich bereit war etwas zu sagen, um ihn aufzuhalten wurde mein Körper schon wieder von einem Blitz durchzogen, und ich verlor wieder das Bewusstsein.
Ich bin tot, war alles an Gedanken, was ich noch formen konnte.
2.
Ich hörte, wie sich die Tür öffnete, und fragte mich, wie das sein konnte. Holten sie mich wieder aus meinem bewusstlosen Zustand, damit ich mitbekam, wie sie mich töteten?
Als ich meine Augen öffnete, um dem auf dem Grund zu gehen, entdeckte ich einen Mann in weißem Kittel, der mit einer Spritze herum hantierte, und so erschrocken war, dass er fast rücklings hinfiel als er zurück stolperte.
Die Spritze. War das eine Giftspitze? War er gerade dabei mich zu töten? Entrüstet und erregt stand ich sofort auf meinen Beinen und nahm eine Defensiv Haltung ein. Auch wenn ich nicht wusste, was ich damit ausrichten konnte. Es würde nämlich bestimmt nicht lange dauern, bis eine Wache hier war, die mich wieder erschießen würde.
Aber warte. Hatte ich da nicht noch etwas Wichtiges vergessen? Der Grund, warum man mich fürchtete und hasste. Ich war ein Telepath. Ich konnte doch einfach jede Wache und den Spritzenmann ganz locker ausschalten. Sollen sie doch sehen, wozu ich fähig war.
Ich war schon bereit dazu, den Wachmann per Telekinese an die Wand zu werfen, doch stattdessen ließ ich mich auf meine Knie fallen. Ich wusste nicht, was in mich gefahren war. Es war merkwürdig. Zuerst hatte ich Angst und war schockiert. Dann war ich plötzlich wütend und gewillt den Wachen zu zeigen, dass sie durchaus berechtigt waren mich zu fürchten und zu hassen. Und schließlich sank ich auf meine Knie und flehte?
„Sagt dem Erzi, ich werde seinen Bruder suchen und finden.“, sagte ich, als wäre mir mein eigener Wille genommen werden. Ich hatte keine Sekunde über die Besuche, die ich hier in diesem Raum erhalten hatte, nachgedacht. Wie kam ich also plötzlich dazu? Als ich das letzte Mal wach war, war ich entschlossen dem Jungen seinem Schicksal zu überlassen. Und jetzt…
Ein schwarz gekleideter Wachmann lud seine Waffe auf, und war gewillt zu schießen, als der Spritzenmann die Hand auf seine Waffe zu legen und sie von mir abzuwenden. Ich konnte in ihren Augen sehen, dass niemand so genau wusste, was er tun sollte – mich eingeschlossen.
Doch in meinem Kopf machte das alles plötzlich Sinn. Ich hab den Zhi Zhe und den Erzi verärgert. Niemals hätten sie erlaubt, dass ich jemals wieder zurück nach NAA gekommen wäre, wäre ich doch irgendwie in die Zone gekommen. Aber ich sollte hingerichtet werden. Und das in diesem Augenblick. Meine einzige Chance zu überleben war, zu versuchen, den Zhi Zhe zu überzeugen, dass ich seinen Sohn suchen würde – und zwar wirklich zu suchen, und nicht einfach nur so zu tun, sodass ich auf freien Fuß in die Welt entlassen würde.
Und als ich so darüber nachdachte, als der Spritzenmann überlegte, ob er den Erzi oder sogar den Zhi Zhe kontaktieren sollte, wunderte ich mich, dass mir nicht schon früher aufgefallen war, dass diese Gelegenheit, den zweiten Erzi zu retten, ein Geschenk des Himmels war. Ich war darauf vorbereitet über Jahre in der Zone zu leben, und den Zuschauern an den Bildschirmen in NAA zu zeigen, dass ich ein guter Mensch war, obwohl ich ein Telepath bin.
Aber wie hätte ich das je bewerkstelligen sollen, hätte ich abgelehnt einen kleinen Jungen vor dem sicheren Tod zu bewahren. Selbst wenn man mich lieben gelernt hätte, wie es nur wenigen deportierten Kriminellen gelang, hätte der Zhi Zhe immer noch die Macht mich genau dann zu bestrafen, weil ich seine Sohn habe sterben lassen, und mich nicht zurück kommen zu lassen.
Wie konnte ich nur so dumm sein und das nicht erkennen?
Schließlich steckte der Spritzenmann etwas auf die Nadel der Spritze, das aussah wie ein Deckel, und schob sie in die Tasche seines Kittels. „Betäub sie. Ich kontaktiere den Zhi Zhe.“, sagte er und verließ den Raum. Ich konnte gerade noch den Wachmann ansehen, als ich schon wieder diesen Blitz durch meinen Körper strömen fühlte und ich vorwärts zu Boden kippte. Die Betäubung setzte leider erst dann ein, nachdem ich spürte, wie ich direkt auf meine Nase fiel, die immer noch von dem schlagwütigen Wachmann angeschlagen war.
Doch als ich schon wieder zu mir kam, fühlte ich keine Schmerzen mehr. War ich so lange weg gewesen, dass meine Nase vollkommen verheilt war. Wenn es so war, musste ich sagen, dass man sich ziemlich viel Zeit ließ, wenn man bedachte, dass ich eigentlich einen Jungen suchen sollte, der bereits seit drei Tagen verschwunden war. Aber in letzter Zeit ergab weit mehr keinen Sinn mehr für mich.
„Zhi Zhe.“, sagte eine männliche Stimme im Raum.
Ich öffnete meine Augen um zu sehen, wo ich war. Schon vorher wusste ich, dass ich in einem Sessel zusammengesackt saß. Vor mir war ein aus teurem Holz gefertigter Schreibtisch, der mit vielen geschnitzten Ornamenten verziert war. Hinter diesem Schreibtisch, und vor einer Wand aus Glas, saß ein Mann über einigen Papieren. Es war der Zhi Zhe, der mich jetzt ansah.
„Man sagte mir, du hättest deine Meinung schließlich doch noch geändert.“, sagte er. „Vielleicht hätte ich dir schon früher mit dem Tod drohen sollen.“
Wir waren nicht die einzigen in diesem Raum, der wie ein riesiges Büro wirkte. Viele der Wohnungen und Häuser in dem Distrikt, in dem ich zu Hause war, würden fast zweimal hier rein passen. Der Erzi stand zu seiner Linken hinter dem Schreibtisch. Und zwei weitere Männer waren zu seiner Rechten aufgestellt. Weil niemand mehr etwas Weiteres sagte, versuchte ich mich zu konzentrieren, um herauszufinden, ob hier noch weitere Menschen anwesend waren, die ich nicht sehen konnte. Da spürte ich die zwei Wachen hinter mir, die wieder ihre Waffen auf mich gerichtet hatten. Ich hatte Recht mich nicht zu bewegen. In ihren Gedanken spürte ich, dass sie dazu bereit waren auch nur bei der allerkleinsten Bewegung meinerseits zu schießen. Die beiden waren wohl nervös, mit dem Zhie Zhe und dem Erzi als potentielle Opfer von mir. Und ich schätze die beiden anderen Männer waren ebenfalls wichtige Leute, sonst wären sie wohl kaum anwesend.
Weil ich nichts zu sagen hatte, sprach der Zhie Zhe weiter. „Also, du wirst mich acht Elitesoldaten reisen, die in dem Umgang mit Zombies bestens ausgebildet sind. Sie werden schon dafür sorgen, dass man dich nicht auffrisst.“
Ich hatte die Vermutung, dass sie nicht nur da waren, um mich vor den Zombie zu schützen. Bestimmt bekamen sie die Instruktion dafür zu sorgen, dass ich nicht von meinem Ziel, den Jungen zu suchen, abkomme. Ob mit Gewalt oder ohne.
Doch das war nicht der Grund, warum ich ihn unterbrach, um ihm zu widersprechen. „Keine Elitesoldaten.“, sagte ich. „Die würden nur zu viel Aufmerksamkeit der Zombies auf uns lenken.“
Ich wusste genau, wie man mit Zombies am besten umging, obwohl ich noch nie einem begegnet war. Es gab zwar immer noch Zombies innerhalb von NAA. Aber die waren alle sicher eingesperrt, damit sie nicht frei herumlaufen konnten und gesunde Menschen zu ihrem Gleichen machten. In der Unterschicht, da wo ich her kam, gab es etliche Menschen, die ihr hart verdientes Geld auf Zombiekämpfe wetteten, in der Hoffnung sich ein besseres Leben leisten zu können. Bei diesen Kämpfen traten entweder Zombie gegen Zombie an, oder Mensch gegen Zombie. Als menschlicher Kämpfer konnte man sich dabei dumm und dämlich verdienen. Das heißt, wenn man die Kämpfe auch als Mensch überlebt.
Zu den Kämpfen durfte man allerdings erst mit fünfzehn, um zu zusehen, zu wetten, oder gar gegen einen Zombie zu kämpfen. Als ich endlich fünfzehn wurde, hatte ich allerdings weit besseres zu tun, als mir solch einen Akt von Barbarismus anzutun. Erst musste ich Geld verdienen, um mir ab und an etwas zu essen zu leisten, weil ich meine Eltern verlor, als ich gerade erst sieben Jahre alt war. Ich hatte sonst niemanden, der sich um mich kümmerte. Und alle, die dazu bereit waren, hatten mein Vertrauen verloren. Irgendjemand, der uns kannte, musste verraten haben, dass es zwei Telepathen in unserer Familie gab.
Neben dem Verdienen von Essen, fing ich vor drei Jahren an, meinen Körper zu trainieren und meinen Plan ausreifen zu lassen. Ich hatte zwar mal vor ein paarmal mit Zombies in den Ring zu steigen, um meine Kampffähigkeiten zu schulen, entschied mich aber irgendwann für eine andere Taktik, die ich in der Zone gegen die Zombies anwenden wollte. Ich wollte sie als Telepath bekämpfen, wie es viele meiner Vorfahren getan hatten, als sie aus den Bunkern kamen, und im Zombieödland zu überleben versuchten.
Der Vorteil eines Telepathen, an dessen Vorfahren herumgedoktert wurde, sodass all ihre Kinder und Kindes Kinder auch diese Talente in sich trugen, war, dass wir die Erinnerungen all der Vergangenen Leben meiner Familie in uns trugen. Mir war es möglich jede noch so kleine Erinnerung abzurufen, die zum Beispiel meine Ur-Großeltern mütterlicherseits hatten. Daher wusste ich, dass es weit besser war, den Zombies aus dem Weg zu gehen, da man irgendwann auf so viele von ihnen stieß, dass man keine Chance mehr hatte, sie mit einer Salve aus Kugeln durch den Kopf töten könne. Doch wie sollte das jemand wissen, der sein ganzes Leben lang noch nicht einmal die armen Distrikte von NAA besucht hatte, so wie der Zhi Zhe?
„Na gut.“, sagte eben dieser. „Dann eben nur vier Soldaten.“
„Sie verstehen mich wohl nicht.“, sagte ich daraufhin. Und ohne Vorwarnung hatte ich plötzlich einen weiteren Einfall. „Ich hab eine Bedingung.“
„Eine Bedingung?“, fragte der Zhi Zhe ungläubig. „Du bist hier nicht in der Stellung, Bedingungen zu stellen.“
„Dann werden sie bei der Rettungsaktion eben auf mich verzichten müssen.“, sagte ich. Ich konnte gar nicht glauben, was ich hier gerade für einen Bluff durchzog. Sie konnten mich hier, auf der Stelle töten, und ich machte ihnen auch noch das Angebot dazu diese Möglichkeit wahrzunehmen.
„Was für eine Bedingung?“, fragte der Erzi aus heiterem Himmel. Alle sahen ihn verblüfft an – mich eingeschlossen.
„Ich will, dass lediglich du mit mir kommst.“, sagte ich ihm ins Gesicht. Und schon hörte ich die Geräusche von sich aufladenden Kanonen.
Der Erzi würde nach dem Tod seines Vaters zum Zhi Zhe gekrönt. Wenn man der Mann, der hinter dem Schreibtisch saß, kein Einsehen hatte, dass ein Telepath nichts anders war als ein normaler Mensch auch, könnte ich auf unser Suche nach seinem Bruder, den Erzi für mein Anliegen einnehmen, sodass er vielleicht Änderungen im System einführen würde.
Der Zhi Zhe lachte. „Das soll wohl ein Scherz sein. Denkst du ich lasse meinen Sohn mit dir in die Zone mitkommen? Er ist mein Nachfolger. Es ist seine Bestimmung irgendwann meinen Platz einzunehmen. Und das wird nicht gehen, wenn er tot oder ein Zombie ist.“
„Er wird nicht sterben. Ich kann sehr gut auf uns beide aufpassen.“, versuchte ich ihn zu überzeugen.
„Ich würde ihn dir nicht einmal mitgeben, wenn euch eine ganze Armee begleiten würde. Adley hat Pflichten, denen er nachkommen muss.“, sagte der Zhi Zhe.
„Vater, ich werde mitgehen.“ Und schon wieder wurde er von allen verblüfft angesehen.
„Das wirst du nicht.“, sagte der Zhi Zhe bestimmt.
„Erzi, das ist eine Falle.“, sagte einer der Männer, die zur Rechten des Zhi Zhe standen. „Denkt daran, dass sie euch und euren Vater hasst. Sobald ihr weit genug von uns weg seid, wird sie euch töten.“
„Bin ich hier denn der Einzige, der dabei an Saul denkt?“, fragte er aufgebracht. „Er ist irgendwo dort draußen, und stirbt in den nächsten Stunden, wenn wir ihn nicht bald finden. … Wenn er nicht schon längst tot ist.“ Den letzten Teil sagte er mit so viel Bekümmernis in seiner Stimme, dass dabei wohl jeder weich geworden wäre.
„Na gut.“, sagte der Zhi Zhe schließlich nach einer langen Pause, die er wohl zum Nachdenken genutzt hatte. „Doch sollte auch nur einem meiner Söhne etwas passieren, lass ich dich jagen und töten.“ Die Drohung war sein purer Ernst. Niemand würde es ihm verdenken, dass er mich dafür leiden lassen würde, wenn ich seinen Söhnen etwas geschehen lasse. Nicht einmal ich.
Kurz nachdem man mir meine Eltern genommen hatte, und ich die erste Trauer überwunden hatte, war ich nur noch wütend. So wütend, dass ich darüber nachdachte, wie ich am Besten in die Hauptstadt einmarschieren konnte, um den Zhi Zhe umzubringen. Und zu der Zeit war ich erst knapp acht Jahre alt geworden.
„Gianpiero, lassen sie alles zur Abreise vorbereiten.“, sagte der Zhi Zhe und einer der Männer, die zu seiner Rechten standen, bewegte sich und verließ den Raum.
„Mein Zhi Zhe.“, sagte der andere. „Seit ihr sicher?“
„Ja.“, antworte dieser, und starrte mir in die Augen. „Bringt sie in eine der Hofstabswohnungen unter, bis es losgeht. Und unterweist meinen Sohn und das Mädchen in der Ausrüstung, die sie benötigen werden.“ Als er das sagte, war deutlich heraus zu hören, dass er mit dieser Lösung ganz und gar nicht glücklich war. Doch ich schätze, dass ich wirklich seine letzte Hoffnung war. Und damit hatte er vermutlich sogar Recht. Die westliche Zone, war zwar nicht die größte Zombie Zone die es gab, aber immer noch groß genug, dass man viele Monate brauchte, bis man alles nach einem kleinen Jungen durchsucht hat. „Ich hoffe ich gehe recht in der Annahme, dass du während deiner Anwesenheit nichts anstellen wirst, das mich meine Entscheidung, dich hier aufzunehmen, nicht bereuen lässt.“
„Sicher.“, sagte ich einfach. Daraufhin warf der Zhi Zhe einen kurzen Blick auf den namenlosen Mann zu seiner Rechten, der kurz nickte. Mir fiel der kleine Apparat in dessen Hand auf und fragte mich, ob es vielleicht eine Art Lügendetektor war.
„Bringt sie in eine der freien Wohnungen.“, sagte der Zhi Zhe und winkte die Wachmänner weg.
Einer der Wachmänner steckte seine Waffe weg und zerrte mich an meinem Arm hoch und durch den Raum, der ziemlich leer aussah. Bis auf den Schreibtisch, zwei Couchen zu beiden Seiten und dem Sessel, auf dem ich gesessen war, befand sich nur eine Lichtskulptur der Familie des Zhi Zhe darin. Nicht mal Regale gab es an den Wänden, die lediglich aus Glas bestanden, durch die man über die gesamte Stadt sehen konnte. Wir mussten im höchsten Turm der Stadt sein, wo die Zhi Zhe Familie lebte. Und von der Weite, des Ausblicks nach zu urteilen, waren wir ziemlich weit oben im Gebäude.
In der Mitte der Etage befand sich ein Aufzug, der uns – mich und die beiden Wachmänner – in Sekundenschnelle fast zweihundert Etagen nach unten brachte. Der zweite Wachmann zielte die ganze Zeit über mit geladener Waffe auf mich. Ich schätze, er traute mir nicht. Nicht einmal wenn der Lügendetektor mir Recht gab.
Als der Aufzug anhielt und seine Türen öffnete, war an der Etagen Anzeige die Nummer Acht abzulesen. Wir gingen durch einen Gang mit blauen Wänden, in dem es aber keine Türen geben schien. Tageslicht drang nur durch Fenster, die weit entfernt waren. Ansonsten nur von Lampen an der Decke und an den Bodenrändern. Die Etage war wesentlich größer, als die, aus der wir kamen. Das sollte mich eigentlich nicht verwundern. Es war allgemein bekannt, dass der Turm einer enorm großen Pyramide glich, wie es sie vor der Apokalypse vor hunderten von Jahren auf diesem Kontinent gab.
Hier und da begegnete uns jemand, der sich nach uns umdrehte, und sich vermutlich fragte, wer ich war, dass ich von Wachmännern in einer der Wohnungen gebracht wurde, die für den Hof Stab der Zhi Zhe Familie gedacht waren.
Man stellte mir eine Wohnung ganz am Ende des Ganges zur Verfügung. Sie öffnete sich, indem man seinen Daumen auf eine kleine Fläche legte. Es tat sich aber nichts. Der Wachmann legte seinen Daumen darauf. Gabe aber dann irgendetwas auf dem etwas größeren Bildschirm ein. Er war so schnell, ich konnte gar nicht folgen, was er da eigentlich tat. Schließlich nahm er meine Hand und presste meinen Daumen auf die Fläche, auf die er zuvor hatte seinen Daumen gepresst. Diesmal schob sich ein Teil der Wand ein kleines Stück nach vorne und zur Seite und eine Wohnung kam zum Vorschein.
Im Vergleich zum Büro des Zhe Zhi, war die Wohnung nicht besonders groß, aber immer noch Größer als das, was ich gewohnt war. Als Waisenkind hatte man nicht besonders viele Möglichkeiten ein Obdach zu finden. Oft verbrachte ich die Nächte in einem der Armenhäuser, in dem ich in einem Raum mit etwa fünfzig anderen schlief. Als ich jünger war, lebte ich in einem Waisenhaus, das ziemlich herunter gekommen war. Doch da bin ich schon lange herausgewachsen.
Meistens, wenn einige finstere Gestalten in dem Armenhaus auftauchten, denen ich lieber aus dem Weg ging, weil ich vermuten musste, dass ich dann nicht lange alleine in meinem schäbigen Bett liegen würde, verbrachte ich die Nacht lieber in einem der Bootshäuser, die den Fischerbooten Unterschlupf gewährten, wenn sie nicht gerade auf hoher See waren. Es war eigentlich besser in einem Haufen von Fischernetzen zu schlafen, als in einem überfüllten Armenhaus, in dem ich Angst haben musste, dass mich einer der Männer anfallen würde. Doch dafür war es auch wesentlich kälter, weil die Bootshäuser nicht durchweg Windschutz bot.
Doch in dieser Wohnung würde ich nicht frieren. Und ich konnte beruhigt in einen tiefen Schlaf sinken, ohne zu fürchten, dass irgendjemand in mein Bett kroch. Denn hier war ich vollkommen alleine. Ich wette, das Bett hier, war sogar richtig weich und bequem. Anders als die harten Pritschen im Armenhaus.
„Es wird bald jemand kommen um dich in deine Ausrichtung einzuweisen.“, sagte der Wachmann, der mich jetzt in die Wohnung schob. „Solange du hier bist, ist es dir nicht erlaubt diese Wohnung zu verlassen.“
Dann gingen beide Wachen und schlossen die Tür hinter sich. Solange bis es dauerte, bis dieser Jemand kam, der mir meine Ausrüstung gab, beschloss ich erst einmal die Wohnung zu erkunden. Hinter der ersten Tür, die sich genauso öffnete wie die Eingangstür, verbarg sich ein einfacher Wandschrank.
Der zweite Raum war da schon spektakulärer. Ein Badezimmer. Das letzte Mal, als ich ein richtiges Badezimmer für mich alleine hatte, war, als meine Eltern noch lebten. Und das war jetzt schon zwölf Jahre her. Das Badezimmer im Armenhaus, war lediglich ein Waschraum, in dem meisten zehn andere auch waren. Die Geschlechter wurden dabei noch nicht einmal getrennt. Frauen und Männer duschten und benutzten die Toiletten in ein und demselben Waschraum. Anfangs war es sehr Gewöhnungsbedürftig und vor allem unangenehm, da im Waisenhaus, die Jungen und Mädchen nicht nur getrennte Waschräume, sondern auch getrennte Schlafsäle hatten. Doch irgendwann, kann man sich an alles gewöhnen.
Auch hieran könnte ich mich gewöhnen. Und dabei brach es mir schier das Herz, das es nicht auf Dauer sein würde. In ein paar Stunden befand ich mich schon auf dem Flug zur westlichen Zone. Daher sollte ich es genießen, solange es anhielt.
Ohne groß darüber nachzudenken, zog ich die Gefangenenkleidung aus und testete die Wärme des Wassers in der Dusche. Dabei konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Warmes Wasser war ich genauso wenig gewohnt, wie eine frische und warme Mahlzeit. Nach der Dusche musste ich unbedingt die Küche suchen. Doch zuerst genoss ich das warme Wasser auf meiner Haut, wie es an meinem Körper hinunter floss.
Ich fand ein Handtuch im Badezimmerschrank, trocknete mich ab und entschloss mich dazu, die Gefangenenkleidung wieder anzuziehen. Zwar wusste ich nicht, wie lange ich den weißen, langärmligen Body, die dunkelblaue Leinenhose und die hellblaue Tunika, schon trug, aber die Sachen rochen noch relativ frisch und sie waren sauber. Ich schätze während meiner Bewusstlosigkeit in der Zelle, hatte ich nicht viel gemacht, dass meine Kleidung hätte dreckig machen können.
Trotz meiner Zweifel hier etwas wie eine Haarbürste zu finden, fand ich eine in einer Schublade unter dem Waschbecken. Ich vermied es in den Spiegel zu sehen. Schon lange achtete ich nicht mehr sonderlich auf mein äußeres. Ich habe gelernt, dass es wichtigere Dinge im Leben gibt. Auf der Suche nach der Küche, legte ich meine weißen Schlupfschuhe neben der Eingangstür ab und bürstete mir mein nasses Haar durch.
Als nächstes untersuchte ich, was die erste Tür auf der anderen Seite des Flurs hinter sich verbarg. Ein Schlafzimmer. Mit einem Bett, das so groß war, wie das, in dem meine Eltern früher geschlafen hatten. Als ich noch klein war kroch ich meist zu ihnen unter die Decke, wenn ich Angst hatte ganz alleine in meinem Bett zu schlafen. Ich fragte mich, ob ich wohl noch ein Nickerchen machen könnte, bevor wir aufbrachen den Jungen zu suchen. Doch ich schätze, ich würde im Flugzeug schlafen müssen.
Die Küche befand sich schließlich hinter der nächsten Tür, die ich öffnete. Der Kühlschrank war riesig. Aber leer. Es war schon überraschend genug, dass es frische Handtücher, eine Haarbürste und ein voll bezogenes Bett, in einer leerstehenden Wohnung gab. Diese Dinge waren wenigstens nicht verderblich, wie Nahrungsmittel.
Da ich nichts zu essen finden konnte, sah ich keinen Grunde, warum ich mir nicht ein Nickerchen in diesem traumhaften Bett gönnen sollte. Wie auf einer Wolke lag ich darin. Das Zusammenspiel von Matratze und Kopfkissen, entlastete meine Wirbelsäule vollkommen, so wie es weder auf der harten Pritsche im Armenhaus, noch in einem Knäul aus Fischernetzen möglich wäre. Die Bettwäsche roch entfernt nach Lavendel. Das sorgte dafür, das schon nach Sekunden weggedriftet war. Ich fühlte mich zwar nicht besonders ermüdet, aber irgendwie sehr matt, was ich diesem Bewusstlosigkeitszustand zuschrieb, und dass man mich immer wieder daraus erweckt hatte.
In dem Moment, in dem ich durch die Labyrinth artigen Gänge eines mir nicht ganz unbekannten Komplexes ging, wusste ich, dass ich träumte. Noch nie persönlich war ich hier gewesen. Wie auch? NAA hatte ich noch nie zuvor verlassen. Trotzdem wusste ich, wo ich war. Ich war auf einer der unzähligen Inselanlagen von N-Corp, der Firma, die Schuld an der Apokalypse vor rund vierhundert Jahren war. Ich kannte diesen Komplex aus den Erinnerungen einer meiner Vorfahren, Caya.
Es war ein riesiges, unterirdisches Labor, in dem früher Telepathen untersucht und an ihnen herum experimentiert wurde. Einige hatte man sogar zu einer militärischen Waffe ausbilden wollen. Doch irgendwann hatte man die Kontrolle über die Telepathen verloren, und sie haben sich gewehrt.
Auf den Fluren und in den Untersuchungsräumen, an denen ich vorbei kam, lagen überall tote Menschen in weißen Kitteln. An den Wänden waren überall rote Blutspritzer. Die meisten Leichen lagen in ihren eigenen Blutlachen. Das alles war einst Cayas Werk.
Mein Weg führte mich merkwürdigerweise in ein bestimmtes Labor. Normalerweise, konnte ich nur dort entlang gehen, wo auch einst Caya ihren Weg ging. Immerhin waren es ihre Erinnerungen, die ich hier träumte. An diesem Labor war etwas eigenartig. Es sah längst nicht so neu aus wie der Rest der Anlage, die ich kannte. Das heißt, wenn man das ganze Blut und die Leichen außer Acht lässt.
Dieses Labor sah alt, schäbig und vermodert aus. Auf dem Boden lagen Papiere und Aktenordner verteilt. Nur die Maschine, die dieser Raum beherbergte, sah noch brauchbar aus. Nur konnte ich nicht sagen, um was für eine Maschine es sich handelte. Zwar hatte ich nicht viel Kontakt zu den technischen Errungenschaften unserer Zeit, doch mit diesem Ding konnte ich absolut nichts anfangen. Allerdings stammte diese Maschine auch nicht aus unserer Zeit. Denn wenn sie hier stand, konnte man darauf vertrauen, dass sie schon über vierhundert Jahre alt war. Wobei ich mir nicht vorstellen konnte, wie sie solange in diesem relativ guten Zustand hier verweilen konnte.
„Ich kann dir sagen, was das für ein Ding ist.“, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir sagen.
Ich wirbelte, erschrocken bis ins Mark, herum und entdeckte in der Tür, die ich durchschritten hatte, einen jungen Mann. Er war vielleicht Mitte zwanzig und hatte braunes leicht gelocktes Haar. Seiner Kleidung nach zu urteilen, stammte er aus unserer Zeit.
„Und was ist das?“, fragte ich ihn.
„Ein Gerät für Telepathen.“, sagte er. „Wenn du dich dort hineinsetzt und die Maschine in Gang setzt, werden deine mentalen Wellen weiter getragen, als du es ohne schaffst.“
Mentale Wellen. So nannten wir Telepathen die Kraft in uns, mit der wir die Gedanken anderer manipulieren, löschen und orten konnten. War dieser Mann auch ein Telepath?
„Ja, das bin ich.“
Kann er meine Gedanken lesen? Na klar, kann er das, wenn er ein starker Telepath ist, was er ja gerade zugegeben hat.
Plötzlich fiel mir auf, wie sich ein breites Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Er konnte all meine Gedanken genau verfolgen. Wozu musste ich dann noch reden? dachte ich.
„Ist das hier nur ein Traum?“, fragte ich schließlich. „Oder ist das hier echt?“
„Ein bisschen von beidem.“, antwortete er.
„Dann gibt es dich Wirklich?“, wollte ich wissen.
Doch eine Antwort auf diese Frage sollte ich nie erhalten. Ich wurde aus meinem Traum gerissen und geweckt.
3.
Der Mann (ich fing mich langsam an zu fragen, ob hier denn gar keine Frauen arbeiteten), der mich geweckt hatte, führte mich zurück zum Aufzug, der uns tief unter das Gebäude, ins Untergeschoss brachte. Immer wieder linste er nervös zu mir rüber.
„Bin ich der erste Telepath, der dir persönlich begegnet ist?“, fragte ich ihn.
Er nickte und ließ ein schnelles „Ja“, verlauten.
Seine Angst vor mir war offensichtlich. Ich konnte sie sogar deutlich in meinen eigenen Gedanken spüren, sodass ich langsam Kopfschmerzen bekam. Also entschloss ich mich dazu ihn ein wenig abzulenken, und zu zeigen, dass er von mir nichts zu befürchten hatte.
„Keine Sorge.“, sagte ich. „Wenn ich hätte töten wollen, hätte ich es in dem Augenblick getan, in den du mich in meinem Traum unterbrochen hattest.“ Zu gerne hätte ich erfahren, ob es den Mann in meinem Traum wirklich irgendwo gab.
Eigentlich sollte mein Kommentar ja seiner Angst ein Ende bereiten, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Die Kopfschmerzen, die seine Angst mir bereiteten, verhinderten natürlich, dass ich mich genug konzentrieren konnte, ihm mit einem Themawechsel zu kommen, dass ihn ein wenig beruhigen würde. Doch seine Angst verwandelte sie jetzt langsam in schierer Panik, sodass ich nur noch hoffen konnte, dass ein anderer mich mit meiner Ausrüstung vertraut machen und ich ihn bald los sein würde.
Wer konnte ahnen, dass mich meine Hoffnung schon so bald nicht im Stich ließ. Der nervöse Mann blieb vor einer geöffneten Tür stehen und wies mich mit einer schlichten Handbewegung an hindurch zu gehen. Die Tür führte mich in einen weiteren Gang, in dem jemand auf mich zu warten schien.
Und Überraschung, Überraschung. Es wart schon wieder ein Mann. Ernsthaft, gibt es hier denn überhaupt keine weibliche Angestellte?
„Hey.“, begrüßte mich der Mann, bevor er von der Akte aufsah, die er gerade las. „Ich bin Pakku. Ich soll dich in deine Ausrüstung einweisen.“
Pakku schien mir kein bisschen nervös zu sein. Aber vielleicht war ich ja auch nicht der erste Telepath, der ihm begegnet war. Vielleicht kannte er sogar den ein oder anderen, der im Verborgenen lebte. Aber er arbeitete für die Regierung. Würde er da nicht die Telepathen zum Schutz der Bevölkerung – wie es immer hieß – verraten?
„Wir müssen allerdings noch auf den Erzi warten.“, fügte er an seine Begrüßung hinzu.
Also warteten wir. Größten Teils in schweigend. Wobei ich erkennen konnte, dass ihn ein paar Fragen auf der Zunge brannten. Doch ehe er eine davon an mich richten konnte, hatte ich eine Frage. „Was genau ist das hier eigentlich?“
„Ich dachte immer Telepathen können Gedanken lesen?“, fragte er zurück.
„Die meisten, ja.“
„Und da musst du noch fragen, was das hier ist?“
Natürlich konnte ich alle Informationen, die ich haben wollte aus seinen Gedanken ziehen, aber, „Meine Mutter hat mir beigebracht, dass es unhöflich ist, die Gedanken anderer zu lesen. Also?“
Er schien das erst einmal zu verdauen, ehe er schließlich auf meine zuvor gestellte Frage antwortete. „Früher war das hier mal das Hauptquartier der Zombiejäger. Heute ist hier aber nur noch wenig Betrieb. Aber es wird hier noch regelmäßig trainiert.“
Die Zombiejäger. Die Ursprünglichen Zombiejäger waren die Männer und Frauen, mit denen der erste Zhi Zhe einstweilen hier her kam und die Zombies hier gezielt auslöschte, um NAA zugründen. Nachdem das Gebiet vom heutigen NAA gesäubert war, baute man erst einmal das Land auf.
Bis sich die einzige andere Zivilisation, die sich mit NAA messen konnte, damit brüstete, dass sie immer wieder neue Gebiete der Zone von Zombies befreite, beteiligten sich die Zombiejäger von NAA daran. Dadurch entstand ein regelrechter Wettbewerb, wer die größten Gebiete von den Zombies zurückeroberte.
Doch durch den Mangel an Zombiejägern, die zugleich als Wachen fungierten, im Inland, fasste die Kriminalität Fuß. Daher wurden die Zombiejäger zurückbeordert, damit wieder Frieden einkehren konnte. Aber bald hatte man keinen Platz mehr für all die Kriminellen, Verbrecher und Ärger-Verursacher. Also beschloss man, dass man die schrecklichsten Straffälligen in die Zone deportierten, als eine Art härtere Strafe. Das funktionierte dann so gut, dass Neo Gaia es NAA gleich tat. So geriet schließlich die globale Ausrottung der Zombies in Vergessenheit. Und jede der beiden Zivilisationen kümmerte sich wieder um ihre Innenpolitischen Belange.
„Kann ich dich mal was fragen?“, fragte Pakku plötzlich. „Warum willst du unbedingt den Erzi mitnehmen? Ich meine, du könntest doch genauso gut mit einem Eliteteam losziehen. Sie könnten dich vor den Zombies und anderen Gefahren ganz leicht schützen.“
Na ob das so leicht für die werden würde, wusste ich nicht. In den Zonen bergen nicht nur Zombies die Gefahr. Wobei sie möglicherweise die gruseligste Gefahr dort draußen ist. Wen gruselte es nicht davor, wenn man stirbt, aber immer noch unter den lebenden weilt, um frisches Fleisch und Blut zu schmecken? Oder noch schlimmer, wenn man einen geliebten Menschen begegnet, der einem als Zombie ans Leder will.
Doch irgendetwas in mir sagte mir, dass ich, egal wem, nicht sagen sollte, welche Motive mich leiteten. Es war nicht dasselbe Gefühl, das ich hatte, als ich aus heiterem Himmel, die Idee dazu hatte, den Erzi auf meiner Suche mitzunehmen, damit ich eine Chance bekam ihn für mich und die Telepathen einzunehmen.
„Ich brauche kein Eliteteam, das auf mich aufpasst.“, sagte ich, wohlwissend, dass ich seine Frage nicht zu seiner Zufriedenheit beantwortet hatte.
Doch weiter konnte er mich auch nicht löchern. Denn der Erzi erschien endlich.
„Mein Erzi.“, begrüßte Pakku ihn mit einer tiefen Verbeugung, während ich aus lauter Trotz seines Vaters gegenüber, obwohl dieser nicht anwesend war, einfach stehen blieb.
Pakku führte uns schließlich in einen Raum, in dem einige Tische aufgestellt waren, auf denen Waffen, medizinisches Material und andere brauchbare Ausrüstungsgegenstände ausgebreitet waren, die uns auf unserer Reise nützlich sein dürften. Zunächst führte er uns an den Tisch mit den Waffen. Es waren keine üblichen Waffen, die die Wachen benutzten um einen Störenfried mithilfe eines Elektroschocks aus dem Verkehr zu ziehen und in Gewahrsam zu nehmen. Und Pakku erklärte uns auch gleich wieso nicht. Es brauchte nämlich schon mehr als einen Elektroschock, um einen Zombie zu töten. Nicht mal eine Kugel durch den Kopf reichte dazu aus. Das würde einen Zombie nur für ein Weilchen zu Boden werfen, was einem allerdings ermöglichte, dem Zombie den Kopf abzuschneiden und in Brand zu setzen. Doch das einfachste und zugleich effektivste war, einfach eine Handgranate auf den Zombie zu werfen. Das stellte sicher, dass es ihn um pustet, er Gliedmaßen verlor, sodass er dich nicht weiter verfolgen konnte, und dass er zu endgültigem Tode verbrannte.
Natürlich wusste ich das schon längst alles.
„Schon gut.“, sagte ich. „Ich weiß, wie man einen Zombie tötet.“
„Ach, bist du denn schon mal einem begegnet?“, fragte mich der Erzi.
Ich konnte ihnen nicht erklären, dass ich es aus den Erinnerungen meiner Vorfahren, die noch nicht unter der schützenden Hand von NAA lebten; die ich abrufen konnte, als wären es meine eigenen, wie man einen Zombie zur Strecke brachte. Dafür müsste ich viel weiter ausholen. Und ich war nicht besonders gut im Erklären solcher Dinge. Zudem enthielt das auch noch Informationen, von denen ich lieber hätte, dass sie sie nicht erführen. Außerdem hatten wir weit wichtigeres auf unserer To-Do Liste. Also log ich.
„Ja.“ Und bevor sie mich weiter über meine Begegnungen und Erfahrungen mit Zombies ausfragen konnte, lenkte ich unsere Unterhaltung auf ein anderes wichtiges Thema. „Gibt es eine Möglichkeit andere Kleidung zu bekommen?“, fragte ich. „Ich glaube nämlich, dass wir in unseren Sachen zu viel Aufmerksamkeit auf uns ziehen würden.“ Denn das würde sich mit meiner Taktik, den Zombies, wenn möglich aus dem Weg zu gehen, nicht vereinbaren lassen. „Irgendetwas in Braun, würde ich sagen. Oder auch grün. Damit wir in der Steppe oder im Dschungel nicht so auffallen, und jeden Zombie im Umkreis von einem Kilometer auf uns hetzen.“ Mit meinem Wissen, dass die westliche Zone vorwiegend aus wüstenartigen Steppen und wildem Dschungel bestand, hatte ich ihre Vermutungen bekräftigt, dass ich schon einmal einem Zombiebegegnet war. Und das nicht nur bei den Zombiekämpfen in den ärmeren Distrikten. Das heißt, falls sie überhaupt wussten, dass es so etwas gab.
„Ja.“, antwortete Pakku und zeigte hinter sich auf eine Wand, die mit Spinden zugestellt war. „Ich hab da schon etwas vorbereitet.“
Doch bevor wir dazu kamen, zeigte er uns die Grundlagen der medizinischen Versorgung, die wir brauchten. Dabei handelte es sich weitgehend, um die Behandlung von Brandverletzungen, Platz- und Schusswunden und gebrochenen Knochen. Denn Zombieinfektionen waren nicht heilbar, obwohl viele Wissenschaftler schon seit Jahren daran arbeiteten. Egal was man unternahm, ein paar Stunden, nachdem man mit Körperflüssigkeiten eines Infizierten in Kontakt kam (über Blutkontakt oder Tröpfcheninfektion), wurde man selbst zu einem.
Danach erklärte er uns, für den Fall, dass unsere Vorräte ausgehen sollten, was wir essen durften. Früchte, Kräuter und Wurzeln waren in Ordnung. Er würde uns ein Handbuch in unser Gepäck packen, das uns zeigte welche Früchte, Kräuter und Wurzeln, essbar waren und welche sogar äußerst Nahrhaft waren. Wenn wir jagen, mussten wir unsere Beute zuvor eingehend beobachten, um sicher zu gehen, dass sie auch gesund war. Denn Zombies fielen nicht nur Menschen an. Ihnen war alles lieb, dass noch lebte und gesund war.
Dann eröffnete uns Pakku, das der Zhi Zhe verlangte, dass, wenn ich schon darauf bestand den Erzi mit zu nehmen, wir mit einem Geländewagen unterwegs sein würden. Ich bin noch nie in einem Auto gesessen, geschweige denn eines gefahren zu haben. Das bedeutete also, dass ich – und auch der Erzi – vor unserer Abreise, die für ein Uhr morgens angesetzt war, ein paar Fahrstunden nehmen mussten.
Doch zunächst zeigte er uns die Kleidung, die er für unsere Reisebedürfnisse herausgesucht hatte. Wie erwartet hielten sich die Farben größten Teils in braun. Ich tauschte mein weiß-blaues Gefangenenoutfit gegen einen dunkelgrünen Overall, dessen Stoff wärmespeichernd war. Darüber kam ein brauner Ledermantel, der mir bis zum Knie reichte. Die braunen Stiefel, die erst zugeschnürt wurden und dann mit einer Lederlasche geschlossen wurden, waren wasserdicht. Dazu kam noch eine spezielle Brille, die mich nicht nur vor der, für die Augen gefährliche Sonne schützte, sondern auch vor möglichen Sandstürmen. Und aufgrund des Windes und der relativen Kälte, die um diese Zeit des Jahres in der westlichen Zone herrschte, machten ein Kopf- und ein Halstuch mein Outfit perfekt. Aber ich bekam auch noch Lederhandschuhe zum Schutz vor Kälte und raue Oberflächen.
Pakku reichte mir dann noch eine Umhängetasche, mit der Anweisung, dass ich einige der Nötigsten Ausrüstungsgegenstände, wie ein bisschen Nahrung, Wasser und Erste-Hilfe-Set bei mir tragen sollte, da es durchaus im Bereich des Möglichen war, dass wir von unserem Geländefahrzeug getrennt werden könnten. Von da an wusste ich, ohne nachzufragen, oder es in seine Gedanken zu lesen, dass er schon mal das zweifelhafte Vergnügen hatte durch wenigstens eine der Zonen gereist zu sein und wusste wovon er sprach.
Ich war auch froh, dass der Erzi seine goldfarbenen Schuhe, seine blaugrüne Hose und sein weißes, Ärmelloses Hemd, gegen etwas eintauschen konnte, das nicht gleich eine ganze Horde von Zombies auf den Plan rief, noch ehe wir beide Beine auf die Erde der Zone gesetzt hatten.
Von nun an würde er auf unserer Suche nach seinem Bruder, eine brauen Lederjacke mit etlichen Taschen ausgerüstet tragen. Dazu eine ebenfalls braune Hose, die aus demselben Material wie mein Overall zu sein schien, aber gegen die Abnutzung aufgrund von Reibung an bestimmten Stellen mit Lederflicken ausgestattet war. Wie ich erhielt er auch eine Schutzbrille. Brauchte aber kein Halstuch, da er seine Jacke soweit schließen konnte, dass sie über seinen Hals hinaus ragte. Und seine schwarzen Schuhe, waren wie die meinen, mit Lederlaschen zu schließen und waren wasserdicht. Offenbar hatte die Erfahrung den Zombiejägern gelehrt, dass Schnürsenkel längst nicht so praktisch und solide waren wie Lederlaschen. Mir soll es recht sein, wenn es verhinderte, dass wir von Zombies angeknabbert werden, weil wir über unsere offenen Schnürsenkel gestolpert sind.
Zudem bekam der Erzi selbstverständlich auch eine Tasche, die er sich um die Hüfte schlingen und an seinem Bein fixieren konnte, um dort die wichtigsten Ausrüstungsgegenstände zu verstauen, für den Fall, dass wir von unserem Vehikel getrennt würden.
„Ist es möglich, dass ich Zugang zum Zimmer des Jungen bekomme?“, fragte ich, als Pakku mir und dem Erzi unsere Fahrstunde gab.
„Wozu?“, fragte der Erzi skeptisch, als der den Motor anließ, nachdem ich mit meiner Fahrstunde abgeschlossen hatte.
„Damit ich mir selbst ein Bild von seinem Charakter machen kann.“, antwortete ich aufrichtig. „Das erleichtert mir die Suche nach ihm.“ Wären es nur Zombies, die die westliche Zone bewohnten, wäre das gar nicht nötig. Denn es würde sicherlich nicht schwierig sein die Gedankengänge eines zivilisierten, rational und logisch denkenden Zwölfjährigen von einer Bande wilder Untoter zu unterscheiden, die nur dem Drang frisches Fleisch und Blut zu schmecken verfallen waren. Aber das war eben nicht der Fall. Dort waren noch immer gesunde Menschen zu Hause, die sich nicht auf die Reise in die Zombiefreien Gebiete NAA oder Neo Gaia gemacht hatten.
„Okay.“, sagte der Erzi, nachdem er sich das einen kurzen Moment hat durch den Kopf gehen lassen. „Ich denke das wird machbar sein.“
Etwa fünf Stunden vor unserer Abreise, urteilte Pakku über unsere Fahrkünste und war zufrieden. Immerhin war in der Zone keinen Verkehr zu erwarten, wie es ihn hier in NAA gab. Also erklärte er uns noch die Grundlagen der Technik des Wagens, falls er liegen bleiben sollte und wir ihn reparieren müssten. Das erste wonach wir sehen sollten, wenn das Auto nicht mehr voran will, sind die Solarzellen, die die Energiespeicher mit, aus Sonnenenergie umgewandelter Storm, füllen, sodass sie das Auto fortbewegt. Das zweitgrößte Problem bei solchen Fahrzeugen ist, dass eventuell der Kühlung das Wasser ausgegangen ist. Glücklicherweise mussten wir dieses Wasser nicht mit unserem Trinkwasser auffüllen, da Süßwasser nicht zwingend von Nöten war. Salzwasser würde es auch tun. Aber dann müssten wir täglich das Säuberungsprogramm der Kühlung aktivieren, damit das Salz keine Rückstände hinterließ und die Kühlungsleitungen durchfrisst.
Zu unserer Beruhigung, da wir uns unmöglich alle Reparaturtricks in so kurzer Zeit merken konnten, verstaute Pakku die Betriebsanleitung in einem Fach, das er Handschuhfach nannte und sich auf der Beifahrerseite des Armaturenbrettes befand (ein paar Begriffe waren hängengeblieben). Ich fragte mich, warum das Ding ausgerechnet so hieß. Stellte sie aber nicht, da ich wusste, dass wir weit wichtigeres zu tun hatten.
Dann entließ er uns, versicherte uns aber, dass er uns auf den Flug in die Zone begleiten würde, falls wir noch Fragen hatten. Denn wenn wir erst einmal in der Zone waren, hatten wir keine Kontakt mehr zu NAA. Zum einen, weil man es für besser hielt, dass wir keinen Funkkontakt hatten, weil dann sonst jemand die Frequenz abhören könnte und wüsste, dass der jüngste Sohn des Zhi Zhe verschleppt wurde. Und das sollte möglichst ein Geheimnis bleiben. Und zum zweiten, gab es in der Zone sowieso keinen Empfang, da es dort keine Funktürme waren. Wozu auch? Normalerweise war dort auch niemand, zu dem man Funkkontakt aufbauen wollen würde.
Ich folgte also dem Erzi zurück zum Aufzug und wir fuhren gemeinsam wieder nach ganz oben. Doch zu unser beider Überraschung landeten wir wieder in der Etage, die das Büro des Zhi Zhe beherbergte. Das war gewiss nicht in der Absicht der Erzi, dachte ich. Und wie sich herausstellte, sollte ich Recht behalten.
„Was soll das bitte, wenn ich fragen darf?“, sagte der Zhi Zhe, der aus dem Nichts aufzutauchen schien.
Hinter ihm stand ein Mädchen, das noch nicht ganz in meinem Alter war. Nur entfernt war sie mir bekannt, doch genug um zu bestimmen, dass sie die Tochter des Zhi Zhe war, die Nüer. Ihr Name war, soweit ich wusste, Nyla. Wie ihr Bruder und ihr Vater, hatte auch sie die Iris ihrer Augen weiß gefärbt. Doch wenn es bei den beiden Männern fast schon gruselig und bedrohlich wirkte, erschien sie mir dadurch nur unschuldig und jung. Das lag womöglich an dem Zusammenspiel mit ihrem unschuldig dreinblickenden Gesichtsausdruck. Aber ganz sicher nicht an ihrer Kleidung. Ihre weißen, hohen Schuhe ohne Absätze schienen mit ihrer weißen engen Hose und ihrem weißen Oberteil eins zu sein. Der Großteil ihres Körpers wurde von einem weißen, aus edlem Stoff gefertigten Umhang verdeckt, der lediglich von einem goldenen Gürtel und einer roten seidenen Kordel an Ort und Stelle gehalten wurde. Ihr weißes Haar, dessen Ansatz viel weiter oben an ihrer Stirn anfing, wurde mithilfe zweier goldener Bänder zu zwei kunstvollen Knoten, die sich in zwei Zöpfe verloren, zusammengehalten. Irgendetwas hatte diese Familie mit der Farbe Weiß.
„Sie will sich in Sauls Zimmer umsehen.“, erklärte der Erzi, mit gesenktem Haupt. „Es hilft ihr ihn schneller zu finden, sagt sie.“ Vorher, im Büro der Zhi Zhe, als ich dort aufgewacht war, ist es mir nicht aufgefallen, aber der Erzi scheint ziemlich vor seinem Vater zu kuschen. Lag es daran, dass es sein Vater war? Oder daran, dass er der Zhi Zhe war?
„Nyla soll sie hoch bringen.“, sagte der Zhi Zhe schließlich, nachdem er es sich hatte durch den Kopf gehen lassen. „Ich habe mit dir zu reden.“
So tauschten also Nyla, die Nüer, und ihr älterer Bruder, Adley, der Erzi, die Plätze, und ich fuhr mit dem Mädchen weiter nach oben, während der Erzi mit seinem Vater in dessen Büro sprach. Ich konnte mir vorstellen, dass es um mich ging. Man würde dem Erzi raten, mir ja nicht zu sehr zu vertrauen, weil ich ihn jeder Zeit mit der bloßen Kraft meiner Gedanken töten könne, oder ihn einfach als Snack für die Zombies irgendwo zurück lassen würde. Doch zugleich sollte er aufpassen, dass ich nicht von unserem Ziel abkomme. Dazu sollte er wiederrum mein Vertrauen gewinnen, damit ich ihn in meine etwaigen Schritte einweihe.
Ups. Da hab ich meine gute Kinderstube wohl außer Acht gelassen und hab, obwohl es mir meine Mutter lediglich in einem Notfall gestattet hätte, die Gedanken des Zhi Zhe gelesen. Das war unabsichtlich, das schwöre ich. Mein Ehrenwort darauf.
Wir waren in der hundertsechsundneunzigsten Etage, des zweihundert Stöckigen Gebäudes, als sie die Aufzugtüren wieder öffneten und ein Schlafzimmer zum Vorschein kam. Na ja. Genau genommen kam ein enorm großer Schreibtisch zum Vorschein, der aber immer noch kleiner war, als der des Zhi Zhe. Aber der Schreibtisch stand im Schlafzimmer, dass ich genauer entdecken konnte, als ich eintrat. Die Aussicht würde mir am Tage wohl eher den Atem verschlagen, als jetzt im Dunkel der Nacht. Leider hatte ich keine Gelegenheit die Aussicht von der Glaswand im Büro des Zhi Zhe, das nur wenige Ebenen unter uns lag, zu bestaunen. Also würde ich wohl keine Gelegenheit mehr haben, jemals die Aussicht von einem so gigantisch großen Gebäude zu genießen.
Rechts und links vom Schreibtisch des Jungen, der ordentlich aufgeräumt war, waren zwei Lichtstatuen aufgebaut. Die eine zeigte seinen stolzen und mächtig wirkenden Vater. Die andere die Mutter, die, trotz der Tatsachte, dass sie bereits drei Kindern das Leben schenkte, wovon das Älteste schon dreiundzwanzig Jahre alt war, wunderschöne aussah. Hinzu kam noch, dass sie, mit diesem Gesichtsausdruck der Einsicht, sehr weise wirkte.
Das Bett des Jungen war so breit, das darin problemlos drei bis vier Personen nebeneinander Platz finden konnten, ohne etwas von ihrer Armfreiheit einbüßen zu müssen. Ich konnte nichts dafür, aber plötzlich fand ich es unfair, dass diese Familie in so eine Luxus lebte, und ich mich darin entscheiden musste, ob ich die Nacht lieber im Armenhaus verbrachte, wo mich jederzeit ein geiler Penner anfallen könnte, oder in einem Fischernetzknäul. Das war einfach nicht fair.
Als ich mich von seinem Bett abwandte, obwohl ich mich lieber reingelegt hätte, fielen mir die beiden Lichterstatuen an der Seite des Aufzuges auf. Die eine Stellte ganz klar seine älteren Bruder, den Erzi dar. Doch in der zweiten war es mir nicht möglich eine Ähnlichkeit zu seiner Schwester festzustellen. „Wer ist das?“, fragte ich sie schließlich.
„Pamina.“, antwortete Nyla mir. „Die Frau von Adley.“
Oh. Die Frau des Erzi. Schon fühlte ich mich nicht mehr ganz so benachteiligt wegen des obszön großen Bettes, das allein für einen zwölfjährigen Jungen da war. Mir war es wenigstens vergönnt zu heiraten, wenn ich wollte. Den Kindern des Zhi Zhe nicht. Sie wurden im Alter von etwa fünf Jahren mit jemand verheiratet, den ihre Eltern ausgesucht hatten. Natürlich war dieser Jemand etwa im selben Alter, sonst wäre das noch viel merkwürdiger als ohnehin schon.
Die Tradition, die Kinder des Zhi Zhe schon so jung zu verheiraten, hatte selbstverständlich auch einen Ursprung. Der reichte bis zum zweiten Zhi Zhe in der Geschichte zurück – was genau genommen nicht sehr weit war, da es sich dabei um den Großvater des heutigen Zhi Zhe handelte.
Als der erste Zhi Zhe und damit Gründer von NAA mit den mutigen und starken Männern und Frauen dieses Gebiet, des heutigen NAA, von den Zombies zurück eroberten und von ihnen säuberten, machte man sich an die Arbeit des Aufbaus. Da der Zhi Zhe von dieser Arbeit vollkommen vereinnahmt wurde, überließ der seine Frau und seinen fünfjährigen Sohn in der Obhut eines Zombiejägers und dessen Frau und Tochter.
Eines Tages machte sich diese kleine Gruppe zu einem Ausflug auf, um das Land ein wenig kennen zu lernen. Auf dieser Kurzreise begegneten ihnen plötzlich ein oder mehrere Zombies (hier weichen die Geschichten ab). Als diese Zombies die Reisegruppe angriff, sahen der Zombiejäger und seine Frau die einzige Möglichkeit, die Familie des Zhi Zhe und ihre eigene Tochter zu retten, darin sich zu opfern.
Weil der damalige Zhi Zhe aufgrund dessen tief in der Schuld der beiden toten Helden stand, sah er es für selbstverständlich an, die Tochter der beiden in seine Familie aufzunehmen und sie von da an aufzuziehen, als wäre sie ihre eigene Tochter. Jahre später, als NAA schon größten Teils existierte und funktionierte, verliebten sich der Sohn des Zhi Zhe und das Mädchen der toten Helden ineinander und heirateten schließlich. Das Mädchen war schon vor ihrer Heirat, der Familie des Zhi Zhe über die Jahre eine wichtige Stütze und Wegbegleiterin und half dem Jungen über eine schwere Zeit hinweg (was das bedeutet, weiß ich auch nicht).
Um die Heldentat der Eltern des Mädchens, und die Taten, mit denen das Mädchen der Zhi Zhe Familie und dem Volk von NAA geholfen hat, zu würdigen, wurde es zu einer Tradition die Kinder des Zhi Zhe so jung zu verheiraten, weil die Verbindung des Mädchens und des Jungen auch so früh begann. Ich habe gehört, dass viele wohlhabende und einflussreiche Bewohner der reichen Distrikte es der Zhi Zhe Familie gleich taten und ihre Kinder auch verheiraten.
Mein Vater hat früher, als er noch lebte und ich in eben diesem „Heiratsalter“ war, oft gescherzt, er würde mich demnächst an einem unserer Nachbarsjungen verheiraten, um mich endlich aus dem Haus zu haben. Denn das verheiratete Kind, das aus der weniger mächtigen und einflussreichen Familie von beiden stammt, kommt sofort zu der Familie, in die es hinein geheiratet hatte, und wurde von da an von ihnen erzogen.
Auf der anderen Seite des Aufzugs fand ich noch zwei Lichtstatuen, die Nyla und einen Jungen, der vermutlich ihr Ehemann war, zeigten. Keines der beiden Paare sah besonders verliebt aus. Was entweder daran lag, dass es jeweils zwei voneinander getrennte Statuen waren. Oder, dass sie es schlichtweg nicht waren. Sie wurden im zarten Kindes Alter miteinander verheiratet, in dem man noch keine genaue Vorstellung von der Liebe zwischen Mann und Frau hatte, und waren fortan den Rest ihres Lebens aneinander gekettet. Bestenfalls lernten sie einander zu lieben. Doch schlimmsten falls waren sie gezwungen, trotz ihrer gengenseitigen Abneigung zueinander, zusammen zu bleiben und auf die wahre Liebe zu verzichten.
Als ich so darüber sinnierte, fiel mir plötzlich etwas ein. „Ist dein jüngerer Bruder nicht verheiratet?“ Denn obwohl ich mich noch nicht eingehend in seinem Zimmer umgesehen hatte, sah ich doch gleich, dass es keine Anzeichen darauf gab, dass hier noch ein Mädchen in diesem Zimmer wohnte. Es sei denn, sie hatten in diesem Alter noch getrennte Zimmer. Denn soweit ich damit vertraut war, wurde die Ehe erst am zehnten Hochzeitstag, nach einer Zeremonie, vollzogen.
„Nein.“, antwortete sie, ohne weitere Erklärung. Also fragte ich nach. „Unsere Eltern wollten ihn nie verheiraten, weil er krank ist. Sie wollten nicht, dass er seine Krankheit an seine Kinder weitervererbt.“
„Was fehlt ihm denn?“, fragte ich neugierig.
„Darüber darf ich nicht sprechen.“, antwortete sie.
„Könnte seine Krankheit denn meine Suche nach ihm irgendwie“ – positiv oder negativ – „beeinflussen?“, wollte ich wissen.
„Nein.“, antwortete sie bestimmt. Natürlich konnte ich diese Information ganz leicht aus ihren Gedanken entnehmen, würde ich sie jetzt lesen. Doch die Antwort, die sie mir gegeben hatte, genügte mir. Denn irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich sie respektieren sollte. Vermutlich sprach das mein Gewissen mit der Stimme meiner Mutter zu mir. Außerdem sah ich nicht, wie eine Krankheit des Jungen meine Suche nach ihm in irgendeiner Weise positiv beeinflussen könne. Die negative Beeinflussung war klar, er könnte schon längst tot sein. Schon bevor man mich überhaupt darum gebeten hatte mich auf die Suche nach ihm zu machen.
Bis jetzt hatte ich noch immer keine genaue Vorstellung davon, wie viel Zeit seitdem wirklich vergangen war. Mir kam es ja vor wie ein – höchstens zwei Tage. Vielleicht sollte ich Adley fragen, wenn wir zur Zone flogen.
Das brachte mich wieder zurück zu meiner Eigentlichen Aufgabe. Um mir ein eigenes Bild vom Charakter des Jungen zu machen, wollte ich mich in seinem Zimmer umsehen. Was ich jetzt endlich tun sollte. Da unser Flug schon in fast viereinhalb Stunden ging.
In der, von seinem Bett gegenüberliegenden Ecke des Raumes, befand sich eine Feuerstelle, die umringt war, von luxuriös wirkenden Couchen. Auf dem Tisch um die Feuerstelle herum, lag ein aufgeschlagenes Buch. Ich klappte den Buchdeckel um, um zu erkennen, dass es sich um ein Geschichtsbuch handelte, dass die Geschichte der Postapokalypse zusammenfasste. Aufgeschlagen war es bei einem Kapitel über Telepathen. Vermutlich gehörte das zum Lernstoff für einen Zwölfjährigen. Ich war noch nie in der Schule, daher wusste ich es auch nicht genau. Doch es erschien mir auch nicht wichtig.
Plötzlich flackerte Licht von der Feuerstelle auf und Wärme wurde abgegeben. Nyla hatte die Feuerstelle aktiviert. Doch es war kein richtiges Feuer. Wie bei den Lichtstatuen war nur ein Lichterspiel. Welches allerdings wirklich Hitze ausstrahlte.
„Das ist Sauls zweitliebster Platz.“, erzählte sie mir, als sie in die aufzüngelten (unechten) Flammen starrte. „Er saß hier immer und las in irgendwelchen Büchern.“
Das war interessant. Es könnte hilfreich sein, zu wissen, was er gerne getan hat.
„Was war denn dein liebster Platz?“, fragte ich.
„Sein Teleskop in der obersten Terrassenetage.“, antwortete sie.
Als ich fragte, ob ich mir das auch mal ansehen durfte, gestattete sie es mir. Doch zuvor sah ich mich hier noch ein wenig um. Das Bücherregal, das an der Glaswand hinter einer der Couchen aufgebaut war, enthielt nichts weiter als Bücher. Romane, deren Titel mir nicht viel sagten. Ich hatte keine Gelegenheiten in meinem Leben, zu lesen. Weitere Geschichtsbücher, die sogar von der Zeit vor der Apokalypse vor vierhundert Jahren berichteten. Und andere Sachbücher. Solche Bücher über Politik, Wirtschaft und andere, die man als Sohn des Zhi Zhe gelesen haben musste.
In der untersten Ecke des Regals waren einige Kinderbücher. Ich konnte mir vorstellen, dass seine Mutter sie ihm immer vorgelesen hat, als er noch jünger war. Ich hatte den Eindruck, dass er diese Kinderbücher als Erinnerungen an eine, ihm wertvolle Zeit aufhob. Bei näherer Betrachtung, erkannte ich sogar einige Bücher, die auch meine Mutter mir früher vorgelesen hatte.
„Was da drin?“, fragte ich, als mir die Tür auffiel, die nach Osten rausging. Weil die Wand nicht auch aus Glas war, vermutete ich, dass sich dahinter noch ein Raum befand.
„Sein Ankleidezimmer.“, sagte sie. „Und da hinten ist sein Badezimmer.“ Sie zeigte auf die zweite Tür im Raum.
Ein ganzes Zimmer, das nur für seine Kleidung da war? Das war für mich ein unvorstellbarer Luxus. Doch hätte ich bei der Zhi Zhe Familie etwas anderes erwartet? Mir war schon von Anfang an klar, dass sie wohlhabend waren. Trotzdem. Ein ganzes Ankleidezimmer.
Ich warf einen kurzen Blick in den Raum. Auf einer Seite war ein ganzes Regal nur mit Schuhen. Der Rest war ordentlich sortiert, nach Hemden, Hosen, Ganzen Anzügen und Accessoires. Im Leben hab ich noch nicht so viel Kleidung gesehen. Nicht mal in den Kleiderläden von Distrikt sechsundzwanzig.
Der Boden des Badezimmers bestand aus teurem Marmor. Die Armaturen waren aus purem Gold. Die Handtücher, die an den Handtuchhaltern hingen, sahen noch flauschiger aus, als das, das ich heute benutzen durfte. Ansonsten gab das Badezimmer keinen Aufschluss darüber, dass es täglich von jemand benutzt wurde. Erst nach einer kurzen Suche, nach den Hygieneartikeln, die man täglich so brauchte, fand ich sie verstaut in einem Schrankfach. Doch es erschien mir, dass diese durchaus benutzt wurden. Auch wenn ich keine Erklärung dafür hatte, dass sie so ordentlich in den Schrank geräumt zu werden schienen, nachdem sie benutzt wurden.
Als nächstes untersuchte ich die beiden Regale, die parallel zum Bett an den Wänden standen. Sie boten weit mehr Leben dar, als der Rest des Zimmers (mal abgesehen von dem aufgeschlagenen Bucht), auch wenn es nur in Form von kleinen, aber persönlichen Dekorationen waren. Neben einer Fotografie, wie sie aus sehr altmodischen Apparaten kamen, lagen getrocknete Blumen.
„Lilien.“, erklärte Nyla mir plötzlich. „Es sind seine Lieblingsblumen. Zusammen mit einem der Gärtner züchtet er sie in den Gärten, in einem der Gewächshäuser.“
Hm. Er scheint gerne zu lesen und Blumen zu lieben. Und schien sich Kindheitserinnerungen gerne zu wahren. Dazu kam noch, dass eine seiner Lieblingsbeschäftigungen war, Sterne durch ein Teleskop zu beobachten.
Die altmodische Fotografie, die neben den Blumen aufgestellt war, zeigte einen einfachen, aber atemberaubend schönen Sonnenuntergang, vor dem die schwarze Silhouette einer jungen Frau am Rand von ein paar Klippen stand. Es war vermutlich nicht wichtig aber ich fragte trotzdem mal Nyla, ob sie weiß, wer das Mädchen war.
Sie sah sich das Bild genauer an und überlegte kurz. „Nein.“, antwortete sie schließlich.
Die übrigen Dekorationsgegenstände waren solche, wie zum Beispiel Muscheln, die er gesammelt zu haben schien; das ein oder andere Glasornament; und ein Regalfach war ausschließlich voller geschnitzte Figuren, von denen mir Nyla erzählte, das sie vom Erzi stammten, der sie seinem Bruder geschenkt hatte.
Schließlich fing die nächtliche Aussicht, die ein Meer von Lichtern aus nahegelegenen Gebäuden darbot. Als ich mich dann davon loseisen konnte, sah ich das Spiegelbild der Nüer im Fensterglas. Sie beobachtete mich genauestens. Doch es lag nicht daran, dass sie fürchtete, dass ich ihr etwas gegen ihren Willen antun könne. Ich drehte mich zu ihr um und starrte direkt zurück. Keiner von uns bewegte sich für einen kurzen Moment. Bis sie mich schließlich etwas fragte.
„Glaubst du, du kannst ihn finden?“, wollte sie wissen. Ihr Ausdruck war gefasst, aber ihre Stimme stockte ihr kurz.
Mein Gefühl sagte mir, dass sie eigentlich fragen wollte, ob ich glaubte, dass er überhaupt noch lebte. Doch das wagte sie wohl nicht laut auszusprechen. Und ich war froh darum. Ich hätte nämlich nicht gewusst, was ich darauf hätte antworten können. Denn ganz nüchtern betrachtet, war die Chance, dass wir ihn lebend finden würden, verschwindend gering.
Die westliche Zone war groß. Zwar nicht so groß wie die nord-östliche, aber es würde sehr schwer werden einen einzelnen Menschen zu finden, wenn man nicht genau wusste, wo er sein könnte. Selbst, wenn ein Telepath nach ihm suchte.
Wenn der Junge es geschafft hatte, sich vor den Zombies in Sicherheit zu bringen, waren da immer noch die Menschen, die immer noch dort draußen lebten. Es war allgemein bekannt, dass sie unzivilisiert und barbarisch waren. Doch irgendwie war es auch verständlich, dass sie so geworden sind. Für mich jedenfalls. Tag ein, Tag aus lebten sie in den einfachsten Verhältnissen und mussten sich gegen die Zombies zur Wehr setzen, die ihnen ans Leder wollten. Da war für viele kein Platz für Mitgefühl und man war sich selbst der Nächste.
Mal abgesehen davon, bezweifelte ich, dass der Junge Vorräte bei sich hatte. Und obwohl er belesen zu sein schien, viel es mir schwer zu glauben, dass er wusste, was er von Mutter Natur essen konnte und was nicht.
Es war vielleicht hart so zu denken, aber ich fürchte, dass es realistisch ist.
„Deinem Bruder geht es bestimmt gut.“, sagte ich, obwohl sie mich danach nicht gefragt hatte. Und bevor sie auf die Idee kam, dass ich sie angelogen hatte, gab ich ihr telepathisch ein wenig Zuversicht, dass ihr Bruder noch am Leben war. Obwohl meine Mutter mir lediglich dann gestatten würde, jemanden zu manipulieren, wenn es sich um einen äußersten Notfall handelte, war ich mir sicher, dass sie es mir in diesem Fall nicht übel nehmen würde.
Ich stöberte noch ein wenig weiter, bis ich mir den Inhalt der Regale angesehen und mir meine Gedanken dazu gemacht hatte. Nyla erlaubte mir auch in den Schubladen nach hilfreichen Tipps auf seinen Charakter zu suchen. Das Vorteilhafteste wäre wohl eine Art Tagebuch gewesen. Doch, obwohl er ein sensibler Junge zu sein schien, der meines Urteils nach viel Zeit alleine verbrachte, führte er offenbar nichts, worin er seine Gedanken aufschrieb. Jedenfalls konnten wir nichts Derartiges finden.
Schließlich zeigte Nyla mir, wo das Teleskop des zweiten Erzi aufgebaut war. Ich fand mich in der zweihundertsten Etage wieder. Hier oben gab es keine Wände, denn die oberen zehn Ebenen des Gebäudes fungierten lediglich als Terrassen. Wieder wünschte ich, dass es noch Tag wäre. Erst dann hätte ich die gesamte Pracht dessen erblicken können, was um diesen Pyramidenturm herum lag. Doch ich musste zugeben, dass die Millionen kleinen Lichter, der umliegenden Gebäude, irgendwie romantisch waren. Erst recht, wenn die Sterne über uns auch so hell funkelten. Es ist als ob man hier oben umhüllt wurde, von einer Decke aus Sternen. Ich konnte verstehen, warum der Junge so gerne hier oben war, und die Sterne beobachtete.
Nyla fand dann doch etwas von ihrem Bruder, das einem Tagebuch gleich kommen könnte. In dem ledergebundenen Buch standen seinen Beobachtungen von Sternbildern. Er hatte die Bilder nachgemalt, die Namen der Sternbilder darunter geschrieben, und die Koordinaten notiert, wo man sie fand. Auf der jeweilig nächsten Seite standen Geschichten geschrieben, die er sich dazu ausgedacht haben musste.
Als ich danach fragte, ob ich es denn mitnehmen dürfe, meinte Nyla nur, „Wenn es dir hilft… Saul hätte bestimmt nichts dagegen, wenn du es ihm bringst.“ Ich dachte mir, wenn ich darin las, und ich an Saul dachte, würde es mir vielleicht helfen seine Gedanken zu finden und damit auch ihn. Oder zumindest könnte ich eventuell verstehen, wohin er gehen würde, wenn er sich sicher fühlen wollte. Einen Versuch war es auf jeden Fall wert.
4.
90° Nord; 12° Süd: Kassiopeia
Einst behauptete die äthiopische Königin Kassiopeia, sie sei schöner als die Nereiden, die Nymphen des Meeres. Damit zog sie den Zorn des Poseidon, dem Gott des Meeres, auf sich. Er rief das Ungeheuer Keto, das im Meer wohnte, zu sich und befahl ihm der Königin eine Lektion zu erteilen. Keto sollte die Küstengebiete des Landes verwüsten.
Um das Untier milde zu stimmen, sollte die hübsche Tochter Andromeda des Königs Kepheus und seiner Königin Kassiopeia geopfert werden. Also band man sie an einen Felsen am Meer und wartete darauf, dass Keto das Opfer annahm. Doch was niemand ahnen konnte war, dass Perseus, auf seinem Weg vom Atlas hinzukam. Der heldenhafte Mann bezwang das Meeresungeheuer Keto und rettete die Prinzessin. Um ihm für seinen Einsatz zu danken, gaben der König und die Königin ihm die Hand ihrer Tochter.
Zusammen mit ihrem Mann Kepheus, ihrer Tochter Andromeda, deren Mann Perseus und dem Meeresungeheuer Keto wurden sie ein Teil der königlichen Familie des Himmels. Keto wurde dargestellt als Walfisch. Doch Kassiopeia wurde wegen ihrer Behauptung damit gestraft, dass sie für immer Kopfüber auf ihrem Thron vom Himmel hängen sollte.
Das stand in dem Buch, welches ich bei dem Teleskop gefunden hatte, das dem zweiten Erzi gehörte. Seine Handschrift, in der alles geschrieben war, war gleichmäßig und Schwungvoll. Ich konnte mir geradezu vorstellen, wie er mit einer schnellen Hand über das Papier flog und ihm die Tinte aufprägte.
Es war nicht so, dass ich wie ein Spürhund irgendwie daran schnüffeln musste, damit ich seine Spur aufnehmen konnte. Das Ganze war wesentlich komplizierter als das. Ich wusste nicht einmal genau, wie es funktionierte, aber wenn ich lernte, wie jemand denkt, waren seine Gedanken lauter, als die von anderen. Natürlich gaben Gedanken keinen Laut von sich. Sie waren lediglich deutlicher in meinem Kopf. Viel leichter wäre es selbstverständlich auch, wenn ich ihn persönlich kennen würde.
Für den Jungen hoffte ich inständig, das noch so weit kommen wird. Immerhin hieße das dann, dass wir ihn lebend fanden. Je öfter und länger ich über ihn nachdachte, desto mehr tat er mir leid. Ein zwölfjähriges Kind sollte nicht in einer Zone ausgesetzt werden, in der es von Untoten wimmelte, die sein Blut und Fleisch schmecken wollten.
Doch das war nicht das einzige, das mich beschäftigte. Wieso wollte ich ihm nicht sofort helfen? Nur zum Trotz des Zhi Zhe? Wenn ja, hätte ich doch bei der Bitte des Erzi einknicken können. Niemals hätte ich mich für so … herzlos gehalten.
Meine Mutter hätte sich bestimmt in ihrem Grab umgedreht, wenn sie in einem gelegen hätte. Üblicherweise wurden die überführten Telepathen erst vergiftet und dann wurde ihr Leichnam verbrannt.
Meine Mutter war immer dafür, dass jedes Leben heilig war. Egal ob Telepath oder nicht Telepath, unschuldiges Kind oder sogar blutrünstiger Mörder. Niemanden durfte man sein Leben nehmen. Und wenn ich den Jungen nicht fand, weil ich gezögert hatte, würde es meine Schuld sein, wenn er starb. So hatten meine Eltern mich bestimmt nicht erzogen.
„Woher hast du das Buch?“, fragte mich Pakku plötzlich und hielt mir eine Flasche Wasser hin.
„Nyla hat mir das Teleskop des Jungen gezeigt und mir das Buch überlassen.“, sagte ich, als ich die Flasche aufschraubte.
„Sein Name ist Saul.“, sagte Pakku bestimmt.
Sein Ton zwang mich ihn anzusehen. Er starrte nur auf das Buch, das auf meinem Schoß lag. In seinem Gesicht spiegelten sich Emotionen wieder, die ich bei unserer Ausrüstungsunterweisung nicht bemerkt hatte. Plötzlich fiel mir die Akte ein, die er las, als ich ihn das erste Mal sah. War das überhaupt eine Akte?
„Was war das für eine Akte, die du gelesen hast?“ Da er mich fragend ansah, musste ich präziser werden. „Als wir uns das erste Mal getroffen hatte. Vor der Unterweisung?“
„Ist das denn so wichtig, um Saul zu finden?“, fragte er.
„Ich bin nur neugierig.“ Denn irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Pakku den Jungen – Saul, nicht nur besser kannte, als man vermuten könnte, sondern, dass er ihn gern hatte.
Mit dem Hauch eines bitteren Lächelns sagte er, „Ich kenn die Spielchen, die ihr Telepathen abzieht.“ Spielchen? „Du weißt doch schon längst, dass ich Schuld an Sauls Verschwinden hab.“
Es ist meine Schuld. Weil ich ihn nicht beschützen konnte. Obwohl das meine einzige Aufgabe war. Ich konnte nicht mal etwas Brauchbares aus den Schweinen rauskriegen. Dachte er. Manchmal wurde ich einfach schwach und hörte mir das an, was jemand zu denken hatte.
„Du gibst dir die Schuld an der Entführung?“, fragte ich, da ich aus seinen Selbstanschuldigungen längst nicht alles rauslesen konnte.
Daraufhin starrte er mich nur an. Er hatte wohl erwartet, dass ich mir schon die ganze Zeit über, die wir jetzt schon in der Luft verbrachten, seine gedanklichen Selbstanschuldigungen angehört hatte, sodass ich über alles, was es damit auf sich hatte, Bescheid wusste.
Ich stellte die Flasche auf den Tisch ab, an dem ich saß. „Hab ich dir nicht schon heute Nachmittag erzählt, dass ich niemandes Gedanken lese?“ Na ja, Ausnahmen bestätigen die Regel. „Erzählst du mir, was passiert ist?“ Obwohl mir das bei der Suche nicht unbedingt weiter helfen würde. Es interessierte mich trotzdem.
„Das kann ich dir auch erzählen.“, sagte Adley, der Erzi, der gerade aus dem Nichts hinter mir auftauchte.
Pakku und Adley tauschten einen Blick aus, der aus nichts weiter als Zorn bestand. Die Temperatur schien um einige Grad zu fallen. Und die Luft zwischen den beiden war so dick, dass man sie mit einem Messer hätte schneiden können.
Aus irgendeinem Grund hatte ich auch das nicht bemerkt. Die beiden schienen sich zu hassen. Doch sie unterhielt zwei verschiedene Arten von Hass. Nur konnte ich nicht genau ausmachen, welche es waren.
„Dieser inkompetente Haufen Dreck, hat zugesehen, wie man meinen Bruder entführt hat.“, sagte Adley mit so viel Abscheu, dass man meinen könnte, dass Pakku wirklich nur ein Haufen Dreck war, anstelle eines Menschen.
Ich musste zusehen. Ich konnte nichts tun. Wie gern hätte ich etwas unternommen. Aber ich konnte mich nicht mehr rühren. Dachte Pakku. Tief in seinem inneren wollte, dass er Schuldfrei war. Dass ihm jemand sagte, dass er nichts hätte tun können. Doch es offensichtlich, dass das niemand bisher getan hat.
„Du warst dabei, als es passiert ist?“, fragte ich. Ich hätte ihm gerne gesagt, dass es nicht seine Schuld war. Aber das konnte ich nicht. Ich war nicht dabei. Außerdem schätze ich, dass er es nicht gerade von mir hören wollte. Wahrscheinlich wollte er es von Saul persönlich hören.
„Es war meine Aufgabe ihn zu beschützen.“, sagte Pakku mit einer Mischung aus Verbitterung und immer noch Zorn.
Adley erzählt mir dann die ganze Geschichte. Offenbar war Saul – zusammen mit seinem Wächter Pakku – auf dem Weg durch den Garten, der um das Pyramidengebäude herum lag, um seine Lilien zu besuchen, als sie in einem abgelegenen Teil plötzlich von unbekannten und vermummten Männern und Frauen angegriffen wurden. Weil sie in Überzahl waren, hatte Pakku keine Chance gegen sie zu bestehen. Während sie Saul mitnahmen, konnte Pakku gerade noch verhindern, dass er verblutete.
Die Wunde sollte quer über seine Brust gehen, wo ich aber nur den Teil einer Narbe sah, die vom Ausschnitt seines Hemdes hervorlugte. Unmöglich konnte eine Wunde, die tief genug war, sodass er fast verblutet wäre, so schnell verheilen, dass nichts weiter als eine Narbe zurückblieb. War die Entführung vielleicht doch schon länger her? Hatten sie mich doch länger Bewusstlos gelassen, als ich angenommen hatte?
„Wie lange ist die Entführung jetzt her?“, fragte ich, um endlich Gewissheit zu haben.
„Viereinhalb Tage.“, sagte Pakku. Als er merkte, dass ich auf seine Narbe starrte, fügte er hinzu, „Der Zhi Zhe hat mich einem Schnellheilverfahren unterziehen lassen, damit ich berichten konnte, was passiert war.“
Schnellheilverfahren? Davon hatte ich noch nie gehört. Doch vermutlich war das etwas, dass sich nur die Reichsten leisten konnten. Nichts, woran die Leute, die meiner sozialen Klasse entsprangen, auch nur denken konnten.
Dann musste ich an meine Nase denken. Wenn ich dem Glauben schenken konnte, was Pakku gesagt hatte – und ich hatte keinen Grund das anzuzweifeln – hatte mir dieser schlagwütige Wachmann erst vor einem Tag, oder so, den Lauf seiner Waffe gegen meine Schläfe und meine Nase geschlagen. Sollte ich dann nicht eine Beule oder so etwas haben? Hatte man mich auch so einer Behandlung unterzogen? Aber wozu? Anfangs war ich nicht gerade gewillt, ihnen zu helfen. Ich bezweifelte, dass es üblich war, die Gefangenen erst gesund zu machen, und sie erst dann hinzurichten.
Doch das war vergangen. Es spielte im Grunde auch gar keine Rolle, schätze ich. Was zählte war, dass ich am Leben war, die Chance hatte einen unschuldigen Jungen zu retten, und damit zeigen könnte, dass man keine Angst vor Telepathen haben musste.
So wie Pakku keine Angst vor mir hatte. Ich fragte mich, warum das wohl so war. Kannte er einen? Ich schätze, hier, im Flugzeug, konnte ich ihn fragen. Und das ohne, dass uns jemand belauschen würde, da bis auf die Piloten wohl alle schliefen, die an Bord waren. Adley hatte sich gleich nach unserem kurzen Gespräch aufs Ohr gelegt. Und die Arbeiter, die die Signalanlage bauen sollten, mit der wir signalisieren konnten, dass wir bereit waren abgeholt und nach Hause gebracht zu werden, waren schon beim Start schlafen gegangen.
Pakku hatte sich in den vorderen Sitzbereich, hinter der Pilotenkabine, zurückgezogen. Vielleicht wollte er lieber alleine sein. Aber wenn ich ihn das nicht fragen würde, würde es mich die ganze Zeit über wurmen. Und wer weiß schon, wann ich ihn wieder sehen würde. Falls ich überhaupt noch in der Lage sein werde zurück nach NAA zu kommen. Womöglich werde ich auf der Suche nach Saul sogar infiziert und verwandle mich in einen Untoten.
„Stör ich?“, fragte ich Pakku.
Er sah von seiner Karte der westlichen Zone auf und studierte mich. „Du solltest besser schlafen. Wer weiß, wann du das nächste Mal beruhigt schlafen kannst.“
„Ich wollte dich nur etwas fragen.“, sagte ich.
Er faltete die Karte vorsichtig zusammen. „Und das wäre?“
„Kennst du einen Telepathen?“, fragte ich.
Da sah er von seinem Kampf mit der halb zusammengefalteten Karte auf und starrte mich kurz an. Sein Blick ließ nur kurz von mir ab, um sich um zu sehen. Um sich zu vergewissern, dass uns niemand belauschte, schätze ich. „Wie kommst du darauf?“, fragte er.
„Die meisten denen ich, seit alle wissen, dass ich ein Telepath bin, begegnet bin, haben entweder Angst vor mir, oder sie trauen mir einfach nicht. Bei dir ist das irgendwie anders. Es scheint dir egal zu sein, zu was ich möglicherweise fähig wäre.“
„Ich kenne keinen.“, log er. Ich brauchte nicht mal seine Gedanken lesen, um zu wissen, dass das eine dick fette Lüge war. Vermutlich wollte er diesen Telepathen nur schützen, und hatte Angst, dass jemand an Bord unser Gespräch mitbekam.
Aber ich konnte genau sagen, wo jeder Passagier gerade war und was sie gerade taten. Zwei Piloten, die Flugzeug im Cockpit steuerten. Ein Ersatzpilot, der sich auf einem Bett für seinen möglichen Einsatz ausruhte. Fünf Techniker, die in ihren Betten schliefen, bis wir landen. Und ein Erzi, der sich unruhig und rastlos in seinem Bett wälzte. Niemand war in der Nähe.
„Es ist niemand da, der uns belauscht.“, teilte ich ihm mit, in der Hoffnung, er würde mir die Wahrheit sagen, ohne dass ich seine Gedanken lesen musste.
„Ich kenne wirklich keinen.“, sagte er mit mehr Nachdruck. Trotzdem konnte ich noch immer heraushören, dass er log. Ich habe ein feines Ohr für Lügen und erkenne sie meistens, wenn sie mir aufgetischt werden.
„Du kannst es mir doch erzählen. Ich bin die letzte, die einen Telepathen etwas antun würde. Meiner Meinung nach, müssen die Telepathen in solchen Zeiten wie diesen zusammenhalten.“
„Ja, davon hab ich gehört.“, sagte Pakku. „Ganz NAA weiß wohl mittlerweile, dass du ein Telepath bist. Es war überall in den Nachrichten.“ Oh. Ich hätte nicht gedacht, dass sie das in den Nachrichten zeigen würden.
„Also wirst du mir nicht erzählen, wer, den du kennst, ein Telepath ist.“, stellte ich fest.
Er wandte sich wieder dem Falten seiner Karte zu und versuchte dabei, mir keine Aufmerksamkeit entgegen zu bringen. Vermutlich, um das Thema at Acta zu legen. „Ich sagte dir doch bereits, dass ich keinen Telepathen kenne – tja, bis auf dich. Und da wir gerade dabei sind, du solltest wirklich noch etwas schlafen, bevor wir landen.“
Ich konnte nicht anders, als mich geschlagen geben. So wichtig war es ja eigentlich auch nicht. Aber ich werde mir wohl die meiste Zeit darüber den Kopf zerbrechen. Bis auf meine Mutter kannte ich keinen Telepathen. Um sich selbst zu schützen, vermieden es die Telepathen heute, andere ihrer Art zu suchen, damit sie nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden konnten. Daher wäre es zur Abwechslung mal ganz nett, einen anderen Telepathen zu kennen. Und da der Telepath, den Pakku kennt, mit Sicherheit nicht in meinem Distrikt wohnte, war es unwahrscheinlich, dass man uns miteinander verbinden könnte.
Doch daraus wurde wohl nichts. Er wollte mir nichts erzählen, und ich konnte, obwohl ich schwer versucht war, seine Gedanken nicht lesen. Denn genau davor hatten alle nicht-Telepathen Angst, dass wir jederzeit ihre Gedanken lesen können und auch sonst irgendetwas damit anstellten.
In dem Bett, das für mich vorgesehen war, dachte ich über die Mission nach. Wir sollten an der Stelle der unteren Hälfte der westlichen Zone abgesetzt werden, die von NAA aus gesehen am nächsten war. Der Flug würde fünf Stunden dauern, sodass wir rechtzeitig bei Sonnenaufgang dort ankamen, damit wir den ganzen Tag noch nutzen konnten, in unserer Suche voran zu kommen. Wobei ich immer noch keine Vorstellung davon hatte, wie ich Saul eigentlich finden sollte. Die westliche Zone war so riesig, und die Reichweite, die ich mit meinen Gedanken erreichen konnte, war nicht so enorm. Wir mussten schon kreuz und quer durch die Zone fahren, damit ich jeden Winkel absuchen konnte. Und das würde uns eine Menge Zeit kosten.
Ich saß aufrecht im Bett, unfähig zu schlafen. Es war an mir Saul zu finden, bevor er stirbt. Aber wie sollte ich das nur anstellen? Er war bereits seit vier Tagen allein, auf sich selbst gestellt, in der westlichen Zone. Wie wahrscheinlich war es dann, dass er noch weitere Wochen überleben würde? Wenn es denn nur Wochen dauern wird. Vielleicht waren wir ja sogar Monate unterwegs.
Plötzlich saß am Fuß meines Bettes der Mann, von dem ich gestern geträumt hatte. Ich dachte ich sah nicht recht. Wie kam er hier rein? Wir waren doch in der Luft. Und ich glaube nicht, dass er sich vor dem Start hätte an Bord schleichen können. Obwohl… Er ist ein Telepath. Wenn er in meinen Traum gelangt war, konnte er sich auch überall dahin schleichen wo er wollte, ohne dass ihn jemand entdecken würde.
„Wie bist du hier rein gekommen?“, fragte ich ihn.
„Ist das wichtig?“, erwiderte er.
„Wir sind seit fast zwei Stunden in der Luft.“, sagte ich nur.
Aber er wollte es mir nicht sagen. Er wechselte das Thema. „Ich hab eine Lösung für dein Problem.“
„Ach ja?“, fragte ich. „Woher weißt du denn was mein Problem ist?“
„Hatten wir dieses Thema nicht schon? Ich bin ein Telepath und ich kann deine Gedanken lesen.“, stellte er noch einmal klar.
Dann fiel mir noch etwas ein. „Wir wurden letztes Mal unterbrochen. Ich hatte dich gefragt, ob es dich wirklich gibt.“
Aber hörte mir gar nicht zu. Er stand von meinem Bett auf und ging in die andere Ecke des Raumes. Zu meinem Erstaunen musste ich feststellen, dass er durch die anderen Betten, die hier unbesetzt herum standen, hindurch schritt. Die Betten sahen aus wie zuvor, ganz normal. Aber er konnte durch sie hindurch gehen, als seien es Geisterbetten. Oder als sei er ein Geist. Als ich ihm auf seinem Weg folgte, rempelte ich allerdings mit voller Wucht dagegen und stieß mir das Knie an. Also waren nicht die Betten Geister, sondern er.
Irgendwie erschien mir das Zimmer auf einmal viel größer. In der anderen Ecke des Raumes erkannte ich dann die Maschine. Es war dieselbe Maschine, die ich in meinem letzten Traum entdeckt hatte. Sie wurde in ein unnatürliches Licht getaucht, das mich auch den Mann besser erkennen ließ.
Bei unserer letzten Begegnung hatte ich seinem Aussehen keinerlei Beachtung geschenkt. Doch jetzt erkannte ich sein Vertrauenerweckendes Lächeln und seine intensiven Augen, deren Farbe ich nicht genau ausmachen konnte. Aber eines war sicher. Er hatte keine gefärbte Iris. Seine Augenfarbe wirkte natürlich. Einzelne Strähnen seiner Haare hingen ihm im Gesicht.
Sein Lächeln verbreiterte sich auf einmal. „Mir hat noch nie jemand gesagt, dass mein Lächeln Vertrauenserweckend ist.“
Daraufhin fühlte ich mich irgendwie unwohl. „Das ist auch jetzt, immer noch nicht geschehen. Und könntest du wohl aufhören in meinem Kopf herum zu schwirren!“ Ich konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn man das bei mir machte. Zuletzt hatte meine Mutter das ab und an gemacht, wenn sie glaubte ich würde sie anlügen.
„Schon gut.“, sagte er. „Es tut mir leid. In Zukunft lass ich es.“ In Zukunft? „Hier ist die Lösung für dein Problem.“ Er präsentierte mir die Maschine hinter ihm.
Ich konnte diesem Ding nichts abgewinnen. Für mich war das nur ein Haufen Metall, etliche Kabel und einige Schläuche. Doch aus den Erinnerungen meiner Vorfahren, wusste ich, was diese Maschine bewirken konnte. Natürlich erst, seit dieser Mann mir erklärte, dass das die Maschine war, die die mentalen Wellen weiter tragen konnte.
Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Diese Maschine konnte den Radius, den meine mentalen Wellen abdeckten vergrößern. Sie half mir vielleicht nicht, die ganze westliche Zone abzudecken, aber doch einen gewaltig großen Teil – wesentlich größer als ohne Maschine.
Doch da gab es selbstverständlich ein Problem. Die Maschine wurde vor weit über vierhundert Jahren konstruiert und gebaut. Sämtliche Gebäude von dieser Zeit waren mittlerweile eingestürzt. So wohl auch das Gebäude, in dem diese Maschine stand.
„Au contraire.“, sagte er. „Die meisten der Gebäude von N-Corp stehen noch immer.“ So viel zum Thema, er bleibt aus meinem Kopf heraus.
N-Corp war vor vierhundert Jahren eine mächtige Firma, der man die Apokalypse damals zu verdanken hatte. Neben der Produktion von Dingen wie zum Beispiel Autos, Computer und anderen technischen Erneuerungen, beinhaltete N-Corp auch eine pharmazeutische, chemische und biochemische Abteilung. Außerdem waren sie die weltweit einzige Firma, die die Eigenschaften und Fähigkeiten von Telepathen untersuchten.
Vor der Apokalypse waren auch einige meiner Vorfahren in ihrem Telepathen Projekt. Dabei haben sie ihnen Medikamente verabreicht, die sicherstellten, dass all ihre Nachkommen Telepathen sein würden. Denn normalerweise war das nicht vererblich.
„Und wieso stehen die noch?“, fragte ich. Woraus waren die Gebäude denn gemacht, dass sie nach vierhundert Jahren, ohne die Betreuung von Menschenhand, noch stehen?
„Frag mich nicht.“, antwortete er. „Ich hab die Gebäude nicht gebaut. Aber du kannst dir sicher sein, dass das Ding auch noch funktioniert.“ Mit dem Ding meinte er wohl die Maschine.
Das würde mir die Suche auf jeden Fall erleichtern. Und selbst, wenn ich Saul dadurch nicht finden würde, konnte ich doch einen großen Teil der westlichen Zone als abgesucht abstempeln.
Doch eines machte mich stutzig. „Warum hilfst du mir?“, fragte ich ihn. „Wir kennen uns doch gar nicht. Ich kenn ja noch nicht mal deinen Namen.“
„Na ja. Wir Telepathen müssen doch in solchen Zeiten wie diesen, zusammenhalten.“ Das war genau das, was ich vor wenigen Minuten zu Pakku gesagt hatte.
„Da wäre noch etwas.“, sagte er noch. „Du solltest diesen Pakku auch mitnehmen.“
„Was?“, fragte ich. „Wieso?“
„Ich denke dabei nur an deine Zukunft. Denn es wird schwer sein diesen Adley ganz alleine vor den Zombies zu beschützen. Und wenn du versagst, kannst du nicht mehr zurück nach Hause. Obwohl ich es nicht unbedingt erstrebenswert finde, dorthin zurück zu kehren.“
„Beobachtest du mich?!“, fragte ich aufgebracht.
„Nur zu deinem eigenen Schutz.“, erklärte er mir schlicht.
„Zu meinem eigenen Schutz?! Ich rate dir, zu deinem Schutz, dich aus meinem Leben rauszuhalten. Wer auch immer du bist!“
Und im nächsten Augenblick lag ich schon wieder in meinem Bett. Ich hatte nicht die blasseste Ahnung, wie ich hier zurückgekommen war. Es sei denn, ich bin gar nicht erst aufgestanden. War das wieder nur ein Traum? Waren meine Begegnungen mit diesem Kerl überhaupt nur Träume? Er wich meinen Fragen, ob es ihn wirklich gab, andauernd aus. Wobei er zugegeben hatte, dass es ein bisschen ein Traum war und ein bisschen Realität.
Ich hatte eine vage Vorstellung davon, wie er das anstellte. Manche Telepathen waren in der Lage sich in Träume von anderen irgendwie einzuklinken. Sie konnten dann mit ihnen kommunizieren. Aber über so eine weite Strecke? Ich meine, ich weiß nicht wo er sich befand, aber ich weiß, dass wir uns fast zwei Stunden von NAA und noch drei Stunden von der westlichen Zone entfernt waren. Womöglich saß er, wenn er in meinen Träumen erschien, in einer dieser N-Corp Maschinen für Telepathen. Es hieß, dass es mehrere, in verschiedenen Labors, auf der ganzen Welt verteilt gab. Dann war das doch ein Beweis dafür, dass die Maschinen nach so langer Zeit noch funktionierten. Und das bedeutete eine verbesserte Chance Saul zu finden.
Doch zunächst musste ich erst einmal herausfinden, wo sich eine von diesen N-Corp Forschungsanlagen befand, um an so eine Maschine zu gelangen. Und die einzige Möglichkeit, die ich kannte, das in Erfahrung zu bringen war, die Erinnerungen meiner Vorfahren zu durchforsten.
Ich musste lange überlegen um darauf zu kommen, wessen Erinnerung mir sagen konnte was ich wissen wollte. Denn die meisten waren immer Bewusstlos, wenn sie auf eine der Forschungsanlagen gebracht wurden. Eigentlich alle, bis auf zwei. Die eine war Ginger. Seit sie ein Baby war, war sie in der Obhut von N-Corp und ihrer Telepathenforschung. Der andere war Ethan. Er war auch noch sehr jung, als er in das Forschungsprogramm aufgenommen wurde. Doch ich denke seine Erinnerungen waren zuverlässiger. Er hatte die Anlagen öfter von außen gesehen, als irgendein anderer Telepath.
Eine bestimmte Erinnerung von ihm kannte ich, die den Weg zu einer der Forschungsanlagen auf einer Insel vor der Ostküste der westlichen Zone darlegte. Also schloss ich die Augen um micht besser konzentrieren zu können und suchte in meinem Kopf nach dieser Erinnerung von einem Menschen, dem ich niemals begegnet war, weil er seit gut vierhundert Jahren tot war.
Von seinem damaligen zu Hause aus, flog er mit einem Flugzeug in eine Stadt, die Charleston hieß. Von da aus ging es weiter, mit einem Schiff auf die besagte Insel von N-Corp. Leider konnte ich nicht erwarten die Stadt Charleston noch anzutreffen. Das einzige, was davon wohl noch übrig war, waren lediglich ein Haufen Schutt und Staub. Und Karten von damals gab es auch keine mehr. Doch vielleicht könnte mir die bloße Landschaft weiterhelfen. Immerhin war es möglich, dass die Beschaffenheit der Küste dieser Stadt sich nicht allzu großartig verändert hatte.
Doch da war noch etwas, das mir einen Stein in weg legte. Soweit ich wusste, war die Stadt zu der ich wollte in der oberen Hälfte der westlichen Zone. Wir flogen aber den unteren Teil der westlichen Zone an.
Ohne weiter nachzudenken stand ich auf und verließ meinen Schlafraum, um unser Anflugziel ändern zu lassen. Es würde einfach zu lange dauern mit dem Wagen von Süden nach Norden zu fahren. Ich wusste zwar nicht wie viele Kilometer das waren, aber ich konnte mir vorstellen, dass es genug waren, um uns ein paar Tage unterwegs sein zu lassen. Wohingegen es mit dem Flugzeug nur ein oder zwei Stunden dauern würde, wenn überhaupt.
Pakku war der erste, den ich antraf. Er schien sich nicht von seinem Platz entfernt zu haben, seit ich mit ihm gesprochen hatte. Andererseits ist seitdem auch nicht gerade viel Zeit vergangen, schätze ich.
„Können wir den Kurs noch ändern?“, fragte ich ihn.
„Was? Wieso?“, erwiderte er nur.
Es war zu merkwürdig ihm zu erzählen, dass ich einen Stalker hatte, der mir in meine Träume folgte. Und dass er mich auf eine Maschine gebracht hat, die vor mehr als vierhundert Jahren dazu benutzt wurde Telepathen stärker zu machen. „Es ist einfach so ein Gefühl, dass wir von Norden nach Süden suchen sollten. Und zwar möglichst an der Ostküste.“
„Okay…“ Er hielt mich für verrückt.
„Hörzu, vertrau mir einfach. Immerhin bin ich hier der Telepath. Oder?“
Das weckte ihn zu taten. Er stand aus seinem Sitz auf, schob mich zur Seite und ging ins Cockpit, mit mir als sein Schatten. Dabei hatte ich den Eindruck, dass er absolut alles tun würde um Saul wieder zu finden. Es würde mich nicht überraschen, wenn er sogar sein Leben dafür geben würde. Ich weiß nicht ob ich das fertig brächte.
Wobei mein Leben sowieso vorbei wäre, wenn Saul oder seinem Bruder etwas passieren würde. Das hatte der Zhi Zhe sichergestellt. Und sie würden mich auch ganz schnell wiederfinden. Pakku erzählt mir, dass sie uns, nach unserer Landung uns beiden – Adley und mir – einen Sender implantieren würden, damit sie immer wussten, wo wir waren.
Pakku und ich landeten allerdings nicht im Cockpit. Eher in einem Vorraum, in dem es nur Schränke gab. Einen davon öffnete Pakku und kramte darin herum, bis er eine Karte hervor zog. Die Karte war unordentlich zusammengefaltet, was mich vermuten ließ, dass es die Karte war, mit der er zuvor gekämpft hatte. Auf einem nahegelegenen Tisch breitete er sie vor mir aus und fragte, „Wo genau willst du anfangen?“
Zum ersten Mal sah ich die westliche Zone genau. Als ich noch zur Schule ging, wurde die Weltkarte das ein oder andere Mal besprochen, aber die Zonen kamen dabei zu kurz. Hauptsächlich ging es dabei nur um NAA. Selten auch mal um Neo Gaia.
Die westliche Zone schien aus zwei Teilen zu bestehen, die nur durch einen dünnen Landstrich miteinander verbunden wurden. Doch vermutlich war dieser Landstrich in Wahrheit viel breiter, wenn man mal dort war. Der obere Teil der Zone schloss unzählige Inseln mit ein. Und der untere Teil schien irgendwie direkt neben NAA zu passen. Von seiner Form her.
Ich zeigte auf einen kleinen Landzipfel auf der Karte, der nicht direkt im Norden der Zone lag. Er befand sich vielmehr in der Mitte. Doch ich glaube, dort würde der Beste Ort sein, um die Suche nach Saul – oder vielmehr die Suche nach der Forschungsanlage – zu beginnen.
„Na gut. Dann werde ich den Piloten mal sagen, wo es jetzt hingeht.“, sagte er und nahm die Karte mit zum Cockpit.
„Warte.“, sagte ich und packte ihn am Arm, bevor er die Tür zum Cockpit erreichen konnte. Es war ein Impuls, dem ich nicht wiederstehen konnte. Doch irgendwie vermutete ich, dass dieser Kerl aus meinem Traum etwas damit zu tun hatte. Obwohl er mir ein wenig unheimlich war – vor allem die Tatsache, dass er mich zu verfolgen schien – musste ich zugeben, dass er womöglich in Bezug auf Pakku recht hatte. Vielleicht war es wirklich besser, wenn ich Pakku auch noch mitnahm.
„Ich denke, dass es besser wäre, wenn du auch mitkommst.“, sagte ich langsam. Vermutlich wird er mich jetzt vollkommen für Schwachsinnig halten. „Mit in die Zone, meine ich.“
„Es hieß, dass du niemanden außer den Erzi mitnehmen wolltest.“, sagte er. „Woher nun also der Sinneswandel, frag ich dich.“
„Wieder so ein Gefühl.“ Ein gutes hatte es ja, dass die wenigsten Leute über Telepathen richtig aufgeklärt waren. Wenn sie dir glauben wollten, weil sie etwas bekamen was sie wollten, kauften sie dir so gut wie jede Geschichte ab.
„Wieder so ein Gefühl.“, wiederholte er. Er schien mir in der Sache nicht blindlings zu vertrauen. Das lag bestimmt daran, dass er ganz offensichtlich einen Telepathen kannte, von dem er alles über uns wusste. „Okay, ich komme mit.“, sagte er schließlich. Ob er wusste oder nicht wusste, dass das Gefühl eines Telepathen oft nicht anders war, als das eines nicht-Telepathen, er bekam damit was er wollte. Eine Chance Saul zu suchen und seinen Fehler wieder gut zu machen.
5.
Mein Oberarm war vollkommen Taub. Das war mit Sicherheit von Vorteil, wenn ich mir so ansah, was die medizinische Angestellte im Flugzeug da mit mir anstellte. Ich war erleichtert festzustellen, dass es offenbar doch weibliche Angestellte der Regierung gab. Doch als sie anfing in meinen Oberarm einzuschneiden und einen ganzen Hautlappen aufklappte, wünschte ich, ich hätte sie nie getroffen. Das war so eklig, dass ich kurz davor war aus den Latschen zu kippen.
Mit einer Pinzette platzierte sie einen metallic grünen Chip, klappte den umgestülpten Hautlappen wieder um und nähte die Wunde zu. Aber nicht mit Nadel und Faden, so wie ich das aus meiner Heimat kannte. Sie nahm ein Gerät, das einem Füller glich und mit einem größeren Apparat verbunden war. Damit fuhr sie die Wunde entlang. Die örtliche Narkose hielt dieser Prozedur nicht stand. Der Schmerz schnitt durch das Narkosemittel in jeden Nerv meines Oberarm, und strahlte sogar in meine Knochen aus. Ich musste die Zähne zusammenbeißen, damit ich keinen schmerzerfüllten Schrei losließ.
Pakku beobachtete mich amüsiert. Er musste sich diesem Prozedere nicht unterziehen. Der Glückliche. Bevor er der Wachmann von Saul wurde, war Pakku ein Zombiejäger, der regelmäßig in die Zone entsandt wurde – was die Jäger dort auch immer wollten, nachdem man schon vor dreißig Jahren endgültig aufgehört hatte Zombies gezielt zu jagen. Jedenfalls hatte er aufgrund dessen schon einen Chip in seinem Arm.
Der Zhi Zhe war nicht gerade erfreut, als er über Funk erfahren hat, dass ich mich dazu entschlossen hatte, plötzlich doch noch jemanden mitzunehmen. Doch ich glaube, dabei ging es weniger um meinen Meinungsumschwung, als darum, dass ich niemand außer Pakku dabei haben wollte. Aber er hatte offenbar keine andere Wahl. Zumal er ja einige hundert Kilometer weg war.
Adley hingegen tat seinen Unmut darüber, dass Pakku uns begleitete, offen kund. Doch bei dieser Mission war er der Letzte, der etwas zu sagen hatte. Und falls er mich mit seinen Sticheleien gegen Pakku nerven sollte, kannte ich auch schon das perfekte Mittelchen ihn zum Schweigen zu bringen. Nicht umsonst war ich ein Telepath, der Gedanken manipulieren konnte. Auch wenn meine Mutter strikt dagegen sein würde, würde ich für mein Seelenheil dafür sorgen, dass Adley seinen Groll wenigstens für sich behielt. Ich denke damit wäre jedem geholfen.
„Die Taubheit vergeht in spätestens zwei Stunden.“, informierte mich die medizinische Angestellte.
Als wir den medizinischen Raum des Flugzeugs verließen, stellte ich fest, wie eigenartig es war seinen Unterarm und die Hand zu spüren, aber den Oberarm nicht. Der Schmerz von zunähen meiner Wunde war zwar wieder vergangen, als die medizinische Angestellte fertig war, hinterließ aber ein unangenehmes jucken, dem ich nicht widerstehen konnte.
„Nicht kratzen.“, sagte Pakku und entfernte meine Hand von meinem Oberarm. „Das macht es nur schlimmer.“
„Sprichst du da aus Erfahrung?“, wollte ich wissen. Daraufhin drehte er seinen rechten Oberarm zu mir, zog seinen Mantel runter und den Ärmel seines Shirts nach oben. Zum Vorschein kam sein mit lila Adern durchzogener Arm. Es fast aus, als wären es Krampfadern. Aber die lila Adern sahen dermaßen unnatürlich aus, dass es irgendetwas anderes sein musste „Das passiert, wenn ich kratze?“, fragte ich skeptisch.
„Nicht sofort.“, erklärte er mir, als er seinen Arm wieder einpackte. „Aber wenn du weiter kratzt, entzündet es sich irgendwann und was bleibt ist eben das.“
Durch eines der Fenster des Flugzeugs sah ich, dass die Techniker bereits mit dem Bau der Signalanlage begonnen haben, die unsere Abholung sicherte. Adley, der wegen seines Status als Erzi schon seit einer Ewigkeit einen Ortungschip im Arm hatte, wartete bereits auf uns im Jeep. Saul hatte eigentlich auch einen Chip implantiert. Doch als man dieser Spur nachging, fand Pakku lediglich ein paar der Entführer. Sie hatten Saul seinen Chip entfernt, bevor sie ihn verschleppt hatten.
Wegen meiner Flugroutenänderung benötigten wir drei weitere Stunden, bis wir an der Stelle angekommen waren, an der ich anfangen wollte nach der Forschungsanlage zu suchen. Deshalb wollten wir uns sofort auf den Weg machen.
Ich zog die Schutzbrille über meine Augen, bevor ich das Flugzeug verließ. Selbst durch das verdunkelte Glas war zu erkennen, dass die Sonne nicht so war, wie in NAA. Irgendwie war sie greller und stichiger. Das Klima erwärmte sie jedoch nicht. Es war kalt. Nicht so kalt, dass ich erfrieren würde, aber immerhin kalt genug, dass meinen Ledermantel bis obenhin zuknöpfte und mein Halstuch über meinen Mund zog. Das Kopftuch hielt den blasenden Wind nicht gerade effektiv ab. Aber es war besser als ohne. Trotzdem hätte ich lieber so eine Mütze wie Pakku. Wenigstens hatte der Wagen ein Dach, das den Wind abhalten würde.
Bevor die Techniker sich an die Arbeit gemacht hatten, die Signalanlage zu errichten, bereiteten sie unseren Wagen vor. Der Trinkwassertank und die Truhe mit den (trockenen und haltbaren) Nahrungsmitteln wurden im Kofferraum, hinter den Rücksitzen befestigt. Neben drei Wolldecken und Ersatzkleidung wurde dort auch die Erste-Hilfe-Ausrüstung verstaut. Auch Waffen und Munition befanden sich dort.
Eigentlich brauchte die niemand von uns. Ich konnte mir die Zombies vom Hals halten, ohne auch nur in ihre Nähe zu kommen. Ich war nämlich nicht nur ein einfacher Telepath, ich war auch noch ein Telekinet. Das war äußerst selten. Aber in meiner Familie hatte das bisher noch jeder gekonnt. Mittels Telekinese konnte ich die Zombies ganz einfach zum Zerplatzen bringen.
Pakku war auch kein Freund von Schusswaffen, obwohl er gut damit umzugehen schien. Als ich ihn danach fragte, bevor wir mit dem Flugzeug gestartet waren, erzählte er mir, dass Schusswaffen zwar ganz hilfreich sein können, aber die Munition irgendwann ausgeht. Da hielt er sich lieber an seine beiden Säbel. Die würden ihn nicht im Stich lassen, sagte er.
Weil Adley den Beifahrersitz in Beschlag genommen, und Pakku sich selbst fürs Fahren eingeteilt hatte, blieb mir nur noch der Rücksitz, der mir ohnehin am liebsten war. Hier konnte ich ungestört zum Fenster hinaus sehen und die Küste beobachten. Es wird schon schwierig genug sein die Beschaffenheit der Küste, die ich sah, mit der zu vergleichen, die ich aus Ethans Erinnerungen kannte.
Vor allem in den Überbleibseln der Ruinen von früheren Städten, musste ich aufpassen, ob ich etwas Vergleichbares in der Szenerie der Küste entdeckte. So auch in dieser ehemaligen Stadt. Der Schutt der Gebäude lag überall in der Gegend herum. Größere und kleinere Betonplatten, waren das einzige, das darauf schließen ließ, dass die gehäuften Schutthaufen einst Gebäude waren. Hier und da standen sogar noch Bruchteile von aufrechten Mauern. Ein paar davon enthielten auch noch Fensterlöcher, die aber bestimmt schon lange kein Glas mehr in sich trugen.
Dass die Stadt groß zu sein schien, war nicht das Problem, das Pakku hatte uns dort hindurch zu manövrieren. Ständig stießen wir auf Sackgassen von Schutt, dem nicht einmal der fortschrittliche Geländewagen gewachsen war, der uns vom Zhi Zhe zur Verfügung gestellt wurde. Immer wieder musste er umdrehen und einen anderen Weg suchen.
Es dauerte uns über eine Stunde um die Überbleibsel einer ehemaligen Straße zu finden, die zum größten Teil gerade befahrbar war. Eine Schnellstraße nannte man so eine, glaube ich. Ich wies Pakku an dieser Straße zu folgen, bis wir irgendwann auf eine weitere solche Straße abbiegen konnten, um näher an die Küste zu gelangen.
„Wieso die Küste?“, fragte Adley dann. „Was lässt dich glauben, dass er an der Küste ist?“
„Nichts.“, sagte ich. „Ich suche nach Saul an der Küste, sondern nach einer Insel.“
Da bremste Pakku so schlagartig, dass ich mit meinen Händen gerade noch verhindern konnte, dass ich gegen seinen Sitz prallte, hinter dem ich saß. Pakku drehte sich mit einem schockierten und zugleich bedrohlichen Gesichtsausdruck. Adley hingegen nahm eine Waffe von wo auch immer, und zielte damit im Bruchteil einer Sekunde auf meinen Kopf.
Womöglich wäre es klüger gewesen das anders anzufangen. Ich hätte es ihnen vorsichtig erklären sollen. Aber was getan ist, ist getan.
„Es ist deine verdammte Aufgabe nach meinen Bruder zu suchen!“, sagte Adley mit, vor Wut angestrengter Stimme. „Und nicht nach irgendeiner Insel, auf der du dich in Ruhe niederlassen kannst!“
Weil es mir nicht gefiel wie locker sein Abzugsfinger sich selbstständig machen konnte, trickste ich mit der Kraft meiner Gedanken an seiner Waffe herum. Ich konzentrierte mich auf den Lauf seiner Waffe und verbog ihn. Das dauerte nicht mal eine Sekunde. Bei Leblosen Dingen war es weitweniger schwer sie zu beeinflussen, als bei lebenden Dingen, wie Menschen oder Tiere – Pflanzen hingegen fielen dabei unter die Rubrik leblos.
Beide – Adley und Pakku – starrten verblüfft vom verbogenen Lauf der Waffe zu mir. „Ihr hattet noch Glück. Ich mag es nicht, wenn man eine Waffe auf mich richtet. Da werde ich oft ein wenig panisch. Und panisch ist nicht gut.“, sagte ich.
Vielleicht ging es ein wenig mit mir durch, aber ich konnte nicht anders. Auch wenn es höchst wahrscheinlich nicht das klügste war. Immerhin wollte ich eigentlich erreichen, dass man Telepathen vertraut. Aber, weil ich nur seine Waffe ein wenig demoliert hatte, war noch längst nichts verloren. Trotzdem sollte ich in Zukunft aufpassen, was ich tat und sagte.
„Und das nächste Mal, solltet ihr mich ausreden lassen, bevor ihr etwas unternehmt.“, sagte ich weiter.
Ich erklärte den beiden, dass sie auf der Insel, die ich suchte eine alte Forschungseinrichtung von N-Corp befand, in der eine Maschine war, dir mich bei der Suche nach Saul ein ganzes Stück weiter bringen würde. Natürlich war Pakku nicht so dumm einfach so zu glauben, dass diese Forschungseinrichtung nach vierhundert Jahren ohne Pflege noch stand, und die Maschine noch funktionierte. Dafür hatte er zu viel Erfahrung mit der Zone.
Was konnte ich ihm als plausible Erklärung geben? Ein Telepath, der sich sonst irgendwo aufhielt, aber auch so eine Maschine zu benutzen schien, hat mich bis in meine Träume verfolgt, und mir von der Maschine erzählt? Na ja, ich schätze in Telepathen Dimensionen konnte das ganz normal sein. Doch wenn es für mich, als Telepath, schon merkwürdig und neu war, wie würde es dann für einen nicht-Telepath klingen?
Also log ich. Ich erzählte ihnen, dass ich aus den Erinnerungen meiner Vorfahren, die jede Generation der nächsten überträgt, weiß, dass die neuesten Gebäude von N-Corp experimentell mit den damals technisch neuesten Materialien gebaut wurden, sodass sie weniger Pflege bräuchten und heute immer noch standen. Dasselbe galt für die Einrichtung und Maschinen.
Diese Geschichte hatte ich mir spontan ausgedacht, wobei ich sie natürlich nicht sonderlich überzeugend rüberbrachte. Aber das machte ich mit einem kleinen telepathischen Trick wieder wett. Die beiden glaubten mir, ohne weitere Fragen zu stellen. Noch nie hatte ich andere so oft beeinflusst, wie ich es heute tat – obwohl es eigentlich erst zweimal war. Meiner Mutter zuliebe musste ich aufpassen, dass es mir nicht zu Kopf stieg, dass ich allen alles glauben lassen konnte, was ich wollte. Denn das genaue Gegenteil war es, was ich vorhatte. Sonst könnte ich ja gleich alle nicht-Telepathen insoweit manipulieren, dass sie sofort glaubten, dass wir Telepathen nicht böse waren. Sie mussten es aus eigenem Antrieb glauben. Auch wenn das bedeutete, dass es immer einige geben wird, die immer noch nur das Schlechte in Telepathen sahen.
Pakku setzte den Geländewagen wieder in Gang und fuhr in Richtung Küste. Adley drehte sich nach ein paar Minuten auch wieder nach vorne und begutachtete dort seine funktionsuntaugliche Waffe, die er bald darauf zu seinen Füßen, auf den Boden des Wagens ablegte. Ich überlegte, ob ich sie nicht vielleicht wieder zurück biegen sollte, aber ich schätze, dass ich sie zu sehr beschädigt hatte, als das ich sie wieder richten konnte. Zumal ich auch gar nichts von Waffen verstand.
Natürlich könnte ich nach solchem Wissen in den Erinnerungen meiner Vorfahren nachstöbern. Es gab den ein oder anderen, der über Waffen Bescheid wusste. Aber das würde mich nur von meiner Aufgabe ablenken. Denn immerhin kostete es eine Menge Konzentration die Küste abzusuchen, mit nur ein Haufen Schutt und die Beschaffenheit der Gegend als Hinweise.
Nach einer ganzen Weile Fahrt – es kam mir wie etliche Stunden vor – hielt Pakku plötzlich wieder an. Ich war so in meiner Konzentration vertieft, dass ich im ersten Moment gar nicht kapierte, was los war. Bis ich die Wand aus grünen Blättern, Ästen und sogar Lianen sah, die sich vor uns aufbäumte. Auf der Karte, die mir Pakku im Flugzeug gezeigt hatte, waren grüne Gebiete eingezeichnet, die entweder Wälder oder Dschungelgebiete kennzeichneten. Ich hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass eines der Dschungelgebiete an der Küste entlang verlief.
„Früher war in dieser Gegend kein Klima, dem es möglich war einen solchen wilden Dschungel wachsen zu lassen.“, hörte ich Pakku Adley erklären.
Dann brachte er das Fahrzeug wieder in Bewegung. Als er anfing nach rechts abzufahren, hielt ich ihn auf. „Was soll das?“
„Wir fahren außen rum.“, erklärte er mir. „Dschungel ist zu gefährlich. Dort lauern ganz gerne Zombies.“
„Aber das geht nicht.“, erwiderte ich. „Ich muss die Küste im Auge behalten. Wir müssen da durch.“
„Er sagte doch gerade, dass das zu gefährlich ist.“, sagte Adley. „Ich weiß nicht wie es dir geht, aber ich will nicht von diesen stinkenden Untoten auseinander genommen werden.“
„Wenn du meinst.“, sagte ich gespielt gleichgültig. „Dann suchen wir eben jeden Quadratmeter nach Saul ab.“
Die beiden schienen zu verstehen was ich meinte. Dass die Insel, die ich Suchte uns eine Menge Zeit ersparen konnte.
„Und du bist dir sicher, dass wir deine Insel finden, wenn wir da durch fahren?“, fragte Pakku, als er abwog, ob wir durch den Dschungel fahren sollten oder nicht.
„Eben nicht.“, sagte ich. „Das ist es ja gerade. Ich weiß nicht wo diese Insel ist. Der einzige Anhaltspunkt, den ich habe ist die Erinnerung eines meiner Vorfahren, der vor vierhundert Jahren gelebt hat, zu einer Zeit, die kaum noch Spuren hinterlassen hat. Entweder ist dort die Landschafts Beschaffenheit und Szenerie, die ich aufgrund der Erinnerungen suche, oder eben nicht. Ihr könnt gerne abwägen, ob es euch wichtig genug ist, oder nicht. Jedenfalls halte ich diese Insel für wichtig genug. Und wenn ihr Angst vor Zombies habt, werde ich euch schon vor ihnen beschützen.“
„Na schön.“, sagte Pakku schließlich und fuhr los, in Richtung Dschungel. Beide waren nicht glücklich darüber, aber ich schätze, sie dachten dabei an Saul. Der Bruder und der Beschützer des Jungen. Beiden schien er sehr am Herzen zu liegen. Pakku gab sich sogar alle Mühe so nah wie möglich an der Küste entlang zu fahren.
Als wir durch das Dickicht an saftig grünem Gestrüpp durchquerten, konzentrierte ich mich nur zur Hälfe auf die Küste. Die andere Hälfe suchte nach dem Grund, warum ich heute schon zweimal über die Stränge geschlagen hatte. Es dauerte nicht lange, bis ich erkannte, dass es an meiner Müdigkeit lag. Die Suche nach der Insel kostete viel Konzentration, die mich wiederum viel Kraft kostete. Dann viel mir auch noch auf, dass ich nur sieben Stunden geschlafen hatte, in den letzten dreißig Stunden – von denen ich dreiundzwanzig Stunden am Stück wach gewesen war. So konnte es nicht lange weitergehen. Ich brauchte bald eine Pause.
„Was ist eigentlich, wenn du die Insel nicht findest?“, fragte Adley aus heiterem Himmel. „Was machen wir dann?“
„Es gibt noch andere Forschungseinrichtungen, die noch stehen müssten. Wir können nach denen suchen. Wobei das Prinzip dann das gleiche wäre.“, erklärte ich ihm.
Nach kurzer Stille, fragte Pakku, „Wie funktioniert das eigentlich mit diesen Erinnerungen deiner Vorfahren?“
„Hört zu.“, sagte ich, darauf bedacht neutral zu klingen. „Ich bin müde. Deshalb schlage ich vor, wir machen Rast, wenn wir aus dem Dschungel raus sind. Und wenn ich ausgeruht bin, kannst du mich nochmal fragen.“
„Okay.“, sagte Pakku. „Aber ich hab dir ja gesagt, dass du im Flugzeug schlafen solltest.“
Ich blendete diesen, alles andere als hilfreichen, Kommentar aus und konzentrierte mich wieder auf die Küste. Wir fuhren an kleinen Stein- und Sandstränden vorbei, an Felsen, an denen Wellen brachen, und an Stellen, von wo aus ich den Anfang des Wassers nicht sehen konnte. Doch nichts glich der Stelle, die ich suchte, von der aus ich sagen konnte, in welcher Richtung die Insel lag.
Ich hoffte nur, dass ich die Stelle nicht wegen der ungewohnten Umgebung, nicht fand. In den Erinnerungen auf die ich mich stützte, gab es hier nämlich keinen Dschungel. Wie Pakku schon sagte, bevor wie in den Dschungel aufbrachen, es gab ihn nicht immer. Vor vierhundert Jahren wimmelte es hier nur so vor kleinen und riesigen Städten. Und bevor es diese Städte gab, war hier auch nicht das richtige Klima, um einen wilden Dschungel wachsen zu lassen.
Nachdem die gesunden Menschen sich für Jahrzehnte in Bunker verkrochen hatten, und Zombies die einzigen an der Erdoberfläche waren, änderte sich das Klima der Erde. Das lag an den Chemikalien, die aus den Labors von N-Corp stammten, und die Menschen in Zombies verwandelten, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Es heißt die Chemikalien haben ein Loch in die Hülle ätzte, die die Erde umhüllte und die Luft an sie band. Dieses Loch ließ Einflüsse vom Weltall auf die Erde, die in Verbindung mit den Chemikalien einen Klima Umschwung zur Folge hatte.
In NAA war das Klima relativ normal. Wie vor vierhundert Jahren gab es Sommer und Winter. Aber anders als damals, gingen sie fast nahtlos ineinander über. Mal waren die Jahreszeiten extrem, und mal eher mild. In Neo Gaia war es relativ ähnlich. Das war mit ein Grund, warum man sich entschied dort die ersten Zivilisationen gebildet hatten.
Die westliche Zone hingegen, glich der nordöstlichen Zone. Beide hatten weite Wüstengebiete, durchzogen von Ruinen alter Städte oder Dörfer. Hier und da wucherten Dschungel oder Wälder, zumeist an Seen. Die meiste Zeit über durchbliesen eisige Winde durch die eintönigen Landschaften. Dadurch kamen oft Sandstürme zustande.
„Was war das?“, fragte Adley plötzlich.
„Was? Wo?“, fragte Pakku mit alarmierter Stimme und stoppte den Wagen ruckartig.
„Da hinten.“, sagte Adley und deutete durch das Fenster des Wagens. „Zwischen den Bäumen, war gerade was. Ein Schatten oder so.“
Ich rutschte auf die andere Seite der Rückbank, hinter Adleys Sitz, und starrte angesträngt durch das Glas. Die Flutlichtanlage auf dem Dach des Wagens erhellte nur die unmittelbare Umgebung um das Fahrzeug, weshalb ich zunächst nichts erkennen konnte außer Bäume, Büsche und andere mir unbekannte Pflanzen. Doch dann sah ich plötzlich auch etwas. Es war kein Schatten, wie Adley es beschrieben hatte, sondern nur plötzliche Bewegungen von Pflanzen, als ob sie von etwas gestreift worden waren, das daran vorbei rannte.
„Was ist da draußen?“, fragte ich. Und im selben Augenblick beantwortete ich mir die Frage selbst. Zombies. Pakku hatte uns davor gewarnt, dass es gefährlich sein würde. Und ich bestand trotzdem darauf, dass wir durch den Dschungel fuhren. War es das wert gewesen? Ich konnte jetzt nur hoffen, dass wir hier heil raus kamen.
Plötzlich hörte ich einen Knall auf der anderen Seite des Wagens, auf der ich zuvor gesessen bin. Irgendetwas wurde gegen die Fensterscheibe geschlagen. Ich rutschte wieder auf meinen vorherigen Sitzplatz hinter Pakku und sah durch das Fenster. Zum unteren Teil des Wagens versuchte ich zu linsen, konnte aber nichts entdecken.
„Siehst du was?“, fragte Adley.
Ich konnte nur verneinen und sah wieder auf der anderen Seite aus dem Fenster, nur um in derselben Sekunde lauthals aufzuschrecken, weil dort ein Geschöpf, mit zerfressenen und modernden Gesicht, zu uns hineinsah. Mir wäre fast das Herz stehen geblieben.
Dem Zombie fehlten büschelweise Haare. Eines seiner Augen hing aus seiner Augenhöhle, bis runter in Höhe seines Mundes, dem ein Fetzen fehlte. Halb geronnenes, aber immer noch flüssiges Blut, vermischt mit anderen Körperflüssigkeiten, klebte in seinem Gesicht wie ein glibberiger Kleister. Einen Teil davon schmierte er mit seinem Gesicht an die äußere Fensterscheibe. Seine Hände versuchten unkoordiniert durch das Glas zu fassen.
„Er kann doch die Tür nicht öffnen. Oder?“, fragte ich Pakku. Diesem halbvermoderten Ding wollte ich nicht zu nahe kommen.
„Nein.“, antwortete Pakku zu meiner Beruhigung. „Die Türen sind gesichert. Und das Glas sollten sie auch nicht durchbrechen können.“
Sie? Waren hier mehr von diesen Monstern? Es fiel mir schwer meine Augen von diesem Unfall der Natur abzuwenden, aber ich wollte sehen, ob ich noch andere Zombies durch die Fenster entdecken konnte.
Adley starrte einem weiteren Zombie durch die Windschutzscheibe entgegen. Zwei waren hinter dem Wagen. Und auf einmal hörte ich Geräusche auf dem Dach. Dort mussten auch ein oder zwei Untote sein.
„Da kommen noch mehr.“, sagte Pakku.
Was?! Noch mehr?! Und tatsächlich rannten mehr als ein Duzend weitere Zombies von vorne auf uns zu. In null Komma nichts sprangen sie auf die Motorhaube des Geländewagens, platzierten sich an den Seiten und versuchten irgendwie an uns ran zu kommen.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Adley, immer noch wie hypnotisiert von dem Zombie, der ihm seine Zähne, entgegen fletschte.
„Hier bleiben.“, wies er uns an. Das fiel mir nicht schwer. Ich war nur zu gern gewillt Pakku zu glauben, dass wir hier drinnen sicher waren.
Doch plötzlich hörte ich das Knallen der Tür hinter mir. Ich traute mich gar nicht mich umzudrehen. Es konnte bereits ein Zombie hinter mir sein, der sich ein Festmahl aus Pakku machte.
Aber war die Tür nicht zugeknallt worden? Mit wildem Herzklopfen drehte ich mich zu Pakkus Platz, der leer war. Wo ist er hin? Hat ihn ein Zombie rausgezerrt? Aber wie wahrscheinlich war es, dass ein Zombie die Tür zuknallte. Erst recht, wenn er zwei weitere Leckerbissen haben konnte.
Dann sah ich Pakku außerhalb des Wagens, wie er seine Säbel schwang und einer der Untoten den Kopf verlor. Zwei lagen bereits zuckend am Boden.
„Sagte er nicht, wir sollen hier bleiben?“, fragte ich.
6.
Drei, vier und fünf schleimig, stinkende Zombies waren Kopflos. Sie waren noch nicht ganz tot, aber sie konnten niemanden mehr etwas anhaben. Es sei denn man kam ihren Köpfen zu nahe, die nach einem schnappten.
Wenn ich Pakku so zusah, wie er einen Zombie nach dem anderen außer Gefecht setzte, wusste ich, warum man ihn zum Beschützer des zweiten Erzi ernannt hatte. Er wusste wie man gegen Zombies kämpft. Und wenn man sich gegen Zombies behaupten konnte, waren Menschen, die den Schützling angriffen, auch kein großes Problem. Ein Mensch würde irgendwann müde werden, oder aufgrund von Verletzungen nicht mehr in der Lage sein, zurück zu schlagen. Ein Zombie hingegen wurde – soweit ich wusste – nie müde und Verletzungen stoppten ihn auch nicht so leicht.
Jetzt griffen Pakku drei Zombies gleichzeitig an. Den ersten stieß er mit seinem Fuß zurück. Den zweiten ritzte er mit einem seiner Säbel den Oberkörper auf, sodass dieser zurückstolperte und erst einmal zu Boden fiel. Dann drehte Pakku sich um, und schlug dem dritten mit Schwung den Kopf ab.
Als der erst ihn wieder angriff und zu Pakkus Füßen sprang, damit er an seinem Bein herumknabbern konnte, sprang dieser hoch, landete auf seinem Kopf, sodass dieser zermatscht wurde, und schnitt ihm zugleich die Beine ab. Dem zweiten Zombie, der sich wieder aufgerichtet hatte, schleuderte er einen seiner Säbel entgegen, der ihn an einem Baum nagelte.
Sofort rannte Pakku dann auf eine Meute Zombies zu, die ebenfalls auf ihn zuhielt. Dem ersten, den er erreichte, rutschte er auf Knien entgegen und schnitt ihm auch die Beine ab. Der Zombie knickte zu Boden, versuchte aber mit seinen Armen voran zu kommen.
Ich würde sagen, dass es geradezu grazile aussah, wie er Pakku sich gegen die Horde Zombies, nur mit zwei Säbeln, entgegenstellte – ließ man außer Acht, dass er mit jedem Hieb einen Untoten beseitigte. Doch jede seiner Bewegungen floss in die nächste über.
Doch Pakku befand sich nun in größeren Schwierigkeiten. Er hatte nur noch einen Säbel und schien ein wenig nach zu lassen. Es fiel ihm von Mal zu Mal schwerer den Attacken der Untoten auszuweichen. Hätte ich so einen beeindruckenden Kampf verfochten, wäre ich wohl schon vor Erschöpfung aus den Latschen gekippt. Aber Pakku war trainiert. Doch er war auch nur ein Mensch. Und anders als Zombies, wurden Menschen irgendwann Müde.
Plötzlich sprang ihn einer der Zombies an und riss ihn zu Boden. Wenn nicht bald etwas geschah, würde es nicht lange dauern, bis er unter einer Horde Untoter begraben war. Ich wünschte, ich könnte ihm irgendwie helfen. Aber ich konnte nun mal nicht im Geringsten so kämpfen wie Pakku.
Da fiel mir mein alter Plan ein, den ich hatte, als ich dachte ich würde einfach in die nordöstliche Zone ausgesetzt werden. Zwar wollte ich, als ich den Auftrag angenommen hatte Saul zu suchen, den Zombies aus dem Weg gehen, aber nicht unbedingt, weil ich vollkommen hilflos gegen sie war. Wir hatten immer noch eine Geheimwaffe. Nämlich mich.
In dem Bruchteil einer Sekunde, erinnerte ich mich wie meine Vorfahren mit Zombies fertig wurden. Und ich tat es ihnen gleich. Ich schloss meine Augen. Wieder konzentrierte ich mich, allerdings nicht auf die Küste, sondern auf den Zombie, der auf Pakku gelandet war. Ich suchte nach den Überbleibseln der Gedanken eines Wesens, das kaum noch logisches Denken aufwies. Und da waren sie.
Hunger! Fleisch! Blut! Hunger! Frisch! FLEISCH!
Ich verließ seine Gedanken, die mich irgendwie selbst hungrig machten, und suchte nach seinen Innereien. Verfault, dreckig, schleimig und von oben bis unten infiziert. Mittels Telekinese ließ ich sie anschwellen, zog sie auseinander und ließ sie schließlich zerplatzen. Nur kurz öffnete ich meine Augen, um zu sehen, ob es wirklich geklappt hatte. Und ja. Pakku lag auf den Boden, mit nichts weiter auf ihn als die Überreste eines zerplatzten Zombies. Ich hoffte er hatte seinen Mund geschlossen, damit er sich nicht doch infizierte, als ich meine Augen wieder schloss. Denn da waren noch weitere Zombies, die ihm ans Leder wollten.
Einen nach dem anderen verarbeitete ich mit bloßer Gedankenkraft zu Apfelmus. Angefangen mit denen, die Pakku am nächsten waren, bis hin zu denen, die noch immer an unseren Wagenfenstern klebten. In wenigen Sekunden war der Dschungelboden mit stinkenden Zombieinnereien bedeckt. Und ich war noch viel erledigter als zuvor. Und dazu kam noch der aufschreiende Hunger, den ich verspürte.
Doch meine Arbeit war noch nicht ganz erledigt. Auch auf die Gefahr hin, noch hungriger zu werden, konzentrierte ich mich weiter, und durchstreifte den Dschungel mit meinen Gedanken, um nach weiteren bedrohlichen Zombies zu suchen. Aber ich fand keine. Keine Bedrohung in der Nähe. Also konnten wir sicher aussteigen, ohne um unser Leben zu fürchten.
Ich öffnete die Tür. Nur um festzustellen, dass sie sich nicht öffnen ließ.
„Was war das gerade?“, fragte Adley verblüfft, als er weiter durch die Fenster des Geländewagens starrte. Er hatte wohl nicht mitbekommen, dass das mein Werk war. Irgendwann würde eventuell noch darauf kommen. Aber ich würde es ihm jetzt nicht unter die Nase reiben.
Erst einmal musste ich nachsehen, ob Pakku etwas von den Zombieinnereien in den Mund bekommen hatte. Womöglich hätte ich ihn vorwarnen sollen. Aber die Ereignisse geschahen so schnell, dass ich keine Zeit hatte auch noch eine Taktik auszuarbeiten, und dabei alles nötige zu berücksichtigen. Ich musste handeln. Außerdem hatte Pakku uns auch nicht vorgewarnt, dass er den Wagen verlassen würde.
Ich kletterte vom Rücksitz nach vorne auf Pakkus Platz. Hier ließ sich die Tür öffnen. Also sprang ich aus dem Wagen und beeilte mich zu Pakku zu kommen, der erst jetzt aufstand. Er wirkte ebenso verblüfft über die zerplatzten Untoten, wie Adley, der immer noch verdutzt zum Fenster hinaus sah.
„Alles in Ordnung?“, fragte ich aus sicherer Entfernung, falls er sich doch plötzlich in einen Zombie verwandelte. Er nahm mich gar nicht wahr. Ich hoffte, das lag nur daran, dass er mich nur nicht gehört hatte. „Pakku?“
„Ja.“ Er schien wohl noch nach einem Sinn für das eben Geschehene zu suchen.
Weil ich wusste, dass es oft ein paar Stunden dauerte, bis man sich in einen Zombie verwandelte, wenn man infiziert wurde, trat ich vorsichtig näher an ihn heran. Ich wollte ihn untersuchen.
Verwirrt stand er vor mir und wehrte sich nicht gegen die Berührung meiner Hände an seinem Kopf, der über und über, wie der Rest von ihm, mit Zombieinnereine bedeckt war. Ich drehte ihn zu mir und untersuchte seine Augen. Denn auch durch die Augen konnte man sich infizieren. Doch Pakkus Augen wirkten normal.
„Hast du was in den Mund bekommen?“, fragte ich ihn.
Erst jetzt registrierten seine Augen, dass ich direkt vor ihm stand. „Äh.“, überlegte er. Er schmeckte in seinem Mund. „Nein. Was ist da gerade passiert?“
„Ich hab dir deinen Arsch gerettet.“, erklärte ich ihm.
„Das warst du?“, fragte Adley, der ebenfalls aus dem Wagen geklettert war.
„Ja.“, antwortete ich. „Ich bin keine von diesen hilflosen Frauen, die ihr wahrscheinlich kennt.“
„Hab ich euch nicht gesagt, dass ihr im Wagen bleiben sollt?“, sagte Pakku, der nun wieder in seinem normalen Zombiejäger Modus angekommen zu sein schien. „Hier könnten noch mehr von den Dingern rumlaufen.“
„Keine Sorge.“, sagte ich und inspizierte meine, von schleimigen Innereien überzogenen Hände. „Ich hab überprüft, ob sich in unserer Nähe noch welche befinden. Die nächsten sind etliche Kilometer entfernt. Die werden uns hier nicht aufspüren.“
„Na gut.“, sagte Pakku. „Dann will ich dir mal glauben.“ Auch wenn er einen Telepathen zu kennen schien, hatte er wohl keine Ahnung – wie die meisten nicht-Telepathen – zu was wir eigentlich fähig waren.
„Wir sollten uns waschen gehen.“ Keinen Augenblick wollte ich dieses Zeug noch weiter an meiner Haut haben. Und Pakkus Anblick war auch keine Augenweide mehr. „Und der Wagen ist auch versaut.“
Pakku und ich gingen an den Strand, neben den Dschungel. Natürlich mussten wir dort wieder unsere Schutzbrillen tragen. Weil meine Hände zu dreckig waren, als das ich sie anfassen sollte, musste sie mir von Adley aufgesetzt werden. Auch Pakku musste er helfen. Mit ein wenig unseres Trinkwassers musste er sein Gesicht genug säubern, damit er sie sich aufsetzen lassen konnte.
Während ich mir nur die Hände und Schuhe waschen musste, zog Pakku sich fast komplett aus um sich im Meer zu waschen. Ich erwischte mich sogar dabei, wie ich ihn kurz anstarrte. Sein Oberkörper war durchtrainiert, was mich wohl nicht verwundern sollte, nachdem ich gesehen hatte, wie er kämpfen konnte. Als er vom Haare waschen auftauchte, konnte ich sogar das gesamte Ausmaß seiner Narbe erkennen, die erst vor vier Tagen noch eine offene Wunde war. Quer über die Brust ging der pinke, leicht hervorquellende Streifen.
„Genießt du die Aussicht?“, fragte Adley spöttisch. Er sollte im Wagen nach einem Gefäß suchen, damit er Wasser zum Wagen transportieren konnte, um ihn abzuspritzen, damit er Innereien frei war, wenn wir weiter fuhren.
„Ich hab nur gerade seine ganze Narbe gesehen.“, sagte ich. Es stimmte ja auch.
„Klar doch.“, gab Adley von sich, als er die Kunststoffkiste, die zuvor, wie ich erkannte, unseren Waffenvorrat beinhaltete, im Meer mit Wasser füllte. „Ich schätze die meisten Frauen fahren auf seine Muskeln ab.“, sagte er so laut, dass Pakku es hätte hören können, wäre er nicht gerade unter Wasser getaucht.
„Hilfst du mir mal?“, fragte Adley, als er versuchte die Kiste voller Wasser alleine anzuheben. Sie war, wie ich spüren konnte, verdammt schwer. Schwerer als mit Waffen.
„Etwa eifersüchtig?“, schmetterte ich zurück, als wir gemeinsam mit der Kiste einen nur mäßig geebneten Weg emporklommen.
„Eifersüchtig?“, wiederholte er empört. „Auf so jemanden wie Pakku brauch ich doch nicht eifersüchtig sein. Schon vergessen? Ich bin der Erzi.“
„Ja. Und alle alleinstehende Frauen wissen, dass du verheiratet bist.“, sagte ich. Ich musste zugeben, es machte Spaß ihn zu ärgern.
„Sprich nicht von Dingen, von denen du in deinem Distrikt keine Ahnung hast.“ Er wirkte ein wenig eingeschnappt. Vielleicht sollte ich ihn nicht daran erinnern, dass er zu Hause eine Frau hatte, die er zurück lassen musste. Er vermisste sie bestimmt. Auch seine Schwester und seine Eltern. Aber mit Sicherheit trieb ihn der Verlust seines Bruders an.
Jetzt war ich auch niedergeschlagen. Ich hatte zwar schon lange niemanden mehr, den ich vermissen konnte, weil ich niemanden an mich heran ließ. Aber das war genauso schlimm und vernichtend. Seit meine Eltern tot waren, fühlte ich mich oft irgendwie einsam. Womöglich hätte ich mich jemanden nähern sollen. Doch dann hätte ich sie irgendwann in Gefahr gebracht, wegen dem, was ich bin. Oft schon hab ich mir gewünscht, dass meine Eltern und ich, nicht zu dieser Familie gehörten, die in jeder Generation Telepathen waren. Dann würden meine Eltern noch leben.
Wobei meine Familie, bestünde sie nicht aus Telepathen, vielleicht schon vor Jahren ausgestorben wäre. Sodass es mich nie gegeben hätte. Und obwohl mein Leben nicht gerade etwas Besonderes war – sogar ziemlich schwer und übel – hing ich doch sehr daran am Leben zu sein. Und wer weiß, vielleicht ändert es sich zum Besseren, wenn ich Saul erst einmal gefunden habe.
Die Innereien waren nicht einfach abzukriegen. Adley und ich mussten noch vier Mal Wasser holen gehen. Doch nachdem wir die letzte Ladung Wasser gegen den Wagen gekippt hatten, schien nichts mehr daran zu kleben.
„Das Zeug ist widerlich hartnäckig.“, teilte Pakku uns mit, als er halb nackt, nur in Shorts bekleidet, mit nassen Klamotten in der Hand auftauchte. Er kramte im Kofferraum nach der Ersatzkleidung und zog sie sich an, während Adley und ich die Waffen wieder zurück in die Truhe legten.
Nachdem das erledigt war, suchte ich in der Nahrungstruhe nach etwas Essbaren ab. Ich fand eine Packung Riegel in Plastik eingepackt, die laut Packungsaufschrift nach verschiedenen Obstsorten schmecken sollten. Das klang für meine Ohren ganz in Ordnung. Seit ich auf mich alleine gestellt war, hatte ich kein frisches Obst mehr gegessen. Und davor, als meine Eltern noch da waren, war das auch nur ein seltener Luxus, den wir uns so gut wie gar nie leisten konnten.
Zusammen mit meinen Riegeln, die ich mit Pakku und Adley teilte, und etwas Wasser zum runterspülen, weil die Riegel doch ziemlich trocken waren, saß ich mich wieder in den Wagen, und wir machten uns auf den Weg hier raus. Jetzt, wo ich etwas in den Magen bekam, und etwas frisches und kaltes Wasser ins Gesicht bekommen hatte, konnte ich mich ein wenig besser konzentrieren. Aber ich hatte Kopfschmerzen und fühlte mich ein wenig schwächlich, nachdem ich die Zombies habe platzen lassen.
Als wir uns wuschen, sah ich, wie die Sonne langsam unterging. Die Uhr am Armaturenbrett des Wagens zeigte fast sieben Uhr abends. Ich hoffte, wir würden bald das Ende des Dschungels erreichen, damit wir eine Pause einlegen konnten. Ziemlich dringlich war die Tatsache mittlerweile, dass ich eine Mütze voll schlaf benötigte. Zwar könnte ich problemlos hier auf dem Rücksitz einschlummern, aber dann würde ich meine Aufgabe, die Küste nach der richtigen Szenerie der Landschaft, die mir sagte in welche Richtung die gesuchte Insel von N-Corp lag, vernachlässigen. Also riss ich mich am Riemen.
„Wie lange noch, bis wir eine Pause einlegen können?“, fragte ich.
„Hatten wir nicht gerade eine Pause?“, sagte Adley.
Dieser Kommentar riss mich komplett aus meiner Konzentration. Er hatte keine Ahnung, wie anstrengend es für mich war, den ganzen Tag die Küsten Bilder, die an uns vorbeirauschten, mit vierhundert Jahre alten flüchtigen Erinnerungen zu vergleichen. Die wenigsten nicht-Telepathen wussten etwas Genaueres von den Fähigkeiten, Kräften und Anstrengungen, die Telepathen hatten, benötigten, oder durchlitten. Und das, obwohl die Allgemeinheit seit hunderten von Jahren wusste, dass Telepathie, nicht nur Hockus Pockus war, der sich nur in den Köpfen von irgendwelchen Idiotne abspielte und nicht wirklich existierte.
„Du hattest vielleicht ein Pause.“, sagte ich. „Wobei mir nicht einfallen will, wozu du eine Pause brauchtest. Das einzige, was du tust, ist doch nur rumsitzen und den ganzen Tag durchs Fenster zu starren. Sehr anstrengend.“ Wieder wurde ich zickig. Zum dritten Mal heute.
„Das klingt irgendwie vertraut.“, sagte er sarkastisch. „Ist das nicht dasselbe, was du tust?“
„Schluss jetzt.“, schaltete Pakku sich ein, bevor ich richtig hässlich zu Adley werden konnte. „Du weißt, dass sie sich anstrengen muss.“, sagte er zu Adley. Ich war froh darüber, dass Pakku auf meiner Seite war. Obwohl ich kurz angenommen hatte, dass er geschlossen hinter Adley, den Erzi stand. Doch weil es nicht so war, bestärkte es mich nur weiter in meinem Verdacht, dass er mindestens einen Telepathen persönlich kannte.
Von da an war Adley still. Ich auch. Es fiel mir schwer, mich wieder zurück ins Stadium der Konzentration zurück zu versetzen. Aber ich schaffte es. Ich hoffte nur, dass ich die richtige Stelle nicht verpasst hatte.
Es half meiner Konzentration, dass wir in Stille weiter fuhren. Auch, dass wir keine weiteren Begegnungen mit Zombies hatten.
Irgendwann entdeckte Adley einige Tiere, die hoch in den Bäumen lebten. Affen, nannte Pakku sie. Und nach einer kurzen Observation, stellte er fest, dass sie gesund waren. Keine Zombieaffen. Wahrscheinlich verließen sie ihre sicheren Bäume nicht oft. Denn neben ihrer Wasserscheu, konnten Zombies auch nicht klettern. Jedenfalls nicht auf Bäume, die so hoch waren wie die, in diesem Dschungel.
Als wir nach einigen Stunden an eine Stelle kamen, die uns zu zwei Seiten mit Wasser einschloss, forderte Pakku Adley auf, die Karte aus dem Handschuhfach zu holen, und nach zu sehen, ob er nicht vielleicht herausfinden konnte, wo wir uns gerade befanden. Pakku hielt den Wagen an, um ihm bei der Suche zu helfen.
Der Himmel hatte sich mittlerweile zu einer tiefen, sternenreichen Nacht verwandelt. Da musste ich an das Sternenbuch von Saul denken. Plötzlich kramte ich in meiner Umhängetasche nach dem Buch. Für eine Sekunde, hatte ich das ungute Gefühl, ich hätte es irgendwie verloren. Aber da war es, sicher verwahrt in einem extra Ledereinband, den ich zu seiner Sicherheit umgelegt hatte.
Ob Saul wohl auch gerade die Sterne betrachtete? Dachte er vielleicht dabei an eine seiner Geschichten, die er zu den Sternenbildern geschrieben hatte?
Pakku stieg aus dem Wagen, nachdem ich ihm versichert hatte, dass keine Zombies in der Nähe waren. Mit einem Fernglas sah er – wie ich vermutete – nach Süden. Auch Adley stieg aus und sie diskutierten kurz.
Als sie wieder ins Auto stiegen, sagte Pakku, „Wir sind auf einer Halbinsel. Das heißt, wir müssen praktisch den ganzen Weg zurück fahren.“
Ich sah mir die Karte selbst mal an. Adley zeigte mir wo in etwa wir uns befanden. Direkt an der Spitze der Halbinsel. Gegenüber des vermuteten Dschungelendes. Pakku gab eine Schätzung der Entfernung zum gegenüberliegenden Festland ab, als ich ihn danach fragte. Er meinte am Tag, bei guter Sicht, könnte man die andere Seite erkennen.
Ich war bestimmt nicht die einzige, die sich das ausrechnen konnte. Wenn man bei guter Sicht die andere Seite des Festlands sehen konnte, war es unwahrscheinlich, dass sich dort die Insel befand, die ich suchte. Wegen der, ich darauf bestanden hatte, dass wir durch den gefährlichen Dschungel fuhren, in dem Zombies sich verstecken und auf dumme Beute lauern konnten.
Die Dschungeltour war also vollkommen umsonst gewesen. Und es war meine Schuld. Wir hätten sterben – oder noch schlimmer, infiziert werden können. Und dann wäre Saul auch verdammt gewesen. Denn ich glaube, dass der Zhi Zhe, selbst wenn sich noch ein Telepath finden ließe, der ihnen eventuell helfen würde, keinem mehr vertrauen würde. Immerhin hatte einer von ihnen seinem erstgeborenen Sohn einer tödlichen Gefahr ausgesetzt. Vermutlich würden das alle künftig enttarnten Telepathen zu spüren kriegen. Das genaue Gegenteil von dem, was ich ursprünglich geplant hatte.
Ich fühlte mich elend. Zuvor hatte ich nicht daran gedacht, dass ich mit meinen Handlungen auf dieser Mission, alles noch schlimmer für alle Telepathen in NAA machen könnte.
Wenigstens hatte ich jetzt eine Pause, frei von Konzentration auf die Küste, um mich schuldig zu fühlen.
Es war fast Mitternacht, als wir das Ende des Dschungels erreicht hatten. Wie im Inneren des Wagens, war es auch in der Nacht nicht nötig die Schutzbrillen zu tragen, solange keine Gefahr eines Sandsturms bestand. Der Wind war mittlerweile ganz ruhig. Als hätte er sich auch zu seiner Nachtruhe gelegt.
Pakku fuhr noch einige weitere Kilometer weiter weg vom gefährlichen Dschungel, ehe er ankündigte, dass wir hier unser Nachtlager aufschlugen. Zur Sicherheit sollten wir die Nacht im Wagen verbringen, um keine leichte Beute für Zombies oder andere Gefahren zu sein. So mussten wir keine Nachtwache aufstellen, denn der Wagen hatte Bewegungssensoren, die die Umgebung außerhalb im Auge behielten. Doch bevor wir uns schlafen legten, machte Pakku ein Feuer, damit wir erst einmal unsere Bäuche mit einer warmen Mahlzeit vollschlagen konnten. Er füllte einen kleinen Topf mit dem Inhalt von zwei Dosen, deren Aufschrift ich nicht sehen konnte. Dazu gab er Brocken von Trockenfleisch.
Nachdem das Essen gekocht war, verteilte Pakku es in drei Schüsseln, die ich aus dem Kofferraum geholt hatte. Dabei fiel mir auf, dass es noch eine vierte gab. Ich vermutete, sie war für Saul, wenn wir ihn gefunden hatten und wir uns auf den Rückweg befanden.
Pakku zeichnete irgendetwas in der Karte ein, nachdem er seine Schüssel geleert hatte. Ich reckte mich, um zu erkennen, dass er unsere bisherige Route aufzeichnete. Dazu die Stelle, an der wir der Horde Zombies begegnet waren.
„Wozu machst du das?“, fragte ich, weil ich keinen besonderen Sinn dahinter erkennen konnte.
„Aus verschiedenen Gründen.“, sagte er. Der erste war, dass er wusste wo wir waren, und woher wir gekommen sind. Der zweite war, um herauszufinden, wie weit wir ungefähr an einem Tag kommen konnten. Ich schätze das zweite tat er, für den Fall, dass mein Plan mit der Telepathen Maschine nicht aufging und wir die gesamte Zone absuchen mussten. Und der dritte war offenbar eine alte Gewohnheit von ihm. Als er noch ein Zombiejäger war, gehörte es zu seiner Aufgabe, die Routen zu markieren, die er und sein Team nahmen und Auffälligkeiten der Gegend zu notieren.
„Wie alt bist du eigentlich?“, fragte ich ihn plötzlich. Ich fragte mich, wie lange er wohl ein Zombiejäger war, bevor er der Leibwächter von Saul wurde.
„Zweiunddreißig.“, antwortete er verdutzt. „Wieso fragst du?“
„Ich war nur neugierig.“, sagte ich. Damit wäre er vielleicht zwei Jahre ein Zombiejäger gewesen, wenn er Saul Leibwächter wurde, als dieser geboren wurde. Denn ein Zombiejäger konnte man erst ab achtzehn werden.
„Und wie alt bist du?“, fragte Pakku. Sein Gesicht wurde vom Licht des flackerten Feuers erleuchtet. Seine Augen waren nicht gefärbt. Vermutlich war das nicht jedermanns Sache.
„Neunzehn.“, antwortete ich.
„Verdammt jung.“, erwiderte Pakku.
„Älter als du, als du ein Zombiejäger wurdest, schätze ich.“, sagte ich. Nach einer kurzen Pause des Schweigens fügte ich hinzu, „Und beinahe wäre ich auch nie älter geworden.“ Wie ich jetzt darauf kam, wieder an meinen knapp entronnenen Tod vor gut zwei Tagen zu denken, wusste ich selbst nicht. Ich war mir nicht mal sicher, ob es Zufall war, dass ich dabei Adley ansah.
Wegen ihm, wurde mein Todesurteil, weil ich ein Telepath bin, um zwei Tage vorgezogen. Und ohne ihn… Vielleicht hätte man mich in diesem Augenblick getötet.
„Das hattest du dir selbst zuzuschreiben.“, sagte Adley eiskalt.
„Klar, es ist meine Schuld, dass man mich exekutieren wollte, weil ich etwas bin, wofür ich gar nichts kann.“, sagte ich sarkastisch.
„Weißt du, normalerweise bringt man mir mehr Respekt entgegen.“, sagte Adley. „Das fängt schon bei der Anrede an.“
Oh Mann. Das war alles, woran ich schockiert denken konnte. Konnte er wirklich dermaßen anmaßend sein.
„Und eigentlich würde ich mich nicht mit jemanden wie dir abgeben.“, fügte er hinzu.
„Wieso? Weil ich ein Telepath bin?“ So langsam wurde ich wütend. Und im Vergleich dazu, war meinen Zickigkeit, wenn ich müde war, nicht mal erwähnenswert.
„Nein. Aufgrund deiner Herkunft.“, erklärte er mir. „Von wo kommst du? Distrikt dreißig?“
Für die, die nicht wirklich aus Distrikt dreißig stammten, war das eine Beleidigung. Es klang hart, war aber so. Selbst für mich, die ich in Armut aufgewachsen bin, war das eine Beleidigung. Distrikt dreißig war der ärmste und bemitleidenswerteste Distrikt. Dort war die Kriminalitätsrate am höchsten. Die Hungersnot am dringendsten. Und eine kurze Lebensdauer normal.
„Ich bin von Distrikt sechsundzwanzig.“, berichtigte ich ihn.
„Auch nicht viel besser.“, sagte er und stand von unserem Lagerfeuer auf.
„Du solltest mir lieber dankbar sein!“, rief ich ihm hinterher, als er zum Wagen zurückging. „Hätte ich mich nicht um die Zombies heute gekümmert, wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie ihre Zähne in dein Fleisch versunken hätten.“ Irgendwann hätten sie es doch geschafft die Fenster zu zerbrechen und zu uns zu gelangen. „Aber vielleicht hätte ich einfach abwarten und zusehen sollen!“, schrie ich, als er einfach nicht reagieren wollte.
Doch damit hatte ich es geschafft. Er drehte sich um, gerade als er den Türgriff am Auto benutzen wollte. „Und da wunderst du dich, dass wir uns vor den Telepathen schützen wollen? Genau wegen solcher Kommentare, trennt man die Telepathen von den nicht-Telepathen.“
„Trennen?!“, schrie ich ihm wütend entgegen. „Nennst du Telepathen töten, trennen?!“ Die Erinnerung an das, was man meinen Eltern angetan hat, trieb mich auf meine Beine. „Dein Vater hat meine Mutter töten lassen, weil sie ein Telepath war, wofür sie gar nichts konnte. Und mein Vater, der nicht mal einer war, wurde auch hingerichtet.“ Mein Gesicht war jetzt nur Zentimeter von seinem entfernt.
Seine weißen Augen waren schockiert aufgerissen und versuchte von mir zurück zu weichen, wäre da nicht dummerweise der Wagen, der ihm den Fluchtweg versperrte. Ich konnte glatt seinen Angstschweiß riechen. Pakku war jetzt neben uns, bereit einzugreifen, sobald ich über das Schreien hinausging. Und meiner Stimmung nach zu urteilen, konnte es jede Sekunde soweit sein. Doch im Augenblick war ich ganz sicher nicht gewillt nachzudenken, ob es klug war den Erzi anzugreifen.
„Seit ich sieben Jahre alt bin, bin ich auf mich alleine gestellt! Und weißt du, warum ich sogar in einer eisigen Winternacht lieber in einem Haufen Fischernetze schlafe, als auf einer Pritsche im Armenhaus?! Weil ich dort nicht von irgendwelchen anderen Pennern vergewaltigt werde! Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich erst sieben war, als sie mir meine Eltern genommen haben! Denn, glaub mir, ich wäre in die Hauptstadt einmarschiert, und hätte der Zhi Zhe getötet!“
Und da fing es an. Ich verlor die Kontrolle über mich. Durch meine einfache Gedankenkraft, flog Adley zehn Meter weit durch die Luft. Als Pakku versuchte mich zu beruhigen, erwischte es ihn auch. Er landete irgendwo in der Nähe von Adley.
Doch als der Wagen anfing sich zu schütteln und Geräusche von sich gab, die er nicht von sich geben sollte, hatte ich einen kurzen Augenblick genug Vernunft und erkannte, dass es zu weit ging. Vielleicht war es ein kurzer Gedanke, der mir entfloh und bei Saul landete, der alleine in die Sterne sah und um sein Leben fürchtete. Vielleicht war es aber auch der kurze Eindruck meiner Mutter, den ich vor meinem inneren Auge erkannte.
Aber im Grunde war es auch egal, was es war. Was zählte war, dass es gerade noch rechtzeitig kam, sodass ich weggehen konnte. Einfach weggehen. Bevor ich Adley tötete, was alle Telepathen büßen müssten. Bevor ich Pakku tötete, den ich wirklich mochte und ich mir nie verzeihen hätte können. Bevor ich den Wagen hätte zerstören können, was womöglich der Nagel in Sauls Sarg gewesen wäre, da wir sonst nur schleppend vorangekommen wären.
7.
Seit einer Stunde konzentrierte ich mich nur noch auf das vorsichtige einsaugen von Sauerstoff und ausstoßen von Kohlendioxid, ohne irgendetwas zu zerstören oder zu verletzen. Jedenfalls kam es mir vor wie eine Stunde.
Als irgendwann auf einmal ein Käfer in meine Nähe kam, steigerte sich meine Atmung plötzlich. Es war das Adrenalin, das durch meinen Körper schoss. Ich hatte Angst diesen kleinen, harmlosen Geschöpf etwas zu leide zu tun.
In der Ferne hörte ich ein Streitgespräch zwischen Adley und Pakku mit an. Adley war geneigt mich hier einfach zurück zu lassen, nachdem ich ihm einen Freiflug gewährt hatte. Pakku hingegen versuchte ihn zu beruhigen. Es sagte, dass er so etwas kannte und noch irgendetwas über Saul, dass sie jetzt an ihn denken mussten. Dass ich die beste Chance war, sie zu ihm zu führen. Ich würde ihnen schon nichts antun, wenn sie mich nicht aufregten, meinte Pakku.
Nachdem etwas Zeit vergangen war, kam Pakku hinter mir auf mich zu. Doch bevor er mir zu nahe kam, warnte ich ihn, „Nicht!“ Ich war noch nicht soweit, jemanden in meine Nähe zu lassen.
Obwohl ich ihm nicht viel Aufmerksamkeit schenkte, spürte ich genau, wie er mitten in seinem Schritt auf mich zu, inne hielt. „So wörtlich meinte ich das nicht.“, sagte ich. „Geh einfach und lass mich in Ruhe.“
Er dachte darüber nach. Ging aber bald zurück zum Wagen. Beide, Pakku und Adley, stiegen, nach einer weiteren Diskussion, in den Wagen und legten sich schlafen. Adley war hier wieder die antreibende Kraft. Zuvor löschte Pakku das Feuer, das meinetwegen noch einmal aufgeflammt war, bevor ich mich beruhigen konnte. Adley hatte einige Schnittwunden im Gesicht davongetragen, die nicht von seiner Landung stammten.
Obwohl ich für die Verhältnisse von Adley und Pakku, wohl ausgerastet sein mag, war mir klar, dass es noch weit schlimmer hätte werden können. Wäre da nicht dieser wirklich kurze Augenblick der Vernunft gewesen, hätte nicht nur die beiden getötet und den Wagen zerstört, sondern alles Lebendige in einem unvorstellbaren Radius zerstören können.
Wenn man sich nicht unter Kontrolle hatte, war nichts daran auf die leichte Schulter zu nehmen. Eigentlich hatte ich mich immer ganz gut unter Kontrolle – mal abgesehen von einigen Gegenständen, die willkürlich durch die Gegend schwirrten, wenn ich wütend oder traurig war. Da meine Mutter von Anfang an wusste, dass ich ein Telepath war, hatte sie mich schon in meiner Selbstkontrolle trainiert, als ich noch gar nicht geboren war. Dasselbe wurde bei gemacht. Und obwohl sie, trotz ihres telepathisch guten Gedächtnisses, sich nicht daran erinnern konnte, wie so etwas funktionierte, konnte sie es irgendwie instinktiv. Ich fragte mich, ob ich solche Instinkte auch haben würde, wenn ich einmal Kinder haben würde.
Hm. Ein gutes Zeichen, dass ich vom Thema abkam.
„Du solltest besser auf dich aufpassen.“, hörte ich eine widerlich bekannte Stimme hinter mir sagen.
Ich flog regelrecht auf meine Bein und wirbelte dabei herum. Vielleicht flog ich ja wirklich, mithilfe meiner Telepathie. Wobei ich mich bisher nie damit bewegt hatte. Ich dachte immer, das wäre gar nicht möglich. Doch rein theoretisch, war es doch irgendwie möglich. Oder? Wenn ich dasselbe auch mit anderen Lebewesen machen konnte.
„Hab ich dir nicht deutlich genug gesagt, dass du dich von mir fernhalten sollst?!“, sagte ich dem fremden Telepathen, der mich bis in meine Träume verfolgte. „Oder hast du Todessehnsucht?“ Der letzte Teil war eine leere Drohung, glaube ich. Ich bezweifelte, dass ich ihn töten konnte, wenn er doch nur in meinen Gedanken war.
„Genau genommen“, fing er an wie ein Klugscheißer, „bin ich ziemlich weit weg von hier. Auf der anderen Seite der Erde, um genau zu sein.“
„Also bist du echt?“, fragte ich, plötzlich wieder neugierig.
„Warst du nicht ohnehin schon der Meinung?“, fragte er.
„Und wie heißt du?“, fragte ich. „Wo bist du gerade? Und wie kannst du mich so einfach erreichen?“ Ich kann niemanden erreichen, der so weit von mir entfernt ist. Gerade mal jemanden, der sich höchstens zehn Meter von mir entfernt war. Natürlich hatte ich immer noch die Theorie mit der Telepathen Maschine.
„Mit der Theorie liegst du gar nicht so weit von der Realität entfernt.“, sagte er. „Genau genommen ist es sogar einhundertprozentig richtig. Mein Körper, wenn du so willst, liegt in Neo Gaia. Und vermutlich krümmt er sich gerade vor Schmerzen.“ Seine Stimme ging langsam in sich verloren, als würde er an irgendetwas zurück denken. „Ach ja.“, sagte er plötzlich heiter. „Mein Name ist Kasper.“
„Ich bin-“, fing ich an, wurde aber unterbrochen.
„Ich weiß wie du heißt.“, sagte er.
Klar wusste er das. Vermutlich wusste er alles über mich. Jedes meiner Geheimnisse. All meine Gedanken. Und sein plötzliches Grinsen teilte mir sofort mit, dass es so war. Er zeigte jetzt nicht mal den Hauch von Schuld.
„Könntest du mir dann wenigstens erklären, was zum Teufel du von mir willst? Oh, und seit wann du mich beobachtest?“
Er überlegte. Vielleicht sollte ich mal seine Gedanken lesen.
„Das würde ich lassen.“, sagte er. „Reine Energie Verschwendung, glaub mir. Gegen mich kommst du nicht an. Außerdem hast du ohnehin schon dröhnende Kopfschmerzen und bist Hundemüde.“ Da hatte er Recht. „Was deine Frage angeht – falls das überhaupt eine Frage war – ich versuche dir nur zu helfen.“
Ach ja. – wozu noch sprechen, wenn er sowieso uneingeschränkten Zugang zu all meinen Gedanken hatte.
Und da war es auch schon wieder vorbei. Mir entging nicht, dass er wie immer meine letzte Frage nicht beantwortet hatte. Doch diesmal schien nicht er die Verbindung abgebrochen zu haben. Hinter mir war ein Alarm zu hören. Vom Wagen? Die Bewegungssensoren?
Ich öffnete meine Augen. Es war immer noch Nacht. Und ich lag auf dem sandigen Boden, selbst von einer dünnen Schicht Sand überzogen. Wie lange war ich weg?
Die Frage schob ich erst einmal bei Seite und sah mich um. Das Licht im Wagen und auf dem Dach war an. Adley und Pakku sahen sich aufgeregt um und entdeckten schließlich mich. Aber ich hatte mich nicht bewegt. Oder? Der Alarm ging schon an, bevor ich aufgestanden bin. Aber vielleicht, als ich zu Boden gesackt bin?
Das einfachste wäre wohl telepathisch nach einer Bedrohung zu suchen. Doch ich war nicht im Geringsten in der Verfassung mich zu konzentrieren. Ich war gerade noch im Stande zu registrieren, dass, wenn ich weiter hier draußen war, eine leichte Beute wäre. Obwohl ich wohl schon tot sein müsste, wenn hier irgendwelche Bedrohungen für unser Leben in der Nähe wären.
Also stand ich vom Boden auf und näherte mich mit Vorsicht dem Wagen. Pakku stieg aus bewaffnet mit einem seiner Säbel und einer Taschenlampe. Er hatte Adley bedeutet, er solle im Wagen warten. Doch mein Eindruck war, dass dieser gar nicht erst daran gedacht hatte auszusteigen. Adley schien nicht der Typ zu sein, der sich irgendeiner möglichen Gefahr entgegenwarf. Eher ließ er andere für sich kämpfen. Ich war mir aber nicht sicher, ob ich es ihm wirklich entgegenhalten sollte. Immerhin wurde er dazu erzogen, irgendwann der Zhi Zhe zu sein, wenn sein Vater stirbt. Da ist es verständlich, dass man ihn zur Vorsicht erzieht. Und es kann ja nicht jeder Anführer ein Kämpfer sein.
Und wenn ich daran denke, dass ich tot war, wenn ihm etwas passieren sollte, war es vermutlich das Beste, wenn er im sicheren Wagen blieb.
„Was hat den Alarm ausgelöst?“, fragte mich Pakku, während er mit seiner Taschenlampe die Umgebung absuchte.
Ich trat an seine Seite. „Keine Ahnung.“, antwortete ich.
„Weißt du nicht sonst immer alles?“, fragte er.
„Erst wieder, wenn ich eine Mütze voll Schlaf hatte.“
Plötzlich hörten wir hinter uns, auf der anderen Seite des Wagens Laute, die von einem Tier zu stammen schienen. Pakku ging voran und hielt mich zurück. Ich war ihm dicht auf den Fersen, als wir um den Wagen herum schlichen.
Im Schein der Taschenlampe blickten uns dort schließlich zwei Paar funkelnde Augen an. Sie waren mehrere Meter von uns entfernt. Einer der Kojoten, wie Pakku sie nannte, hatte ein kleines pelziges und lebloses Ding in seinem Maul. Die beiden Kojoten starrten uns einige Sekunden lang an, bevor sie die Flucht in die andere Richtung ergriffen. Es war genug um zu urteilen, dass sie gesund waren, keine Zombies. Wären sie nämlich Zombies, hätten sie das leblose und pelzige Tier liegen gelassen und uns angegriffen. Zombies können nicht urteilen, ob sie einen Kampf gewinnen können. Sie folgen immer ihrem Hunger nach frischem Fleisch und Blut, frei von jeglichem logischen Denken.
„Alles okay bei dir?“, fragte Pakku.
Es dauerte einen Moment, bis ich erkannte, was er meinte. Vor – ich weiß nicht wie viele Stunden oder Minuten – war ich noch so wütend, dass ich den Wagen hätte zerstören können. Beinahe hätte ich sogar Adley und Pakku getötet.
Doch jetzt, nach einer kurzen Bestandsaufnahme, konnte ich bestätigen, dass es mir wieder gut ging, und niemand mehr etwas vor mir zu befürchten hatte. Das könnte sich aber immer ändern, wenn man mich mal wieder zur Weißglut brachte. Besonders das Thema um meine Eltern war meine Achillesferse.
Adley war nicht begeistert davon, dass ich wieder zurück in den Wagen kam. Er verzieh mir nicht so einfach, dass ich ihn bedroht hatte, so wie ich ihm, dass er mich einfach zurücklassen wollte. Aber er ließ es dann doch gut sein und erwähnte nichts weiter davon. Also machte ich es mir auf dem Rücksitz so gemütlich wie es ging, um dort zu schlafen, während Adley und Pakku sich wieder auf den Vordersitzen schlafen legten.
Es war gewiss kein optimaler Schlafplatz, aber immer noch am sichersten. Besonders im Vergleich zur freien Wildnis außerhalb des Wagens, wo uns zwar die Bewegungssensoren weckten, wenn sich etwas in unserer Nähe bewegte, aber es auch schon zu spät sein konnte, um etwas gegen mögliche Gefahren auszurichten. Viele Zombies waren sehr schnell. Lediglich die Wände des Wagens könnten sie daran hindern, uns sofort aufzufressen oder zu infizieren.
Den Rest der Nacht verbrachte ich traumlos. Weder ein richtiger Traum, noch Kasper der Telepath ließ sich bei mir blicken. Vielleicht lag es auch nur daran, dass ich gefühlt alle zehn Minuten aufwachte. Zwar war eigentlich ein erholsamer Schlaf von nötig, damit ich mich wieder einen ganzen Tag konzentrieren konnte. Doch da sich dieser Schlaf nicht einstellen wollte, musste es so gehen.
Glücklicherweise hatten die Ausstatter, die dafür verantwortlich waren unseren Proviant zu packen, daran gedacht, uns Kaffee mitzugeben, den Pakku am nächsten Morgen vor unserer Abfahrt an einem Lagerfeuer aufbrühte. Das heiße Getränk fühlte sich gut an, wie es in meinen Magen hinabrann. Besonders an einem so kalten Morgen, wie heute. Ein kalter Wind wehte uns entgegen und wirbelte dabei einen kleinen Sandsturm auf. Doch erst, als wir dabei waren wieder zu packen.
Die Weiterfahrt war nicht leicht. Der kleine Sandsturm entwickelte sich zu einem ausgewachsenen Sandsturm, der uns die Sicht versperrte. Ich war dafür abzuwarten, bis sich der Sturm gelegt hat. Aber Pakku war sich sicher, dass er weiter fahren konnte. Meine Arbeit beeinträchtigte die schlechte Sicht nicht. Ich konnte genug von der Küste erkennen, um sie mit den Erinnerungen zu vergleichen, denn in der Nähe des Meeres verlor sich das Sandgestöber wieder. Aber es würde wieder so viel Konzentration und Kraft kosten, dass ich mir sicher sein konnte, dass ich, wenn ich morgen wieder nur mit Kaffee funktionierte, weil ich nicht richtig schlafen konnte, nicht mehr zu viel zu gebrauchen war. Doch darüber machte ich mir erst Gedanken, wenn es soweit war. Und wer weiß, vielleicht legte sich der Sturm schon in den nächsten Minuten.
Es dauerte mehr, als nur ein paar Minuten, aber der Sturm legte sich. Gerade rechtzeitig, denn Pakku musste uns wieder durch einen Trümmerhaufen manövrieren, der früher mal eine große Stadt gewesen sein musste. Dabei war eine gute Sicht essentielle, denn über das ganze Areal lagen nicht nur Stein Reste, sondern auch Stahlteile, die die Reifen aufschlitzen konnten.
Bei Ruinen großer Städte war ich besonders aufmerksam, weil es eine große Stadt war, von der aus Ethan zur Insel, die ich suchte, gefahren ist.
„Also, wie funktioniert das mit diesen Erinnerungen deiner Vorfahren?“, fragte Pakku plötzlich. Als könne er Gedanken lesen, stellte ich fest. Aber wenn er es könnte, was nur möglich war, wenn er ein Telepath war, hätte ich das schon längst bemerkt.
Da fiel mir ein, dass ich ihm gestern versprochen hatte, ihm zu erklären wie das mit den Erinnerungen war, wenn ich mich ausgeruht hatte. „Telepathen können die Erinnerungen ihres Lebens an andere Telepathen übertragen. Die können sie sich dann vor ihren inneren Augen führen, als seien es ihre eigenen. Die Übertragung funktioniert durch Meditation.“, erklärte ich.
„Dann folgen wir gerade den Erinnerungen deiner Eltern?“, fragte Pakku.
„Äh.“, überlegte ich. Seit die Bunker nach der Apokalypse geöffnet wurden, versuchte meine Familie immer Distanz zu unseren Vorfahren zu halten. Und das aus gutem Grund. Ein Teil unserer Vorfahren waren maßgeblich an der Apokalypse beteiligt, weshalb man nicht so gut auf unsere Verbindung zu ihnen zu sprechen war.
Doch irgendwie spürte ich, dass ich den beiden, die jetzt mit mir im Wagen saßen, vertrauen konnte. Ja, sogar Adley, dem Sohn des Zhi Zhe, der Telepathen töten ließ – darunter auch meine Eltern – um die Bevölkerung vor ihnen zu schützen. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihm ein Stöckchen zu werfen sollte, wenn er mir und damit den Telepathen allgemein vertrauen sollte. Besonders nach gestern Abend. Die Wahrheit über meine Familie kam da gerade recht, schätze ich.
„Eigentlich ist die Erinnerung, auf die ich mich stütze, viel älter.“, gab ich zu. „Vor der Apokalypse um genau zu sein.“
„Vor der Apokalypse?“, fragte Adley. „Das ist über vierhundert Jahre her.“ Danach ließ ich die beiden mit ihren Gedanken alleine, bis Adley darauf kam, was ich noch nie ausgesprochen habe. „Heißt das, dass all deine Vorfahren seit über vierhundert Jahren Telepathen sind?“, fragte er ungläubig.
„Ich dachte immer, dass Telepathie nicht vererbbar ist.“, warf Pakku ein.
„Ist es eigentlich auch nicht.“, stimmte ich ihm zu. „Das ist nur in einer Familie so.“ Ich warf ihnen erst einmal einen Köder zu, bevor ich ihnen alles lang und breit erklärte. Ich wusste, dass man in der Schule etwas über Telepathen und die Geschichte der Apokalypse lernte. Nur wusste ich nicht, was man in der Hauptstadt alles zu diesen Themen erfuhr.
Im Gegensatz zu Pakku, schien bei Adley etwas zu dämmern. Er drehte sich zu mir um und sah mich fragend an, als er fragte, „Heißt das, du bist mit Caya verwandt?“
Offenbar brachte man den Kindern des Zhi Zhe bei, dass mit Caya im Rahmen eines Projekts Dinge angestellt wurden, die dafür sorgten, dass all ihre künftigen Nachfahren selbst auch Telepathen waren. Ich fragte mich, ob Adley vielleicht sogar auch wusste, was man mit ihr getan hat. Denn aus Cayas Erinnerungen ging das nicht hervor, da sie die meiste Zeit, die sie in den Fängen von N-Corp verbracht hatte, bewusstlos gehalten wurde. Denn schon damals wusste man, dass ein bewusstloser Telepath, ein hilf- und harmloser Telepath war. Womöglich konnte ich ihn später mal danach fragen.
„Ja.“, antwortete ich erst Mal auf seine Frage.
„Und von welchem ihrer Söhne stammst du ab?“, fragte er weiter.
„Ist das wichtig?“ Beide waren nicht sehr beliebt bei nicht-Telepathen. Bei dem älteren von beiden, Noah, war es die Tatsache, mit wem er eine Familie gegründet hatte. Natürlich war ihre Person an sich dabei nicht wichtig. Man lag nur ihre Verwandten in die Waagschale. Denn sie war ein Klon von Claire Naipjies, der Frau, die als Chefin von N-Corp die Apokalypse eingeleitet hatte. Das geklonte Mädchen wurde damals von ihr als Tochter aufgezogen.
Im Fall des jüngeren Sohnes von Caya, Viktor, war der Missmut schon begründeter. Er war ein wichtiges Instrument in Naipjies Plan die bösen Menschen der Welt zu beseitigen und die guten zu retten. Nachdem er bei ihr aufgewachsen war, benutzte sie Viktor dazu, herauszufinden, wer auf der Welt es wert war gerettet zu werden. Ich kann nachvollziehen, dass man Viktor heute als einen der Bösewichte ansieht. Vor allem wenn man seinen Geisteszustand nicht kannte, und wie sehr er von Naipjies beeinflusst wurde, von der er zur damaligen Zeit absolut abhängig war. Und das sagt jemand, der von Viktors Seite der Familie entstammt.
„Eigentlich nicht.“, sagte Adley einsichtig. Er schien meinen Punkt auf Anhieb zu verstehen. „Trotzdem interessiert es mich.“
„Damit du mich, abgesehen von meiner Telepathie, weiter verurteilen kannst?“ Es überraschte mich selbst, dass ich so urplötzlich wieder aufbrausend wurde. Besonders, weil ich es diesmal nicht auf meine Kopfschmerzen oder Müdigkeit schieben konnte. Wir waren erst seit drei Stunden wieder unterwegs. Und obwohl ich nicht gut geschlafen hatte, half der Kaffee mich halbwegs munter zu machen.
„Verurteilen?“, fragte Adley unschuldig.
Ich kaufte es ihm ab, dass es sein ernst war, aber…
„Für wie blöd hältst du mich eigentlich?! Denkst du, ich könne mir nicht denken, dass ihr nach uns fahndet, um uns zu bestrafen, weil wir Fähigkeiten haben, von denen ihr nicht mal träumen könnt?!“
Dass Pakku auf einmal den Wagen wieder anhielt, war wie ein Weckruf für mich. Was ist hier nur los? Warum habe ich plötzlich nur solche Stimmungsschwankungen? Im ersten Augenblick bin ich neutral und konzentriert auf meine Suche, und im nächsten Moment war ich besonders streitlustig. Als wäre ich nicht ich selbst?
Ohne darüber nach zu denken, was ich eigentlich tat, stieg ich aus dem Wagen aus und bewegte mich auf das Meer zu. Ich musste weg von Pakku und Adley, bevor ich ihnen, anders als gestern, etwas Unwiderrufliches antat. Halb ohnmächtig stolperte ich durch eine Straße, bedeckt von Schutt, der einst zwei Häuser waren, bis mich schließlich ein hervorstehender Draht zu Fall brachte. Unsanft landete ich auf Händen und Knien. Adrenalin pochte durch meinen Kreislauf. Ich atmete schwer ein und aus, um das Bewusstsein nicht zu verlieren.
Als ich es so weit gebracht hatte, dass ich nur noch mein Zittern unter Kontrolle bringen musste, hörte ich, wie sich der Wagen wieder in Bewegung setzte. Automatisch nahm ich an, dass sie mich doch alleine zurückließen. Doch als ich mich umdrehte, erkannte ich Pakku, der im sicheren Abstand zu mir stand und immer wieder in drei verschiedene Richtungen blickte. Vom Heck des Wagens, der sich langsam von uns entfernte, nach Westen in die Steppe hinaus, und schließlich zu mir.
Mit leicht zitternden Knien bewegte ich mich auf ihn zu, um von ihm den Sinn dahinter zu erfahren. Haben die beiden sich wieder meinetwegen gestritten? Bis Adley schließlich uns beide zurück ließ?
„Was ist los?“, fragte ich in seiner Hörweite.
„Komm mit.“, sagte er nur und zerrte mich in die Richtung, in der Adley mit dem Wagen verschwunden ist. Auf meine Fragen, antwortete er nicht.
Wir fanden Adley in einem halbwegs intakten Haus wieder. Und mit halbwegs intakt meine ich, dass die Wand, die nach Westen hinaus ging noch über drei Etagen bestand, während die gegenüberliegende Wand zu einem Steinhaufen zerbröckelt war. Adley erklomm gerade die Überbleibsel einer Treppe in die zweite Etage. Pakku und ich folgten ihm.
Dann ging es nicht um mich?, fragte ich mich.
„Was ist denn los?“ Ich flüsterte plötzlich, obwohl ich nicht wusste, wieso. Aber irgendwie erschien es mir das Richtige zu sein.
„Da hinten ist eine einheimische Autobande.“, erklärte Pakku mir, als er von Adley ein Fernglas entgegen nahm.
Bevor ich fragte „wo?“, wollte ich mir erst einmal selbst ein Bild machen. Also Spähte ich durch eines der glasscheibenfreien Fenster in die leere Steppe. Ich erkannte nichts als eine Staubwolke, die ein weiterer Sandsturm zu sein schien. Da reichte Pakku mir sein Fernglas und, als ich hindurchsah, erkannte ich, dass die Spitze der Sandwolke ein Wagen war.
„In der westlichen Zone gibt es mehr solcher Banden, als in der nordöstlichen. Sie fahren durch die Gegend, ständig auf der Suche nach etwas Essbaren und etwas zum Quälen.“, erklärte Pakku.
Und schon hatten sie etwas zu quälen gefunden. Durch das Fernglas beobachtete ich, wie eines der Wagenfenster aufging, eine Person mit Helm sich hinauslehnte und mit einem Gewehr auf ein Tier zielte, das vor ihnen davon lief. Entweder war es meine Menschenkenntnis, oder Pakkus Urteil über die Autobande, das mich vermuten ließ, dass der Schütze aus voller Absicht heraus keinen Blattschuss unternahm, um das Tier schnell zur Strecke zu bringen. Es war pure Quälerei. Keine einfache Jagd aus Hunger heraus.
Tag der Veröffentlichung: 22.05.2011
Alle Rechte vorbehalten