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„Ich bin sowohl Mensch als auch Brut.

„Ich bin Zerberus, der letzte meiner Familie.

„Und meine Geschichte geht weiter.“

– Zerberus; ca. um 3023




Prolog




Noch immer taumelnd von dem unvergesslichen Geschmack von Raes Lippen, erklomm ich die Treppe. Ich war glücklich. Sehr sogar. Lange Zeit dachte ich, für mich gäbe es nichts mehr. Nicht mehr, als das was ich bereits hatte. Mein Vater, meine Schwester und meine Aufgabe, die darin bestand, die Menschen zu befreien, die irgendwo in dieser Welt als Sklaven missbraucht wurden. Ein Schicksal, das ich selbst nicht lange habe erleiden müssen. Dank meines Vaters, der uns damals befreit hatte. Doch jetzt hatte ich Rae.
Doch im Augenblick verließ ich sie, weil mein Ziel in der oberen Etage lag. Ich würde noch genug Zeit mit ihr verbringen können. Vor allem, da ich meine Lektion gelernt habe und in Zukunft nicht mehr so viel riskieren werde, wenn es darum ging sich in ein Sklavenhalterlager zu schleichen und die Sklaven zu befreien. Denn beinahe hätte mich diese Art fast meinen Vater gekostet. Jetzt allerdings musste ich mich mit Dave unterhalten. Bestimmt ist er nicht nur deshalb zurückgekommen um mir aus der Patsche zu helfen. Er musste einen anderen Grund haben. Und es war an mir diesen Grund herauszufinden, da er bisweilen noch nicht selbst damit herausgerückt war.
Er stand Mutter Seelen alleine in den halbzerstörten Raum, der von meinem Zimmer, das ich mir mit meiner Schwester Sarah teilte, aus gesehen, auf der anderen Seite des Gebäudes lag. Lediglich um einige relativ Wetterbeständige Kisten zu lagern wurde er noch verwendet. Was sollten wir auch anderes damit anstellen, wo doch der Großteil der Außenwand fehlte und wir keine Möglichkeit hatten sie wieder herzustellen? Auch wenn es nur äußerst selten regnete waren diese halbzertrümmerten Räume nicht bewohnbar. Obwohl es Tags über fast schon übermäßig warm werden konnte, wurde es jede Nacht bitter kalt. Es wurde oft so kalt, dass es mich in meinem sonst so warmen Bett mit der dicken Decke zugedeckt fröstelte. Das Heizungssystem konnten wir nach all den Jahren, die ins Brachland gezogen waren, immer noch nicht zum Laufen bringen. Nicht nur an möglichen Ersatzteilen fehlte es uns, sondern auch an dem Know-how. Die wenigsten in unsere Gemeinde sind mit solch einer Heizung groß geworden. Die Sklavenhalter, denen wir begegnet waren, hatten allesamt einen fable für das offene Feuer um sich zu wärmen. Doch vermutlich auch nur deshalb, weil sie selbst keine Ahnung von Heizungen hatten.
Dave lehnte an der einzigen Wand des Raumes, die noch da war, und stabil genug seinem Gewicht entgegen zu wirken. Rauch schwirrte vor seinem Gesicht, als er in die Leere der Umgebung um unser improvisiertes aber relativ sicheres zu Hause starrte. Die noch stehenden Ruinen in der Landschaft boten schon einen traurigen Anblick.
„Hier hat sich nicht viel verändert.“, sagte er mit angehaltener Luft, die er dann mit einer Rauchwolke losließ.
„Für dich vielleicht.“ Instinktiv nahm ich ihm gegenüber, wie ich es immer tat, eine aggressive Haltung ein. Wobei ich jetzt, da ich Rae hatte und immer noch so überglücklich war sie endlich zu haben, keinen Grund mehr dafür hatte. Spätestens jetzt konnte ich Lana doch endlich loslassen und sie ihm überlassen. Erst recht, da sie ihn aus freien Stücken anstatt meiner gewählt hatte. Und wo ich schon gerade dabei war, konnte ich auch endlich die Zeit loslassen, die ich damit verbracht hatte ihr nachzutrauern. Die Zeit, in der das mit Rae angefangen hatte, dachte ich. Und damit breitete sich erneut eine Welle des Glücks über mich aus.
Dave drehte sich zu mir um, warf einen kleinen glühenden Stängel auf den Boden und zertrat ihn. Als er seinen Fuß wieder wegnahm, kam derselbe Stängel zum Vorschein, nur dass platt getreten und der Boden darunter jetzt rußig war.
„Was ist das?“, fragte ich und nickte meinen Kopf zum Stängel.
Überrascht blickte Dave auf das zertretene Ding und schien erst einmal zu überlegen, bevor er mir antwortete. „Eine Zigarette.“ Er kramte in einer seiner Außentaschen seiner Jacke und zog ein Päckchen heraus, das er öffnete. Zum Vorschein kamen noch mehr dieser Stängel. Sie waren aber noch heil. „Willst du eine? Man inhaliert durch einen Filter den Rauch einer verbrennenden Pflanze.“
Ich schüttelte nur den Kopf.
„Vielleicht besser so. Von den Dingern wird man sowieso nur süchtig.“, sagte er.
„Wieso nimmst du sie dann?“, wollte ich wissen. Auch wenn es mich eigentlich nichts anging. Wir waren nie so etwas wie Freunde gewesen. Die meiste Zeit unserer Kindheit und unserer kurzen Begegnungen danach, haben wir tatsächlich zur gestritten. Und wirklich eng waren wir auch nicht Verwandt. Nur um viele, viele Ecken war er ein Cousin von mir. Trotzdem sah ich ihn als Verwandten. Doch das hatte einen etwas anderen Grund. Nämlich den, das ich meinen Stammbaum ganz genau zu ihm zurückverfolgen konnte. Und das nur in meinen Gedanken. Ich brauchte ihn dafür nicht einmal auf ein Blatt Papier zu zeichnen, das hier sowieso nur eine Rarität war.
„Na weil ich süchtig danach bin“, antwortete er mit dem Ansatz eines gleichgültigen Lächelns.
Nach einer längeren Pause, gefüllt von Schweigen und fernen Geräuschen. Die Geräusche waren die, von den Bewohnern unserer beschaulichen Gemeinde, die sich um unsere neusten Mitbewohner kümmerten. „Und? Warst du in Australien?“, fragte ich ihn.
Er nickte mit zusammengepressten Lippen, zwang Luft durch seine Nase in seine Lungen und sagte dann, „Ja.“
Ich wünschte ich müsste nicht fragen. Aber immerhin hatte ich jetzt Rae. „Und Lana? Hat sie dich eingeholt?“
Lange Zeit sagte er nichts. Seine Augen wanderten ins weit, weit weg, zuckten aber hin und her. Er überlegte. Dann leckte er sich mit der Zunge die Lippen und sagte, „Sie ist tot.“
Das traf mich. Ich weiß nicht, wie ich sonst beschreiben sollte, aber es verschlug mir schlicht den Atem und ich war unfähig zu denken. Lana, tot? Wie war das möglich? Was war passiert?
Wenn du denkst, dass das, das Richtige für dich ist, hatte ich ihr damals gefragt, als sie mich für ihn verließ. Ja, hatte sie schuldbewusst geantwortet. Und ich hab sie ziehen lassen. War das meine Schuld? Hätte ich sie nicht alleine gehen lassen sollen?
Ich brauchte mir nicht ins Gedächtnis zu rufen, dass ich doch jetzt Rae hatte. Denn das wusste ich bereits. Und es änderte dann doch nichts. Lana war tot. Ein Mensch, der mir so viel bedeutet hat, dass ich sie lange Zeit nicht loslassen konnte, obwohl sie mich zurückgewiesen hatte. Sie bedeutete mir immer noch sehr viel. Aber auf eine andere Art und Weise. Daher bleibt diese Nachricht von ihrem Tod eine bis ins Mark erschütternde Nachricht.
„Wie?“, fragte ich, als ich meine Stimme und Gedanken wieder fand. „Wann?“
„Vor drei Wochen.“, sagte er in einem für ihn untypisch melancholischen Ton. Ein humorloses Auflachen zwang mich ihm in die Augen zu sehen. „Ironisch, oder? Ausgerechnet Radioaktive Strahlung hat sie schließlich umgebracht.“ Stille trat wieder ein und als er wieder sprach hörte ich all seinen Schmerz in seiner Stimme, obwohl er sein bestes tat diesen aus reinem Selbstschutz zu verbergen. „Nach den Experimenten, die sie in ihrem Bunker über sich ergehen lassen musste, haben diese doch nichts bewirkt. Sie war davon überzeugt, ihr würde nichts passieren.“ Er sprach jetzt nicht mehr mit mir. Nur noch mit sich selbst. „Alles was sie wollte war eine bessere Zukunft für alle Menschen … weit weg von den Monstern hier unten. Ihre Hoffnung eine neue Heimat zu finden, war so groß, dass sie sie schließlich ihr Leben gekostet hat…“
„Wovon redest du da?“, nutzte ich die Gelegenheit einer Pause um zu fragen. „Was hatte sie bei radioaktiver Strahlung zu suchen?“
„Atomare Sprengsätze.“, antwortete er sofort. „Die brauchten wir um die 3E dazu zu bringen das Schiff zu vergrößern.“
„Was für ein Schiff? Und was ist 3E?“
„Die Erdevakuierungseinheit.“, antwortete er, ohne dass ich sagen konnte, auf welche meiner Fragen er geantwortet hatte. Aber ich konnte es mir denken - ich bin ja nicht blöd. Erd-Evakuierungs-Einheit. Doch was das überhaupt war, wusste ich nicht. „Eine selbst ernannte Behörde, die es sich zum Ziel gemacht hat die Menschen umzusiedeln. Weit weg von den Untoten. Nur wollten sie nur bestimmte Leute mitnehmen. Und das war der Grund warum wir die Sprengköpfe brauchten. Wir hatten sie soweit das Schiff zu vergrößern. Aber um es dann in Gang zu kriegen brauchten wir mehr Sprengkraft.“ Er musste in meinen Augen oder meinem Gesicht sehen, dass ich ihm immer noch nicht ganz folgen konnte. „Es ist ein Raumschiff, John. Wir verlassen die Erde.“
Noch so ein Schockmoment übersteh ich heute nicht mehr, dachte ich. Erst die erschreckende Nachricht von Lanas Tod, und jetzt das hier. Die Erde verlassen?! Wie soll das denn gehen?
„Ich könnte dich mitnehmen.“, sagte er, sah mich aber nicht mehr an. Er starrte wieder über das Brachland. „Tray und Sarah auch. Wenn ihr wollt.“
„Was?“
„Weil ich eine Verwandtschaft zu euch nachweisen kann, könnte ich euch mitnehmen. Aber sonst niemanden. Also…“
Rae.
„Selbst wenn ihr heiraten würdet, könnte sie nicht mitkommen. Die Ehe muss seit mindestens sechs Monaten nachweisbar bestehen, sagt die 3E.“, erklärte er mir, als hätte er meine Gedanken gelesen. Was er natürlich konnte. Als Telepath. „Sofort als ich ihr begegnet bin, hab ich mir gedacht, dass du sie nicht zurücklassen würdest. Mit Lana wäre es mir auch nicht anders gegangen.“ Dann schweifte er wieder ab. „Sie starb bei Sonnenaufgang … an einem Strand mit nichts als der endlose Himmel und das Meer vor uns … sie lag in meinen Armen.“ Er hielt seine Arme so, als würde er eine Person in seinen Armen halten. Seinen Kopf neigte er zur Seite. „Ihr Kopf sackte genau hier zusammen.“
Erstarrt beobachtete ich ihn, darauf bedacht keinen Mucks von mir zu geben. Nach einer Minute fing er sich wieder, kramte wieder in seiner Jackentasche und zog die Schachtel mit seinen Zigaretten heraus. Mit einem aufflammenden Streichholz zündete er sie an, während er schon daran zog. Er musste wirklich süchtig danach sein, wenn er es kaum erwarten konnte bis er den ersten Rauch inhalieren konnte. Dann hauchte er wieder eine Rauchwolke aus.
„Vielleicht hätte ich nicht fragen sollen ob ihr mitkommen wollt.“, Dave drehte sich wieder zu mir um. „Aber ich hielt es für meine Pflicht. Immerhin ist Blut dicker als Wasser.“ Er grinste mich ausdruckslos an. Dann kam wirkliche Freude durch, die sogar seine Augen erreichte. „Erinnerst du dich noch an Weihnachten?“
„Äh, ja?“, antwortete ich verdutzt. Ich hatte diesen Feiertag nie zelebriert. Und mein Vater hatte es nur in seiner frühen Kindheit erfahren. Aber ich wusste was Weihnachten war. Genauso gut wie Dave. Doch worauf er hinaus wollte, konnte ich nicht absehen.
„Ich hab euch Geschenke mitgebracht.“, sagte er und zog noch einmal an seiner Zigarette. „Sie wurden schon irgendwo hier verstaut. Waffen, Munition, medizinisches Material, Konserven und Saatgut – ich wusste nicht, ob ihr so etwas wirklich gebrauchen könnt, daher hab ich es einfach mal mitgebracht.“, sagte er und zuckte mit den Schultern.
Er behielt die brennende Zigarette in seinem Mund und kramte wieder in seinen Taschen. „Wo is´es denn?“ Dann fand er, was auch immer er gesucht hat, zog es aus einer Jackeninnentasche. Er hielt es mir hin. Einen Papierumschlag, wie ich ihn nur aus den Erinnerungen meiner Vorfahren kannte. Denn persönlich hatte ich nie einen gesehen.
Ich nahm den Umschlag und öffnete ihn. Etwas unsicher, was ich darin finden würde, wie ich zugeben musste. Der Inhalt war nicht mehr als ein Schlüssel-ähnliches Ding und ein beschriebenes Blatt Papier. Die Erklärung folgte auf dem Fuße.
„Das ist ein elektronischer Schlüssel. Für eine Truhe, die ich dir mitgebracht habe.“
„Eine Truhe?“, fragte ich.
„Mit allen Informationen, die ich über N-Corp. finden konnte.“
„Was? N-Corp.? Wieso?“
„Sie sind noch irgendwo da draußen, John. Nicht mal die Apokalypse konnte sie aufhalten.“, sagte er mit Kopfschütteln.
„Ist das dein Ernst? Wie kommst du darauf?“, fragte ich verwundert, verwirrt und neugierig zugleich.
„Es ist nur so ein Gefühl.“, sagte er schlicht. „Und ich wollte dich um einen Gefallen bitten. Da ich ja bald nicht mehr hier sein werde…“
„Was denn?“, fragte ich.
„Halt ein Auge offen. Vielleicht zeigen sich diese Schweine irgendwann wieder. Und dann sollte ihnen jemand von uns kräftig in den Arsch treten.“
Ich versprach es ihm. Fragte mich aber, warum er nicht einfach hier blieb um es selbst zu tun. Doch vermutlich glaubte er nicht wirklich daran, dass sich der Megakonzern, der die Apokalypse, die uns alle in die pure Hölle auf Erden brachte, noch einmal aufbäumen könnte. Dazu würde auch schon eine Menge gehören, da sie schließlich schon vor der Apokalypse so gut wie ausgemerzt waren. Der Rest dürfte in den Bunkern gestorben sein – wenn sie überhaupt in einen gekommen sind.
Unter vier Augen zeigte Dave mir, wie man die Truhe mit dem Schlüssel öffnete. Aber reinsehen wollte ich nicht. Jedenfalls jetzt nicht. Auf dem Blatt Papier standen Gebrauchsanweisungen der Truhe. Bei unserer Verabschiedung brachte ich es sogar über mich ihn zu umarmen, da ich wusste, dass ich ihn wohl niemals wieder sehen würde. Und erst dann sah ich, in welch einem modernen Auto er angereist ist. Es war nichts im Vergleich zu dem, womit wir fahren mussten. Aus schrotteilen zusammengebastelte Fortbewegungsmittel – die allerdings ganz gut funktionierten. Dave erzählte mir, dass er aus Australien mit einem riesigen Flugzeug gekommen ist. Ich war so kurz davor, mit ihm mitzufahren um es mir auch anzusehen. Doch auch ohne es zu sehen, war mir klar, dass er jetzt wohl ein bedeutender Mann dort sein musste.




1


Unter der Bettdecke war es so kuschlig warm, dass ich am liebsten den ganzen Tag hier liegen bleiben wollte. Und wenn ich mich zu Rae umdrehe, dann würde ich am liebsten aus dem Tag eine ganze Jahreszeit machen wollen. Aber das tat ich nicht. Ich schlug die Decke auf und spürte im selben Augenblick die kalte Luft im Zimmer auf meinen nackten Beinen. Auf der einen Seite war der plötzliche Temperaturabfall ein Schock. Doch auf der anderen Seite war es zugleich eine Erleichterung, eine Abkühlung zu der Hitze unter der Decke zu haben, die noch stetig zu steigen schien. Vorsichtig, darauf bedacht Rae nicht zu wecken, verließ ich unser gemeinsames Bett. Sie würde erst in einer halben Stunde aufwachen, um zu ihrer Schicht zu gehen. Diese halbe Stunde an schlaf wollte ich ihr nicht nehmen. Daher verzichtete ich auch auf einen Kuss. Wie ich es eigentlich jeden Morgen tat, weil ich so jeden Morgen so früh aufstand.
Leise verließ ich den Raum und machte mich im Badezimmer zurecht. Eine kurze Dusche – kalt, mir war warmes Wasser nicht so wichtig, also ließ ich es für die anderen übrig – eine kurze Rasur, da die letzte schon fast eine Woche her war und schnelle Mundhygiene, da ich im Laufe des Tages den Kuss für Rae nachholen würde, wenn ich mit meinen Tagesgeschäften fertig war. Meine Schuhe würde ich erst anziehen, wenn ich die Wohnungstür sicher hinter mir verschlossen hatte. So lief ich nicht Gefahr, Rae und Ivy doch noch zu wecken.
Heute würde mich meine erste Station des Tages zum Überwachungsraum führen, bevor ich meinen alten und besten Freund besuchen konnte.
So früh am Morgen waren im Grunde nur die Wachen der Nachtschicht auf den Beinen. Ich hatte mir schon oft überlegt die Leute der Nachtschicht zu reduzieren, da sie ohnehin nicht viel zu tun hatten, wenn der Großteil der Gemeinde schlief. Doch bisher hab ich es doch nicht getan. Ich hatte bislang einfach keinen Gedanken dafür, mir ein neues System auszudenken. Und überhaupt, wie sagte mein Vater immer so gerne: Vorsicht ist besser als Nachsicht. Und diesen Rat musste man einfach befolgen, wenn der Tod außerhalb dieser Mauern lauerte. Auch wenn wir mittlerweile Technik zur Überwachung der äußeren Perimeter beschäftigten, konnte nichts die wachsamen Augen eines Menschen vor Ort ersetzen. Vor allem, wenn sie die Lage sofort sichern konnten, indem sie die Untote Bedrohung mit ihren Gewehren dezimierten.
Quer über die Straße ging ich zum Osteingang des Hauptgebäudes. Schon seit einer Ewigkeit sind hier keine Autos mehr gefahren. Die Befahrung dieser kaum noch intakten Straße aus Beton ging zu etwa derselben Zeit unter wie die Zivilisation. Und unsere Autos fuhren nur bis zum alten Parkhaus an der Ecke der Felder. Wieso sollten sie auch weiter fahren, wenn der Eingang zur Gemeinde nur wenige Schritte weiter war?
Kaum war ich fünf Schritte vom Osteingang entfernt, öffnete sich dieser und zwei der mobilen Wachen spazierten heraus. Im Gegensatz zu den Wachen im Überwachungsraum, die die Außenmauer über die Kameras im Auge behielten, war es die Aufgabe der mobilen Wache öffentliche Streitereien daran zu hindern auszuarten, kriminelle Aktivitäten einzudämmen und Mängel in den Sicherheitsanlagen zu kontrollieren. Während sich die Streitereien im Zaum hielten und hauptsächlich dann auftraten, wenn die Leute tranken, blieben kriminelle Aktivitäten vollkommen aus. Die Gemeindemitglieder hatten entweder keinen Drang danach krumme Dinger zu drehen, oder sie wussten einfach, dass sie von mir ohnehin erwischt würden. Denn sollte es irgendwann Ungereimtheiten geben, ließ ich nicht locker und las die Gedanken der Bewohner so lange, bis ich den Schuldigen gefunden habe. Vielen war das nicht ganz geheuer, sodass sie sogar ein wenig Angst vor mir hatten.
Einer der beiden Wachen war Paul, einer meiner besten Freunde. Schon seit über zwanzig Jahren. Man konnte sich immer auf Paul verlassen. Auch darauf, dass er einer von der Sorte war, denen es nicht in den Sinn stand Krumme Dinger zu drehen. Seinen Job erledigte er stets gewissenhaft. Während einige der mobilen Wachen sich hin und wieder ablenken ließen oder gar ein Schläfchen riskierten, blieb er immer wach und kontrollierte in jeder seiner Schichten die Sicherheitsanlagen. Selbst wenn er dies schon tags zuvor getan hatte. Wie jede Nacht war er mit seiner Partnerin Ashley unterwegs, die er zu einer ebenso guten und ehrlichen Wache ausgebildet hat.
„Morgen, John.“, grüßte mich Paul beklommen. Er kannte meinen Tagesbeginn und ich wusste, dass er einer derjenigen war, der sich deshalb um mich sorgte.
Von Ashley erhielt ich nur ein grüßendes Kopfnicken. Viele der jungen Bewohner waren in meiner Gegenwart zurückhaltend. Ich weiß nicht ob es daran lag, dass sie Angst hatten. Oder daran, dass einfach respektvoll mir gegenüber sind. Ich verspürte auch nicht die geringste Motivation herauszufinden woran es wirklich lag.
„Morgen.“, grüßte ich beide so neutral wie möglich zurück und ging ohne anzuhalten weiter. Ich wollte eine Unterhaltung vermeiden. So früh am Morgen war einfach noch nicht dazu aufgelegt. Stillschweigend akzeptierten die beiden meine Scheu vor einer Unterhaltung. Auch wenn Paul dies nicht ohne Widerwillen gelang. Hinter meinem Rücken redete er mit Rae über mich. Sie berieten im kleinen Kreis, was sie gegen mein Morgenritual unternehmen konnten. Doch Rae verstand mich. Sie wusste, dass ich das einfach brauchte. Trotzdem machte sie sich sorgen. Da konnte unsere Tochter Ivy noch so sehr auf sie einreden, dass es mir gut ging.
Ivy wusste, dass das nicht die Wahrheit war. Noch immer gab ich mir die Schuld am Tod meines besten Freundes und damit auch am Selbstmord seiner noch so jungen Witwe. Die beiden hatten noch ein ganzes gemeinsames Leben vor sich und ich hab es ihnen genommen. Da half mir die Tatsache, dass ich es nicht mit Absicht tat auch nicht weiter. Ivy war auch ein Telepath, wie jeder, der meiner Familie entstammte – dessen Grund aber nur meine Familie, die nicht darüber sprach; N-Corp. Unterlagen, an die nur die wenigsten ran kamen oder interessiert waren; und Sam, der jetzt schon seit über zwanzig Jahren tot war; kannten – und so konnte sie es immerzu in meinen Gedanken lesen, wenn sie wollte. Mit ein bisschen Training ließ sich das Gedankenlesen auch abstellen.
Ich folgte den geschlängelten Gang des Hauptgebäudes, das früher einmal ein Einkaufszentrum war, das wir, als wir hier einzogen, ein wenig aufpoliert haben, zum Überwachungsraum. Charlie war an den Kamerabildschirmen positioniert. Zusammen mit Jude, der seit drei Jahren bei der Wache arbeiteten durfte. Charlie war der Schichtleiter der Nachtschicht. Wie Paul, war auch er ein hart arbeitender Wachmann, der seine Leute immerzu zur Wachsamkeit aufrief. In der Nachtschicht setzte ich nur die Aufmerksamsten und Tüchtigsten Leute ein. Nachts konnte man die Untoten selbstredend schlechter sehen. Da musste man aufmerksam und tüchtig sein. Erst recht, seit wir die Bewegungsmelder nicht mehr einsetzen konnten, weil es uns nicht länger möglich war sie zu reparieren.
„Hat sich Jodie gemeldet?“, fragte ich Charlie, noch immer in der Tür stehend.
„Du bist nicht der erste, der sich nach ihr erkundigt.“, antwortete er. Damit meinte er Nick, der Freund meiner kleinen Schwester Jodie. Halbschwester sollte ich wohl eher sagen. Sie war nämlich die Tochter der zweiten Frau meines Vaters. Doch Jodie fühlte sich eher an wie meine Tochter. Mein Vater starb, noch bevor sie geboren war, und so übernahm quasi ich die Rolle des Vaters und half Alexa, der zweiten Frau meines Vaters, meine kleine Schwester aufzuziehen. Nick war immer um Jodie besorgt, wenn sie unterwegs war. Ich nicht. Ich wusste genau, was das Mädchen drauf hatte. Weil sie die Tochter meines Vaters war, war natürlich auch sie ein Telepath. Und als Telepath konnte man sehr gut auf sich aufpassen, wenn man nur seine Sinne offen hielt.
„Schön, dass ich endlich eine positive Nachricht vermelden kann.“, sagte Charlie. „Sie hat sich gerade vor einer halben Stunde erst gemeldet. Ihrer Schätzung nach sind sie gegen Mittag wieder da.“
„Dann gab es keine Probleme?“, fragte ich noch einmal explizit. Er hätte es erwähnt, wenn etwas passiert wäre. Trotzdem musste ich noch einmal nachfragen um mein unruhiges Gewissen zu beruhigen.
„Nein.“, antwortete er etwas verwirrt. „Sie hat nichts erwähnt.“
„Gut.“, sagte ich und verließ den Raum ohne mich zu verabschieden.
Das Hauptgebäude verließ ich über einen anderen Weg, der mich durch den Südeingang heraus führte. Ich ging die rissige und bröckelnde Straße hinauf, Richtung Osten zum Baumgarten und durchschritt ihn. Hier wuchsen die verschiedensten Obstbäume, die uns ernährten. Apfel, Birne, Pflaum, auch Nüsse. Vor zwanzig Jahren wuchs hier noch kein Baum. Erst als wir hier her zogen taten wir alles, was in unserer Macht stand um hier etwas zum Wachsen zu bringen. Und es hat geholfen. Heute lag Sam in einem Grab, umringt von wunderschönen und vollen Bäumen, die sich im Herbst bunt verfärbten und im Frühling rosa Blüten trugen. Als ich Sam begrub wusste ich natürlich noch nicht, in welch einem Bild er würde liegen können – für immer zusammen mit seiner Liebsten an seiner Seite.

Anders als die anderen konnte ich spüren, dass in diesem Gebäude Untote waren. Sie lauerten gerne im Dunkeln. Doch manchmal wussten sie selbst nicht, was sie taten oder wo sie gerade waren. Ich wusste es einfach. Auch wenn diese Monster keine Gedanken hatten, aus denen ich etwas Brauchbares über sie erfahren hätte können. Einzig und allein der Schrei nach dem Stillen eines unbezwingbaren Hungers, der die einzige Empfindung war, die sie noch spürten, war daraus zu entnehmen. Manchmal, wenn ich ihnen so lauschte, bekam auch ich ein wenig Hunger. Natürlich würde ich deswegen nie einen Menschen anfallen und ein Stück von ihm abbeißen. Aber auf ein gutes Steak hätte ich dann doch schon mal Lust.
Ich nahm lediglich Sam mit in das Gebäude. Das Gelände war groß und es gab viel zu inspizieren und dezimieren. Wir mussten sicher gehen, dass wir hier ein unbehelligtes Leben aufbauen und führen konnten. Es sollte eine kleine Stadt werden, die Sicherheit versprach und zu Wachstum fähig war. Denn noch immer gab es Sklavenhändler und –halter, deren Sklaven wir befreien wollten. Und wir brauchten viel Platz um eine richtige Agrarwirtschaft aufzubauen, damit wir nicht mehr mit den jämmerlich improvisierten Treibhäusern auf dem Dach unseres jetzigen zu Hauses vorlieb nehmen mussten. Unser Leben sollte sich schlichtweg dramatisch ändern – verbessern. Nach all den grauen Jahren wurde es allmählich Zeit, dass sich unser Leben zum positiven ändert.
Mit meinem Gewehr und einer kleinen aber durchaus kräftigen Taschenlampe ging ich voran und betrat das Gebäude als Erster. Ob es einen Keller gab, konnte ich nicht sagen. Aber es war fünf Etagen hoch. Früher war es vielleicht mal höher, doch das war wohl schon lange her. Selbst die fünfte Etage war halbzerstört. Die Mauern waren nur noch ansatzweise zu erkennen. Nur vom Weiten hatte ich sie ausmachen können, als ich mit einem Fernglas die Ruinen nach Gebäuden absuchte, die sich zum Leben eignen könnten. Doch es machte nichts, dass nur der untere Teil des Gebäudes noch intakt war, solange es stabil genug war, dass wir darin wohnen konnten. Und um das herauszufinden waren wir hier. Wir mussten die Stabilität prüfen und das untote Ungeziefer beseitigen.
Der kräftige Schein der Taschenlampe zeigte mir den verdreckten Boden im Innern des Gebäudes. Überall lag Müll herum, den wir später wegräumen mussten, sollte es sich hier als Lebensfähig erweisen. Die Luft war dick von Staub und roch nach Verwesung, ein sicheres Zeichen dafür, dass die Zombies hier drinnen waren. Ich ließ den Taschenlampenstrahl weiter durch den Gang wandern und erblickte einen zerbrochenen Stuhl, einige zerstreute Papiere und Kartons, die längst nicht mehr in Form waren und einen verteilten Haufen Knochen. Ich konnte beim besten Willen nicht sagen, ob das ein toter Mensch war oder mehrere. Doch ich konnte drei Schädel erkennen. Vielleicht waren es wirklich nur drei Menschen gewesen, die hier ihren Tod gefunden hatten. Aber weiter wollte ich auch nicht mehr darüber nachdenken. Es deprimierte mich oft, wenn ich mit der Frage konfrontiert wurde, wie viele Menschen an dieser Stelle umgekommen waren und wie es geschehen war. Und diese Fragen, die dann in mir aufkamen, konnte ich einfach nicht aufhalten. Sie durchfluteten meine Gedanken und nahmen sie vollkommen für sich ein, sodass ich nichts anderes mehr denken konnte.
Sam und ich gingen tiefer in den Gang, in den uns die Eingangstür hinein geführt hatte, und wir untersuchten die Wände nach Türen. Zu weiteren Räumen musste dieser Gang uns ja irgendwann führen. Denn welchen Sinn sollte er sonst haben? Wir bemühten uns beim voranschleichen keine Geräusche zu machen, denn oftmals wurden die Zombies schon vom kleinsten unliebsamen Mucks aufgeschreckt. Dann liefen sie dem Geräusch entgegen, auf der Suche nach einer Möglichkeit vielleicht endlich diesmal ihren Hunger stillen zu können, was natürlich niemals der Fall sein würde. Die Türen, die uns zu weiteren Räumen führen sollten, trafen sich in der Mitte des Gebäudes, das von einem Gang durchzogen wurde, der wie ein Kreuz lag. Um zu sehen, was sich in der Dunkelheit der anderen Gänge verbarg, schwenkte ich das Licht erst in den Rechten, dann in den, der sich vor uns weiter erstreckte, und zu Letzt in den, links von uns. Überall bot sich uns dasselbe Bild wie aus dem ersten, aus dem wir gekommen sind. Bis auf die beiden Treppen in zwei der Gängen, die in das obere Geschoss führten.
Eine der Türen hing aus den Angeln. Eine zweite fehlte ganz. Diese beiden würden wir ersetzen müssen, wenn wir hier leben wollten. Aber die beiden übrigen waren noch gut in Schuss, soweit ich das beurteilen konnte. Zunächst durchsuchten wir den Raum mit der fehlenden Tür. Sie lag mitten im Raum, wie wir feststellen konnten, an einer vermoderten alten Couch gelehnt. Eine dicke Staubschicht schwärzte die Möbel, die unter dem Schein der Taschenlampe hervor kamen. Unsere Schritte wirbelten den Staub auf und er stieg in die Luft bis in unsere Nasen. Aber wir bemühten uns nicht zu Niesen. Jedenfalls solange nicht, bis wir den ersten Zombie gefunden hatten. Denn wenn wir ihn erledigen würden, würden wir mit unseren Gewehren schon genug Krach machen, sodass der Rest aufgescheucht wurde, wie ein Schwarm Bienen, der seine Königin beschützen wollte.
„Sieht doch gar nicht so schlecht aus, was?“, sagte Sam mit leiser Stimme, als er den Raum selbst inspizierte, während ich noch am Eingang stand und den Schein der Taschenlampe hindurch wandern ließ. „Die Wände scheinen noch stabil genug zu sein, das wir die nächsten fünfzig Jahre hier verbringen können.“, urteilte Sam.
„Lass uns mal keine voreiligen Schlüsse ziehen.“, sagte ich und trat weiter in den Raum ein. „Wir müssen uns erst jeden Raum genauer ansehen.“
Es war eindeutig, dass dieses Gebäude ein Wohnhaus war. Und dieses alleine war schon größer als unser jetziges zu Hause. Es würde sich in jedem Fall lohnen, wenn wir dieses Gebäude als lohnenswert erachten könnten. Das Mobiliar war zudem auch noch relativ gut in Schuss. Jedenfalls soweit, dass wir es mit ein bisschen Arbeit noch retten konnten, sodass es noch lange verwendet werden konnte. Die Wohnung hatte drei Schlafzimmer, ein Esszimmer, drei Badezimmer, eine Küche und das Wohnzimmer, in dem wir uns gerade befanden. Ob das Wasser noch richtig lief oder irgendwann wieder richtig laufen würde, müsse sich erst noch zeigen. Aber unsere Priorität war erst einmal, dass wir dieses Gebäude von Zombies reinigten.
Jede der Wohnungen sah aus wie die vorige – nur spiegelverkehrt. Und die Möbel waren natürlich auch andere. Komplett andere Modelle, die ganz anders im Raum aufgestellt waren. Die Luft hatte sich auch nicht geändert. Wenn wir hier fertig waren, mussten wir unbedingt die Fenster aufmachen. Mittlerweile fiel es mir schon schwer noch zu atmen. Der dicke Staub und der Verwesungsgeruch in der Luft konnten nicht gut für unsere Gesundheit sein. Und langsam bekam ich davon schon Kopfschmerzen. Ein Grund mehr die Sache schnell hinter sich zu bringen. Die ersten drei Wohnungen, die wir inspiziert hatten, waren Zombiefrei. Jeden Winkel und hinter jeder Ecke eines jeden Raumes hatten wir untersucht, aber glücklicherweise nichts entdeckt. Doch dieses Glück konnte nicht von Dauer sein. Der Rest unserer Mission würde wohl nicht so glimpflich verlaufen. Weshalb Vorsicht geboten war.
Langsam öffnete ich die Tür der vierten Wohnung. Anders als die Tür der dritten Wohnung, war diese nicht verschlossen. Wir hatten sie leise aufgeschraubt, weil wir nicht sicher sein konnten, ob sich dahinter einer der Untoten verbarg oder nicht. Doch diese Tür ließ sich ganz einfach auf schubsen. Nur das knarzen der Tür störte mich. Es machte nur unnötige Geräusche. Aber das war es nicht, was mich so sehr daran störte, dass ich zögerte bevor ich die Wohnung betrat. Sam ließ sich nicht beirren und trat ein. Als ich schließlich meinen Kopf hineinragte, war Sam bereits auf der anderen Seite des Raumes und klopfte die Wand ab um zu überprüfen ob sie stabil wirkte. Das tat sie.
Mein ungutes Gefühl ließ mich aber nicht los. Irgendwas stimmte hier nicht. War es vielleicht die Wand, die mich störte? War sie doch nicht so stabil wie sie zu wirken schien? Würde das Haus etwa jeden Moment einstürzen und uns beide unter Tonnen von Schutt für immer begraben? Oder…
Ich konnte diesen Gedanken noch nicht einmal anfangen zu denken, als ich schon das Stöhnen hörte, das aus einem der anderen Zimmer dieser Wohnung drang. Es war das hungrige und zugleich hohle Stöhnen, das tief aus dem Torso eines Untoten drang. Normalerweise würde ich jetzt mein Gewehr in den Anschlag nehmen und nach einem möglichen Ziel suchen, das meine Munition durchbohren könne. Doch bevor ich dieses Prozedere auch nur in Angriff nehmen konnte, stürmte eine Untote Gestalt aus einem der Schlafzimmer und nahm direkt Kurs auf Sam. Wie angewurzelt stand ich da und sah mit an, wie diese Kreatur, die wider die Natur noch irgendwie lebendig war, meinen besten Freund zu Boden riss. Sam kämpfte verzweifelt darum das Maul und vor allem die Zähne des stinkenden Geschöpfs von sich fern zu halten. Und ich konnte nichts weiter tun, als zu zusehen. Was war nur los mit mir?
„John! Scheiße!“, keuchte er angestrengt. „Hilf mir, verdammt!“
Ich schaffte es meine Starre abzuschütteln und einfach nur zu handeln, auch wenn es nur auf einer Notfallfrequenz lief, als ich mein Gewehr endlich in den Anschlag nahm, auf den Kopf des fauchenden und sabbernden Ungeheuers zielte und mein Abzugsfinger abdrückte. Drei Kugeln ließ ich los, die sich in Windeseile im Kopf des Untoten. Sein geronnenes Blut spritzte an die Wand hinter ihm und er ließ sich über Sam zusammenfallen. Schwer atmend verfiel ich sogleich wieder in eine Starre. Nur diesmal war es nicht der Schock, sondern das ängstliche Abwarten um zu sehen, ob Sam nun auch infiziert war.
Mit Mühe stemmte Sam das Untier von sich und kroch darunter hervor. Auch er atmete schwer. Sein Rücken war zu mir gedreht. Aber ich musste ihm auch gar nicht ins Gesicht sehen um sagen zu können, dass es schockverzerrt war. Er starrte den Zombie an, wie er im Dunkeln regungslos dalag. Ein Wesen, das früher einmal ein Mensch war, heute aber nur noch ein vom Hunger getriebenes Monster. Es hätte ihn infizieren können, sodass Sam auch zu so einem Ding geworden wäre… Oder hatte es das Biest schon geschafft ihn zu infizieren? War es schon zu spät? War der Sabber des Ungeheuers schon in seinem Mund gelangt?
„Sam?“ Ich traute mich gar nicht zu fragen. „Bist du okay?“
Er bewegte sich jetzt. Ich hörte ihn noch immer schwer atmen, als er sich aufrichtete. Mit seinem Gewehr zielte er aus der Hüfte auf den Zombie und feuerte eine Salve Kugeln über dessen Rücken. Dann warf er das Gewehr auf die Staubige Couch, womit er eine Menge Staub mehr durch die Luft wirbelte, und nahm das gewaltige Jagdmesser aus der Scheide an seinem Gürtel, legte es im Nacken des Biestes an und drückte es mit aller Gewalt, die er aus dem verbleibenden Adrenalin das noch durch seinen Körper gepumpt wurde, nieder. Der Kopf des Zombies war ab. Die einzige dauerhafte Lösung um einen Zombie endgültig außer Gefecht zu setzen. Dann starrte er auf das kopflose Wesen.
„Das war knapp.“, seufzte er ausgelaugt.
„Ja.“, gab ich ihm Recht. „Knapp.“
Damit erhielt ich endlich seine Aufmerksamkeit. Sam drehte sich zu mir um. Eine Welle der Wut schien mir entgegen zu wehen. „Knapp.“, sagte er. „Was zum Teufel war das gerade?“
Ich sagte nichts.
„Das Ding hätte mich fast erwischt!“, schrie er mich an. „Was war los mit dir? Du bist doch sonst immer derjenige, auf den man sich immer verlassen kann!“
Ich sagte noch immer nichts. Was sollte ich auch sagen? Ich wusste ja selbst nicht, was in mich gefahren war.
„Geht’s dir gut?“, brachte ich schließlich doch noch zusammen.
„Ja, verdammt.“, sagte er sauer, ließ mich dann aber in Ruhe.
Erleichtert atmete ich durch. Niemals hätte ich es mir verzeihen können, wenn ihm etwas zugestoßen wäre. Wenn er zu einem von ihnen geworden wäre. Es wäre meine Schuld gewesen. Weil ich nicht reagiert – oder so lange gebraucht habe, bis ich reagierte. Er war schon mein bester Freund, als wir noch Sklaven waren. Zusammen hatten wir uns oft vor unseren Sklavenhaltern versteckt, nachdem wir zusammen eine extra Mahlzeit gestohlen hatten. Und beinahe wäre es meine Schuld gewesen, dass ich diesen, meinen besten Freund verloren hätte.
„Argh!“, schrie Sam plötzlich auf, als er gerade die Wohnung wieder verlassen wollte.
Ich konnte gerade noch erkennen, wie ein anderer Zombie ihn ansprang und wieder zu Boden riss. Doch diesmal zögerte ich nicht. Diesmal eilte ich instinktiv auf den Zombie zu, der meinen besten Freund ans Leder wollte, zerrte ihn von ihm runter und nutzte den Schwung daraus um ihn gegen die gegenüberliegende Wand zu schleudern. Im selben Augenblick nahm ich die Pistole aus dem Halfter, das straff um mein Bein geschlungen war, und schoss ihm in den Kopf. Aber meine Arbeit war noch nicht erledigt. Wie Sam zuvor, nahm auch ich jetzt mein Jagdmesser und schnitt dem regungslosen Ungeheuer den Kopf ab. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich die ganze Zeit über meinen Atem angehalten hatte, den ich jetzt wieder entließ.
„Scheiße.“, jammerte Sam hinter mir. „John?“
Erschrocken drehte ich mich hastig um. Und was ich dort sah brach mir das Herz. Sam presste seine Hand auf eine blutige Wunde an seinem Nacken. Sein Gesicht, verzerrt weniger von Schmerz, als vom blanken Horror und Entsetzen. Und Angst. Angst, die mich auch packte. Der zweite Zombie hatte seine Zähne in Sam vergraben und ihn damit mit dem Virus, der ihn töten und wieder auferstehen lassen würde, infiziert.


2


Mum und Dad waren schon wach. Das allein verriet mir der Stand der Sonne, die in mein Zimmerfenster schien. Obwohl ich im Erdgeschoss wohnte, und jeder in mein Zimmer sehen konnte, schlief ich mit geöffneten Vorhängen. Ich wurde gerne von der aufgehenden Sonne aufgeweckt. Und das ging nun mal nicht, wenn sie von Gardienen ausgesperrt wurde. Es wurde also Zeit mich auch aus meinem Bett zu erheben. Auch wenn ich gegenwertig noch keinen Grund dazu hatte. Mein Vater hatte mir verboten schon zu arbeiten. Und wenn er es verbat, dann konnte ich nichts dagegen tun. So simpel es auch klang, es war wesentlich komplizierter. Als der Telepath, der er war, konnte er meine Gedanken insofern beeinflussen, bis ich gar nicht mehr daran dachte arbeiten gehen zu wollen. Doch dass es bei mir noch nicht so weit war, sagte mir, dass er lediglich ein einfaches Verbot verhängt hatte, als sei er ein einfacher Nicht-Telepath.
Heute war mal wieder ein sonniger Tag, was eher selten war. Die meiste Zeit wurde die Sonne von einer dichten Wolkenschicht verdrängt. Obwohl oft ein eisiger Wind durch die Lande zog, war es doch mehr oder weniger warm. Auch heute. Doch weil die Sonne schien, sollte es niemanden wundern, dass es warm war. Die Luft war trocken, was nicht auf baldigen Regen hoffen ließ. Überhaupt war Regen eine Seltenheit, weshalb wir die Felder, den Baumgarten und die Weide künstlich bewässerten. Daher mussten wir auch immer darauf achten, dass wir nicht zu viel Wasser verschwendeten. Zum Kochen reichte der Wasserhaushalt, der jedem Bewohner unserer Gemeinde von den Wasserwerktechnikern zugeschrieben wurde, allemal. Doch Duschen, war bei Sparsamkeit nur alle zwei Tage drinnen. Und so sehr ich mich immer anstrengte Wasser zu sparen, überschritt ich meinen Wasserhaushalt so gut wie immer. Nach einem langen Tag fühlte es sich einfach so gut an, wenn das warme Wasser über meinen nackten Körper lief, und ich wusste, dass der Schmutz und die Aktivitäten des Tages davon gespült wurden. Also duschte ich alle drei Tage im Hauptgebäude, in den Duschen die zur Trainingshalle gehörten. Dort war der Wasserhaushalt sogar ein wenig großzügiger bemessen. Denn wer für den Außeneinsatz, außerhalb der Mauern der Gemeinde, trainierte, hatte sich eine angenehme Dusche hinterher redlich verdient.
Mum wird schon auf ihrem Posten sein. Ihre Schicht hatte bestimmt schon vor einer Stunde angefangen. Nachdem ich mein Morgentraining absolviert und gefrühstückt habe, würde ich ihr und Carly, die gerade ihre Ausbildung zur Wache machte und mit meiner Mutter am Überwachungsposten, die die Außenmauer über Videoüberwachung im Auge behielt, festsaß, einen Kaffee bringen. Wir hatten nicht viel Kaffee in der Gemeinde, weil wir ihn nur in einem der Treibhäuser anbauten. Im Grunde reichte er nur soweit, dass jeder einzelne Bewohner der Gemeinde eine Tasse alle vier Tage bekam. Doch eine gute Nachricht für die Kaffeetrinker unter uns war, dass nicht alle das braune Gesöff runter bekamen. So bekamen die Kaffeesympathisanten jeden Tag eine Tasse davon.
Mein heutiges Morgentraining bestand lediglich aus Ausdauertraining. Vor dreißig Tagen wurde ich angeschossen, als wir beim Sammeln auf eine Bande gestoßen waren. Die Banden, die durch das Brachland zogen kannten keine Gesetze und keine Gnade. Alles was ihnen unterkam und noch lebte, wurde erst einmal abgemurkst und dann ausgeraubt. Doch die meisten töteten einen nicht einfach schnell und schmerzlos. Oft folterten sie ihre Opfer aus einer Laune heraus. Wir hatten eine Bewohnerin in der Gemeinde, die wir auf den Weg vor ihren Peinigern retten konnten. Annie war damals, glaube ich, ungefähr elf Jahre alt gewesen. Sie wurde aufgegabelt, als ich noch gar nicht geboren war. Man redete aus Respekt vor ihr nicht darüber, was ihr wiederfahren ist. Aber die Spuren an ihrem Körper sprachen für sich. Ihr fehlte ein Teil ihres kleinen Fingers an der linken Hand. Eine Narbe durchzog ihre Lippe und führte bis runter an ihren Hals. Von den Seelischen Narben wollte ich gar nicht erst anfangen. Obwohl es mir mein Vater strikt verboten hatte, habe ich als Kind hin und wieder die Gedanken der anderen gelesen. Irgendwie musste ich meine Fähigkeiten ja schulen. Jedenfalls hatte ich dabei mal einen Alptraum von Annie mitbekommen. Damals musste ich so in etwa acht Jahre alt gewesen sein. Und nachdem ich Annies Alptraum miterlebt hatte, wie einer ihrer Peiniger sich an ihr verging, sie sorgsam bei lebendigen Leib aufgeschnitten wurde und an allen möglichen Körperstellen verbrannt wurde, konnte ich eine Jahreszeit lang nicht mehr ruhig schlafen. Anfangs schrie ich mehrmals in der Nacht und konnte mich erst beruhigen, wenn meine Eltern den Rest der Nacht bei mir blieben. Ich hatte damals fast erwartet, dass mir mein Vater mächtig den Marsch blasen würde, aber er tat nichts dergleichen. Er legte nur ein beruhigendes Gefühl in meine Gedanken, dass mich bald zwar wieder alleine schlafen ließ, aber noch nicht vor Alpträumen beschützen konnte. Annies Seelenzustand war mir eine Lektion. Und seither habe ich niemandes Gedanken mehr gelesen – jedenfalls nicht von den viel älteren Bewohnern, lediglich von den Bewohnern, die hier den größten Teil ihres Lebens verbracht haben und damit Zeit gehabt haben glückliche Momente anzusammeln.
Eine unserer Regeln war, dass man die Gemeinde verletzt nicht verlassen durfte. Es war eine Sicherheitsmaßnahme, die über Leben und Tod entscheiden konnte. War man verletzt, stieg das Risiko unter Umständen von einem Zombie infiziert zu werden, oder die Infizierung eines anderen zu verschulden. Meinem Vater war das Wohl eines jeden Bewohners dieser Gemeinde sehr wichtig, weshalb er die Regeln hart verfocht. Nach einer Verletzung musste man eine halbe Jahreszeit warten, bis man wieder aus dem Tor treten durfte. Die Zeit sollte man zur Erholung aber auch zum Training nutzen. In einer Welt wie dieser in der wir lebten, musste man vor allem eine gute Fitness vorweisen können um zu überleben. Meine halbe Jahreszeit war zum Glück schon in zehn Tagen vorüber. Denn viel länger könnte ich es einfach nicht aushalten hier eingesperrt zu sein. Viele hielten es nicht aus. Die meisten, denen es so ging wie mir waren bei den Sklavenbefreiern, die mein Vater anführte, oder, wie ich, beim Jäger- und Sammlertrupp. Wir waren im Grunde die einzigen, die die Gemeinde verlassen durften. Der Rest verbrachte alle vier Jahreszeiten des Jahres in den sicheren Mauern unserer Zuflucht.
Als ich das Haus verließ, ging ich noch nicht gleich zum Hauptgebäude wo sich der Trainingsraum befand. Zuvor musste ich noch nach meinem Vater sehen. Ich kannte das Bild. Ich hatte es schon oft in meinem Leben gesehen. Denn solange ich denken konnte, gehörte es zum Morgenritual meines Vaters, sich erst nach dem Sicherheitsstatus zu erkundigen und dann eine Zeit lang am Grab seines besten Freundes zu verweilen. Seine Seele grämte sich mit furchtbaren Gewissensbissen, weil er sich die Schuld für den Tod seines Freundes gab. Viele machten sich sorgen um ihn, was ihn mindestens so sehr belastete, wie der Verlust seines Freundes. Auch meine Versuche ihnen zu versichern, dass es ihm gut ging, obwohl ich wusste, dass es eben nicht so war, hielten sie nicht davon ab hinter seinen Rücken darüber zu beraten, wie man ihm helfen könne. Es war eine durch und durch vertrackte Angelegenheit.
Bevor ich mein Lauftraining am Laufband im Trainingsraum begann, zog ich mich erst einmal in der Umkleidekabine, in der auch die Spinde der Wachleute waren, um. Die Wachleute, die Sklavenbefreier und die Jäger und Sammler, zu denen ich gehörte, lagerten ihre persönliche Ausrüstung in diesen Spinden. Dazu gehörten zum einen robuste aber vor allem bequeme Kleidung, in der man sich gut bewegen konnte, und die bevorzugten Waffen. In meinem Spind lagerte ich eine Pistole, ein Gewehr, ein Jagdmesser, ein kleineres Schnappmesser und eine Armbrust mit Bolzengürtel, den ich mir ums Bein band. Ich war gerne für alle möglichen Eventualitäten ausgerüstet. Eigentlich ging es den meisten so. Mein Vater zum Beispiel zog mit noch mehr Waffen durch das Brachland. Wahrscheinlich hatten wir einfach schon zu viel gesehen.
Wenn es nach mir ginge, hätte ich vor Tagen schon einen Fuß vor das Tor der Zuflucht gesetzt. Ich war längst wieder fit genug um wieder jagen und sammeln zu gehen. Aber meinem Vater brauchte man mit so etwas gar nicht erst kommen. Damit stieß man bei ihm nur auf taube Ohren. Selbst wenn ich ihm zeigen würde, dass ich auf dem Laufband eine gute Figur machte. Schmerzen hatte ich schon lange nicht mehr. Und das steife Gefühl in meinen Muskeln und Gliedern hatte ich auch überwunden. Ich konnte mich schon längst wieder geschmeidig wie ein Puma bewegen. Auch wenn ich zusammen mit Aaron oder Chris oder Cooper den Nahkampf übte – selbst wenn Aaron und Chris mich noch mit Samthandschuhen anfassten seit ich angeschossen worden bin, konnte ich darauf vertrauen, dass Cooper ernsthaft angriff. Cooper und ich hatten nicht unbedingt ein richtig freundschaftliches Verhältnis, was wohl darauf zurückzuführen war, dass er damals, als mein Vater einen neuen Teamleader für unser Team suchte, nachdem Stu alters- und gesundheitsbedingt den Posten aufgeben musste, und obwohl Cooper alters- und erfahrungsbedingt an der Reihe gewesen wäre, mich zum Teamleader bestimmt hatte, weil ich als Telepath ganz andere Qualitäten vorzuweisen hatte.
„Übertreib es nicht.“, hörte ich jemanden hinter mir sagen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass jemand herein gekommen wäre. Aber als ich in den Spiegel sah, dem ich auf meinem Laufband entgegenrannte ohne jemals voran zu kommen, erkannte ich Rick. Offenbar wollte er auch trainieren. Rick war nicht in erster Linie ein Jäger und Sammler. Eigentlich war er Mechaniker. Doch jedes Team musste neben einen Mechaniker auch einen Mediziner mitnehmen. Der eine war dafür da, dass man nicht wegen eines kleinen Schadens am Wagen, mit dem wir rausfuhren, mitten im Nirgendwo, was praktisch auf alles in jeder Richtung von unserer Zuflucht zutraf, fest saß. Und der andere sicherte eine schnelle Erste-Hilfe, falls jemand im Team verletzt worden war. Beide mussten natürlich auch in Fitness, Nahkampf und Waffen ausreichend geschult sein.
„Tu ich nich.“, sagte ich außer Atem. Ich hatte mittlerweile ein rasantes Tempo herangezogen und lief so als würde ich gerade einen Steilen Berg runterrennen, wenn nicht sogar fliegen.
Währende ich weiter rannte, setzte sich Rick an die Hanteln um seinen Bizeps aufzupumpen. Er war keiner von denen, die an nichts anderes denken konnten, als an die Antwort zu der Frage zu denken, wie sie ihren Bizeps noch weiter formen konnten. So jemanden hatten wir hier zwar, aber Rick war es nicht. Er war nur darauf bedacht ausreichend trainiert zu sein. Als Mechaniker konnte man ab und zu schon mal ein wenig extra Muskelkraft gebrauchen. Doch wenn man dann auch noch ins Brachland raus musste, war das dann sogar schon mehr von Nöten. Oft war es so, dass wir Möbel oder andere schwere Gegenstände versetzen mussten um an unsere Beute zu gelangen. Es waren auch schon mal größere abgebrochene Wandteile dabei, die beiseite geschafft werden mussten. Da war es nur von Vorteil, wenn man mit kräftigen Männern unterwegs war. Dazu zählten Rick, Chris und Cooper allemal. Aaron arbeitete noch daran. Und Luke hatte erst damit angefangen. Vor zwei Jahreszeiten ist Luke gerade erst sechzehn geworden und hat seine Ausbildung bei uns angefangen. Was Kyle anging, der zufällig Ricks Bruder war, er war nicht besonders erpicht darauf mit Gewichten zu trainieren. Brauchte er auch gar nicht. Als Mediziner musste er nur darauf achten, dass wir halbwegs gesund waren und er vor Zombies oder anderen Gefahren davon laufen konnte. Den Rest würden wir anderen schon übernehmen.
„Noch zehn Tage.“, sagte ich. „Dann komm ich hier endlich wieder raus.“
Das brachte Rick zum Lachen. „Ist es hier denn wirklich so schlimm für dich?“, fragte er.
„Ich hasse es nur hier eingesperrt zu sein.“, antwortete ich. „Das ist alles.“
Rick war noch am Trainieren, als ich das Laufband verließ um duschen zu gehen. Nach meinem Lauf fühlte ich mich so energiegeladen, dass ich gleich problemlos Bäume ausreißen könnte. Einen ganzen Wald könnte ich ausreißen. Nur noch zehn Tage, dachte ich, dann könnte ich hier endlich wieder raus und meine Energie vielleicht sogar an Zombies oder Banden auslassen. Und diesmal, würde ich mich ganz bestimmt nicht anschießen lassen. Es deprimierte mich einfach hier festzusitzen. Na gut, es war sicher in den Mauern unserer Kolonie. Aber ich mochte es einfach nicht eingesperrt zu sein. Wobei es mindestens genauso deprimierend ist, ständig dem Brachland ausgesetzt zu sein. Besonders wenn man daran dachte, dass all die Ruinen früher einmal Häuser und Gebäude waren, in denen es von lebenden Menschen nur so wimmelte. Jetzt waren sie leer und leblos und kurz davor endgültig zusammenzufallen. Grüne Gegenden gab es so gut wie gar nicht. Lediglich wilde und wuchernde Pflanzen, die meines Erachtens eher braun und verdorrt wirkten. Es heißt, da draußen gäbe es irgendwo Oasen, die wirklich satte, grüne Wiesen hatten und Seen umrankten. Aber so eine Oase hatte ich nie zu Gesicht bekommen. Das einzige, das in unserer Gegend dem gleich käme, war unsere Zuflucht. Nur dass es keinen See gab, den sich aber die ein oder anderen aber wünschten. Vor allem die Kinder, damit sie im See schwimmen und plantschen konnten. Aber auch einige Erwachsene wünschten sich einen See. Eine von ihnen war Norah. Sie war Ricks Mutter und praktisch unser Sherrif, der die Wachleute einteilte und, zusammen mit meinem Vater, der nahezu der Anführer unserer Kolonie war, über Bestrafungen für kriminelle Aktivitäten entschied. Außerdem kam sie mir gerade entgegen.
„Ich sagte doch bereits, alleine kann ich sowieso nichts entscheiden.“, sagte sie, als sie schnellen Schrittes an mir vorbei ging. Sie redete mit Kimba, die sich um den Baumgarten kümmerte und gerade versuchte mit Norah Schritt zu halten.
„Norah, bitte!“, flehte sie sie an. Doch Norah blieb hart. Ich hatte keine Ahnung, worum es zwischen ihnen ging – es interessierte mich auch nicht wirklich – aber es musste etwas ernstes sein. Kimba sah besorgt und wütend zugleich aus. Auf wen war sie wohl wütend?
Ich war die einzige in der Dusche für die Frauen. Bevor die Apokalypse eintrat, war unser Hauptgebäude mal so etwas wie ein Einkaufszentrum gewesen. Für unsere Zwecke haben wir dieses Zentrum aber ein wenig umfunktioniert. Die meisten ehemaligen Verkaufsräume in der oberen Etage wurden zu Treibhäusern umgebaut. Dort pflanzten wir Kräuter, Obst, Gemüse und Arzneipflanzen an, die wir nicht im Freien ziehen konnten. Hier unten im Erdgeschoss wurde alles Mögliche beherbergt. Das Krankenhaus, die Schule, die öffentliche Küche, die öffentlichen Schlafplätze und die Trainingsräume. Die Duschen waren früher einmal Toilettenräume, die von unseren Mechanikern und Technikern zu Duschen umfunktioniert wurden. Offene Duschen ohne Kabinen. Unter dem gleichen Geschlecht musste man nicht schüchtern sein.
Es dauerte ein paar Minuten bis sich das kalte Wasser in warmes verwandelte. Wenn man daran gewöhnt war wie ich, war es schon instinktiv, dass ich zuerst mit der Hand die Wärme des Wassers prüfte, bevor ich dem meinen ganzen Körper aussetzte. Als das Wasser schließlich für meine Verhältnisse warm genug war – für anderen wäre es wohl eher lauwarm – stellte ich mich unter den Duschkopf und ließ es einfach auf mich herabprasseln. Ich schloss die Augen und genoss das kribbelnde Gefühl auf meiner Haut, das vom Wasserstrahl heraufbeschworen wurde. Meine Haare waren in Windeseile nass. Blind griff ich nach der Seife, die sich auf einem Ablagegitter an der Wand befand. Wir stellten sie aus tierischen Fetten her und versahen sie mit Kräutern oder anderen duftenden Pflanzen. Diese hier roch nach Zitrone. Meinen gesamten Körper rieb ich mit der Seife ein und dann meine Haare, die ich einschäumte.
Als ich den Seifenschaum wieder ausspülte, hatte ich ein ungutes Gefühl beobachtet zu werden. Ich weiß nicht woran es lag, aber irgendwie spürte ich zwei Augen auf meinen Rücken gerichtet. Intuitiv weitete ich meine Gedanken aus und tastete den gesamten Raum ab, während ich wie eine Salzsäule unter dem Wasserstrahl stehen blieb. Mit meiner Telepathie überprüfte ich, ob sich jemand wirklich an mich heran geschlichen hatte. Doch ich konnte niemanden finden. Die nächsten Gedanken die ich fand, waren auf dem Gang außerhalb der Dusche. Arbeitende Bewohner, die emsig ihren Jobs nachgingen. Und Rick, der jetzt nicht mehr alleine im Trainingsraum trainierte. Aaron und Louie leisteten ihm nun Gesellschaft. Aber niemand war hier im Raum. Werde ich langsam verrückt? Wahrscheinlich war ich nur zu lange schon hier eingesperrt. Oder … vielleicht war es Jodie? Vielleicht war sie schon nah genug an unserer Kolonie dran, um telepathisch Kontakt zu uns aufzunehmen. Sie mussten bald wieder zurück sein. Denn seit zwei Tagen hatte ich nichts mehr von ihr empfangen können, obwohl ich es hin und wieder ausprobiert hatte. Doch auch jetzt, wo ich ihre Gegenwart spürte, konnte keine ihre Gedanken klar und deutlich auffangen. Es war, als ob sie durch einen dicken Schleier mit mir sprach. Oder versuchte sie mit Dad zu sprechen?
Schließlich hatte ich fertig geduscht und war von Kopf bis Fuß wieder blitze blank. Das würde sich später bei meiner Arbeit schon wieder ändern. Doch erst einmal ging ich zu den Spinden, die sich im Vorraum zu den Duschen befanden und wollte mich abtrocknen und wieder anziehen. Kaum hatte ich den Vorraum betreten erkannte ich, dass jemand auf der Bank in der Mitte des Raumes lag. Er wackelte vergnügt mit seinem Fuß und ich wusste sofort wer es war. Rick starrte die Decke an, seinen Kopf auf seinem Arm gelegt. Wann war er hier rein gekommen? Hatte ich ihn nicht gerade noch im Trainingsraum geortet?
„Dir ist bewusst, dass das die Dusche für die Frauen ist?“, fragte ich in einem beiläufigen Ton.
„Ja.“, sagte er übertrieben unschuldig und scherzhaft zugleich. „Ist mir klar.“ Er grinste, ohne mich anzusehen.
Mit nichts weiter als einem Handtuch um mich gewickelt, ging ich zu dem Spind in dem ich meine Klamotten gelagert hatte, während ich duschen war. Mir war durchaus bewusst, dass er mich würde beobachten, wenn ich mich anzog. Was sollte er sonst hier tun, wenn nicht um mich nackt zu sehen?
„Weißt du“, fing er an, als ich meine Haare durchbürstete, „für meinen Geschmack, hast du zu viel an.“ Jetzt grinste er mich direkt an. In seinen dunklen Augen konnte ich regelrecht sehen, was er mit mir vorhatte. Doch so einfach würde ich es ihm nicht machen. „Die Tür ist von innen abgeschlossen.“, sagte er, als er mich dabei beobachtete, wie ich einen verstohlenen Blick auf die Türe warf. Ich konnte mir einfach nicht erklären, was er immer mit mir anstellte. Jedes Mal nahm ich mir vor, ihn ein wenig schmoren zu lassen, wenn er mich wollte. Und jedes Mal konnte ich es einfach nicht durch ziehen. Dieses Mal war ich auch schon so gut wie Nackt. Nichts weiter als ein sehr knapp beschnittenes Handtuch zierte meinen immer noch feuchten Körper. Und obwohl er gerade trainiert hatte – oder gerade weil er gerade trainiert hatte – sah er einfach so sexy aus.
Ich sah ihn nicht an, sondern war zu meinem Spind gedreht, als ich mein Handtuch fallen ließ. Mit meinem peripheren Blick versuchte ich zu erkennen, wie er darauf reagierte. Doch ich konnte nicht wirklich viel erkenne, was mir einen Aufschluss darauf gab, ob es ihn erregte, was ich tat. Ich biss mir leicht auf meine untere Lippe, als ich ihn schließlich aufstehen hörte. Genau da wo ich war, blieb ich wie angewurzelt stehen, als ich seinen Körper hinter mir spürte. Sanft drückten sich seine Hüften gegen meinen Hintern. Prickeln fühlte ich an den Stellen, an denen seine Hände über meine Haut strichen. Seinen heißen Atem hauchte er mir in meinen Nacken und mein Puls nahm zu. Ich merkte wie meine Finger sich an meinen Spind fest krallten, bis meine Knöchel schon ganz weiß wurden. In meinen Gedanken flehte ich ihn an endlich Erbarmen mit meinem vor Verlangen brennenden Körper zu haben und seine Lippen endlich auf meine Haut zu legen. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis er meiner nicht geäußerte Bitte endlich nachkam und zärtlich meinen Nacken küsste.
Einer seiner Arme schlang sich um mich und drehte mich dann mit Schwung zu sich um. Für eine Sekunde sahen wir uns nur in die Augen. Seine waren so dunkel wie ein schwarzes Loch, in dem ich mich verlieren könnte. Unser beider Atem traf sich in den wenigen Zentimetern zwischen unseren Gesichtern und vermischte sich zu einem. Seine Hand berührte mein Gesicht an meiner Wange und glitt an meinem Körper hinab. Dort wo seine Hand meine Haut berührte, hinterließ er eine Straße der Ekstase. Ich wollte unbedingt mehr von ihm spüren. Was ich dann auch tat, als er mich hart und hungrig küsste. Er drückte mich gegen das kalte Metall der Spinde. Doch es war mir egal, solange ich einfach nur seine Lippen auf den meinen spürte. Dann packte er meinen Schenkel und schlang mein Bein um seinen eigenen Körper. Wir küssten uns so eine ganze Weile. Und es wurde immer heftiger und heißer, bis ich schließlich anfing ihm sein leicht verschwitztes Shirt auszog und dann auch anfing seine Trainingshose runter zu ziehen. Es dauerte nicht lange, bis wir beide vollkommen nackt waren und er mich hochhob. Gegen die Spinde gedrückt nahm er mich und hörte nicht auf, ehe wir beide vollauf befriedigt waren.
„Ich muss dann los.“, sagte er hinterher, als wir uns beide wieder anzogen. Es war eine kurze Nummer und hatte auch nicht mehr zu bedeuten als unseren bisherigen. „Ich komme jetzt schon zu spät. Und ich muss noch duschen.“ Rick hatte kaum sein Shirt über seinen Kopf gezogen, als er auch schon die Tür zum Gang öffnete. Es wirkte oft so, als sei es ihm gleichgültig, aber wir hatten abgemacht, dass das zwischen uns wirklich nur uns anging, weshalb wir es nicht an die große Glocke hängen wollten und für uns behalten wollten. Immerhin war es ja nichts weiter als Sex.
Ich war gerade dabei meine Haare noch einmal vor dem Spiegel an der Wand durch zu bürsten, als sich die Türe erneut öffnete. Um ein Haar hätte ich gedacht, dass er aus irgendeinem Grund zurückgekommen war. Aber es war nur Lili. Sie war eine der Wächter in der Nachtschicht, die soweit mein Gefühl mich nicht trügt, schon seit mindestens zwei Stunden vorüber war.
„Oh nein.“, sagte sie, als sie den Raum betreten hatte. „Nicht du auch noch.“
„Was denn?“, fragte ich.
„Wie kann man so früh am Morgen nur schon so gut gelaunt sein?“, fragte sie genervt.
Eine leise Vermutung hatte ich ja. Aber die ging sie nichts an. Nach einem Training, das mich nur weiter mit Energie aufgeladen hatte, gab es nichts Besseres als Sex, um sich danach fantastisch zu fühlen.
„Erst kommt mir Rick grinsend entgegen und dann bist da auch noch du.“, fuhr sie fort. „Und ich hatte eine echt ätzende Nacht.“
Rick hat gegrinst? Etwa wegen mir?
„Was war denn so ätzend an deiner Nacht?“, fragte ich nur teilweise interessiert.
„Im Grunde verlief meine Schicht ganz in Ordnung.“, berichtete sie mir, als sie sich aus ihren Stiefeln schälte. „Aber gegen Ende gab es dann Ärger in der Bar. Da mussten Louie und ich dann eingreifen.“ Louie war ihr Partner bei ihrer Patrouillier durch die Kolonie. Ich persönlich konnte ihn nicht besonders gut leiden. Aber er mich auch nicht.
Die Bar war die einzige Möglichkeit hier an Alkohol zu kommen. Wir hatten strenge Regeln was solche Mittel anging. Der Missbrauch von Medikamenten war strengstens verboten. Und nur unter einer nachdrücklichen Aufsicht eines Mediziners gestattet. Das galt für jede Art von Medikament. Ob man davon süchtig werden konnte oder nicht, war dabei vollkommen egal. Alkohol war da etwas anderes. Natürlich konnte man davon auch abhängig werden. Aber so ein gemütlicher feuchtfröhlicher Abend konnte mal ganz entspannend sein, wenn man in einer Welt lebte, in der man sich nur gegen Zombies und Banden wehren konnte. Um keine Alkoholiker zu riskieren, wurde von den Barkeepern besonders darauf geachtet, wie viel Alkohol ein Trinker trank. Ist man bei einer bestimmten Menge Alkohol angelangt, wurde einem einfach nichts mehr ausgeschenkt. Da konnte es schon einmal zu Auseinandersetzungen – mal größer und mal kleiner – kommen, wenn ein angetrunkener Trinker mehr wollte, aber nichts mehr bekam.
„Was war denn in der Bar los?“, fragte ich nur um ein wenig Konversation zu machen.
„Ach, zwei so Idioten mussten sich da nur wieder an die Gurgel gehen.“, erklärte sie mir. „Tim und Judd. Die beiden sitzen jetzt erst einmal im Knast, bis sie ihren Rausch ausgeschlafen haben.“
Tim. Das erklärte auch, was Kimba von Norah wollte. Bestimmt wollte sie sie bequatschen, damit Tim noch mit einem blauen Auge davon kam. Tim und Kimba waren seit gut eineinhalb Jahren zusammen. Die meisten rätselten schon, wann sie nun endlich heiraten würden. Ich glaube sogar, es wurden bereits Wetten abgeschlossen.
Als Lili zu den Duschen ging und eine davon aufdrehte, ging ich raus, weil mein Magen knurrend nach einem Frühstück verlangte. Weil ich selbst nicht kochte, ging ich in die öffentliche Küche. Dort konnte jeder essen gehen, der Lust dazu hatte. Das Essen war gut, aber aufgrund der Tatsache, dass viele der Bewohner dort aßen, und daher immer viel los war, fehlte die gewisse Note der Liebe in den Mahlzeiten. Aber das machte mir persönlich nichts aus. Wie immer, wenn ich hier aß, bestellte ich mir das Frühstückstagesmenü, ohne zu wissen was es überhaupt war. Ich ließ mich gerne überraschen. An meinem Lieblingsplatz wartete ich darauf, dass meine Mahlzeit fertig wurde. Es war der einsamste Tisch im Raum, wenn man davon absah, dass es ein Tisch für vier Personen war. Auf dem Platz mir gegenüber waren zwei Namen in das helle und alte Holz eingeritzt. Jamie und Sully. Ihre Namen standen dort schon seit mindestens fünfzehn Jahren und war eine Dokumentation des Anfangs ihrer Beziehung. Jamie ist Wache in der Schicht meiner Mutter und Sully war Mechaniker im Außendienst, wie Rick. Er war gerade mit Jodie und ihrem Aufklärungsteam unterwegs um Informationen über eine Sklavenhaltersiedlung zu gewinnen, die mein Vater stürmen wollte. Jamie und Sully waren jetzt schon seit sieben Jahren verheiratet und hatten zwei kleine Jungs, weshalb nur ein Elternteil die Kolonie verlassen durfte. Falls Sully auf einer seiner Missionen etwas passieren würde, hatten sie immerhin noch ihre Mutter, die als einfache Wache, ohnehin nicht ohne weiteres die Kolonie verlassen durfte.
Das Frühstückstagesmenü heute, war Spiegelei und Speck auf getoastetem Brot. Zufrieden schlang ich es runter, genoss es aber. Nur selten gab es gebratenen Speck zum Frühstück. Momentan hatten wir nämlich einen Engpass bei den Schweinen. Doch die Viehbetreuer meinten, dass sich das schon bald wieder ändern würde. Nachdem ich fertig war, besorgte ich mir zwei Becher Kaffee, die ich Mum und Carly bringen würde.


3


Die Kugel steckte noch in meinem Bauch, als wir nach Hause kamen. Kyle hatte nicht die notwendigen Mittel um die Kugel vor Ort zu entfernen, als ich damals angeschossen wurde. Er hatte es gerade so geschafft die Blutung zu stillen, bis Marnie und Lester, die erfahrensten Mediziner mich operieren konnten. Ich dachte, ich würde sterben. Das letzte, bevor ich damals wegen des Blutverlustes bewusstlos geworden bin war, dass mir Rick zuflüsterte, sie könnten schon die Mauern der Siedlung sehen. Über Funk hatten sie zu Hause schon bescheid gesagt, dass ich verletzt ankommen würde und eine Notfall Operation von Nöten war. Aber mein Vater wusste sofort, als ich angeschossen wurde, dass etwas nicht stimmte. Obwohl er gar nicht in der Nähe war. Als ich damals nach der Narkose aufgewacht bin, dachte er gerade an meinem Bett daran, wie furchtbare Angst er um mich hatte. Um meine Mutter bis zu meinem Eintreffen im Dunkel über meinen Zustand zu lassen, damit sie sich nicht sorgte, war er ihr bis zu unserer Ankunft aus dem Weg gegangen. Erst da hatte ich verstanden, dass mein Vater im Geiste immer bei mir war, wenn ich mich auf einen Einsatz in das Brachland begab. Natürlich wusste ich, dass er sich wohl während meiner Abwesenheit sorgen würde, genau wie es meine Mutter tat. Oder Nick, wenn Jodie unterwegs war. Aber ich hatte nicht daran gedacht, dass er mich telepathisch beobachtete.
Zehn Tage lag ich im Krankenhaus gefesselt am Bett. Ich durfte nur mit Hilfe aufstehen und ein paar Schritte gehen. Der Toilettengang wurde mir von einem Katheter abgenommen. Zumindest die ersten Tage. Meine Mutter verbrachte ihre Freizeit, neben ihrer Wachschicht und dem Schlafen, zu der ich sie gezwungen hatte – wovon nur mein Vater wusste, dass ich es getan habe – an meinem Bett. Dad leistete uns oft auch Gesellschaft, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, die Kolonie am Laufen zu halten. Was mich daran positiv überraschte war, dass er seine täglichen Besuche an Sams Grab extrem verkürzte. Stattdessen verbrachte er die Zeit bei mir und Mum. Wahrscheinlich war seine Depression wegen Sam doch nicht so schlimm, wie ich immer fürchtete. Er brauchte nur etwas, das ihn daraus holte. Nur musste es vielleicht mehr sein, als nur den möglichen Verlust seiner Tochter.
Rick hatte mich zweimal während meines Aufenthalts im Krankenhaus besucht. Jedenfalls glaubte ich, dass es so war. Beim ersten Mal kam er zusammen mit Kyle herein, der nach meinem Zustand am Tag nach meiner Operation sehen wollte. Rick klebte an Kyles Fersen und sagte kein Wort zu mir. Er sah mich nur an. Und als Kyle mir den Verband wechselte, stellte sich Rick an das Fenster und starrte heraus, bis Kyle zum nächsten Patienten ging (Larry, der älteste Bewohner unserer Kolonie, hatten damals irgendwelche Probleme mit seiner Lunge, wovon er sich aber bald wieder erholt hatte – noch bevor ich entlassen wurde). Rick folgte ihm weiter. Das zweite Mal war merkwürdig. Ich war mir nicht mal sicher, ob es wirklich passiert war, oder einfach nur ein Traum gewesen ist. Eines Nachts, ich glaube es war die vierte nach meiner Operation, wachte ich plötzlich auf und dachte, ich hätte Rick im Dunkeln an meinem Bett sitzen sehen.
Ich musste oft daran denken. Konnte Rick aber in den letzten vierzig Tagen einfach nicht darauf ansprechen. Obwohl wir oft Zeit miteinander verbracht haben. Nur hatten wir dabei ganz andere Dinge im Kopf als reden.
Solange ich noch nicht wieder in den Außeneinsatz durfte musste ich mich möglichst anderweitig nützlich machen – genau wie die anderen aus meinem Team, die ohne mich auch nicht raus durften. Ein Inkomplettes Team durfte die Mauern nicht verlassen. Rick arbeitete währenddessen Vollzeit als Mechaniker, was er auch tat, wenn wir nicht gerade unterwegs waren. Kyle arbeitete Vollzeit als Mediziner. Doch weil die übrigen drei selbst auch nicht ausgelastet waren, half er freiwillig bei der Zucht der Arzneipflanzen und verarbeitete sie zu Medizin. Chris und Cooper wurden zeitweise bei der Feldarbeit und der Viehbetreuung eingesetzt. Weil Luke noch am Anfang seiner Ausbildung stand, sollte er wenigstens etwas Ähnliches tun, weshalb er zusammen mit Aaron das Team der Wachen verstärkte. Ich wurde von meinem Vater höchst persönlich zu den Treibhäusern beordert sobald ich wieder gesund genug war. Er fasste mich seit meinem Unfall mit Samt Handschuhen an. Vermutlich würde ihm in zehn Tagen schon wieder ein Grund einfallen, der mich daran hinderte wieder auf einen Außeneinsatz zu gehen.
Doch es war auch möglich, dass ich mich darin irrte. Es konnte auch gut sein, dass der eigentliche Grund, warum mein Vater mich persönlich zu den Treibhäusern steckte, der war, dass er Eric, den Hauptverantwortlichen für die Treibhäuser, eines auswischen wollte. Das Verhältnis der beiden war nicht das Beste. Die Hauptverantwortlichen der verschiedenen Abteilungen (Wache, Außeneinsatz, Mediziner, Lehrer, Techniker und Mechaniker und Viehbetreuer und Argrararbeiter) berieten sich bei wichtigen Entscheidungen oft mit meinem Vater. Eric, der die Viehbetreuer und Argraragbeiter vertrat, und Mark, der die Lehrer vertrat, stellten immer alles in Frage, was mein Vater von sich gab. Bei Eric vermutete ich, dass es wegen einer Antipathie war. Doch bei Mark war es eher die Vorsicht, die alles hinterfragte. Aber was es auch war, die beiden hielten oft zusammen. Und wegen der Antipathie zwischen Eric und Dad saß ich nun zwischen den Fronten. Dad schickte mich hier her und Eric drückte mich Fred aufs Auge. Damit er sich nicht um mich kümmern musste. Fred machte gerade seine Ausbildung in den Treibhäusern. Er war erst zwölf. Ich arbeitete also für einen zwölfjährigen, der seine Ausbildung vor einer Jahreszeit angefangen hatte.
Im Grunde lief ich dem Jungen nur hinterher, stocherte mit den Gartengeräten in den Pflanzen herum und ließ ihn die ganze Arbeit machen. Ich hatte absolut kein Interesse daran mich mit dem Wachstum und der Pflege der Pflanzen auseinander zu setzen und machte auch keinen Hehl daraus. Soweit ich sagen konnte, machte es Fred noch nicht einmal etwas aus, dass ich ihn mit der Arbeit alleine ließ. Er fand es unheimlich klasse so etwas Zeit mit mir zu verbringen. Manche Bewohner waren fasziniert von der Tatsache, dass mein Vater, meine beiden Tanten, mein Cousin und ich Telepathen waren. Andere wiederum traten uns eher skeptisch entgegen. Eric, zum Beispiel konnte Dad wegen eben dieser Tatsache nicht ausstehen. Ich glaube, er hat einfach nur Angst vor uns. Fred gehörte zu der anderen Sorte. Er fragte mich während unserer gemeinsamen Arbeit, was ich alles konnte und was nicht. So gut ich konnte antwortete ich ihm ausführlich wie möglich. Das war das mindeste dafür, dass er die ganze Arbeit alleine erledigte.
„Liest du gerade meine Gedanken?“, fragte mich Fred, als wir gerade in einem der Treibhäuser waren, in denen wir Arzneipflanzen züchteten.
„Nein.“, sagte ich. Die Frage stellte er mir fast jeden Tag. Und jeden Tag gab ich ihm dieselbe Antwort. „Das darf ich nicht.“ Mein Vater hatte mir schon als Kind nahegelegt, dass es sich nicht gehörte, die Gedanken anderer ohne ihre ausdrückliche Zustimmung zu lesen. Oft, wenn er mich dabei erwischt hatte, wie ich mich als Kind darüber hinweg setzte, hatte er mich auf seine ganz eigene Weise bestraft.
„Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du niemals jemandes Gedanken liest.“, sagte Fred.
„Tu ich nicht.“, versicherte ich ihm. „Die Regeln meines Vaters sind da strikt dagegen.“
Kopfschüttelnd widmete sich Fred wieder der Pflege der Pflanzen. Er hatte bei meinem Dienstantritt irgendwas über einen Schädlingsbefall gefaselt, den er in den Griff kriegen muss, wenn er die gesamte Ernte dieses Treibhauses nicht verlieren will. Ich würde ihm ja helfen. Aber vermutlich würde ich ihm nur im Weg umhergehen. Daher beschränkte ich mich lediglich auf das Reichen von Sachen. Mal eine Pflanzenschere, wenn er eine Pflanze stutzen musste. Eine Gießkanne, die neben Wasser auch irgendein Mittel enthielt, dass den Schädlingen nicht besonders Gut bekam. Oder einfach sein Mittagessen. Fred machte nie eine Mittagspause. Er aß sein Essen immer zwischendurch. Vermutlich, weil er keine Freunde hatte, mit denen er sich mittags treffen konnte. Fred war der einzige Junge in seinem Alter. Die nächst älteren oder jüngeren Jungs waren fünf Jahre älter oder jünger. Sonst gab es nur Mädchen in seinem Alter, die er aber noch mied. Aber das würde sich vermutlich bald ändern, wenn er in die Pubertät kam.
Was Fred mir noch anvertraute war, dass ich die braunen, verdorrten Blätter der Pflanzen abzupften durfte. Das tat ich jetzt auch. Ein Blatt nach dem anderen zupfte ich ab. Mein Blick wanderte dabei aus dem Fenster, dass mir eine Aussicht auf die Felder ermöglichte. Ich beobachtete Chris, der während der Arbeit mit Lenny herumalberte. Sie rauften miteinander und warfen sich gegenseitig in den Dreck der Felder. Das würde ihnen bald ärger einbringen. Denn wenn man hier keinen Spaß verstand, dann wenn man mit der Sicherheit der Kolonie Späße trieb oder mit den Nahrungsmitteln. Schließlich hörten sie plötzlich auf, als hätte sie jemand ermahnt. Aber ich erkannte bald, dass das nicht der Fall war. Ihre, wie meine Aufmerksamkeit wanderte zum Tor der Kolonie, wo sich etwas tat. Zwei Wachen der Morgenschicht positionierten sich links und rechts neben dem Tor. Ein sicheres Zeichen dafür, dass es gleich geöffnet wurde. Dann kamen zwei weitere Wachen angelaufen und kletterten auf die Mauer, um das Tor zu sichern, damit nicht irgendwie ein Zombie als blinder Passagier hereinkam. Am Horizont, etwa zwei Kilometer vor den Mauern der Kolonie, sah ich eine aufwirbelnde Staubwolke. Jodie und die anderen kamen nach drei Tagen endlich wieder nach Hause, was ich auch Fred mitteilte.
„Echt?“, sagte er, stellte sich neben mich auf und starrte zum selben Punkt am Horizont durch das Fenster. „Lass mal sehen.“
Das Tor öffnete sich schon, als sie noch mindestens einen Kilometer weit weg waren und langsamer wurden. Die schweren Türenflügel, die aus Stahl gefertigt waren, wurden manuell aufgestemmt. Ich hatte sie noch nie persönlich aufgestemmt. Aber vom bloßen zusehen wusste ich, dass sie extrem schwer sein mussten. Immerhin mussten sie einiges aushalten müssen, wenn sie uns vor Zombies und anderen Gefahren beschützen sollten. Es war immer etwas Besonderes, wenn das Tor geöffnet wurde. Weshalb dieses Ereignis hin und wieder einige Schaulustige anzog. Ich zählte bereits drei von ihnen, die gekommen waren um die Rückkehrer in Empfang zu nehmen. Jamie, die Frau von Sully, der mit Jodie mitgefahren war. Sie hielt ihren gemeinsamen und jüngeren Sohn Bobbie auf dem Arm. Craig, Jamies Bruder und Doris Mann, die auch mitgefahren war, stand neben Jamie und versuchte ihre Sorgen, die ihr sichtlich im Gesicht standen, zu zerstreuen. Doch wäre wirklich etwas Ernstes geschehen, würden Gerüchte darüber schon durch die Kolonie schwirren. Und da ich nichts gehört hatte, war ich davon überzeugt, dass die Fünf wohlauf waren.
„Komm, lass uns auch runter gehen.“, sagte Fred, als wir beobachtete, wie noch vier andere zum Tor eilten. Darunter waren auch Carla und Nina, Brads Töchter. Und während Lenny auch langsam und neugierig auf das Tor zu schlenderte, lief Chris in die entgegengesetzte Richtung. Mir wurde klar, dass er Dad holen würde. Aber wahrscheinlich war dieser schon auf dem Weg. Er würde wissen, wenn jemand das Tor öffnete. Darauf gab er immer aus Sicherheitsgründen Acht.
Fred und ich ließen unsere Arbeit stehen und liegen und machten uns schnellen Schrittes auf den Weg runter zum Tor. Wir begegneten Eric auf dem Gang, der uns entgegen kam. Normalerweise sah er es nicht gern, wenn man seine Arbeit einfach ungetan stehen ließ. Doch heute sagte er keinen Ton. Aus welchem Grund auch immer. Wahrscheinlich würde er selbst auch gleich runter gehen. Oder er war auf dem Weg in das Treibhaus, in dem Fred und ich gerade waren, um von dort aus alles zu beobachten.
Wir liefen über die Straße zum alten Parkhaus, in das Jodie und ihre Begleiter gefahren sind. Dad trat zur selben Zeit mit Chris ein, wie Fred und ich. Der Truck, mit dem die Rückkehrer durch das Brachland zu ihrem Ziel gefahren waren, war bereits geöffnet und sie waren schon alle heraus geklettert. Brad umarmte seine Töchter und gab seiner Frau einen Kuss. Auch die anderen begrüßten diejenigen, die wegen ihnen gekommen waren. Jodie aber reckte nur den Hals und hielt Ausschau nach Nick, ihrem Freund, der noch nicht aufgetaucht war. Sie nickte Dad nur zu und meinte auf seine Frage hin, dass es ihr gut ginge und nichts weiter passiert war. Mich bemerkte sie kaum auf ihrer Suche nach Nick.
„Ihr könnt euch erst mal schlafen legen.“, sagte Dad zu Brad, Doris, Sully und Marty, die wirklich übermüdet aussahen. „Jodie kann mir erzählen was ihr vorgefunden habt.“ Daraufhin sah er Jodie vielsagend an, die ihn nur sauer an seufzte.
Damit löste sich die Menge schnell auf. Fragen nach dem, was sie entdeckt hatten, wurden ohnehin nicht beantwortet. Dad sah es nicht gern, wenn die Leute zu viel wussten, ehe er sich nicht darauf vorbereiten konnte. Wenn die Lage aussichtslos oder nur knifflig wirkte, hatte er gerne eine Lösung parat, die ihnen Hoffnung gab. Er beschützte seine Leute gerne. Auch wenn es hieß, dass er sich tagelang das Hirn zermartern müsste. Es wäre vielleicht zu viel gesagt, wenn wir wie eine große Familie wären. Aber wir waren durch und durch seine Leute. Als mein Großvater, der die Gemeinde gegründet und als erster Sklaven befreit hat, gestorben war, hatte er Dad seine Leute überlassen. Und er bemühte sich wirklich uns gut zu führen. Streit beilegen und Hoffnung sähen, war seine Devise. Obwohl er sich damit auch oft selbst quälte. Er nahm keine oder zumindest kaum Hilfe an. Alles wollte er selbst durchdenken. Irgendwie schien er es für seine Pflicht zu halten, weil er ein Telepath war. Weil er es konnte. Denn Telepathen waren oft viel klüger als Nicht-Telepathen. Denken gehörte zu unseren Stärken. Oft erkannten wir Zusammenhänge, die andere nicht in hundert Jahren erkennen könnten. Doch ein Telepath zu sein, konnte für andere Menschen auch gefährlich werden. Die Ausnutzung eines Telepathen hatte zum Beispiel die Apokalypse hervorgerufen. Und meine Tante Sarah, neben Jodie die andere Schwester meines Vaters, war auch ein ganz spezieller Fall. Manchmal waren Telepathen von ihren enormen Fähigkeiten so überfordert, dass sie wie Schwachsinnige wirkten. Sie redete nie, zeigte kaum Konzentrationsfähigkeit und saß oft stundenlang in derselben Position da. Wenn sie emotional aufgewühlt war, konnte sie eine wahre Gefahr für die Bewohner der Kolonie sein. Mit Alpträumen fing es an. Und bis zu höllischen Kopfschmerzen, die rein theoretisch irgendwann zum Tod führen können, konnte es gehen. Nur ein Telepath konnte sie dann noch mit seinen eigenen Gedanken beruhigen. Aber das übernahm meistens Dad persönlich.
Fred gab mir den Rest des Tages frei. Er meinte, er könne die heutige Arbeit auch ohne mich schaffen - was er ja ohnehin schon die ganze Zeit tat. Außerdem wisse er, wie neugierig ich auf die Informationen, die Jodie an Dad weitergab, sein würde. Und er hatte Recht. Als die anderen Schaulustigen schon alle verschwunden waren, stand ich immer noch am Auto und versuchte zu lauschen, was Jodie zu sagen hatte. Sie packte ihre Habe, die sie auf der Mission dabei gehabt hat, aus dem Wagen und erzählte meinem Vater, dass es nicht einfach ein Lager von Sklavenhaltern war, sondern eine ganze Stadt.
„Erzählt sie etwas interessantes?“, fragte mich Rick, der plötzlich neben mir erschienen war, als Jodie Dad ihre Eindrücke der Sklavenhalterstadt schilderte, während sie Richtung Besprechungsraum gingen, damit sie in aller Ruhe darüber reden konnten.
„Huh?“
Rick riss mich aus meiner Konzentration, wodurch ich den beiden nicht mehr folgen konnte. Plötzlich spürte ich seine Hand an meinem Rücken, wo er mich kaum berührend streichelte. „Die erwarten bestimmt nicht, dass ich sofort mit dem Wagen durch bin.“, flüsterte er mir ins Ohr, als seine Hand mir über den Hintern strich und hineinkniff.
„Hör auf.“, sagte ich, schlug seine Hand weg und brachte ein paar Schritte zwischen uns. Ich versuchte mich wieder zu konzentrieren, damit ich der Unterhaltung zwischen Jodie und Dad wieder folgen konnte. Dazu musste ich aber erst einmal nach ihnen Suchen, wozu ich mich natürlich nicht erst vom Fleck bewegen musste. Ich fand sie am Osteingang des Hauptgebäudes, wie Jodie die Tür für Dad aufhielt, damit er ihre Sachen hindurch tragen konnte.
Ich sag dir, die Stadt ist aufgebaut wie Fort Knox, sagte Jodie. Absolut sicher von Zombies und anderen Gefahren abgeriegelt. Da rein zukommen wird nicht leicht. Aber ich glaube es gibt schon die eine oder andere Möglichkeit sich rein zu schleichen.
„Ivy.“, sagte Rick und berührte eine Strähne meines Haars. Er flehte mich fast an. „Komm schon.“ Ich spürte seinen Atem wieder in meinem Nacken, wie heute Morgen. „Lass uns ein bisschen Spaß haben.“ Er küsste wieder meinen Hals, was er immer gerne tat, wenn er mich verführen wollte.
„Hör auf damit.“, sagte ich und stieß ihn wieder von mir. Ich strengte mich weiter an.
Das ist der innere Kern, sagte Jodie. Der ist umringt von alten, hergerichteten Ruinen, die sie bewohnen – die Sklavenhalter, nicht die Sklaven. Und diese Ruinen sind von noch einem Ring aus weiteren Ruinen umringt. Die ersten, zweiten und dritten Etagen der äußeren Ruinen wurden komplett versiegelt.
Diesmal küsste mich Rick auf den Mund und riss mich so wieder aus meiner Konzentration. Erst jetzt merkte ich, dass er es irgendwie geschafft hatte, mich in den Wagen zu bringen. Solange hatte ich mich doch nicht konzentriert und war weggetreten gewesen, dass er mich hätte in den Wagen bringen können. Oder? Ich lag sogar auf dem Rücksitz. Rick über mir. Er stützte sich mit einem Arm ab und hielt seine andere Hand meinen Nacken. Sein Bein grub sich zwischen meine Beine. Langsam wanderte seine Hand an meinem Körper hinab über meine Brust bis er sie unter mein Shirt schob, was mich zum Stöhnen brachte. Und genauso plötzlich, wie ich mich in den Wagen gefunden hatte, schnellte meine Hand auf seine und zog sie wieder aus meinem Shirt wieder hervor. Ich drehte meinen Kopf und riss meine Lippen von seinen. „Rick.“, flehte ich. „Bitte.“
Er stöhnte – nicht lustvoll, sondern genervt – und kroch von mir runter aus dem Wagen. Während ich mich wieder sammelte und mein Shirt wieder richtete, ging Rick wieder an die Arbeit. Immer, bevor ein Wagen die Kolonie verließ, musste er haargenau auf Mängel überprüft werden. Dasselbe musste geschehen, wenn der Wagen wieder zurückkam. Oft stießen wir unterwegs mit einem Zombie, oder gleich einer ganzen Horde Zombies zusammen. Weil sie blindlings auf den Wagen zu rannten, wenn wir uns darin befanden, konnte schon mal etwas kaputt gehen. Doch meistens waren einfach nur einige Schrauben gelockert, oder Gitter, die zum Schutz vor den Fenstern hingen, verbogen. Aber es konnte durchaus schon mal mehr hinüber sein. Verwester Schleim der Untoten, der durch zerbrochene Scheiben tropfte, konnte ganz leicht die Instrumente verkleben und ein Infektionsrisiko hervorrufen. Oder der Schleim tropfte durch Löcher in der Motorhaube, die auch ausgebessert werden müssen, und richtete Schaden am Motor oder im Kühler an.
Nicht alle Sklaven wohnen außerhalb des Kerns, erzählte Jodie weiter. Viele wohnen direkt in den Gebieten ihrer Halter. Also kommen wir um einen Hausbesuch nicht herum.
ARGH! Ich schrie auf.
„Ivy?“, erkundigte sich Rick nach mir, der gerade ein Fenstergitter abmontiert hatte um es wieder gerade zu biegen.
Ich konnte nicht atmen. Es war als ob der Sauerstoff, den ich noch vor einer Sekunde automatisch eingesogen hatte, sich fürchtete wieder heraus zu kommen. Weil meine Lungen gefüllt waren, konnte ich nicht weiter einatmen. Aber ausatmen war mir auch nicht möglich. Vielleicht lag es an dem Schmerz, der langsam in meinem Kopf aufquoll, wie ein Hefeteig in der Sonne. Der Schmerz wuchs pulsierend an, bis er sich in etwas stechendes umwandelte.
„Ivy?“, fragte Rick erneut. Ich krümmte mich auf dem Boden neben dem Wagen und er beugte sich über mich.
Dann löste sich der Knoten in meiner Lunge und konnte den Sauerstoff wieder hinauspressen – ob er wollte oder nicht. Doch es fiel mir weiter schwer zu atmen. Zitternd zog ich die Luft in mich hinein und schob sie wieder hinaus, bis es besser wurde. Der Schmerz in meinem Kopf war auch nur noch ein Phantom dessen, was er zuvor war. Meine Kehle fühlte sich plötzlich so trocken an, dass ich Rick nach etwas Wasser frage musste, welches er mir gleich brachte.
Ich wusste dann, was gerade mit mir geschehen ist. Mein Vater. Er muss herausgefunden haben, dass ich sie belauschte. Das konnte er genau so wenig leiden, wie wenn ich Gedanken las – was eigentlich dasselbe war. Man las die Gedanken derjenigen, die sich miteinander unterhielten um zu erfahren, was derjenige sagen würde. So und nicht anders belauschte ein Telepath ein Gespräch. Es war auch nicht das erste Mal, dass Dad mich so gestraft hatte. Er wusste, wie es sich anfühlte. Immerhin hatte er es von seinem Vater gelernt, indem der es bei ihm anwendete. Trotzdem benutzte er diese Art der Bestrafung, wenn er mich erwischte, wenn ich gegen seine Regeln für Telepathen verstieß. Ich gebe zu, dass man anfangen könnte uns nur noch Misstrauen entgegen zu bringen, wenn wir uns nicht an solche Regeln hielten. Wenn ein Nicht-Telepath sich sicher vor unseren Fähigkeiten fühlen sollte, mussten wir fair und ehrlich damit umgehen. Denn anders als wir, konnten Nicht-Telepathen sich vor unserem Einfluss selbst schützen.
Ich sollte besser damit aufhören.

Nick war nicht da. Brads ganze Familie – na ja, außer seiner Schwester – war gekommen um ihn willkommen zurück zu heißen. Auch Doris Mann und Sullys Frau waren hier, als wir aus dem Wagen ausstiegen. Aber Nick fehlte. Warum war er nicht hier? Er kam immer, wenn ich nach Hause kam. War er immer noch sauer? Würde er deshalb nicht kommen um mich wiederzusehen? Um ehrlich zu sein, verletzte mich das sehr. Obwohl ich ihm immer gesagt hatte, dass es nicht nötig sei mich jedes Mal hier bei einer Rückkehr in die Kolonie zu empfangen, musste ich sagen, dass es mir jetzt fehlte. Ich hatte ihn sehr vermisst. Und jetzt, wo er nicht da war, spürte ich erst richtig wie sehr es mir fehlen würde, wenn er nicht da war. Vielleicht hätte ich die Sache doch anders ansprechen sollen. Es war ja nicht so, dass ich augenblicklich eine Familie gründen wollte. Auch nicht, dass ich eine ein duzend Kinder mit ihm bekommen wollte. Aber es war langsam an der Zeit an so etwas zu denken, fand ich. Ich wollte einfach nicht, dass meine Kinder ohne ihre Eltern – oder einen Elternteil weniger – aufwachsen müssten. Denn wer wusste schon wie viel Zeit wir noch hatten? Ich würde noch einmal ausdrücklich und ausführlich mit ihm darüber reden müssen. Vielleicht könnten wir einen Kompromiss schließen, mit dem wir beide legen können.
„Ihr könnt euch erst mal schlafen legen.“, sagte John zu Brad, Doris, Sully und Marty, die wirklich übermüdet aussahen. Andererseits fühlte ich mich auch so. Aber wusste es besser, als zu denken, dass John mich auch erst einmal schlafen ließe, bevor ich ihm alles haarklein schildern würde, was wir von der Sklavenhalterstadt in Erfahrung bringen konnten. „Jodie kann mir erzählen was ihr vorgefunden habt.“ Daraufhin sah er mich eindringlich an und seufzend erkannte ich was kam. Ich hab Nick in eurer Wohnung warten lassen, teilte er mir mit seinen Gedanken mit. Deshalb war Nick nicht gekommen?!
Unser kleines Willkommenskomitee löste sich schnell wieder auf. John hatte bestimmt seine Finger dabei im Spiel. Oft merkte er gar nicht mehr, wenn er anderen seinen Willen aufdrückte. Es war es zu sehr gewohnt. Doch eines musste man ihm zu Gute halten. Er meinte es immer gut. Auch wenn es einem nicht sofort einleuchtete, er hatte immer ein Argument parat, sodass man nachvollziehen konnte, dass es für das Beste der Gemeinde war. John machte seine Sache schon gut. Es war bestimmt nicht immer leicht die Verantwortung für so viele Leben zu tragen. Aber er war der Sohn seines Vaters und irgendwie dafür geboren worden.
Bevor ich John in den Besprechungsraum folgte, wo wir besprechen würden, was ich über die Sklavenhalter, die wir beobachtet haben, in Erfahrung gebracht habe, suchte ich meine Sachen zusammen, die ich mit auf die Mission genommen hatte. Mein Rucksack war während der Rückfahrt irgendwie auf dem Boden zwischen dem Vordersitz und der Rückbank geraten. Ein Stiefelabdruck, den ich Marty zuschrieb, prangte darauf. In meinen Rucksack stopfte ich meine beiden Shirts, die ich während der drei Tage gewechselt hatte, und eine Ersatzhose. Das Buch, das ich aus der Bibliothek mitgenommen hatte, nahm ich in die Hand. Später würde ich es zurückbringen, weil ich es schon vor zwei Tagen ausgelesen hatte. Ich hätte mir doch noch ein zweites mitnehmen sollen.
„Weißt du“, fing ich an, als ich noch einmal hinten auf die Ladefläche sah, ob ich auch nichts vergessen hatte, „das war nicht einfach nur ein Lager. Es war eine ganze Stadt. Bestehend aus einem Kern und einem erweiterten Terrain.“
„Was meinst du damit?“, fragte mich John. Wir waren mittlerweile schon aus dem Parkhaus heraus und auf dem Weg zum Osteingang des Hauptgebäudes.
„Ich sag dir, die Stadt ist aufgebaut wie Fort Knox.“, sagte ich. „Absolut sicher von Zombies und anderen Gefahren abgeriegelt. Da rein zukommen wird nicht leicht. Aber ich glaube es gibt schon die eine oder andere Möglichkeit sich rein zu schleichen.“ Ich formte einen Kreis mit meinen Händen. John trug für mich mein Buch und Rucksack. „Da ist ein Marktplatz in der Mitte der Stadt. Das ist der innere Kern. Der ist umringt von alten, hergerichteten Ruinen, die sie bewohnen – die Sklavenhalter, nicht die Sklaven. Und diese Ruinen sind von noch einem Ring aus weiteren Ruinen umringt. Die ersten, zweiten und dritten Etagen der äußeren Ruinen wurden komplett versiegelt. Da ist absolut kein Durchkommen. Alles mit Beton und so zugestopft. Die Zwischenräume der Gebäude sind mit meterhohen Mauern verdichtet.“
„Dann gibt es keinen Ein- oder Ausgang?“, wollte John wissen, als ich ihm, weil er noch immer meine Sachen trug, die Tür zum Hauptgebäude aufhielt.
„Nein.“, antwortete ich. „Jedenfalls nicht direkt. Jedes Gebäude, das zur Stadt zählt, ist über Hängebrücken, die von Dach zu Dach der Wolkenkratzer führen, irgendwie mit dem Kern verbunden. In den äußeren Gebieten, die ähnlich wie der Kern gesichert sind, wird in improvisierten Treibhäusern Nahrung angebaut. Ganz ähnlich, wie wir es tun. Außerdem wohnen dort die Sklaven. Aber nicht alle Sklaven wohnen außerhalb des Kerns. Viele wohnen direkt in den Gebieten ihrer Halter. Also kommen wir um einen Hausbesuch nicht herum.“
„Verlassen sie ihr Gebiet niemals?“, fragte John nach einer kurzen Pause, in der er irgendwie kurz abwesend wirkte. „Es muss doch irgendwo einen Eingang geben.“
„Die gibt es.“, sagte ich. „Natürlich verlassen sie ihre Stadt schon mal. Hin und wieder scheinen sie die Gegend zu durchziehen um neue Sklaven zu finden – als hätten die nicht schon genug. Weißt du von was für einer Zahl wir hier sprechen? Mindestens hundertdreißig!“ Ich schüttelte den Kopf und seufzte. Auf Johns Gesicht war keine merkliche Reaktion zu sehen. Er hörte nur konzentriert zu. Also fuhr ich fort. „Die Eingänge sind überall. Aber von außen kommt man nicht rein, wenn man nicht jemanden hat, der sie runter lässt. Es sind nämlich nichts anderes als Seile, die man von den Brücken zwischen den Gebäuden herunterlässt und dann wieder hinaufzieht, wenn man sich daran festhält.“
„Und was weißt du über die Sklavenhalter selbst?“, wollte John wissen.
„Da bin ich mir nicht ganz sicher.“, antwortete ich. „Das ist irgendwie komplizierter. Da gibt es zum einen die fünf Familien, die von den Gründern der Stadt abstammten. Aber eine der Familien schein den anderen noch mal übergestellt zu sein.“ Ich überlegte kurz, wie ich es am besten erklären konnte. „Da waren diese drei Brüder, die irgendwie das Sagen hatten. Dann die Häupter, der übrigen vier Familien, die nicht ganz so viel zu sagen hatten. Und dann kamen in der Hierarchie diejenigen, die ihre eigenen Sklaven hatten.“
„Hast du eine Ahnung, wie viele es sind?“, fragte John. „Sklavenhalter, meine ich.“
„Nein.“, sagte ich. „Nicht genau. Ich kann nur schätzen. Vielleicht fünf oder sechs Mal so viel wie es Sklaven gibt. Oft war es in der Stadt ziemlich unübersichtlich. … Ach ja, bevor ich es vergesse. Die drei Brüder sind alle Telepathen.“
Daraufhin starrte mich John entgeistert an. Hätte er in dem Moment, in dem ich es ihm erzählt hatte, etwas getrunken, hätte er es wohl vor lauter Überraschung über diese Nachricht wieder ausgespuckt. „Bevor du es vergisst?“, fragte er geschockt. „Wie kannst du so eine essentielle Neuigkeit vergessen?“
„Schon gut reg dich ab.“
„Bist du sicher, dass die drei richtige Brüder sind? Und alle drei Telepathen?“
„Ja.“
John dachte eine Weile angestrengt darüber nach. Ich konnte in seinem Gesicht regelrecht sehen, wie er in seinem Kopf arbeitete. Mir war es anfangs auch komisch vorgekommen. Es war unnormal, dass es in einer Generation mehr als einen Telepathen gab. Telepathie war nämlich etwas vollkommen Zufälliges. Und die Wahrscheinlichkeit, dass allein zwei Geschwister Telepathen waren … na ja ich kannte die Zahlen dazu nicht. Aber das war auch vollkommen gleichgültig. Es reichte aus zu wissen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas geschah, wirklich gering war. In unserer Familie war das etwas anderes. Einer unserer Vorfahren geriet in die Fänge eines Mega-Konzerns, der Telepathie bei Menschen untersuchte, um daraus eine Waffe zu machen. Im Rahmen dessen wurde unserer Vorfahrin – Caya war ihr Name – Medikamente und ähnliches verabreicht, das bewirkt hat, dass all ihre direkten Nachkommen auch dieses Talent der Telepathie in sich tragen würden. Bis heute ließ dieser Zustand unserer DNS – oder womit das auch immer zusammen hängen mochte – nicht nach.
„Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass alle drei Brüder Telepathen sind.“ Er redete vielmehr mit sich selber, als mit mir. „Wirklich seltsam.“
„Aber nicht vollkommen unmöglich. Oder?“
„Nein. Das wohl nicht. Aber es ist…“
„Merkwürdig. Ich weiß. Das sagtest du bereits.“ Dann kam mir wieder ein Gedanke, den ich zuletzt gestern hatte. Ganz flüchtig. „Weißt du, ich dachte, vielleicht wurde mit deren Vorfahren auch solche Experimente gemacht, wie mit Caya.“
„Ja, vielleicht…“


4


Ich hielt ihn fest im Arm, als er seinen Tränen freien Lauf ließ. Seit wir kleine Jungs waren, hatte ich Sam nicht mehr weinen sehen. Er mich auch nicht. Und jetzt saßen wir in diesem dunklen, verstaubten und vermoderten Raum und weinten, weil wir nicht wussten, was wir sonst tun sollten. Es gab ja auch nichts mehr zu tun. Es war vorbei. In weniger als sechs Stunden würde mein bester Freund am Fieber sterben und kurz darauf wieder von den toten auferstehen und versuchen mir ein Stück frisches Fleisch ab zu kauen. Nur eine Sache gab es, die ich jetzt tun musste. Ihn erschießen, bevor er außer Kontrolle geriet. Aber wie sollte ich bloß erschießen meinen besten Freund erschießen? Neben meiner Familie war er mir das Wichtigste auf dieser Welt, in der man sowieso nichts haben konnte, das einem blieb.
„Okay, okay.“, sagte Sam schließlich und machte sich von mir los. Er schniefte kräftig und wischte sich unbeholfen die Tränen aus den Augen. „Das muss reichen.“, sagte er humorlos lächelnd. Er versuchte tapfer zu sein. Um meine oder um seine willen? „Genug geheult.“
Die anderen, die mit uns gekommen waren um die Gegend nach einem neuen zu Hause für unsere Gemeinde von befreiten Sklaven zu suchen, wussten noch nicht was geschehen war. Es würden höchstens zwei Stunden vergehen bis sie uns suchen kamen. Dann würde ihn jemand erschießen, bevor er zu einem Untoten werden konnte. Denn eines war mir von der ersten Sekunde an klar, als ich erkannt hatte, dass er tatsächlich infiziert war. Bevor ich ihn erschießen würde, würde ich mich vermutlich von ihm infizieren lassen.
„Vermutlich solltest du es jetzt hinter dich bringen.“, sagte Sam gespielt kühl. Ich konnte die Angst, dass ich es tatsächlich tun würde, in seiner Stimme hören.
„Sam.“, flehte ich um sein Verständnis. „Das kann ich nicht.“ Wir saßen gegen die Wand im Flur des Gebäudes gelehnt. Es war zu schwer einander weiter anzusehen, weshalb wir die gegenüberliegende Wand anstarrten.
„Schon gut.“, sagte er schließlich mit einem erzwungenen Lächeln auf den Lippen. „Lass dir Zeit. Wir haben Zeit – aber nicht zu viel. Hörst du?“ Sein Kopf war zu mir gedreht.
Ein dicker Kloß in meinem Hals verhinderte, dass ich ihm etwas antworten konnte. Doch auch ohne, wäre es mir nicht möglich gewesen. Nie hätte ich etwas darauf sagen können. Am liebsten würde ich es auf alle Zeit hinaus schieben. Selbst wenn es bedeutete, dass wir für alle Ewigkeit hier in diesem stickigen Raum aufhalten würden.
Nach einer Weile der Stille sagte er, „Wenn du jemanden erzählst, dass ich geweint habe, suche ich dich als Geist heim.“ Für den Hauch eines Momentes lachten wir.
„Ich werde allen erzählen, dass du ganz cool geblieben bist.“, sagte ich und wollte es sofort wieder zurück nehmen. Wie konnte ich jetzt, in dieser Situation, nur solche Scherze machen.
„Ach Scheiße! Ich will noch nicht sterben.“, jammerte Sam unter erstickten Tränen.
„Ich weiß.“ Ich legte meinen Arm um seine Schulter und zog seinen Kopf zu mir heran um mein möglichstes zu tun ihm Trost zu spenden. Da fiel mir ein, dass ich eine wirksamere Methode kannte ihn zu trösten. Wozu war ich ein Telepath, wenn ich meinem besten Freund nicht ein paar … ein paar schöne letzte Stunden bereiten konnte? Vielleicht war das unsere Bestimmung, der Grund warum es uns gab. Die, die wir anders waren als alle anderen. Wir konnten den Menschen Seelenheil spenden.
Weil es mir leichter fiel seine Gefühle zu beeinflussen, wenn er sich auch auf mich konzentrierte, suchte ich nach einem Thema, mit dem ich ihm fesseln konnte. Umgehend fiel mir auch schon eines ein. Eigentlich sollte ich nicht darüber reden. Mein Vater hatte es mir als Kind verboten. Niemanden außer unserer Familie ging das etwas an. Unsere Familiengeschichte, die sehr eng mit der Apokalypse zusammenhing. Sehr eng. Enger als uns lieb war.
„Soll ich dir erzählen, warum ich so bin, wie ich bin?“, fragte ich Sam.
Er kicherte kurz in meine Schulter, an der er sich ausheulte. „Was meinst du?“, fragte er belustigt, als er wieder auftauchte und sich wieder Tränen aus dem Gesicht rieb. „Warum du so ein Idiot bist?“
„Nein.“ Was hatte es zu bedeuten, dass er jetzt nur noch Scherze von sich gab? Wollte er sich selbst damit ablenken? „Warum ich ein Telepath bin.“
„Ich dachte das kommt einfach so.“ Ich hatte sein Interesse geweckt. Das war gut.
„Nicht in unserer Familie…

Ich glaube vor Caya hat es keinen anderen Telepathen in unserer Familie gegeben. Jedenfalls keinen, von dem jemand von uns wusste. Caya hatte eine traurige Kindheit. Kaum war sie aus den Windeln gewachsen, geriet sie in ein Wachkoma. Dadurch kam sie in den Blickpunkt der Firma, die später für die Apokalypse verantwortlich sein würde. Diese Firma, N-Corp beschäftigte sich unter anderem mit einem Projekt, dass sie schlicht und ergreifend Projekt „H“ nannten. Im Rahmen dessen untersuchten sie die Ursache und die Fähigkeiten von telepathisch begabten Menschen. Sie steckten Caya, mit Einwilligung ihrer Eltern, die dafür reich entlohnt wurden, in ein geheimes, unterirdisches Beobachtungslabor, das auf einer Insel, irgendwo vor der Küste von Mexico lag. Fast neun Jahre zogen ins Land, ehe sich etwas für das Mädchen änderte. Doch während dieser neun Jahre entnahm man ihr, genetische Proben, machte psychologische und medizinische Tests mit ihr und verabreichten ihr einen Medikamenten Cocktail nach dem anderen. Niemand aus unserer Familie weiß genau, was da eigentlich mit ihr angestellt wurde, sodass sie alle als Telepathen geboren wurden. Man konnte nur Vermutungen anstellen. Dass sich nämlich irgendwie ihre Telepathie auf DNS übertragen hatte, und aufgrund eines dominanten Gens an ihre Kinder und Kindes Kinder vererbte. Doch einig war man sich darüber auf jeden Fall, dass man sie – und auch die anderen Projekt Probanden – keinesfalls menschenwürdig behandelt hatte, als sie in ihrer Obhut war. Schlimm genug, dass man ein kleines Mädchen für solche unwürdigen Studien missbrauchte und sie deshalb auch noch einsperrte. Hatte man nicht mal versucht ihr zu helfen aus dem Wachkoma zu kommen. Was eigentlich auch gar nicht mehr nötig war, weil sie es irgendwie selbst geschafft hatte. Sie war ein kluges Mädchen und wusste, dass man sie nicht einfach gehen lassen würde. Daher wartete sie auf eine passende Gelegenheit. Diese kam mit einem jungen Mann, der sie schließlich aus dem Labor holte und von der Insel brachte. Doch das ließ sich N-Corp nicht gefallen. Sie sperrten die Verwandten des jungen Mannes ein, die für die Firma arbeiteten. Seine anderen Verwandten wurden Tag und Nacht unter Beobachtung gestellt, während man nach dem jungen Mann und dem Mädchen suchte. Sieben Jahre konnten sie sich verstecken, in denen sich die beiden ineinander verliebten und ein Kind gezeugt hatten. Der junge Mann wurde zeitweise außer Gefecht gesetzt und in die Obhut seiner Familie gestellt, während sie das Mädchen mit ihrem Kind wieder mitnahmen. Als das Kind geboren wurde untersuchte man es auf eine mögliche telepathische Fähigkeit. Weil es eine solche nicht aufwies, überließ man es den Eltern des jungen Mannes, der jetzt im Koma lag. Aber die Verantwortlichen des Projektes wurden auf eine Idee gebracht. Sie züchtete ein sogenanntes Designerbaby, mit zwei Telepathen als Eltern. Das zweite Kind wies eine hohe Telepathie auf, konnte aber nicht in das Projekt aufgenommen werden. Die Inhaberin der Firma hatte nämlich ganz eigene Pläne mit dem Kind. Dieses Kind, mein Ur-Ur-Ur-Ur-Großvater, wurde für die Apokalypse benutzt.

… Wir durften nie darüber reden, seit meine Familie aus den Bunkern raus ist. Wir hatten Angst, dass man uns die Schuld für die Apokalypse gab. Wo doch nicht mal meine Vorfahren wirklich dafür verantwortlich gemacht werden konnten. Sie haben sogar versucht es zu verhindern.“
„Kann ich dich was fragen?“, fragte mich Sam. Er hatte während meiner ganzen Geschichte kein Wort von sich gegeben. Aber er hatte aufmerksam zu gehört, was es mir ermöglicht hatte seine Angst über seinen baldigen Tod zu lindern.
„Was denn?“
„Erzählst du mir das, weil ich gleich sterbe?“, fragte er. „Du hast nämlich gesagt, dass du es eigentlich keinem erzählen darfst.“
„Tut mir leid.“, war alles, was ich sagen konnte.
„Schon gut.“, sagte er und rempelte mich spielerisch mit seiner Schulter an. „Dagegen kann man eben nichts machen.“
Konnte man nicht. Er war dem Tode geweiht. Und trotzdem würde ich meinen rechten Arm dafür geben ihm zu helfen. In diesem Moment würde ich vermutlich alles tun, wenn er nur nicht sterben würde. Den Schweißperlen auf seiner Stirn nach zu urteilen, die vom Fieber auf seine Haut getrieben wurden, hatten wir vielleicht noch zwei Stunden bevor er sterben und wieder auferstehen würde. Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, wie Sam als Untoter aussehen würde. Vermutlich nicht viel anders als jetzt auch, was mir die meiste Angst machte. Vielleicht würde er etwas blasser oder sogar grauer als sonst aussehen. Und die Bisswunde an seinem Hals würde sich entzündet haben, was auch schon egal wäre, weil sein gesamtes Blut sich entzünden würde. Dieser Virus, der die Menschen in diese Zombies verwandelte, war sehr aggressiv und bekämpfte das gesunde Blut irgendwie … Was wäre eigentlich, wenn man das Infizierte Blut von dem gesunden Blut trennte? Würde das … etwas ändern? Könnte ihn das … vielleicht sogar retten?
„Zeig mir deine Wunde.“, forderte ich ihn urplötzlich auf. Ich kniete mich neben ihn, während er mich unter seinem angestrengten Gesicht nur abschätzend ansah. Er dachte bestimmt ich sei verrückt. Und vielleicht hatte er da auch Recht. Vielleicht war ich wirklich verrückt. Aber um meinen Freund zu retten, würde ich einfach alles versuchen.
Für Sam, würde es nur so aussehen, als starre ich seine Wunde lediglich an. Doch ich tat weit mehr als das. Ich konzentrierte mich darauf und sank mit meinen Gedanken darin hinein. Der faulige Geruch, der zuvor nur vage wahrzunehmen war, versiegelte nun meine Geruchsnerven. Meine Nase konnte ich aber nicht rümpfen. Von einem infizierten Blutkörperchen zum anderen hangelten sich meine Gedanken. Es dauerte lange – vielleicht sogar eine Stunde – bis ich das Ende der infizierten Kette gefunden hatte. Sam ließ es tapfer über sich ergehen. Doch als seine Wunde so stark anfing zu bluten, zappelte er herum, weshalb ich ihn nur fester an die Wand drückte. Nicht nur telepathisch war ich begabt. Telekinese zählte auch zu meinen Fähigkeiten. Und damit holte ich all sein infiziertes Blut aus seinem Körper. Es floss an seinem Arm herunter und sammelte sich in einer Lache neben ihn. Das Blut war dunkler als üblich.

„Mäh-äh-äh-äh-äähh“, stupste mich eines der Lämmer an, die wir in der Gemeinde hielten. Wie kam es hier her? Die Weide war auf der anderen Seite der Kolonie. Sollte es nicht dort bei seiner Mutter sein?
„´tschuldigung.“, hörte ich eine kleine Stimme sagen. Ich drehte mich um erblickten Pablo, meinen sechs-Jährigen Neffen, wie er scheu hinter mir stand. „Ich wollte es streicheln und da … is es mir entwischt.“ Er weinte fast. Hatte er Angst vor mir? Oder warum erschien es mir so, als würde er am liebsten die Flucht ergreifen, als sei ich ein Zombie, der sich eine Scheibe von ihm abschneiden wolle?
Es lag an dem Ort, an dem ich saß. Vor Sams Grab. In seinen Gedanken hörte ich, dass ihm verboten wurde mich hier zu stören. So wie es aussah, war es von irgendjemand allen verboten worden mich hier zu stören. Aber das hatte Chris vor zwei Tagen auch nicht daran gehindert mich zu holen, weil Jodie und die anderen wieder nach Hause gekommen waren. Ich drehte mich zurück zu Sams Grabstein, den ich selbst und ganz alleine dort platziert hatte. Vor fast genau zwanzig Jahren. Jeden Tag, den ich nicht auf einer Mission verbracht hatte, hatte ich ihm einen langen Besuch abgestattet. Meistens aber, erinnerte ich mich nur an ihn. Wie wir Freunde wurden. Wie wir versucht hatten die Mädchen in unserer Gemeinde rum zu kriegen. Wie wir beide die Frauen getroffen hatten, die wir jetzt liebten. Und wie ich tatenlos mitansehen musste, wie er starb – mich dann anknabbern wollte und ich ihn schließlich erschoss.
„Komm her.“, sagte ich zu Pablo. Das Lamm hatte ich schon in meinen Schoß gezwungen. Langsam und schüchtern trat der kleine Junge an mich heran. Als er sich unsicher auf die Lippe biss, führte ich ihn mit meinem ausgestreckten Arm an seinem Rücken näher an mich heran. „Setzt dich ein wenig zu mir.“ Das tat er dann auch. Ich spürte, dass er sich im ersten Augenblick unwohl fühlte. Aber als wir das Lamm zusammen streichelten und liebkosten, ließ sein Unwohlsein langsam nach.
„Du vermisst deinen Freund sehr. Oder?“, sagte Pablo schließlich.
Ich sah ihn erst verwundert an. Manchmal konnte dieser kleine Junge richtig erwachsen wirken. Das lag wohl daran, dass er ein Telepath war. Oft erinnerte er mich an Ivy in dem Alter. Sie war genauso. Ein wenig frecher vielleicht. „Ja.“, antwortete ich ihm nach einer kurzen Pause, in der ich mich an Ivys Kindheit erinnerte. Es war schon so lange her. Kaum zu glauben, dass sie jetzt schon zwanzig Jahre alt war.
„Ich würde Joe auch vermissen, wenn er tot wäre.“, sagte er und starrte vielsagend auf Sams Grabstein. Joe war zwar zwei Jahre älter als Pablo, aber sein bester Freund. Er lief ihm überall hin nach.
„Pablo!“, hörten wir Ivy Stimme hinter uns rufen.
Sie kam von dem zerrissenen alten Parkplatz hinter unserem Wohnhaus her. Ich erinnerte mich noch daran, dass dort sieben Autos standen, als wir das erste Mal herkamen, um ein neues zu Hause zu suchen. Die meisten Fenster waren eingeschlagen, das Blech zerbeult und die oder andere Tür hing aus ihren Angeln. Es war nicht leicht, aber wir schafften alle Autos damals in das alte Parkhaus, falls wir Ersatzteile davon gebrauchen konnten.
„Es suchen dich schon alle.“, sagte Ivy, als sie in Hörweite war.
„Das Lamm…“, fing Pablo an. Der Junge bekam schon immer schnell Angst.
„… es ist weggelaufen.“, fuhr ich Pablos Erklärung fort. „Und er hat es wieder einfangen wollen.“
Ich half Pablo das Lamm wieder zurück auf seine Weide zu treiben. Ivy begleitete uns. Wir gingen außen um das Hauptgebäude herum. Die Straße hier war in einem weitaus schlechteren Zustand als die vordere, weshalb wir den Eingang nach vorne verlegt hatten, weil wir dort unsere Fahrzeuge über eine halbwegs intakte Straße zum Abstellen schicken konnten. Das Parkhaus war ohnehin dort vorne. Pablo trieb das Lamm vor uns über die zerbröckelte Straße her. Wir sollten die Brocken wirklich mal beiseiteschaffen, dachte ich, sonst würde sich noch irgendwann ein Kind beim Spielen hier verletzen.
„Und?“, fragte mich Ivy, als wir um die Ecke des Hauptgebäudes bogen, mit gedämpfter Stimme. Sie wollte nicht, dass Pablo uns hörte. „Weißt du schon wie ihr vorgeht?“
Ich vermutete, dass sie von unserer bevorstehenden Mission der Sklavenbefreiung sprach. „Ich fürchte wir müssen jemanden einschleusen.“, antwortete ich auf ihre Frage. Es hätte keinen Sinn sie im Dunkeln zu lassen, da ich bestimmt ihre Hilfe brauchen würde. „Der Großteil der Kolonie wird mithelfen müssen. Und auch so werden sie in der Überzahl sein.“ Ich müsste noch mehr darüber nachdenken. Mein Plan war noch nicht ausgereift, weshalb ich lieber das Thema wechselte. „Rick hat gestern Abend mit mir gesprochen.“, ließ ich fallen. Ich hatte schon zuvor das Gefühl, dass sich etwas zwischen den beiden angebahnt hatte. Doch seit gestern hatte ich den Beweis, den ich dafür gebraucht hatte um mir sicher zu sein, was es war.
„Und?“, fragte Ivy, ernsthaft verwundert. „Was wollte er?“
„Er hat mich kritisiert.“, sagte ich fast amüsiert. Anfangs war ich wirklich etwas wütend, dass er so mit mir geredet hatte. Doch im Nachhinein amüsierte es mich nur noch. „Fast angeschrien hat er mich.“
„Weshalb?“, wollte Ivy wissen.
„Weil ich dich so schmerzhaft dafür bestraft habe, als ich dich dabei erwischte, wie du Jodie und mich belauscht hattest.“, erklärte ich ihr.
„Was geht ihn das denn an?“, fragte sie mehr sich als mich.
„Na ja.“, sagte ich. „Du scheinst ihm wichtig zu sein.“ Und um mir einen kleinen Scherz zu erlauben fügte ich noch hinzu, „Immerhin seit ihr doch gute Freunde. Oder?“
Ivy verstummte. Sie kam gar nicht mehr mit, als Pablo und ich das Lamm zurück zu seiner Mutter auf die hintere Weide brachten. Ich vermutete, dass sie Rick aufsuchen würde. Aber weiter dachte ich nicht darüber nach. Seit ich sie vor vier Jahren zusammen mit ihrem damaligen Freund erwischt hatte, hielt ich mich größten Teils aus diesen ihren Angelegenheiten raus. Sollte sich ihre Mutter doch darum kümmern. Die verstand ohnehin mehr von der Gefühlswelt einer jungen Frau, als ich – obwohl ich ein Telepath war, der ihre Gedanken lesen konnte.
Nachdem das Lamm wieder bei seiner Mutter war, fand ich, dass auch Pablo wieder zu seiner Mutter sollte. Also brachte ich den Jungen zur Kinderbetreuung, bei der Sarah seit Pablos Geburt mithalf. Früher hatte ich immer Angst gehabt, dass sie die Kontrolle über sich verlieren könnte und den Kindern etwas antat – unabsichtlich natürlich. Aber es hätte passieren können. Es war nicht ihre Schuld. Sie war von ihren Fähigkeiten, die meine bei weitem übertrafen, einfach überfordert. Das wäre wohl jeder. Doch als Pablo geboren wurde, konnte sie sich fast wie eine normale Mutter um ihn kümmern. Das einzige was sie jetzt noch von anderen unterschied, war ihre enorme Introvertiertheit. Sie sprach nicht, kommunizierte nur mit ihren Gedanken. Doch auch nicht so, wie ich, Jodie, Ivy oder Pablo es taten. Sie formte keine Worte, die sie in die Gedanken anderer einpflanzte. Bilder waren es eigentlich auch nicht. Es war schwer zu erklären. Man wusste einfach, was sie von einem wollte.
Pablo war wieder da, wo er hingehörte und ich ging dorthin, wo sonst keiner hin durfte. Sie konnte auch nicht hier rauf aufs Dach des Hauptgebäudes. Ich war der einzige, der einen Schlüssel zur Dach Tür hatte. Nicht einmal Lisa, die sonst alle Schlüssel – bis auf diejenigen zu den vergebenen Privatwohnungen – verwaltete. Keiner durfte einen Schlüssel zu einem öffentlichen Raum außerhalb seiner Schicht behalten. Sie wurden immer Lisa oder Sharon zurückgebracht. Sie übernahmen quasi die Organisation der Kolonie. Sie übernahmen Umsiedelungen, falls zum Beispiel jemand von seiner elterlichen Wohnung aus- und in eine eigene Wohnung einziehen wollte. Sie wiesen den Neuankömmlingen, die wir in die Kolonie aufnahmen, Wohnungen zu. Und sie kümmerten sich um die gerechte Verteilung der Lagerbestände. Doch dieser eine Schlüssel blieb immer in meinem Besitz. Eigentlich sollte auch niemand hier rauf kommen. Das Dach hatte unsichere Stellen, weshalb sich besser niemand hier aufhielt. Aber ich konnte spüren welche Stellen des Daches stabil genug für mein Gewicht waren.
Ich kam ganz gerne zum Nachdenken hier rauf. Von hier konnte ich nicht nur die gesamte Kolonie überblicken, sondern auch einen Großteil des Ödlands um uns herum. Eigentlich war es kein besonders traumhafter Anblick. Eher deprimierend. Überall halb zerfallene Ruinen von Gebäuden, die einst von Menschen erfüllt waren.
Ich setzte mich an die Ecke des Daches, die zum Eingang der Kolonie zeigte, und dachte nach. Dass es dort, in der Sklavenhalterstadt, die wir stürzen wollten, drei Telepathen gab, war ein Problem. Ein gewaltiges Problem. Bisher hatten wir ein so erfolgreiches Register von Befreiungen zu verzeichnen, weil wir durch die Telepathie auf unserer Seite, entschieden im Vorteil waren. Diesmal wurde uns dieser Vorteil genommen. Als wäre es nicht schon schwer genug gewesen, dass sie in der Überzahl waren. Selbst die Sklaven, die sie hielten und wir befreien wollten, waren in der Überzahl. Meine Güte, über hundertdreißig Menschen! Wie konnte man nur so etwas tun?
Nichts desto trotz müssen wir etwas unternehmen. Und mir wollte einfach nichts Besseres einfallen als jemanden dort einzuschleusen. Keinen Nicht-Telepathen. Die konnten sich wohl kaum ohne Waffen gegen so viele Sklavenhalter wehren. Und sie würden bestimmt niemanden bewaffnet rein lassen. Ich bezweifle auch, dass sie jemanden als gleichgesinnten aufnehmen würden. Dazu brauchte man schon vertrauen. Und das gab es in der heutigen Zeit einfach nicht. Es musste also ein Telepath sein. Und so kamen nur Jodie und ich in Frage. Ich hatte Angst wieder zum Sklaven zu werden, aber das war nicht der Grund warum ich zögerte mich so einzuplanen, dass ich mich dort einschleuste. Würde ich dort fest sitzen, müsste ich mich stark konzentrieren um meine Fähigkeiten vor den dortigen Telepathen zu tarnen. Ich könnte niemanden mehr außerhalb anweisen, was zu tun war. Oder auch nur Informationen weiter geben. Demnach würde ich Jodie alleine hinein schicken müssen. Und das würde einfach zu lange dauern, bis sie alle für uns relevanten Informationen herausgefunden hat. Aber was blieb mir denn anderes übrig?
Als ich meine Gedanken nach einer Lösung suchend schweifen ließ, beobachtete ich, wie sich ein paar der Kinder der Kolonie ziemlich genau unter mir versammelten um mit einigen alten Murmeln, die die Sammler vor einer Weile mit nach Hause brachten, spielten. Pablo, der wieder von der Kinderbetreuung geflüchtet war, Joe, sein bester Freund, dessen Schwester Nina und Brads jüngere Tochter Diana, spielten dort unten. Soweit ich es ersehen konnte Mädchen gegen Jungs. Ich konnte mir nicht verkneifen und ein paar kleine lose Steinchen zu suchen um sie auf die Kinder hinab regnen zu lassen. Dabei rief ich, „Luftangriff!“
Die Kinder schreckten auf und gewannen erst einmal Raum zwischen sich und meinem Angriffsradius. Dann befahl Joe ihnen, wie ein General in der Schlacht, „Los den schnappen wir uns!“ Und alle liefen zum nächsten Eingang des Hauptgebäudes um mich zu fangen.
Ich beschloss ein wenig mitzuspielen, stand auf und lief vorsichtig zurück zur Tür. Die Kinder waren die letzten, die hier rauf sollten. Ich beeilte mich zwei Etagen tiefer zu kommen, bevor sie mir begegneten und versteckte mich dort um eine Ecke bei der Treppe. Dort wartete ich außer Atem, bis die Kinder an mir vorbei auf die Treppe, die ich gerade erst hinunter gelaufen – oder eher gesprungen bin.
„Sucht ihr mich?“, fragte ich betont spielerisch. Auf dem Fuß machten sie kehrt und verfolgten mich. Ich ließ sie bis zum Nordeingang hinter mir herlaufen und darüber hinaus. Es war kein Glanzstück schneller laufen zu können als Kinder die sechs und acht Jahre alt waren. Deshalb gab ich nicht damit an, dass ich um die Ecke zur hinteren Weide gebogen war, bevor die Kinder aus dem Hauptgebäude gerannt kamen. Sie sollten denken, ich habe mich im Wald versteckt. Aber in Wirklichkeit lief ich zu dem Gang, der zwischen zwei der Wohngebäude verlief und wieder auf die Hauptstraße vor dem Hauptgebäude führte. Dort spazierte ich ganz unschuldig über die Straße und amüsierte mich darüber, dass die Kinder mich wahrscheinlich im ganzen Wald suchen würden.
Brad begegnete mir auf der Straße. Es erschien mir unverantwortlich die Kinder mich suchen zu lassen, ohne dass jemand Bescheid wusste, wo sie zu finden waren. „Falls du deine jüngste suchst“, sagte ich im Vorbeigehen, „die sucht mit ein paar anderen nach mir im Wald.“
„John!“, rief er mich zurück und holte mich ein. „Hast du dir schon überlegt wie wir vorgehen werden?“ Schon der zweite, der mich heute danach fragte. „Ich meine nur, dass wir nicht allzu lange warten sollten. Wenn es wirklich so viele Sklaven sind…“
Ich seufzte. „Ich muss mir nur noch überlegen, wen ich wo einsetzen werde.“, sagte ich. „Eigentlich können wir uns schon morgen zusammensetzen und alles besprechen. Ich lass es dich wissen wann.“
Einige der Bewohner würden ihren Dienst ausfallen lassen müssen um uns bei der Befreiung zu helfen. Doch das dauerte noch. Erst werde ich mir sicher sein müssen, dass wir alles wussten, was wir für eine erfolgreiche Mission wissen müssen. Und natürlich konnte ich die Kolonie nicht unbewacht lassen. Immerhin würden wir die Kinder und ein paar der Erwachsenen zurücklassen müssen. Außerdem war es unser zu Hause. Das konnten wir nicht unbeschützt zurücklassen. Die Wachen, die durch die Kolonie patrouillierten, konnte ich abziehen. Es würde keiner da sein, der Ärger machen würde. Die Bar würde in einigen Tagen geschlossen werden, damit wir alle nüchtern waren, wenn es hart auf hart kam. Einen der drei Mediziner im Inneneinsatz könnte ich auch abziehen. Doch die beiden anderen mussten hier warten und sich auf unsere Ankunft vorbereiten. Es war nicht unwahrscheinlich, dass wir mit vielen verletzten, die Hilfe brauchen werden, wieder zurück nach Hause kamen. Das Jäger und Sammler Team würden wir komplett mitnehmen – auch wenn ich Ivy, wie ihre Mutter lieber hier lassen würde, sie war zu wertvoll für die Mission. Auch die Mechaniker und die Hälfte der Techniker waren auf jeden Fall mit an Bord. Lehrer und Kinderbetreuer würden hier bleiben. Sie müssen sich um die Kinder kümmern. Das Küchen Team konnte ich auch nicht mitnehmen. Sie waren nicht Kampferprobt und würden die vorläufigen Schlaflager für die Neuankömmlinge vorbereiten. Auch für Essen werden sie sorgen müssen. Aber Tim könnte mitkommen. Wer weiß wie unterernährt die Sklaven sein werden? Und da sich jemand während unserer Abwesenheit um das Vieh und die Pflanzen kümmern musste, lasse ich von den Viehbetreuern und Agra Arbeiten jeweils zwei Leute hier. Damit wären wir insgesamt 42 Leute. Ich hoffe, das würde genug sein. Und ich hoffe, dass wir alle wieder mit nach Hause bringen würden.


5


Immer noch wütend darüber, dass Rick mit meinem Vater gesprochen hatte, saß ich bei Carly, Mel und Carry zu Hause auf der Couch, wo Rick gerade einige Reparaturen erledigte. Sie wohnten in der Wohnung uns direkt gegenüber. Ich hatte Rick zur Rede gestellt, woraufhin er seinen Fehler einfach nicht einsehen wollte. Ihm war es gleichgültig, dass ich nicht wollte, dass er mit Dad über mich redete. Er selbst sagte doch immer, dass das zwischen uns nichts weiter als Sex ohne jegliche Verpflichtungen war. Dann sollte er sich gefälligst auch daraus halten, wenn Dad mich für etwas bestrafte. Auch wenn er dachte, dass es überzogen war.
„Dad hatte vollkommen Recht mich dafür zu bestrafen.“, nahm ich ihn vor Rick in Schutz.
„Ist ja gut!“, rief mir Rick aus der Küche zu. „Ich werde nie wieder mit jemanden über dich reden. Okay?“ Er war auch sauer. Dabei hatte ich weit mehr Grund dazu als er.
„Du hast keine Ahnung, was es heißt ein Telepath zu sein.“, fuhr ich fort. „Wir müssen höllisch aufpassen, was wir über das preisgeben, was wir können. Sonst lösen wir noch eine Hexenjagd aus.“
Ohne es zu hören, wusste ich, dass er mich augenrollend und genervt nachäffte. Wieso war er nur so stur? Konnte er denn nicht einfach verstehen, dass Dad Recht hatte mich zu bestrafen? Und warum hatte er sich da überhaupt einmischen müssen? Dieser Idiot. Ich könnte mich über ihn schwarz ärgern. Dabei war es sinnlos. Gerade weil er so stur war.
„Er hat dir doch Schmerzen bereitet. Oder?“, sagte Rick, der plötzlich wieder im Wohnzimmer mit seiner Werkzeugkiste aufgetaucht war. „Tut mir leid, dass ich das nicht in Ordnung fand.“, sagte er sarkastisch. Es tat ihm nicht leid. Und vermutlich würde er es wieder tun.
„Du verstehst das einfach nicht.“, warf ich ihm hoffnungslos an den Kopf und warf die Flinte ins Korn. Was hatte es überhaupt für einen Sinn sich mit ihm zu streiten? Also ließ ich ihn alleine und ging nach Hause.
„Bittest du mich noch mit rein?“, fragte er mich scherzhaft aber hoffnungsvoll, als ich gerade dabei war in unsere Wohnung zu gehen.
Ich drehte mich zu ihm um und starrte ihn an. Wenn Blicke töten könnten…
„Du weißt, dass ich keine Kerle mit nach Hause nehme.“, sagte ich. „Und wenn doch mal, dann wärst das ganz bestimmt nicht du.“
„Autsch.“, war alles was er dazu sagte, bevor ich ihm die Tür vor die Nase knallte.

Es war so dunkel, dass ich nicht einmal die Hand vor Augen erkennen konnte. Die Luft war feucht und roch modrig. Wie abgestandenes Wasser, das schon von grünem Schleim überzogen war. Auf der anderen Seite des Raumes – ich wusste nicht wie groß er eigentlich war, weil ich nichts sehen konnte – hörte ich das immerwährende Tropfen einer undichten Leitung. Der Boden war kalt. Genau wie die Wand. Aber ich konnte nicht anders. Ich war schon so entkräftet, dass es mir egal war. Alles war mir inzwischen egal. Alles bis auf eines. Bevor ich starb, wollte ich noch einmal die Sonne sehen. Nicht für mich. Für meine kleine Schwester Ariana.
Ich konnte ja verstehen, dass sie mich einsperrten. Ich hatte gewusst, was aus mir werden könnte, wenn ich meine Stimme gegen sie erheben würde. Aber Ariana war noch so jung. Sie war ein Kind. Ist es immer noch. Und sie war unsere Schwester. Auf seine Schwester sollte man aufpassen. Und sie nicht in ein finsteres Verlies sperren, in dem man das Stöhnen der Untoten nebenan hören konnte. Wenigstens hatten die Wände bisher gehalten. So eine Stadt hatte Casey bestimmt nicht im Sinn gehabt. Ganz egal wie wütend er war.
Früher war alles anders. Ja, schon damals hatte es Sklaven gegeben. Und ja, wir hatten auch welche. Aber wir haben wenigstens aufeinander aufgepasst. Soll heißen, wir haben immer auf Ariana aufgepasst. Und uns miteinander geprügelt und in die Pfanne gehauen. Aber wir haben uns sonst ganz gut verstanden. So gut sich Brüder eben verstehen konnten. Wir hatten Spaß zusammen. Bis dann unsere Eltern starben, Sireno die Familiengeschäfte übernahm und nichts dagegen tat, dass willkürlich Sklaven genommen wurden. Nachbarn, wurden Sklaven. Freunde, wurden Sklaven. Ja, sogar Familienangehörige, wurden Sklaven. Es nahm kein Ende. Banden wurden hochgenommen und wurden Sklaven. Wanderer wurden eingefangen und wurden Sklaven. Mit dem, von Sireno erfundenen Armband, wurde er größenwahnsinnig. Er hatte Späher ausgesandt, die noch mehr Sklaven suchen sollten.
Ariana hustete irgendwo in der Dunkelheit. Sie war in einem anderen Raum eingesperrt worden. Aber ich konnte hören, dass es keine einfachen Türen waren, die uns einsperrten. Es war schon so lange her, dass ich nur noch vermuten konnte.
„Alles in Ordnung?“, fragte ich mit erhobener Stimme, sodass sie mich hören konnte. Es war eine dumme Frage. Wieso stellte ich sie überhaupt? Natürlich war nichts in Ordnung. Wir wurden von unseren Brüdern hier unten verbannt. Nur dafür, dass wir uns für andere eingesetzt hatten.
„Ja.“, sagte sie, auch mit erhobener Stimme. „Bald.“ Sie klang hoffnungsvoll. Aber auch krank.
Nur ungern zerstörte ich ihre Hoffnung auf eine Änderung unserer misslichen Lage. Aber wir mussten realistisch sein. „Ariana.“, sagte ich mit sorgenvoller Stimme. „Ich glaube nicht, dass sie wieder kommen. Sie haben eingesehen, dass es unmöglich ist hier überhaupt reinzukommen. Außerdem waren sie nur zu fünft.“
„Aber du hast selbst gesagt, dass eine von ihnen wie wir ist.“, sagte sie in ihrer Hoffnung unbeirrt. „Sie werden wieder kommen. Du wirst schon sehen.“

Die Nacht war ruhig. Vor den Mauern der Kolonie tat sich nichts. In den letzten dreißig Tagen hat sich nichts getan. Wozu überwachten wir eigentlich die Gegend außerhalb der Mauern, wenn sich nie etwas blicken ließ? Die Überwachungsposten im Hauptgebäude hatten bestimmt einen entspannten Job. Nachts würde ich da bestimmt einschlafen.
„Lass uns die Mauer unten ablaufen.“, schlug Aaron vor und ging voran, ohne überhaupt auf meine Reaktion zu warten. Nur weil ich meine Ausbildung erst begonnen hatte, glaubten alle, sie können mich herum schubsen. Und das schlimmste war auch noch, ich ließ es mit mir machen. Wie ein Schoßhund folgte ich Aaron die Leiter hinunter auf den Boden, der sechs Meter in der Tiefe lag.
„Warum müssen wir Nachts die Sicherheitsanlagen überprüfen?“, fragte ich ihn. Ich verstand es immer noch nicht so recht. „Wäre es tagsüber nicht wesentlich übersichtlicher?“
Aaron seufzte nur. „Du kennst die Regeln, Luke. Also komm endlich.“
Wir starteten in der südwestlichen Ecke der Kolonie, wo wir die Leiter hinunter geklettert waren. Von hier aus gingen wir nach Norden die Straße an der Mauer entlang. Doch bevor wir die Mauer nach Rissen oder ähnlichen absuchten, überprüften wir das Gitter am ersten Tunneleingang. Man erzählte immer, dass sich in den dahinter verborgenen Tunneln eine Art Untergrundbahn verbarg. Vor der Apokalypse fuhren die Menschen so durch die Städte von A nach B. Denn damals waren die Straßen der Großstädte oft so vollgestopft mit Autos, dass es kein Durchkommen an der Oberfläche gab. Heute sah das ganz anders aus. Es musste schon ein Wunder geschehen, wenn man ein Auto sehen wollte, das hier vorbei fährt. Oder besser gesagt, mussten wir großes Pech haben. Denn ein Auto bedeutete oft Ärger. Nur die Banden, die durch das Ödland fuhren, waren mit Autos unterwegs. Seit meiner Geburt hatte niemand mehr einen normalen Reisenden mit Auto gesehen. Aber die meisten Autos waren auch Schrott. Und nur die banden gingen über Leichen um sich Ersatzteile zu beschaffen.
Das Gitter war sicher. Genau wie das Gitter des zweiten Tunnels. Aaron meinte, dass John bald jemanden da runter schicken würde um zu überprüfen, ob sich dort etwas eingenistet hat. Damit waren natürlich Zombies gemeint. Irgendwie schienen sie die Dunkelheit zu mögen. Doch das würde noch so lange warten müssen, bis die Mission, die gerade anstand, erledigt war. Und laut Aaron konnte das noch eine ganze Jahreszeit dauern. Wenn nicht sogar länger. Es ging das Gerücht um, dass sie über hundert Sklaven befreien wollten. Weit mehr als sie bisher immer in Angriff genommen hatten. Erfahrung hatten sie bisher nur so mit zwei Duzend. Außerdem waren wir, selbst wenn jeder einzelne Bewohner mithelfen würde, in der absoluten Unterzahl. Selbst wenn man die Kinder mitzählte. Was wir natürlich nicht tun konnten.
Die hintere Weide war leer. Wir brachten die Tiere jede Nacht in ihre Ställe zurück. Nachts machten sie zu viel Krach. So konnte kein normaler Mensch einschlafen. Besonders die nicht, die in den beiden angrenzenden Wohnhäusern wohnten, was so ziemliche alle taten. Ein Teil des Zauns war beschädigt, weshalb heute schon das ein oder andere Tier ausgebüchst ist, bis er schließlich provisorisch hergerichtet wurde. Es war zu spät um ihn richtig zu reparieren. Aber morgenfrüh würde das nachgeholt werden.
Der Boden des Waldes war uneben und überwuchert von Wurzeln, weshalb wir aufpassen mussten wohin wir unsere Füße setzten. Besonders im Dunkel der Nacht. So stolperten wir durch den Wald an der Mauer entlang. Unsere Augen waren zur Hälfte auf den Zustand der Mauer gerichtet und zur Hälfte auf den Weg zu unseren Füßen. Und plötzlich hörten wir den dumpfen Alarm und sahen das Warnlicht. Das konnte nur bedeuten, dass es eine Sichtung gab.
„Komm!“, sagte Aaron und rannte los. „Der gehört uns.“
Ich folgte ihm. Merkwürdig aufgeregt war ich. Nach all den Tagen war endlich mal was los. Wir rannten den langen Weg durch den Wald zum Nordwachposten auf der Mauer. Dort blinkte das orange Licht. Das Zeichen dafür, dass der Zombie von dort aus gesehen wurde. Wir rannten so über den gefährlich unebenen Boden, weil immer jeder der Diensthabenden Wachen scharf darauf war den gesichteten Untoten noch viel toter zu machen als er schon war. Unter den wachen war das ein kleines Spiel. Wer hat mehr Zombies erschossen. Und weil wir übrigen, die, die Außeneinsätze abarbeiteten, nicht mitspielen durften, da wir oft eine Quelle von Zombies fanden, die wir auslöschen konnten, war es die Aufgabe der Ersatzwachen, ihnen ihre Tötungen so oft wie möglich zu versauen und wegzunehmen. Ich konnte nicht sagen, ob wir tatsächlich die ersten waren. Aber wir kletterten trotzdem so schnell wie möglich hoch.
„Tut mir leid euch enttäuschen zu müssen“, sagte eine arrogante männliche Stimme, Louie, „aber der gehört uns.“
Lili, seine Wachpartnerin zielte bereits mit ihrem Nachtsichtzielfernrohr an ihrem Gewehr in die Dunkelheit. „Da sind mehr.“, sagte sie mit ruhiger Stimme, um sich nicht aus der Konzentration zu bringen.
„Mensch, wieso erzählst du denen das?“, fragte Louie sie verärgert und nahm sein Gewehr von seiner Schulter und in den Anschlag. Genau wie Aaron, der mir dasselbe zu tun bedeutete.
Zuerst suchte ich den Horizont nach den Zombies ab. Fand aber nichts. Ich hatte keine Ahnung wo ich suchen sollte. Am helllichten Tag war das Zielen viel leichter. Da hatte ich wenigstens eine Vorstellung von der Richtung meines Ziels. Hier konnte ich nur suchen, suchen und nochmals suchen. Wenn ich glück hatte, sah ich einen, den ein andere schon erschossen hat. Und schon fiel ein Schuss. Aus meinen Augenwinkeln, ohne meinen Blick durch das Zielfernrohr abzuwenden, konnte ich erkennen, dass Lili geschossen hatte.
„Das war einer.“, sagte sie beim Nachladen und wieder anlegen. „Bleiben noch sieben.“
Sieben? Das würde bedeuten, dass acht Zombies auf einmal auf uns zukamen. Das war selten. Zombies hatten nichts wie Rudeldenken. Sie hatten ja nicht einmal logisches Denken.
Noch ein Schuss. „Gleichstand.“, sagte Aaron.
Dann kam mir endlich auch ein Zombie ins Visier. Ich glaube es war ein Mann. Es ließ sich schwer sagen, denn er war irgendwie verkleidet. So wirkte es jedenfalls. Eine rote Perücke, eine rote aufgesetzt wirkende Nase – die konnte niemals seine echte sein – viel zu große Schuhe und seine Hose sah aus, als sei sie ein Ballon. Ich gab einen Schuss ab, als ich das Fadenkreuz auf seinen Kopf angesetzt hatte, der sich aber immerfort weiter bewegte. Daneben.
„Scheiße!“, gab ich wütend von mir. Es kam einer Schande gleich, gegen die Wachen in diesem kleinen Spielchen zu versagen. Das würde ich mir auf ewig anhören müssen.
„Macht nichts.“, versicherte mir Aaron. „Nachladen und noch mal versuchen.“
Gesagt, getan. Ich lud mein Gewehr nach und nahm es wieder in den Anschlag. Diesmal wurde ich, wie ein Stück Metall von einem Magneten, zu meinem Ziel gezogen. Sofort nahm ich den Kopf des Zombies ins Visier, den ich gerade erst verfehlt hatte. Die dicke Schicht Schminke war schon lange verschmiert. Um seinen Mund hatte er einen Bart aus eingetrocknetem Blut. Blut war auch auf seiner Stirn. Vermutlich hatte er sich diese Wunde zugezogen, als er noch ein normaler Mensch gewesen war. Ich zielte genau zwischen seine Augen, was gar nicht so einfach war, da er sich stetig auf uns zu bewegte. Als ich mir sicher war, ihn nicht zu verfehlen, zog ich meinen Abzugsfinger zurück und drückte ab. Es dauerte nicht eine Sekunde bis der Zombie mit Schwung zurückfiel und regungslos auf dem Boden liegen blieb.
„Zwei zu eins, für uns.“, verkündete ich. „Bleiben noch fünf.“

Heute würden sie besprechen wie sie bei der Sklavenbefreiung vorgehen wollten. Niemand außer dem Team war dazu eingeladen. Und das, obwohl der Großteil der Kolonie dazu benötigt würde. Das heißt, wenn die Gerüchte, dass es sich um über hundert Sklaven handelte, stimmten. Ich war neugierig, wie sie da vorgehen wollten. Immerhin brauchte es schon eine Menge Sklavenhalter, um so viele Sklaven zu unterjochen. Oder? Aber ich riss mich am Riemen und würde sie nicht belauschen. Damit würde ich Dad nur wütend machen. Und er ließ mich dann womöglich auch außer Acht für seinen Plan.
Ich würde mich irgendwie ablenken müssen, um nicht in Versuchung zu geraten. Doch vorerst ging ich erst einmal frühstücken. Wie immer in der öffentlichen Küche. Auf meinem Weg dorthin spürte ich die allgemeine Aufregung der Bewohner. Es lag immer dieses kribbeln in der Luft, wenn eine neue Befreiung anstand. Auch bei denjenigen, die nicht daran beteiligt waren. Immerhin hießen neu befreite Sklaven, neue Bewohner.
„Hey, Ivy!“, rief mich Aaron. Er saß an meinem Tisch. Zusammen mit Luke. „Komm her!“ Ich bedeutete ihm, dass ich nur schnell mein Essen bestellen würde, bevor ich mich wiederwillig zu ihnen setzte. Mein Frühstück vertilgte ich lieber alleine. Ich war so etwas wie ein Morgenmuffel.
„Ihr sitzt an meinem Platz.“, sagte ich zu den beiden Jungs, als ich mich zu ihnen setzte.
„Das ist nicht dein Name, der da auf dem Tisch eingeritzt ist.“, lächelte Aaron. Ich rollte nur mit den Augen. Soweit ich wusste, hatten er und Luke Nachtschicht bei der Wache gehabt. Wie konnten sie dann schon so gut aufgelegt sein? „Rate mal was gestern in der Nachtschicht los war.“
„Lulu hat ihre Schicht in der Bar geschmissen um sich von dir flachlegen zu lassen?“, sagte ich voller Sarkasmus. Aaron war schon seit mindestens zwei Jahreszeiten hinter Lulu her. Aber sie zeigte ihm nur die kalte Schulter. Deshalb bezweifelte ich, dass sie ihn jemals ran lassen würde. In hundert Jahren nicht.
Aarons gute Laune verflüchtigte sich für einen Augenblick, in dem ihn die Realität wieder einholte. „Ja, sehr witzig.“, gab er von sich. „Nein. Ausnahmsweise geht es mal um unseren Freund Luke hier.“, verkündete er und klopfte dem Jungen neben ihm auf die Schulter. Luke blickte verlegen drein, als er sich eine halbe Scheibe gebuttertes, getoastetes Brot in den Mund schob. „Wir hatten gestern Nach – ich glaube es muss so gegen Mitternacht gewesen sein – hatten wir eine Sichtung von nicht weniger – und jetzt musst du genau zuhören – nicht weniger als acht Zombies auf einmal.“
„Ernsthaft?“, fragte ich ehrlich überrascht. Zu der Zeit war ich schon lange im Bett gewesen. Doch meistens war mein Schlaf leicht genug, sodass ich den Alarm, der auf eine Sichtung hinwies, nicht überhören konnte. Wahrscheinlich war ich noch so in meiner Wut über Rick versunken, dass ich geschlafen hatte wie ein Stein. Ich glaube ich hatte sogar davon geträumt.
„Ja. Ernsthaft.“, sagte Aaron. „Lili und Louie waren allerdings eine Sekunde vor uns auf dem Sichtungsposten. Daher hat Lili den ersten Treffer gelandet.“, erläuterte er mir weiter, als er mit seiner Gabel vor meinem Gesicht herum fuchtelte. Wenn er nicht aufpasste konnte er damit noch jemanden das Auge ausstechen. Und zwar mir. „Ich hab dann den Ausgleich geschaffen.“, berichtete er mir haarklein. „Und der gute Luke hat dann nach einander ganze fünf Stück ausgeschaltet.“
„Sechs.“, berichtigte Luke ihn knapp.
„Ja, richtig, sechs.“, wiederholte Aaron amüsiert. „Louie hat ja gar keinen erwischt.“ Im ersten Augenblick wunderte es mich ein wenig, dass er den letzten Teil so laut heraus posaunte. Doch dann erblickte ich Louie, der mit Ashley hinter mir an unserem Tisch vorbei ging. Wir hatten nie ein gutes Verhältnis. Aber die beiden zählten zu Aarons besten Freunden. Trotzdem ließ er nie eine Gelegenheit aus, Louie eines rein zu würgen. Irgendwie schienen sie eine Art freundschaftliche Hass-Beziehung zu haben. Für die beiden schien es bestens zu funktionieren.
„Klasse Leistung, Luke.“, sagte ich. „Die wenigsten schaffen das. Erst recht nicht, wenn sie erst mit der Ausbildung angefangen haben.“ Luke sah verlegen zur Seite. Er hatte die Aufmerksamkeit, die ihm von nun an zuteilwerden würde, wirklich verdient.
Carry, die in der Küche arbeitete, winkte mir vom Tresen her zu. Das Zeichen, dass mein Frühstück fertig war. Ich stand auf und holte mir mein Essen. Doch als ich damit zurück an meinen Platz kam, war dieser schon besetzt. Ausgerechnet von Rick. Tief in meinem Innern war ich immer noch sehr wütend auf ihn. Und solange er sich nicht wenigstens ernsthaft bei mir entschuldigte, würde ich ihm auch nicht so schnell verzeihen können. Dass er es nie wieder tun würde, war zu viel der Hoffnung. Das konnte ich bei weitem nicht von ihm erwarten. Er tat ohnehin das, was er wollte. Ohne darauf zu achten, ob er mich damit verärgerte. Doch warum er dann auch wieder daran denken sollte, ob er mich verärgerte, wusste ich dann auch wieder nicht. Immerhin waren wir kein Paar oder so was. Unsere Beziehung hatte absolut nichts Ernstes an sich. Lediglich ein paar Stunden, gefüllt mit Spaß hatten wir zusammen.
„Du sitzt auf meinem Platz.“, sagte ich zu ihm ziemlich abwertend, wie ich zugeben musste.
„Reg dich ab. Da ist doch noch ein Platz.“, sagte er und nickte zu dem freien Stuhl neben sich.
Ich blieb noch einen Augenblick da stehen wo ich war und schaute zu ihm runter. Er schenkte mir keine Aufmerksamkeit mehr. Lieber lobte er Luke zu seiner erstklassigen Leistung an der Zombiefront. Tatsächlich schien er mich zu ignorieren. Kochend vor Wut stellte ich mein Essen auf den Tisch und setzte mich widerwillig auf den Platz neben ihn. Wenn er mich ignorierte, ignoriere ich ihn eben auch.
„Hast du gehört, was Luke geschafft hat?“, fragte Rick mich nach einer Weile. Es war eine Dämliche Frage. Immerhin hatte er die letzten Augenblicke von nichts anderem Gesprochen. Spätestens dann hätte ich erfahren, dass Luke sechs Zombies im Dunkeln der Nacht erledigt hat. Mit einem genervten Laut gab ich ihm zu verstehen, dass ich es schon längst gehört und auch gewürdigt hatte.
„Was ist los mit dir?“, fragte er mich daraufhin. „Bist du etwa immer noch Sauer? Ich hab mich doch entschuldigt.“
„Du nimmst das gar nicht ernst.“, sagte ich und schaufelte eine Gabel voll von meinen Rühreiern in meinen Mund.
„Du bist verdammt nachtragend, weißt du das?“, sagte Rick eher belustigt als ernst.
„Was ist denn los zwischen euch beiden?“, fragte Aaron. Perplex, als hätte ich vergessen, dass wir unter Leuten waren, sah ich ihn an.
„Nichts.“, antwortete ich stur, bevor Rick etwas dazu sagen konnte, dass zu viel verriet.
„Ja, ganz offensichtlich.“, gab Rick augenrollend von sich. Nur zu Aarons Belustigung.
Das war dann zu viel für mich. Ohne meine Rühreier aufzuessen, die wirklich köstlich aussahen und besser als das schmeckten, erhob ich mich von meinem Platz und ging. Rick konnte mich manchmal wirklich zur Weißglut bringen. Egal was er tat.
„Ivy!“, rief er mir hinterher. Aber ich ignorierte ihn. Im Augenblick wollte ich ihn bestimmt nicht sehen. „Komm schon! Das war doch bloß ein Scherz.“
Ich verließ die öffentliche Küche ohne mich noch einmal umzudrehen. Wahrscheinlich wurden wir mittlerweile von allen beobachtet. So viel zu unserer Abmachung, dass niemand etwas von unserer speziellen Beziehung erfahren sollte. Blind vor Wut lief ich durch die Gänge des Hauptgebäudes. Das klügste wäre wohl, wenn ich mich bei einer kleinen Trainingsrunde austoben würde. Dabei würde ich mich sogar von der Versammlung ablenken, die gleich anfangen würde. Ohne es vorzuhaben, beobachtete ich nämlich gerade, wie Jodie und Ava miteinander unterhaltend hinter der Tür zum Einsatzbesprechungsraum verschwanden.
„Hey! Ivy!“ Damit hatte Rick es doch noch geschafft mich dazu zu bringen zurück zu sehen. Er kam durch die leeren Gänge auf mich zu. „Hör zu…“
Mit einem „Schh“ brachte ich ihn zum Schweigen. Ohne ihn weiter zu beachten, zog es mich an den Überwachungsraum. Durch die Fenster erkannte ich, wie Mum und Carly den gesamten Sklavenbefreier Trupp, wie wir sie hier nannten, in den Besprechungsraum ließen. Dad, Jodie, Ava, Brad, Marty und Todd. Dort würden sie noch einmal das Lager der Sklavenhalter, das wie ich hörte eine ganze Stadt sein sollte, besprechen. Und sie würden den Plan durchgehen, den sich Dad überlegt hatte um den dortigen Sklaven die Freiheit zu erkämpfen. Ich würde so einiges geben dabei zu sein und mit zu hören. Wobei ich das letztere von beiden auch von hier draußen aus tun konnte. Aber Dad würde Wachsam sein. Ich würde mir nur wieder eine Bestrafung einhandeln, wenn ich die Gedanken derer belauschen würde, die an der Besprechung teilnahmen. Doch mir viel noch eine andere Möglichkeit ein.
„Was hast du denn jetzt schon wieder?“, fragte Rick, als ich Richtung Südausgang des Hauptgebäudes marschierte.
„Ich will hören, was sie sagen.“, sagte ich mit gedämpfter Stimme, sodass nur er mich hören würde. Wer weiß schon, wessen Ohren hier noch herumlungerten? Rick folgte mir, als ich um das Treibhaus, in dem die Kräuter wuchsen, herum ging, zur anderen Seite des Überwachungsraumes. Dort befand sich gleich neben dem Besprechungsraum ein kleiner Toilettenraum. Durch die Lüftungsschächte hatte man von dort einen hervorragenden Platz, von dem man alles hören konnte, was nebenan gesprochen wurde. Von dieser Seite konnte man dort hinein gelangen, ohne dass die Wachen am Überwachungsposten, in diesem Fall Mum und Carly, etwas mitbekamen.
Geräuschlos und schnell schlich ich mich in den kleinen Toilettenraum. Als ich die Türe hinter mir schließen wollte, hielt Rick mich auf. Er wollte mit rein. Der Raum war nicht gerade für mehr als eine Person konstruiert worden, aber wir hatten Platz genug – auch wenn es eng war. Trotzdem. Fürchte ich nicht schon etwas von der Besprechung verpasst zu haben, hätte ich mit ihm diskutiert und ihn rausgeworfen.
„Hast du nicht andere Möglichkeiten zu lauschen, als dich in diesem lauschigen Plätzchen zu verkriechen?“, fragte er flüsternd, als ich mich auf den Toilettensitz stellte um näher an das Belüftungsgitter zu kommen, damit ich besser hören konnte, was gesprochen wurde.
„Sei ruhig.“, fuhr ich ihn an.
Ich traute meinen Ohren nicht, als ich hier in diesem winzigen Toilettenraum am Lüftungsschacht der Besprechung meine Vaters belauschte. Rick stand neben dem Klo unter mir und versuchte auch etwas von dem mitzubekommen, was gerade beredet wurde. Obwohl er selbst eingeräumt hatte, dass es nicht genug war, nur einen Telepathen in die Sklavenhalterstadt einzuschleusen, wollte er genau das tun. Weil er die übrigen Einsatzkräfte, die jeden kampffähigen Bewohner der Gemeinde einschloss, koordinieren musste, was am Besten in deren Nähe zu schaffen war, konnte er nicht mit. Deshalb schickte er Jodie allen Ernstes alleine dort rein. Ich könnte ja verstehen, wenn es keinen anderen Telepathen in der Kolonie gäbe. Jodie konnte gut auf sich selbst aufpassen. Das hat sie, schätze ich schon des Öfteren bewiesen. Und das mag jetzt vielleicht kindisch klingen. Aber was ist mit mir? Zählte ich denn gar nicht? Ich war auch schon oft außerhalb der Mauern gewesen. Habe schon etliche Zombies aus dem Weg geräumt. Habe einigen Bandenmitgliedern in den Arsch getreten. Ich war schlichtweg Kampferprobt. Wieso setzte er mich nicht dafür ein?
Ich dachte nicht darüber nach, was ich tat. Ich handelte einfach. Als wäre mir eine Sicherung durchgebrannt. Rick drückte ich einfach zur Seite als ich mich aus dem engen Toilettenraum zwängte. In meiner Wut polterte ich am Überwachungsposten vorbei zum Besprechungsraum. Mir war gleichgültig ob ich jetzt noch ärger erwarten konnte. Wie konnte er mich nur so übergehen?
„Ivy!“, sagte meine Mutter empört, als sie mich um die Ecke kommen bemerkte. „Was tust du hier?“
„Ich muss da rein.“, sagte ich und wollte sogleich zur Tür hinter dem Tresen, auf dem die Bildschirme der Überwachungskameras aufgebaut waren. Aber Mum hielt mich auf. Ich lief ihr direkt in die Arme.
„Du kannst da jetzt nicht rein, Ivy.“, sagte sie und versuchte mich zurück zu schieben. „Und das weißt du.“
„Mum, bitte.“, flehte ich, als ich den Kampf zu verlieren drohte.
Plötzlich und unverhofft bekam ich dann Hilfe. Rick mischte sich ein. Vermutlich tat er das nur, um mich wegen unseres Streits milde zu stimmen. Doch im Grunde konnte es mir egal sein, warum er jetzt meine Mutter in Angriff nahm und mich von ihr los machte. Im Nu war ich frei und der Weg vor mir zur Tür auch. Jetzt würde Dad nicht mehr damit davon kommen, mich so einfach zu übergehen? Ich konnte durchaus ein wertvollerer Teil für diese Mission sein, als nur irgendein Fußsoldat, der hinterher den Sklaven eine Hand reicht um ihnen aus ihrem Gefängnis zu helfen. Ich konnte auch Vorarbeit leisten.


6


Plötzlich öffnete sich die Tür und Ivy stand darin. Alle drehten sich zu ihr hin. Mitten in unsere Besprechung ist sie geplatzt. Wie ist sie nur so einfach an Rae und Carly vorbei gekommen? Und vor allem, was wollte sie schon wieder hier? Das Mädchen treibt irgendwann noch einmal in den Wahnsinn. Als sie ein angefangen hatte zu laufen, war sie schon immer auf Draht gewesen. Überall kletterte sie herum, wie das Kinder ebenso taten. Immer musste ich ein Auge auf sie richten. Und selbst dann war es noch hart am Limit. Dann kam sie in die Pubertät und alles wurde schlimmer. Man konnte ihr nichts mehr recht machen. Sie interessierte sich für Jungs. Und dann auch noch die Sache mit Aaron. Damals war ich so wütend, dass am liebsten jemanden den Schädel eingetreten hätte. Aber auch so verlegen, dass ich am liebsten noch davor im Erdboden versunken wäre. Je älter sie wird, desto leichter wird es. Das haben zumindest alle immer gesagt. Heute glaube ich, die haben sich alle einen riesen Scherz mit mir erlaubt. Gar nichts wurde leichter. Das Mädchen war so schwierig wie eh und je – nur auf eine etwas andere Art und Weise. Das mit den Jungs hat sich wenigstens geändert. Aber nur, weil es jetzt Männer sind.
„Was-?“ Mehr zu sagen, hatte ich gar keine Chance.
„Was ist genau das Wort, das mir in den Sinn kommt!“, unterbrach sie mich. „Was fällt dir ein?!“, warf sie mir an den Kopf. „Wenn du schon einen zweiten Telepathen einschleusen willst, und es nicht selbst machen kannst, warum nimmst du nicht mich?“
„Was mir einfällt?“, wiederholte ich. „Dasselbe wollte ich dich fragen? Du hast kein Recht hier einfach so rein zu platzen!“
„John.“, flehte Rae mich hinter ihr an.
Sie war ihr mit Rick gefolgt. Auch Carly lugte von hinter ihnen durch die Tür. Brad, Todd und Marty drehten sich verlegen weg. Sie wünschten sich wohl alle drei dasselbe – jetzt nicht hier anwesend zu sein, um diese Szene mitansehen zu müssen. Jodie und Ava blickten nur überrascht drein. Niemand hatte wohl mit so einem Auftritt gerechnet.
„Du weichst meiner eigentlichen Frage aus.“, sagte Ivy.
„Also um ehrlich zu sein…“, mischte sich Jodie vorsichtig ein, „…hab ich mich das auch schon gefragt.“ Was sollte das denn jetzt bitte heißen? Gerade hatte ich ihnen meinen Plan lang und breit erklärt. Und gab es irgendwelche Einwände? Nein! Sie hat mir, wie alle anderen, bei allem was ich sagte zugestimmt.
„Was?!“, fragte ich sie empört.
„Na ja, ich will nicht sagen, dass ich mir das nicht zutraue.“, fuhr sie fort, „Aber ein wenig Hilfe da drinnen wäre schon nicht schlecht. Es würde zusätzliche Sicherheit für unser Vorhaben bedeuten, wenn ein zweiter Telepath mir unter die Arme greift. Besonders wenn es sich um Hundertdreißig Sklaven und weit mehr Sklavenhaltern handelt. Das hast du selbst gesagt.“
„Was soll das denn jetzt heißen?“, fragte ich sie. „Gerade eben hattest du noch keine Bedenken.“
„Ich hab auch nicht gesagt, dass ich Bedenken habe.“, sagte sie verbohrt. Jodie schien sich nun etwas von Ivys Wut angeeignet zu haben, die sich aus Mangel an Aufmerksamkeit für sie ein wenig abgekühlt zu haben schien.
„Und wieso schlägst du dann vor, dass ich meine zwanzigjährige Tochter in eine Stadt voller Sklavenhalter schicke!“, bellte ich sie aufgebracht an. „Sie ist zu jung!“ Diese Ausrede erschien nicht nur mir selbst Fadenscheinig. Aber was sollte ich sonst sagen? Ivy war mein kleines Mädchen. Wie konnte ich sie da in ein Sklavenleben schicken.
„Sie ist nur vier Jahre jünger als ich.“, brachte Jodie, sichtlich verletzt, hervor. Für einen Moment legte sich ein unangenehmes Schweigen über den Raum, das nur durch Jodie selbst gebrochen wurde. Sie stand auf und sagte, „Aber ich verstehe, dass das bei deiner Tochter eine ganz andere Sache ist.“ Dann verließ sie den Raum.
„Jodie!“, rief ich ihr hinterher. Weil sie natürlich nicht hörte, manövrierte ich mich um den Großen Tisch in der Mitte des Raumes herum und verließ, hinter ihr her, den Raum.

Kurz angebunden stand ich starr und wie angewurzelt im Raum. Wie alle anderen musste ich den Streit erst einmal verdauen. Was hatte ich da nur angerichtet? Nur weil ich so stur, kindisch und egoistisch war, habe ich einen Streit zwischen meinem Vater und meiner Tante ausgelöst, die sich sonst immer bestens verstanden. Über mein eigenes Handeln konnte ich nur noch den Kopf schütteln. War es mir denn wirklich so wichtig, eine neue Rolle in Dads Plan einzunehmen? Noch dazu eine Rolle, die wesentlich gefährlicher war als die, die ich bis dato hatte.
Dann löste sich meine Starre und ich folgte den beiden.

Sie hat den Überwachungsraum zur linken Seite verlassen. Ich konnte sie nicht mehr sehen, wusste aber welchen Weg sie gegangen war. Außerdem gab es ohnehin nicht viele Möglichkeiten sich hier unbemerkt zu verstecken. Schon gar nicht vor mir. Als ich den Westausgang des Hauptgebäudes erreicht hatte, sah ich gerade noch wie Jodie in den Wald verschwand. Wie war sie nur so schnell auf die andere Seite gelangt?
Ich lief nicht, aber ich ging mit schnellen Schritten. Würde Jodie zu tief in den Wald ging, konnte es eine Weile dauern, bis ich sie fand. Dass sie glaubte, dass ich mir mehr Sorgen um Ivy machte, konnte ich gut verstehen. Ich hatte das klar genug ausgedrückt. Aber es war auch die Wahrheit. Um Ivy musste ich mir mehr Sorgen machen als um Jodie. Nicht weil sie meine Tochter ist. Auch nicht, weil ich sie schon einmal fast auf so einer Mission verloren hätte, als es nur um acht Sklaven ging. Es ging vielmehr darum, dass ich mich leider nicht so auf Ivy verließ, wie auf Jodie. Jetzt musste ich nur noch ihr das klar machen. Und besten Falls verhindern, dass Ivy mit auf diese Mission will.
„Tötet die Zombies!“, hörte ich jemanden mit Elan rufen. Erschrocken blieb ich stehen. Doch zu meiner Beruhigung erkannte ich, dass es nur Kinder waren die spielten. Ein sehr beunruhigendes Spiel. Aber Kindern konnte man nur selten wirklich erfolgreich etwas verbieten. Irgendwie schienen sie immer das zu tun, was sie nicht tun sollten. Zum Beispiel spielten die Kinder, darunter auch Pablo, am Eingang zum Untergrundtunnel. Das war gefährlich. Widerwillig ließ ich von meinem Kurs für einen Moment ab und trat die Stufen zum vergitterten Eingang seufzend hinunter, um zu überprüfen ob das Gitter auch ja sicher verschlossen ist. Bald würde ich wieder eine Einheit da runter schicken müssen um zu überprüfen ob sich dort auch nichts eingenistet hat. Aber das hatte noch Zeit bis die Befreiungsaktion durchgeführt ist.
„Ich will nicht dass ihr hier unten noch einmal spielt.“, sagte ich als ich am Gitter rüttelte und das Schloss überprüfte. „Und müsstet ihr nicht längst im Unterricht sitzen?“
„Na los.“, sagte Joe und schob Pablo mir entgegen.
„Wir spielen hier doch nur.“, sagte Pablo schüchtern, ohne mich anzusehen.
„Es ist zu gefährlich. Und ihr wisst genau warum.“ Die Kinder hatten einen Zombie noch nie aus der Nähe gesehen. Aber sie wussten wie sie aussahen und warum sie so gefährlich waren. Aber bei die kleinsten unter ihnen, spielten wir die Wahrheit natürlich runter. Erst ab der zweiten Klasse, in der sie zwischen neun und zwölf Jahre alt waren, erfuhren sie genau, was sich außerhalb der Mauern abspielte. Sie wurden in dem Alter aktiv in die Gemeinde eingebunden, da es dann an der Zeit wurde, dass sie sich für einen Job in der Gemeinde entschieden. Denn manche Jobs, wie zum Beispiel in der öffentlichen Küche oder als Mediziner, konnten schon im Alter von zehn Jahren angetreten werden, wohingegen andere Jobs erst mit zwölf, vierzehn oder gar sechzehn Jahren angetreten werden konnten. „Und jetzt ab zum Unterricht.“, scheuchte ich sie fort. Ich würde den Eingang versiegeln, würde ich ihn mir nicht als eine Art Notausgang offen halten wollen. Es war gut möglich, dass irgendwann so viele Zombies auftauchen könnten, dass wir sie nicht alle ausschalten können. Und für so einen Fall müssten wir dann ganz schnell von hier verschwinden.
Ich nahm wieder Jodies Verfolgung auf. Sie war irgendwo im Wald, das war klar. Nur wo? Auf der Weide, die vom Wald umringt wurde, war sie bestimmt nicht. Dort würde sie nicht alleine sein können. Unter den Schafen, Pferden, Schweinen und Kühen, die wir mühsam zusammengesammelt haben und jetzt züchten, waren auch immer mindestens zwei Viehhüter. Und ich schätze Jodie wollte jetzt lieber alleine sein. Also würde sie sich tief im Wald aufhalten, wenn nicht sogar an der Mauer.
Doch lange musste ich gar nicht suchen. Ich lief ihr gleich, ein Stück hinter der eingezäunten Weide, über den Weg. Sie saß auf der Wurzel eines Baumes und hatte die Knie an ihren Torso gezogen. Ihr Kopf ruhte auf ihren Knien.
„Verschwinde!“, sagte sie, ohne aufzusehen. „Lass mich in Ruhe.“
„Komm schon, Jodie.“, sagte ich sie auf und trat langsam näher. „Natürlich mach ich mir genauso viele Sorgen um dich, wenn du da draußen bist, wie um Ivy.“
„Und trotzdem willst du mit allen Mitteln verhindern, dass sie mitkommt.“, sagte Jodie. „Dabei könnte sie wirklich hilfreich sein.“
„Ich weiß.“, gab ich zu. „Aber ich fürchte auf sie kann ich mich nicht so verlassen, wie auf dich. Sie ist zu ungestüm und unvorsichtig. So hilfreich wie sie sein kann, so kann sie auch die ganze Operation gefährden. Du weißt doch noch wie es bei ihrem letzten Einsatz mit uns war.“
Das war vor vier Jahren. Damals war Ivy sechzehn und hatte ihre Ausbildung als Sklavenbefreier begonnen. Als Köder hatten wir sie damals eingesetzt um Zutritt zu einem Sklavenhalterlager zu erlangen. Nach zwei Tagen hatten wir das Lager gestürmt und die dortigen Sklaven befreit. Um Verluste auf unserer Seite kamen wir nur knapp herum, aber nicht auch um Verletzungen. Ivy war damals am schlimmsten verletzt. Drei Kugeln hatten ihren Körper durchbohrt. Eine steckte in der Schulter, eine hatte sich komplett durch ihren Oberschenkel gebohrt und die Dritte richtete den meisten Schaden an, als sie in Brusthöhe eindrang. Nur eine Notoperation in der nicht im Geringsten sterilen Umgebung vor Ort hatte sie außer Lebensgefahr gebracht. Allerdings musste ich sagen, dass es ihre eigene Schuld gewesen ist. Es war ihre Aufgabe gewesen die Sklaven hinaus zu führen, während wir die Sklavenhalter in Schach hielten. Doch Ivy kam zurück. Sie hatte es selbst auf einen der Sklavenhalter abgesehen und wollte ihn töten. Zwei der Kugeln, die sie getroffen hatten, stammten schließlich von eben diesem Sklavenhalter.
„Ja. Damals hat sie nur überlebt, weil du sie gerettet hast.“, erinnerte sie sich. Ich hatte zwar nicht als erster bemerkt, dass Ivy damals zurückgekommen war, aber ich war der erste, der bei ihr war. „Es klingt vielleicht blöd, aber…“ Sie lachte kurz und humorlos auf. „Manchmal bin ich richtig eifersüchtig auf Ivy, weil sie immer auf ihren Vater zählen kann. Und auch auf dich, weil du so viel Zeit mit Dad verbringen konntest.“
Jodie musste ihn sehr vermissen. Und das, obwohl sie ihn gar nicht kennen lernen konnte. Oder vielleicht gerade deshalb. Das einzige was sie von Dad kannte, kam von meinen Erinnerungen, oder der der anderen – Sarahs Erinnerungen waren allerdings etwas verschwommen. Ich konnte nachvollziehen, wie sie sich deshalb fühlte. Mir ging es ganz ähnlich, obwohl ich, wie sie sagte, so viel Zeit mit ihm hatte. Es war bei weitem nicht genug. Ich setzte mich neben sie auf den Boden und legte tröstend den Arm um sie. Mit ihrem Handrücken wischte sie sich Tränen aus dem Gesicht. Nie war ich gut darin gewesen jemanden zu trösten. Damals nicht bei Sam und heute würde ich auch nicht sehr hilfreich sein können. Trotzdem würde ich mein möglichstes unternehmen sie aufzuheitern. Es gefällt mir nicht jemanden so zu sehen. Egal ob Schwester oder Freund oder auch ein Fremder.
„Eines ist sicher.“, sagte ich unbeholfen. „Du bist die Tochter deines Vaters. Durch und durch. Du hast viele seiner Qualitäten geerbt. Dave hat mir mal gesagt, dass ich dazu geboren wurde den Platz unseres Vaters eines Tages einzunehmen. Und ich glaube, dass das bei dir auch der Fall ist.“ Jodie hatte auch Dave nie kennengelernt. Er verließ die Erde noch vor ihrer Geburt. Aber sie wusste, wer er war. Oft habe ich ihr von ihm erzählt. Und zusammen haben wir gerätselt, wie das Schiff wohl aussehen mochte, mit dem er die Erde verließ. Und was er womöglich dort draußen erleben oder finden würde. Und ob er jemals zurückkommen würde. „Und weil das so ist, muss ich mir um dich nicht ganz so viele Sorgen machen. Deine Instinkte leiten dich so, wie sie Dad sein Leben lang geleitet haben.“
„Trotzdem hätte ich meinen Vater gerne kennengelernt.“, sagte sie.
„Ich fürchte das kann dir keiner geben.“, sagte ich. „Aber vielleicht hilft es dir wenn ich sage, dass ich oft nicht weiß, was du eigentlich für mich bist, meine Schwester oder meine Tochter.“
Dazu sagte sie nichts, legte aber ihren Kopf auf meine Schulter. Das sagte mir, dass ihr das auch schon etwas bedeutete. Vielleicht war ich gar nicht so schlecht im Trösten, wie ich dachte. Womöglich hatte ich Sam damals auch etwas helfen können. Lange hatten mich die letzten Stunden und meine Unbeholfenheit mit dieser Situation beschäftigt. Immer hatte ich befürchtet, dass ich ihm womöglich nur mit meiner Telepathie geholfen hatte.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Jodie nach einer Pause des Schweigens. „Wegen Ivy und der Mission, meine ich?“
„Ich weiß es nicht. Wenn ich mir sicher sein könnte, dass sie nicht irgendwann auf eigene Faust operiert, sondern nur nach deinen Anweisungen handelt, könnte ich sie gehen lassen. Vielleicht sollte ich noch einmal mit ihr reden.“
„Das solltest du.“, riet mir Jodie. „Ich wette sie macht sich heute besser, als vor vier Jahren.“
Mit dem Wiehern eines der Pferde von der Weide, richtete wir uns schließlich wieder auf unsere Beine und machten uns auf den Rückweg. Immerhin hatten wir noch eine Besprechung zu führen.
„Weißt du was?“, fragte Jodie, als wir aus dem Wald traten. „Du wärst sogar alt genug mein Vater zu sein.“
Daraufhin musste ich lachen. Wir beide lachten kurz zusammen. Sie hatte damit vollkommen Recht. Dad hatte sich spät noch einmal verliebt und dann Jodie gezeugt. Danach war ich eine Art Ersatzvater für sie. Auch Sarah hatte ich aufgezogen, obwohl sie nur sieben Jahre jünger war als ich. Unsere Mutter war bei ihrer Geburt gestorben und Dad hatte anfangs zu viel zu tun seine Sklavenarbeit zu absolvieren und später unsere Gemeinde zu gründen und zu organisieren. Es war nicht immer leicht, besonders zu der Zeit als ich selbst noch ein Kind war. Aber mir blieb damals ohnehin nichts anderes übrig. Auch als Dad gestorben war und Jodie eine Vaterfigur brauchte, war es für mich selbstverständlich einzuspringen. Und als dann Ivy geboren wurde, dachte ich, dass ich ja schon Übung in der Vaterrolle sammeln konnte. Doch irgendwie schien es einen Unterschied darin zu geben seine Schwester großzuziehen oder seine eigene Tochter. Ich schätze der Unterschied bestand darin, dass ich bei der Erziehung meiner Schwestern nicht das letzte Wort hatte. Es war immer jemand da, der mich überbot. Bei Ivy gibt es da nur Rae, mit der ich auf einer Ebene war.

„Alles in Ordnung?“, fragte mich Rick.
„Ja.“, log ich. Es war alles in Ordnung. Bis auf die Tatsache, dass mein eigener Vater mir nicht vertraut. Es war nicht die überfürsorgliche Sorge eines Vaters für seine Tochter, die ihn nicht wollen ließ, dass ich in die Sklavenhalterstadt eingeschleust werde. Er traute mir nicht zu, dass ich die Mission erfolgreich meistern könnte. Und das wegen eines Vorfalls, der vier Jahre zurück lag. Damals war ich doch noch ein halbes Kind. Ich hatte gerade erst meine Ausbildung bei den Sklavenbefreiern angefangen. Heute war ich wesentlich erfahrener als mit sechzehn. Ich würde meine Aufgabe nicht mehr so leichtfertig aufs Spiel setzen, wegen eines persönlichen Rachefeldzuges. Meinem Wissen nach hatte Dad keine Ahnung, warum ich es damals getan habe. Ich rechnete es ihm hoch an, dass er meine Gedanken nicht nach dem Grund erforscht hatte. Aber wüsste er, warum ich es getan habe, hätte er es verstanden. Als ich vor vier Jahren das einzige Mal dabei war, als sie ein Sklavenhalterlager überfallen wollten, haben wir acht Sklaven befreit. Aber eigentlich hätten es neun sein müssen. Der Mann, sein Name war Declan. Diesen Namen werde ich nie vergessen. Genauso wenig wie Panda. Panda war damals vielleicht zwei Jahre jünger als ich, als sie von Declan, direkt vor meinen Augen, kaltblütig ermordet wurde. Sie starb in meinen Armen und ich versprach ihr, ihren Tod zu rächen, dass Declan durch mich den Tod finden würde.
Dad und die anderen hatten mich auf einer der üblichen Routen der damaligen Sklavenhalter ausgesetzt. Ich sollte wirken wie ein einsames Mädchen, dass suchend nach einem Platz wo sie bleiben konnte durch das Ödland streifte. Wie jemand, der nicht vermisst würde, sollte ich aussehen. Das tat ich, als mich eine Gruppe von drei Männern, die auf der Suche nach brauchbaren Gegenständen in den Städten waren, aufgegabelte. Dad blieb damals unsichtbar in der Nähe um die Männer daran zu hindern ihre dreckigen Hände an mich zu legen. Im Lager der Männer, es war nur eine Frau unter den Sklavenhaltern, die nicht mal wirklich aussah wie eine Frau, wurde ich zu Panda in eine Küche gesperrt und sollte für die elf Männer und die männliche Frau dreimal täglich kochen. Neben der Küche war eine kleine Schnapsbrennerei, die wir nach der Räumung des Lagers mit nach Hause nahmen. Zusammen mit Kurt, einem alten, weißbärtigen Mann, der vor etwa zwei Jahren gestorben ist, sollte ich auch dafür zuständig sein. Die Sklavenhalter hatten ja keine Ahnung, dass ich nicht mehr lange da bleiben würde. Am zweiten Tag kam Declan plötzlich in die Küche und schrie Panda und mich an, dass wir sein Essen versalzen hätten. Panda machte den Fehler ihm zu entgegnen, dass wir kaum Salz verwendet hätten, weil es ohnehin knapp war. Daraufhin flippte er aus. Er war es nicht gewohnt, dass ihm jemand widersprach. Ohne weitere Vorwarnung packte er Panda am Genick, schleuderte einen Topf mit lauwarmem Wasser, das wir gerade zum Kochen bringen wollten, von der heißen Ofenplatte und drückte Pandas rechte Gesichtshälfte an die Platte. Niemals werde ich Pandas Schreie und wie sie gezappelt hatte vergessen. Als ich versuchte einzugreifen zog Declan seinen Revolver und ich erstarrte zu einer Salzsäule meiner selbst. Dann erschoss er sie. Teile von Pandas Gehirn verteilten sich auf der noch brennend heißen Ofenplatte und fingen sofort an zu brutzeln. Declan ließ Panda los und ging aus der Küche. Für einen Moment wirkte Panda als würde sie schlafen, aber ihr zertrümmerter Kopf verriet mir anderes. Langsam trat ich auf sie zu und merkte dabei, dass sie noch lebte. Vielleicht bildete ich mir auch nur ein, dass sie mich noch einmal ansah, aber in diesem Moment versprach ich ihr, dass ihr Tod nicht ungesühnt bleiben würde. Einen Augenblick kam Declan mit einem der anderen Sklavenhalter zurück, der sich lachend aber auch sauer über Panda beugte. Dann nahmen sie sie mit und ließen mich alleine zurück. Panisch löschte ich den Ofen und schrubbte Pandas Überreste weg. Hatten sie mein Versprechen womöglich gehört? Eher nicht. Sonst hätten sie mich auch sofort getötet. Nachdem ich mit der Bürste, die ich dabei verwendete schon das Blech zerkratzte, übergab ich mich mit Tränenüberströmten Gesicht.
Noch in derselben Nacht meldete sich Dad telepathisch bei mir, weil ihm mein Zustand Sorgen bereitete. Er wusste nicht was los war, nur dass ich aufgewühlt war. Ich teilte ihm mit, wann und von wo sie am besten einfallen sollten, und wo sie die elf Sklavenhalter finden würden. Die Sklaven waren sehr Hilfreich und hatten mir schon am Tag zuvor alles nötige mitgeteilt. Nur schwer konnten sie ihre Freude darüber, dass sie bald frei sein würden, unterdrücken. Aber die Sklavenhalter merkten nichts. Größtenteils deshalb, weil sie die meiste Zeit über betrunken waren.
Als Dad und die anderen schließlich einfielen, war es meine Aufgabe die Sklaven aus dem Lager zu den Autos, die in sicherer Entfernung standen, zu bringen. Doch ich konnte an nichts anderes mehr denken, als an mein Versprechen, das ich Panda gegeben hatte. Alleine ließ ich die acht Sklaven zurück um den neunten zu rächen. Chaos war ausgebrochen, als ich zurück ins Lager kam. Niemand achtete auf mich, als ich durch das Getümmel hastete und nach Declans widerlicher Fratze suchte. Im Schutze der Hütten, die das Lager bildeten, erwischte ich ihn, wie er versuchte sich davon zu stehlen. Ich verfolgte ihn, bemerkte aber, dass ich unbewaffnet war. Und wie ein Wink des Schicksals fiel mir eine Leiche vom Dach vor die Füße. Einer der Sklavenhalter, der seine Pistole noch in der Hand hielt. Ich griff mir die Waffe und lief Declan hinterher. Weil ich nicht wusste wie viel Munition ich hatte, versuchte ich genau zu zielen, wobei ich unvorsichtig meine Deckung fallen ließ und mir in meinem Oberschenkel eine Kugel einfing. Humpelnd verfolgte ich Declan weiter und feuerte diesmal blindlings auf ihn. Natürlich traf ich ihn nicht. Er hingegen traf mich erst in die Schulter und dann in die Brust. Er entkam. Dad kam zu mir und drückte sein Shirt auf meine Wunde in der Brust und stülpte seinen Gürtel um meinen Oberschenkel, um die Blutung zu stillen. Manchmal, wenn ich heute mit den Jungs unterwegs bin um zu jagen oder sammeln zu gehen, hielt ich insgeheim Ausschau nach ihm. Doch natürlich fand ich ihn nie. Wieso sollte er mir auch über den Weg laufen?
„Ist wirklich alles in Ordnung?“, fragte mich Rick plötzlich. Ich hatte ganz vergessen, dass er noch da war. Und jetzt bemerkte ich auch, dass Tränen aus meinen Augen hervorquollen und mir die Wangen runterliefen. Weil ich ihm nicht antwortete und mich ausschwieg, ergriff er die Stille und trat näher an mich heran. Langsam und vorsichtig legte er seine Arme um mich und zog mich an sich heran. Sein Körper umschloss mich, genau wie seine Wärme und sein Geruch. Er roch nicht schlecht. Der Duft seiner Seife, die mit Zitronenschalen vermengt waren, stieg mir in die Nase, als ich meinen Kopf in der Mulder zwischen einem Kopf und seiner Schulter ablegte. Meine Tränen durchnässten den Kragen seines Shirts. Ich spürte seinen heißen Atem in meinem Nacken und seine Hand an meinem Kopf. In dem Moment war es nichts Sexuelles zwischen uns, sondern einfach nur eine liebevolle Geste.
Ich weiß nicht wie lange wir so da standen, und es war mich auch egal. Von mir aus könnten wir noch eine Weile länger einfach so im Schutze des Waldes herumstehen, wo Rick mich davor bewahrte im Meer meiner Erinnerungen zu ertrinken. Wahrscheinlich dachte er, dass ich wegen dem, was Dad über mich gesagt hat, so niedergedrückt war. Zum Teil stimmte das vielleicht auch. Lange hatte ich nicht mehr so intensiv an Panda gedacht. Die Erinnerung an die Ereignisse damals, hingen wie eine schwarze Wolke über mir, die hin und wieder Regen in Form von Bildern und Gefühlen über mich ergoss.
„Geh nicht.“, sagte Rick schließlich und grub sein Gesicht tief in meine Haare.
Was?, war alles was ich in dem Augenblick denken konnte.
Ich hatte mich in seinen Armen verkrampft, weshalb er wohl schnell weitersprach. „Ich meine nicht, wegen dem, was dein Vater gesagt hat. Das ist mir vollkommen egal. Aber du weißt so gut wie jeder andere, dass auf diesen Missionen schnell was schief gehen. Besonders wenn man als Sklave eingeschleust wird. Also, bitte, geh nicht.“, flehte er mich an.
Ich stieß ihn von mir. „Du tust es schon wieder.“, sagte ich. „Du mischst dich schon wieder in mein Leben ein.“
„Ich mach mir doch nur sorgen um dich.“ Sein Gesicht, das von der Sonne dunkel gefärbt war, sah mich wirklich flehend und Schmerzverzehrt an.
„Denkst du nicht ich kann auf mich aufpassen?“, forderte ich ihn heraus. „Wir gehen seit fast drei Jahren regelmäßig vor die Mauer und jedes Mal bin ich wieder zurückgekommen.“
„Aber du hast doch selbst mitangehört, was Jodie berichtet hat. Unter ihnen sind auch Telepathen. Die merken doch dass du auch einer bist.“
„Hör zu, nur weil wir hin und wieder ein paar schöne Stunden miteinander verbringen, heißt das noch lange nicht das wir uns gegenseitig etwas schuldig sind. Also kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Scheiß!“, warf ich ihm an den Kopf und verschwand. Ich war so wütend. Wieso tat er das nur? Erst war alles wieder in Ordnung, sodass ich gar nicht mehr daran dachte, dass er hinter meinem Rücken Dad angeblafft hatte, und dann mischt er sich schon wieder ein. Ich bin kein Kind, auf das man aufpassen musste – schon gar nicht Rick. Und das würde ich allen beweisen. Ich würde Dad beweisen, dass ich nicht ungestüm und unvorsichtig bin. Ich werde ihm zeigen, dass er sich auf mich verlassen kann. Und diesmal werden alle Sklaven befreit, ohne Ausnahme!


7


Noch von gestern Nacht war der Tisch verklebt mit Bier. Lulu hatte gemeint, dass wir später aufräumen sollten – also jetzt. Gestern wurde es nämlich noch später als sonst. Als ich nach Hause kam, ging schon die Sonne auf und Lucy und Stu, die auf dem Weg zu ihrer Schicht bei der Wache waren, sind mir begegnet. Eine neu anstehende Mission der Sklavenbefreier weckte immer die Lust der Leute abends nach getaner Arbeit bei einem Gläschen zusammenzusitzen und über die möglichen Neuankömmlinge zu reden. Und meistens blieben sie dann die halbe Nacht, was mir nichts ausmachen würde, wenn es nicht die ganze Zeit so stressig wäre den Überblick über den Alkoholkonsum der Leute zu behalten. Wir brauchten hier in der Bar wirklich Hilfe. Vielleicht wird es ja was, wenn die Neulinge ankamen.
„Wann geht´s los?“, fragte ich Jodie, die auf dem Teil des Tresens saß, den ich schon gewischt hatte. Sie kam gerade von der Besprechung zurück, in der ihr Bruder erklärte, wie er bei der bevorstehenden Mission vorgehen wollte. „Nicht bevor die Jahreszeit um ist, oder? Wo doch Ivy mitkommen wird.“ Ivy hatte noch bis Ende der Jahreszeit abzusitzen, bevor sie wieder vor die Tore der Kolonie durfte.
„John macht eine Ausnahme.“, sagte sie. „Wir fahren schon in fünf Tagen.“ Fast so, als würde sie mir etwas gestehen, erzählte sie mir davon. Aber so fühlte sie sich vermutlich auch. Erst bevor sie zur ersten Observation der Stadt aufgebrochen war, hatten wir über dieses Thema gestritten. Es sei nicht verwerflich, dass ich Angst um sie hatte, hatte sie gesagt, aber ich solle ihr Vertrauen, dass sie keine unnötigen Risiken eingehen würde. Sie würde schon wieder nach Hause kommen, versicherte sie mir. Ich konnte einfach nicht anders, als immerzu daran zu denken, wenn sie weg war, dass sie nicht wieder kommen würde.
„Verstehe.“, sagte ich nur und wischte schweigend weiter.
„Es sind nur zwei Tage bevor Ivy eigentlich wieder raus dürfte. Und sie ist schon seit Tagen wieder Topfit, soweit ich beurteilen kann.“, plapperte sie vor sich hin. Ich schwieg mich weiter aus. „Nick?“
„Schon gut, ich hab dich gehört.“, sagte ich schließlich und mir fiel auf, dass ich seit einer ganzen Weile die immer gleiche Stelle des Tresens putzte. Ich tauchte den Lappen zurück in den mit warmen Wasser und etwas Seife gefüllten Eimer, und wrang ihn dann wieder aus. „Wie lange wirst du weg sein?“ Es hörte sich komisch an, wie ich diese Frage aussprach. Irgendwie gab ich damit mehr meiner Gefühle über diese Mission preis als ich wollte.
„Du weißt, dass sich das nie so genau sagen lässt.“, sagte sie. „Aber diesmal bin ich ja nicht alleine in der Stadt. Ich werde Hilfe haben.“ Jetzt redet sie mit mir schon wie mit einem Kind.
Bevor sie zur Observation aufgebrochen war, und wir deswegen wieder einmal stritten, hatte sie unverblümt mitgeteilt, dass sie bleiben würde, wenn sie ein Kind bekäme. Zuerst dachte ich, ich hörte nicht richtig. Und dann erkannte ich, dass sie dieses Thema schon länger beschäftigte. Hin und wieder erwischte ich sie dabei, wie sie in dem leeren Zimmer unserer Wohnung auf dem Fensterbrett oder dem Boden saß, und sich einfach im Raum umsah. Anfangs dachte ich, sie würde überlegen, was wir endlich damit anstellen konnten. Nie hätte ich gedacht, dass sie es mit einem Kind füllen wollte. Ich meine, wir sind doch beide noch so jung. Auch wenn Jodie zwei Jahre älter war, hatte sie doch noch eine Menge Zeit, bis ihre biologische Uhr anfing zu ticken. Wieso wollte sie jetzt ein Kind? Ich bin erst zweiundzwanzig und noch längst nicht reif für ein Kind.
„Nick, wir sollten uns wirklich darüber unterhalten.“, sagte sie schließlich. „Ich meine, die Sache … es muss ja nicht sofort sein.“
„Nicht jetzt. Okay?“, unterbrach ich sie, bevor mehr ins Detail ging, wo doch Lulu im Raum ist. „Ich hab zu arbeiten. Wir machen gleich auf.“
„Okay, schon gut.“, gab sie sich geschlagen und räumte das Feld. Sie hopste vom Tresen, ging durch das Lager und verließ die Bar. Ich hatte sie gekränkt. Aber jetzt wollte ich dieses Gespräch nun wirklich nicht führen. Trotzdem hatte ich das ungute Gefühl, dass ich ihr nachgehen sollte. Doch ich blieb wo ich war und räumte stattdessen die Putzsachen, mit dem dreckigen Wasser, auf.
„Probleme?“, wollte Lulu wissen. Sie hatte die Tische im Raum gewischt und so getan, als hätte sie uns nicht gehört.
„Ich will nun wirklich nicht darüber reden.“, fuhr ich sie an.
„Schon gut, schon gut. Ich wollte ja nur höflich sein.“
Nachdem wir die selbstgebrauten Bestände aufgefüllt hatten, schloss ich die Türen zur Bar auf. Alkohol gab es bei uns erst ab Sonnenuntergang, der, obwohl ich es nicht sehen konnte, weil hier kein Fenster nach draußen war, jetzt wohl einsetzen würde. Ein paar Minuten hin oder her, spielten nun wirklich keine Rolle. In der Gemeinde lief ohnehin alles nach der eigenen inneren Uhr. Es gab hier nur wenige wirkliche Uhren. Und die meisten davon funktionierten nicht einmal mehr.
Rick war der erste, der heute Abend kam. Kaum hatte ich die erste Tür aufgeschlossen, bog er um die Ecke und nahm Kurs auf die Bar. Als ich ihn grüßte, grunzte er mich nur schlechtgelaunt an. Was ist dem denn über die Leber gelaufen, fragte ich mich kopfschüttelnd. Bei Lulu bestellte er sofort eine ganze Flasche von dem selbstgebrannten Schnaps. Wenn er das Zeug trank, konnte er sich heute nicht mehr viel erlauben. Das Limit der Trinker, kam auf die jeweilige Menge an, die sie vertrugen, bis sie erste starke Anzeichen von Betrunkensein aufwiesen. Bei Rick lag es bei etwas mehr als einer Flasche. Wobei er schon länger nicht mehr in die Bar gekommen ist.
Der Raum füllte sich schnell und es dauerte nicht lange, bis sich die allgemeine Stimmung mit Alkohol füllte und auflockerte. Die jeweiligen Tischgespräche drehten sich bald alle um die bevorstehende Mission. Man war allgemein aufgeregt, wie die neuen wohl sein würden. Einige Idioten interessierten sich nur dafür, ob es neue hübsche Frauen gab. Selbst wenn es hübsche Frauen gab, würden sie bestimmt traumatisiert genug sein, von ihren Jahren die sie als Sklaven verbracht hatten. Da brauchten sie nicht auch noch dämliche Anmachversuche, von denen sie genervt wurden. Man sollte annehmen können, dass ehemalige Sklaven sich so etwas denken konnten. Aber vermutlich waren sie schon lange genug wieder in Freiheit. Zeit heilte eben irgendwann alle Wunden.
Gegen Mitternacht kamen wir kaum noch mit den Erfüllungen der Bestellungen hinterher. Ich war nur noch dabei leere Flaschen nach hinten ins Lager zu bringen, und mit vollen wieder zu kommen, während Lulu wie am Fließband nachschenkte. Immer während der Arbeit stieß ich Hoffnungsvolle Gebete in den Himmel, dass es bald Neuankömmlinge geben würde, die uns zur Hand gehen konnten. Ich konnte kaum glauben, dass es bald soweit sein würde. Und in vier Tagen wäre die Bar bis zur Rückkehr auch schon geschlossen. Dann hieß es trainieren, bis wir in der Sklavenhalterstadt gebraucht würden, um sie zu stürmen. Endlose Zielübungen und Stunden, die ich auf dem Laufband verbringen würde. Aber das war es wert. Das Gefühl hinterher, wenn man wusste, dass man so vielen Menschen die Freiheit erkämpft hatte, entschädigten diese Stunden der Plackerei.
Den ganzen Abend saß Rick alleine auf einem der Hocker am Tresen und trank seine Schnapsflasche leer. Als er noch eine Flasche wollte, hatte ich bedenken sie ihm auszuhändigen. Mehr als eine Flasche sollte er nicht trinken. Solange war er nicht mehr hier gewesen. Es musste einen Grund geben, warum er plötzlich hier saß und wie ein schwarzes Loch den Alkohol vertilgte. Vermutlich sollte ich ihm nichts mehr geben.
„Jess hab dich nichso.“, lallte er. „Mach doch ma ´ne Ausnahme.“
„Was ist los mit dir?“, fragte ich ihn, ohne ihm mehr Alkohol auszuschenken. „Sonst hängst hier auch nicht alleine rum.“ Dass jemand alleine in der Bar herum saß und sich zuschüttete, war immer ein sicheres Zeichen dafür, dass man Sorgen oder Probleme hatte. Ich war auch schon fas soweit hier alleine rum zu sitzen und zu trinken.
„Das geh´dich gar nichs an.“, gab er mir zu verstehen. „Und jess gib mir noch ´ne Flasche.“
„Mich würde aber auch mal interessieren, was mit dir is?“, fragte Kyle, der plötzlich aufgetaucht war. Er hatte auch schon etwas getrunken, aber er war bei weitem bei klarerem Verstand, als Rick.
„Versieh dich doch.“, sagte Rick zu seinem Bruder und schlug aus. Aber er traf nichts weiter als die Luft.
„Lass mich raten.“, meinte Kyle. „Es geht um eine Frau. Es geht immer um eine Frau.“
„Na davon kann ich auch ein Liedchen singen.“, gab ich kopfschüttelnd zu und schenkte uns dreien noch einen kleinen Drink ein, ohne weiter nachzudenken.
„Frauen.“, jammerte Rick einfach und schüttete sich seinen Drink auf Ex hinter die Binde.
„Du sagst es, Mann.“
„Oh, Mann. Da haben sich ja zwei gefunden, was?“, sagte Kyle amüsiert. „Was macht dir Jodie denn für Probleme?“, fragte er mich.
„Sie will ein Kind.“ Und damit kippte ich mir auch meinen Drink auf Ex runter.
„Wow. Das ist ein starkes Stück. Und du willst keines?“, wollte Kyle wissen.
„Ich weiß es nicht. Ich meine, ich bin erst zweiundzwanzig. Wir sind beide noch so jung. Und immer muss ich daran denken, dass ich einfach noch nicht soweit bin ein Kind zu bekommen. Andererseits…“
„Was?“, fragte ausgerechnet Rick, der sich noch kaum an unserer Unterhaltung beteiligt hatte.
„Na ja. Hätten wir ein Kind, würde sie erst einmal zu Hause bleiben müssen. Dann müsste sie nicht mehr da raus ins Ödland.“
„Dazu muss sie doch nicht erst schwanger werden.“, meinte Kyle. „Es wird doch niemand gezwungen den Schutz der Mauer zu verlassen.“
„Ich glaube einfach, ich bin ihr nicht genug, um zu Hause zu bleiben.“, gab ich zu. Nicht mal in meinen Gedanken, vor mir selbst habe ich das zugeben wollen.
„Hah.“, lachte Rick humorlos und gequält auf. „Das kenn ich von irgendwoher.“
Das erregte Kyles Aufmerksamkeit. Meine auch. Normalerweise verbreitete sich die Neuigkeit über eine neue Liebschaft hier wie ein Lauffeuer. Ich schätze keiner von uns beiden hat auch nur ein Gerücht davon gehört, dass Rick eine Flamme hätte.
„Wer?“, fragte Kyle grinsend, plötzlich scharf auf neuen Klatsch. Dann dachte er selbst darüber nach und schien zu einem Schluss zu kommen. „Doch nicht etwa Ivy?“
„Ich hab sie gebeten nicht zu gehen.“, sagte Rick, ohne ein offensichtliches Lallen von sich zu geben. „Aber sie is nur ausgeflippt, weil ich mich wieder mal in ihr Leben einmischte. Egal was ich tue, es ist das Falsche.“
„Wow, Jungs.“, sagte Kyle. „Ihr habt echt Probleme. Da lob ich mir doch das Singleleben.“
Kyle räumte das Feld und ließ uns in unserem Jammer über die Frauen alleine. Es würde mich nicht wundern, wenn er die Neuigkeiten, die er von uns erfahren hatte, verbreiten würde. Nie hatte ich ein Anzeichen dafür gesehen, dass da was zwischen Rick und Ivy lief. Andererseits hatte ich auch nie gesehen, dass Jodie sich ein Kind wünschte. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Natürlich wäre es mir lieber, wenn Jodie nicht mehr auf Einsätze gehen müsste. Jedes Mal hatte ich Angst um sie, dass ich sie bei unseren Abschieden zum letzten Mal sähe. Und wenn ich dann alleine in unserem Bett schlief, vermisste ich sie schrecklich und hatte sogleich mehr Angst um sie. Oft genug stritten wir deshalb.
Die Nacht zog sich dahin. Aber schließlich gingen auch die letzten Trinker nach Hause. Tim und Judd. Vor ein paar Tagen hatten sie sich noch betrunken gegenseitig fast die Köpfe eingeschlagen. Und heute wankten sie wieder Arm in Arm nach Hause und sangen – oder lallten – irgendwelche Lieder, die ich kaum verstehen konnte. Vermutlich würden sie auf ihrem nach Hause Weg den ein oder anderen aus dem Schlaf reißen. Aber das war nicht mein Problem. Ich musste hier erst einmal klar Schiff machen, ehe ich nach Hause gehen konnte. Zu Jodie, die jetzt wohl noch schlief. Es war nicht ganz so spät – oder besser gesagt früh – wie gestern, aber der Tag würde bald anbrechen. Während der ganzen Nacht hatte ich nicht aufhören können über meine Situation mit Jodie nachzudenken. Sollte ich sie wirklich schwängern, nur damit sie zu Hause blieb, obwohl ich mich noch nicht reif dafür fühlte?
„Wie sieht´s aus?“, fragte Lulu, als ich über den Tresen kletterte, nachdem ich die Vordertüren abgeschlossen hatte. „Wollen wir nicht lieber erst morgen aufräumen?“
„Das machen wir in letzter Zeit zu häufig.“, sagte ich. Die letzten sechs Tage hatten wir es so gemacht. Und jedes Mal musste ich über die eingetrockneten Klebestellen verzweifeln, die der Alkohol hervorrief. „Nur wenn du Tresen und Tische abwischst.“, schlug ich ihr vor.
Sie sah sich mit einer verzogenen Grimasse um und schien abzuwägen, ob ihr der baldige Schlaf das wert war. „Klingt mir nach einem schlechten Deal. Wie wäre es mit einem Kompromiss? Wir putzen die Tische und den Tresen jetzt, und den Rest erledigen wir dann nachmittags.“
„Na schön.“
Lulu wischte wieder die Tische und sammelte die stehengelassenen Gläser und Flaschen ein, während ich den Tresen säuberte und alles nach hinten räumte. Die Gläser und Flaschen legte ich in eine Wanne mit warmem Wasser, das ich vorbereitet hatte, damit sie nicht eintrockneten und verklebten.
„Ich bin froh, wenn die Mission vorbei ist.“, sagte Lulu, die plötzlich hinter aufgetaucht war.
„Ja, wir könnten hier wirklich Hilfe gebrauchen. Erst recht, wenn es dann fast viermal so viele Bewohner gibt wie ohnehin schon.“
„Eigentlich meinte ich, dass ich es während der Vorbereitungszeit vermissen werde, mit dir jede Nacht zu arbeiten.“ Das erregte meine Aufmerksamkeit. Sie war näher heran getreten, als ich mich umdrehte.
„Obwohl ich dich so herumscheuche?“, fragte ich scherzhaft. Sie machte mich ein wenig nervös, wie sie den Abstand zwischen uns verringerte. Suchte sie meine Nähe? Wenn ja, warum? Insgeheim, denke ich, wusste ich die Antwort. Aber aus irgendeinem Grund spielte ich den unwissenden. Vielleicht wegen meiner Probleme mit Jodie?
Lulus Hand berührte meine und hob sie vom Rand der Wanne. Langsam ließ ich mich von ihr weg von der Wasserwanne manövrieren. Sie schmälerte weiter den Abstand zwischen unseren Körpern. Im Nachhinein würde ich mich bestimmt Ohrfeigen, weil ich sie das machen ließ. Aber im Augenblick ließ mich die Nähe zu Lulu, meine Probleme mit Jodie für den Moment zu verdrängen. Ihre Lippen suchten meine und fanden sie schnell, wie sie ihren Kuss erwiderten. In mir kochte eine Erregung auf, die ich bisher nur bei Jodie gespürt hatte. Sie war nicht meine Erste im eigentlichen Sinne. Aber die Erste, die ich wirklich geliebt hatte – immer noch liebe. Und obwohl mir das in meinem Kopf bewusst wurde, stolperte ich, immer noch Lulu küssend, hinüber zu der Couch, die in der Ecke des Lagers stand. Wir ließen uns auf die Couch fallen. Und bald fielen unsere Kleider auf den Boden.

„Keine Sorge.“, sagte Lulu, als wir uns wieder anzogen. „Es muss niemand erfahren. Das war eben eine einmalige Sache.“ Aus der Art, wie sie es sagte, konnte ich erschließen, dass sie den ersten Teil zwar ernst meinte, aber den letzten Teil nur entgegen ihrer Hoffnung erwähnte.
Ich sagte kein Wort mehr. Was sollte ich davon halten? Nie hatte ich mich für so einen Typ gehalten, der seine Freundin betrog. Aber ich habe es getan. Obwohl mir kurz vorher noch durch den Kopf ging, dass ich Jodie liebte. Und wie sehr ich sie liebte. Aber es machte mir Angst, dass sie sich ein Kind von mir wünschte. War unsere Beziehung zum Scheitern verurteilt? Ich hoffe, ehrlichgesagt, nicht. Ich liebe sie. Ich weiß nicht, warum ich das gerade getan habe.
Lulu verließ den Raum als erste und ging nach Hause, nachdem sie mich kurz zögernd an der Tür noch ansah. Ich blieb noch einen Moment sitzen und versuchte mir zu überlegen, was ich jetzt tun sollte. Sollte ich es Jodie erzählen? Oder sollte ich schweigen? Und ihr vielleicht sogar ihren Wunsch erfüllen? So ein Kind konnte ja auch ganz süß und niedlich sein. Und ich wäre ja nicht alleine mit dem Kind. Selbst wenn Jodie sich eines Tages doch wieder dazu entscheiden würde, wieder vor die Tore der Kolonie zu treten und Sklaven zu befreien, wären da immer noch die Kinderbetreuer und Jodies Familie. Ich würde weiter darüber nachdenken müssen. Denn ein Kind zu zeugen, nur weil ich Jodie betrogen hatte, schien mir nicht der richtige Weg zu sein eine Familie zu gründen.
Seufzend und verwirrt über mich selbst, verließ ich das Lager und schloss ab.
„Das was da drinnen gerade geschehen ist.“, sagte eine männliche Stimme hinter mir. John. „Du wirst es meiner Schwester erzählen.“ Ich drehte mich zu ihm um und blickte ihm in seinen ernsten Gesichtsausdruck. Zugleich wirkte er nachdenklich, aber auch wütend. Kein Wunder, ich hatte gerade seine Schwester betrogen und hatte es mitbekommen. „Nach der Mission, wirst du es ihr erzählen. Wir können nicht riskieren, dass sie emotional aufgewühlt dort rein geht. Das könnte ihr Leben gefährden. Und das wollen wir doch nicht. Oder?“ In diesem Moment wirkte er bedrohlicher als sonst. Einige der Bewohner hatten Angst vor ihm. Oder vor dem, was er mit seinen bloßen Gedanken anrichten konnte. Ich war einer von ihnen. Nicht einmal die zahllosen Versicherungen von Jodie konnten mich in dem umstimmen. Es ist einfach furchterregend, dass John einfach tun konnte was ihm beliebte, ohne jemals Konsequenzen dafür zu erfahren. Gerüchten zufolge, konnte er einen sogar mit der Kraft seiner Gedanken töten. Ziemlich unheimlich.
„Nein, natürlich nicht.“, stammelte ich. Es war nicht die Furcht vor ihm, die mich stammeln ließ. Auch nicht, dass er mich ertappt hatte. Es war vielmehr die Wahrheit daran. Ich liebte Jodie wirklich sehr. Und würde sie jetzt erfahren, was ich getan habe, würde sie das im schlimmsten Fall irrational handeln lassen. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn sie nicht zurückkommen würde. Ich konnte einiges aushalten. Aber mit dieser Schuld, würde ich nicht weiterleben können.
„Ich liebe sie.“, rief ich John hinterher, als er sich wieder auf den Weg machte. „Das musst du mir glauben.“
„Und wieso hast du es dann getan?“, fragte er. Seine ganze Wut prallte dabei auf mich, dafür, dass ich seiner Schwester wehtun würde. Die Wut war nicht einfach nur in seiner Stimme, die noch kräftiger klang als ohnehin schon. Ich spürte seine Wut in mir, als sie sogar ein Teil von mir wurde. Dann fühlte ich, wie er sich zurückhalten wollte. Und er ging.

Kochend vor Wut verließ ich das Hauptgebäude. Am liebsten würde ich sofort zu Jodie gehen und ihr die Wahrheit über diesen Mistkerl erzählen. Aber das würde nicht nur die Mission gefährden, sondern auch Jodies Leben. Ich konnte nur hoffen, dass sie keinen Grund findet in der Zwischenzeit Nicks Gedanken zu lesen. Oder meine. Denn im Augenblick füllte das meine Gedanken voll aus. Vielleicht konnte ich mich irgendwie abreagieren, wenn ich Nick oder Lulu irgendwie bestrafte – was ich eigentlich besser lassen sollte. Aber die beiden haben meine Schwester betrogen. Und das konnte ich nicht einfach durchgehen lassen.
Ich war auf dem Weg zur hinteren Weide, wo ich mich mit Ivy treffen wollte. Wir hätten uns auch zu Hause unterhalten könne. Aber ich habe Rae noch nicht erzählt, was ich mit Ivy vorhatte. Ich konnte es selbst noch nicht einmal glauben, dass ich sie wirklich wegschicke. Außerdem würde ich gerne noch ein wenig weiter leben. Denn wenn Rae das herausfand, war ich des Todes. Immerhin war Ivy unser einziges Kind und Rae versuchte sie so gut es ihr möglich war zu beschützen. Besonders wenn es unsere Telepathie beinhaltete. Oft hatte ich das Gefühl, dass Rae sich wegen dieser Verbindung zwischen mir und Ivy ein wenig ausgeschlossen fühlte. Aber was sollte ich machen? Das war nicht meine Schuld, dass wir dieses Talent teilten. Es war, wie so vieles andere, die Schuld von N-Corp.
„Was hab ich jetzt schon wieder angestellt?“, wollte Ivy wissen, als ich auf sie zukam. „Ernsthaft, ich fühl mich langsam wieder wie ein Kind, das nur Ärger macht.“
„Es geht nicht um dich.“, versicherte ich ihr.
Wir standen unter den drei großen und mächtigen Eichen auf der Weide, die von alleine gewachsen waren. Ich hatte Colin gesagt, wir würden auf das Vieh aufpassen, während er mit seinen Mitarbeitern bei Brad war, der sich für mich bereiterklärt hatte, die Fortbildung für den kommenden Außeneinsatz zu übernehmen.
„Und warum zwingst du mich dann die Tiere zu hüten?“, fragte Ivy. Ich wusste nicht, dass sie das für so schlimm empfand. Früher, als Kind hatte sie immer gefragt, ob sie nicht beim Hüten helfen dürfe. Wann hat sich das geändert?
„Ist es so übel ein bisschen Zeit mit deinem Vater zu verbringen?“, fragte ich scherzhaft. Insgeheim hatte ich die Befürchtung, sie könnte ja dazu sagen. Manchmal hatte ich den Eindruck, sie würde mir aus dem Weg gehen. Würde ich meine eigenen Regeln mal missachten, könnte ich es sogar mit Bestimmtheit sagen. „Außerdem weißt du, dass wir uns unterhalten müssen.“
„Ach ja? Tue ich das?“, fragte sie übertrieben unschuldig.
„Ivy.“, ermahnte ich sie.
„Schon gut.“, sagte sie. „Du brauchst mir keine Standpauke zu halten. Ich weiß worauf ich achten muss. Immer an den Plan halten. Nie die Tarnung oder Deckung fallen lassen. Und das tun, was Jodie mir sagt.“ Sie klang, als hätte sie einen langen Kampf verloren.
Was sollte ich darauf noch sagen? Sie hatte alles zusammengefasst, was ich ihr noch einmal nahe legen wollte. Anscheinend wusste sie immer noch, worauf es ankam, wenn man als Sklave eingeschleust wurde. Doch eines war neu. Selbst für mich. Diesmal würde es Sklavenhalter geben, die auch Telepathen waren. Daher gab es etwas weit wichtigeres, worauf sie, genau wie Jodie, achten musste.
„Vergiss nicht, dass es diesmal ein größeres Problem gibt.“, erinnerte ich sie. „Nicht einfach für die Mission, wäre es fatal, wenn sie herausfänden, was du bist. Sondern auch für dein Leben. Du darfst also nie deine Konzentration aufgeben, hörst du?“
„Ja, ich weiß.“, sagte sie. Und ich glaubte ihr. Trotzdem war ich nicht zufrieden.
„Zeig mir wie du es tust.“, forderte ich sie auf.
„Was?“, fragte sie überrascht.
„Überzeug mich davon, dass du kein Telepath bist.“, forderte ich sie heraus.

Ich starrte ihn an. Dad schenkte mir sichtlich keine Aufmerksamkeit. Aber er wartete, dass ich ihn davon überzeugte, dass ich kein Telepath bin. Und während er das tat, beobachtete er ein Kalb, das am Euter seiner Mutter saugte. Und als würde seine Herausforderung nicht genug sein, verspottete er mich schon fast, als er sich auf den Boden setzte und sich an einem der Bäume lehnte.
Seufzend bereitete ich mich darauf vor mich zu konzentrieren. Es kostete schon viel Konzentration einem Telepathen etwas vorzumachen. Besonders Tag und Nacht über viele Stunden. Aber wenn man regelmäßig übte, fiel es einem leichter. Früher hatte Dad mit mir meine Fähigkeiten trainiert, bis wir irgendwann damit aufhörten. War es, weil ich gut genug für seine Ansprüche war? Oder sah er keine Hoffnung, dass ich es jemals richtig lernen würde? Er hat es mir nie gesagt. Jetzt würde es sich wohl herausstellen.
Schon lange hatte ich es nicht mehr getan. Warum auch? Hier wusste jeder, was ich bin. Aber ich hatte nicht vergessen, was ich tun musste. Tief einatmen, sagte Dad immer. Und die Luft langsamer wieder heraus lassen. Der Anfang war das schwerste. Wenn ich den oder die Telepathen erst einmal davon überzeugt hatte, dass ich keiner von ihnen war, konnte ich es leichter aufrechterhalten. Meine Lungen wehrten sich gegen meine veränderte Atmung. Aber ich zwang sie sich dem anzupassen. Dann schloss ich meine Augen und führte mir all meine Telepathischen Fähigkeiten vor Augen. Das Lesen der Gedanken anderer. Das Manipulieren solcher Gedanken. Das Orten der Personen, denen die Gedanken gehörten. Und das Abtasten der Umgebung, in der sich die Gedanken befanden. Dann vergaß ich diese Fähigkeiten. Es war nicht so, als würde ich die Fähigkeiten wirklich vergessen. Ich wusste natürlich noch was ich konnte. Es war auch nicht einfach so, dass ich den anderen Telepathen vormachte, dass ich all diese Fähigkeiten nicht hatte. Es war etwas, das dazwischen lag. Sehr schwer zu erklären, wenn man es nicht selbst durchführte. Auf jeden Fall war es wirksam um sich vor einem Telepathen zu verstecken. Eine zweite Möglichkeit gäbe es da zwar, aber die kostete zu viel Kraft. Dabei musste man die Aufmerksamkeit des anderen stets von sich ablenken. Aber auch Gründe liefern, warum man die Aufmerksamkeit nicht verdiente. Oder dem jeweiligen Telepathen vergessen lassen, wenn er nach einem Grund suchte. Einem Nicht-Telepathen etwas vorzumachen, war im Vergleich dazu, ein Kinderspiel.
Als ich meine Fähigkeiten in meinem Geist losließ, fühlte ich mich nackt und als würde mir etwas fehlen. Mein Leben lang, schon im Bauch meiner Mutter, war die Telepathie ein Teil von mir. Mein Vater hatte schon mit mir kommuniziert, als sich kaum meine Gliedmaßen richtig gebildet hatten. So fanden wir hier immer bei einer Schwangerschaft heraus, ob es ein Junge oder ein Mädchen sein werde. Dad, Jodie oder ich fingen an mit dem ungeborenen Kind zu kommunizieren. Natürlich konnte es uns nicht selbst mitteilen, weil es ja keine Ahnung hatte. Aber wir konnten die körperliche Umgebung des Kindes Abtasten – leichter als wenn wir das durch die Gedanken der Mutter taten. So konnten wir fühlen, ob das Kind einen kleinen Penis hat oder eine Vagina.
„In Ordnung.“, sagte Dad. „Ich bin zufrieden. Aber das muss schneller gehen. Du lässt dir zu viel Zeit. Ihr habt höchstens drei Stunden von dem Punkt an dem wir euch aussetzen zur Stadt hin. Und auf dem Weg müsst ihr ein Auge offen halten, falls euch etwas begegnet. Und da ist noch etwas.“
„Was?“, fragte ich.
„Ich konnte die Erinnerungen unserer Vorfahren in dir finden.“, erklärte er mir. „Wenn die Brüder, die dort das Sagen haben, alle drei Telepathen sind, dann ist es möglich, dass an ihnen oder ihren Vorfahren auch so herum gedoktert wurde, wie an Caya. Dass du diese Erinnerungen hast, könnte für sie ein Zeichen sein, dass du sie belügst. Und dann ist nur eine Frage der Zeit, bis sie dir auf die Schliche kommen.“
„Und was soll ich deiner Meinung nach dagegen tun?“, fragte ich.
Mit einem Laut der Anstrengung stand er wieder vom Boden auf. „Du darfst nicht nur deine Fähigkeiten vergessen. Sondern auch alles, was du dadurch weißt und ohne sie nicht wüsstest.“
„Das klingt kompliziert.“, sagte ich. Aber es war nicht das, was ich wirklich dachte. Diesen ganzen Mumpitz traute ich mir durchaus zu. Doch ich wollte herausfinden – ohne die Regeln meines Vaters zu verletzen – was Dad darüber dachte.
„Du schaffst das schon.“, sagte er zu meiner Zufriedenheit. „Ruh dich aus und versuch es später mal. Übrigens bin ich stolz auf dich.“ Weil das in einem Atemzug sagte, wäre es mir fast entgangen.
„Stolz?“, fragte ich. „Weshalb?“
„Weil du nicht einfach meine Gedanken liest, wie du es noch vor ein paar Tagen getan hast.“, erklärte er mir mit einem unschuldigen Lächeln. Vermutlich dachte er, ich würde es nicht merken.
„Aber du darfst das?“, warf ich ihm fragend vor.
Er grinste mich breit an. „Natürlich. Ich bin der Vater. Und ich mache die Regeln.“ Nach einer Weile sagte er noch: „Jetzt muss ich nur noch deiner Mutter erklären, was wir mit dir vorhaben, ohne dass sie mich umbringt.“


8


Seit zwei Tagen herrschte ein kalter Wind draußen. Weil Ally krank war und deshalb besser nicht draußen herumspazieren sollte, hatte ich meinen Überwachungsposten gegen ihren Wachdienst eingetauscht. Es tat mir ohnehin mal gut aus diesem einsamen Raum rauszukommen. Auch wenn Carly durchaus eine gute Gesellschaft war, fehlte mir oft ein Teil des Gesellschaftlichen Lebens der Kolonie. Die beweglichen Kameras ließen sich nicht innerhalb der Mauern wenden. Also konnten wir nicht viel von dem mitbekommen, was zwischen sechs und vierzehn Uhr passierte.
Es wirkte fast wie eine andere Welt. Ich bekam mit, wie das Vieh aus den Ställen auf die Weide getrieben wurde; wie die Kinder morgens zum Unterricht gingen; und wie Jordan und Javier ihre regelmäßigen Inspektionen am Wasser- und Kraftwerk durchführten. Und weil die bevorstehenden Ereignisse andere Umstände verlangten, waren die meisten der Bewohner fingen mit dem Training an. Brad leitete das Waffentraining. Das hieß Zielübungen und Instandhaltung von Waffen. Im alten Parkhaus waren Zielscheiben auf Betonklötze aufgemalt, die diejenigen gerade erschossen, die Brad unter seine Fittiche genommen hat. Jamie, die normalerweise Allys Partnerin während ihrer Schicht war, sah zusammen mit mir ein wenig zu. Obwohl meine Aufmerksamkeit eher auf die Weide hinausging. Ich beobachtete die Kinder der ersten Klasse, wie sie etwas über die Tiere lernten. Pablo wurde gerade beigebracht wie man eine Kuh melkte. Es war süß, wie zarkhaft er an die Zitzen der Kuh fasste. Sara, Pablos Mutter, die eigentlich die kleinsten Kinder der Kolonie hütete, war auch auf der Weide. Sie sah den Kindern zu und lächelte abwesend. Doch in dem Augenblick, in dem mein Blick auf Sara fiel, verfinsterte sich ihre Miene. Instinktiv nahm ich mein Fernglas, mit dem ich ausgerüstet war und an meinem Gürtel hing, und sah hindurch um besser sehen zu können, was sich auf Saras Gesicht abspielte. Denn alles was Sara beunruhigte, konnte gefährlich werden.
„Moma?“, hörte ich Pablo unten auf der Weide. Auch ihn beunruhigte etwas. War es die plötzliche Schwankung von Saras Stimmung?
Auf einmal starrte mir Sara direkt in die Augen. Durch das Fernglas hindurch. Dann blickte sie hinter sich. In Richtung Hauptgebäude.
„Sara!“, rief John von dort zu ihr rüber. „Was ist passiert?“
Sie hatte mich angesehen. Wieso hatte sie mich angesehen? Ohne selbst der Frage nachzugehen, lief ich runter und aus dem Parkhaus, zu Sara, bei der bereits John und andere standen.
„Marty, lass einen Wagen fertig machen.“, wies John an. „Todd, Doris, Annie und du kommen mit mir.“
„John, was ist passiert?“, wollte ich sofort wissen.
„Ivy und Luke.“, sagte Sara.
„John?“, zwang ich ihn zum Reden.
„Es geht ihr gut.“, sagte er und ging zurück zum Hauptgebäude.
„John!“, rief ich ihm hinterher.

In dem Augenblick, in dem ich wieder zu mir kam, wusste ich nicht was passiert war, dass ich plötzlich auf dem Boden in einem dunklen Raum lag. Doch mit der Erkenntnis, dass irgendetwas auf mir lag, ließ die Realität zurück in meinen Kopf. Das Gebäude ist eingekracht. Und es lag nicht nur irgendetwas auf mir, sondern etwas sehr, sehr schweres.
„Sie ist aufgewacht!“, rief plötzlich jemand direkt in mein Ohr.
„Luke?“, fragte ich nach der Identität der Stimme.
„Ja, ich bin da.“, sagte er und griff nach meinem Arm, auf dem mein Kopf lag. Ich drehte mich in die Richtung seiner Stimme. „Lass mal sehen.“ Er kroch etwas näher zu mir und inspizierte meine Stirn. Dabei rieselte etwas Staub und Dreck zu uns runter. „Du blutest.“
„Du auch.“ Das verriet mir seine Nase.
„Ist schon eingetrocknet.“, meinte er und rieb daran herum.
„Geht´s den anderen gut?“, fragte ich.
„Ja. Nur wir sind hier drinnen eingeschlossen.“, versicherte er mir. „Dein Dad ist auch schon auf dem Weg.“
„Meine Beine tun weh.“
„Ich weiß. Aber wir sind hier bestimmt bald wieder draußen.“ Luke wirkte etwas nervös. „Hör zu, ich weiß nicht genau, auf was jetzt zu achten ist. Aber ich glaube, du solltest jetzt auf jeden Fall wach bleiben. Okay?“
„Okay.“, sagte ich. „Weißt du, irgendwie schein ich solche Unfälle magisch anzuziehen.“
„Ja. Ist irgendwie schräg. Oder?“
„Wie lange sind wir hier schon verschüttet?“, wollte ich wissen. Ich hatte absolut kein Zeitgefühl. Nicht mal ob es Tag oder Nacht war, konnte ich sagen.
„Zwei oder drei Stunden.“
Zwei oder drei Stunden. Wenn Dad sofort erfahren hatte, was geschehen ist, würde er noch mindestens zwei Stunden brauchen um hier zu sein. Ich konnte nicht anders als an seine Reaktion denken. Was würde er tun, wenn wir hier wieder raus kamen? Würde er einen neuen Plan für die Mission austüfteln? Oder würde er die ganze Sache verschieben, bis ich wieder fit sein würde?
Ironie des Schicksals, dass ich auf diesem Ausflug war, um meinen Zustand zu testen und gleichzeitig einigen unerfahrenen den realen Kampfeinsatz näher zu bringen. Eigentlich sollte ich sie nur durch eine Stadt führen, in der es vielleicht eine Handvoll Zombies gab, die leicht auszuradieren waren. Als wir dann in eines der Gebäude hinein gingen, um zwei Zombies, die sich darin befanden, zu beseitigen, brach erst der erste Stock, in dem Luke und ich uns befanden, ein. Dann gab auch der Rest des Gebäudes nach. Meine Hoffnung bestand vor allem darin, dass nicht das ganze Haus in sich zusammengefallen war wie ein Kartenhaus. Wir würden hier noch Stunden festsitzen, wenn mehr als ein paar unwichtige Wände umgestürzt waren. Und so lange würde ich es einfach nicht aushalten. Beide meiner Beine waren unter der schweren Last von Beton eingeklemmt. Doch mein rechtes Bein schmerzte wesentlich heftiger, weshalb ich vermuten musste, dass dort mehr Schaden war. Vor allem das feuchte und warme Gefühl, das durch den Schmerz hindurch drang, verriet mir, dass ich dort blutete. Luke konnte ich das nicht sagen. Er war jetzt schon ganz nervös, weil wir hier festsaßen und ich etwas an der Stirn blutete und meine Beine eingekeilt waren.
Doch Dad würde es wissen. Bestimmt erforschte er unsere Gedanken über unseren Zustand. Also blieb mir nichts anderes übrig als abzuwarten und zu versuchen, nicht zu verbluten.
Meine Augen wurden langsam schwer, als ich Dad schon ganz in der Nähe spürte. Noch ein paar Minuten, versicherte er mir. In seinem Wagen hatte er schweres Werkzeug mit, das uns hier rausbringen sollte. Er hatte nicht nur Doris mitgenommen, sondern auch Annie. Damit würden drei Mediziner vor Ort sein, wenn wir hier raus kamen. Und es erleichterte mich, dass er es nicht für nötig hielt viele starke Männer mitzunehmen, die uns mit ihrer Muskelkraft aus all dem Schutt befreien mussten. Dann konnte nicht all zu viel auf uns liegen. Luke wirkte genauso erleichtert wie ich, als ich ihm davon erzählte.
„Ich kann sie schon sehen!“, rief jemand von draußen zu uns herein. Die Stimme wirkte leise, obwohl laut geschrien hatte. Ich glaube es war Eve. Eine meiner besten Freundinnen, konnte ich von überall her erkennen.
„Hast du gehört?“, fragte Luke, dessen Angst sich langsam in Panik verwandelte. „Sie sind gleich da. Dann dauert es nicht mehr lange, bis wir hier raus sind.“
„Ich hab es gehört.“, versicherte ich ihm. Ich fühlte wie das Blut von meinem Kopf, den ich auf meinen Arm gelegt hatte, wie es über meinen Arm floss. Dann hörte ich ein Geräusch, wie zerreißender Stoff, und Luke stopfte etwas zwischen der Wunde an meinem Kopf und meinem Arm.
„Ich hätte das vielleicht schon früher machen sollen.“, sagte er. „Aber ich hab befürchtet, dass das deine Wunde verschmutzt. Trotzdem immer noch besser, als wenn du verblutest. Oder?“
Ich stimmte ihm mit einem vagen stöhnen zu. Im Augenblick wollte ich nur noch schlafen.
Bleib wach, verdammt, hörte ich plötzlich eine Stimme in mir schreien. Es war nicht die Stimme von mir, mit der ich meinen Gedanken nachging. Es war die Stimme meines Vaters in meinem Kopf. Die Sorge in ihm wurde deutlich zu mir herüber geschwappt, als seine Gedanken die Grenze zu meinen durchbrach.
„Ich bin aber müde.“, sagte ich, obwohl ich es nur denken musste, damit Dad es erfuhr.
„Bitte schlaf jetzt nicht ein, Ivy.“, flehte mich Luke an. Er war den Tränen nahe und hatte große Angst. Zombies zu töten, war leicht. Diese Menschen waren schon lange gestorben. Aber dabei zu sein, wie ein Mensch, den man noch dazu sehr gut kannte – wie Luke mich kannte – starb, war das sehr viel verstörender. Und als ich erkannte, dass ich dieser Mensch war, der im Sterben lag, durchströmte mich ein angsterfüllter Energieblitz, der mich wach hielt. Aber dieser letzte Rest Energie, würde nicht mehr lange vorhalten. Dad musste sich beeilen.

Der Wagen war noch gar nicht richtig zum Stillstand gekommen, als ich schon raussprang. Ivy verlor jede Menge Blut, und sie war kurz davor das Bewusstsein zu verlieren. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Luke hingegen hatte vielleicht ein gebrochenes Bein. Aber ich machte mir dennoch große Sorgen um ihn. Er hatte Angst. Angst um Ivy und davor, dabei zu sein, wenn sie stirbt.
„John!“, rief Kyle erleichtert, als ich auf den Trümmerhaufen, unter dem meine Tochter begraben lag, zu lief.
„Wir haben nicht viel Zeit.“, sagte ich nur. „Ivy blutet stark.“ Fast schon panisch, als das aussprach, obwohl ich es schon seit geraumer Zeit wusste, machte ich mir ein Bild von ihrem Grab, in dem sie nicht sterben dürfe. Soweit ich auf dem ersten Blick und dem ersten Gespür, das ich von dem Trümmerhaufen bekam, sagen konnte, gab es keine Möglichkeit zu ihnen rein zu kommen. Für die beiden gab es auch keine Möglichkeit herauszukriechen. Lukes gebrochenes Bein – ich war mir jetzt sicher, dass es gebrochen war – war eingeklemmt oder verheddert. Und Ivy war bis zur Hüfte eingeschlossen. Sonst wären sie wohl schon lange herausgekrochen. Also müssten wir auf jeden Fall zu ihnen durchdringen. Doch mit dem Werkzeug, das ich mitgenommen hatte, hatten wir keine Chance. Die Betonklötze waren zu instabil. Sie wurden von einem leicht zu beeinflussenden Gleichgewicht in Stellung gehalten. Doch wenn ich jedes Stück, dass auf die beiden herunterfallen könnte, mit meiner Geisteskraft festhalten könnte, wäre es mir vielleicht möglich die ganze Sache wie ein Abziehen eines Pflasters auf einem behaarten Arm zu lösen: kurz und schmerzlos. Ich müsste die Trümmer nur nach hinten werfen, wo sie keinen Schaden anrichten konnten. Aber würde ich das schaffen? Ich war mir nicht sicher. Die Last, die ich zu heben und mit Schwung wegzuschleudern hätte, war sehr groß. Doch blieb mir überhaupt etwas anderes übrig? Ivy hatte nicht mehr viel Zeit. Sie brauchte wieder Blut in ihren Adern, sonst würde ihr Körper einfach aufgeben. Wäre Jodie hier, um mir zu helfen, würde ich nicht zögern. Aber sie war zu weit weg. Auch sie war auf einem kurzen Außeneinsatz mit ungeübten Bewohnern der Kolonie, die wir im Gefecht brauchen würden.
Um mir Mut zuzusprechen, drehte ich mich von dem eingestürzten Gebäude weg, und starrte kurz zu dem trüben Himmel hinauf. Die dichte Wolkendecke ließ keinen Sonnenstrahl hindurch. Würde es bald regnen?
„Äh, John?“, fragte mich Todd.
„Ist sie etwa…?“ Eve stockte der Atem.
„Nein. Ich versuch nur mich zu konzentrieren.“, sagte ich.
Erleichtert atmete Eve durch. Sie war nicht die einzige. Alle atmeten durch. Ivy war sehr beliebt in der Kolonie. Anders als ich.
„Was ist mit ihm?“, fragte ich. Erst jetzt hatte ich Rick entdeckt, der mit gefesselten Händen an den Waagen gelehnt saß.
„Rick hat Stunk gemacht.“, meinte Kyle. „Er wollte die beiden mit eigenen Händen ausgraben. Aber es sah so aus, als würde er damit den Hohlraum einstürzen lassen. Das ganze Konstrukt sieht nicht gerade stabil aus.“
Ricks Augen verrieten mir, dass er alles tun würde um Ivy da rauszuholen. Und dass es ihm Leid täte, das er ihr Leben sogar noch gefährdet hätte. Ohne seine Gedanken lesen zu müssen, konnte ich sagen, wie panisch er in dem Augenblick, in dem das Gebäude über Ivy und Luke zusammengestürzt war, gewesen sein musste. Er liebte sie. Deshalb hatte er mich auch vor ein paar Tagen angeschrien, weil ich Ivy zur Bestrafung Schmerzen zugefügt hatte.
„Macht ihn wieder los.“, befahl ich ihnen. Es war vielleicht keine so gute Idee, wenn ich bedenke, dass ich gleich etwas Riskantes vorhatte, das ihn wieder ausflippen lassen könnte. Aber er hatte es nicht verdient so tatenlos gefesselt dasitzen zu müssen.
Ich atmete tief durch, als Todd Rick von seinen Fesseln befreite und ihm aufhalf, und drehte mich wieder zum Trümmerhaufen um.
„Was hast du vor?“, fragte Marty.
„Ich werde die Trümmer alleine aufheben.“, erklärte ich ihm. „Ihr müsst die beiden dann rausholen und Ivy sofort versorgen. Doris, Ivy braucht unbedingt Blut.“
Doris nickte und verschwand im Wagen. Bevor wir gefahren sind, hatte ich sie schon angewiesen, ein paar Blutkonserven für Luke und Ivy einzupacken. Regelmäßig spendete jeder Bewohner Blut, das wir in Glasflaschen abfüllten, die wir Vakuumdicht verschlossen. So hatte jeder, sein eigenes Blut parat, wenn er es brauchte.
Mit starker Konzentration, die ich schneller aufbauen konnte, als Ivy es vor ein paar Tagen geschafft hatte, als sie mich davon überzeugen sollte, dass sie sich vor einem Telepathen verstecken konnte, versuchte ich jedes Betonstück zu finden, dass auf die beiden Eingeschlossenen herabfallen könnte. Als ich mir sicher war, dass ich alle Trümmer in meine Gedankenkraft eingeschlossen hatte, hob ich sie langsam und erst einmal testend an. Kieselsteingroße Stücke und Staub rieselte auf Ivy und Luke herab. Aber sie taten ihnen keinen sichtlichen Schaden. Also hob ich die Trümmer weiter an. Sehr vorsichtig.
Plötzlich hörte ich einen Markerschütternden Schmerzensschrei von Ivy durch den Betonhaufen. Fast im selben Augenblick spürte ich wie dieser Schrei zustande kam. Zuvor hatte ich nicht bemerkt, dass ein rostiger Eisenstab in ihrem Bein steckte, und sie deshalb so stark blutete. Der Eisenstab bog sich aus dem Betonblock, der über Ivy wie eine Decke lag.
„Was ist los?“, fragte Rick panisch. Der Schrei ist ihm natürlich auch nicht entgangen. „Was ist passiert?“
„Da steckt ein Eisenstab in Ivys Bein, der mit dem Betonblock über ihr verbunden ist.“, erklärte ich allen.
„Kannst du das Teil nicht rausziehen? Wenn du schon die Trümmer anheben kannst, ist das doch gar nichts.“, meinte Rick.
„So ist es. Aber das Ende des Stabs hat eine Art Wiederhacken.“, erklärte ich weiter. „Ich kann ihn nicht rausziehen.“
Was jetzt? Ich wusste es nicht. Was sollte ich jetzt nur tun? Meine Tochter lag dort verschüttet und ich konnte ihr nicht helfen. Als mich das letzte Mal so hilflos gefühlt hatte war, als ich neben Sam saß und wir gemeinsam auf seinen Tod warteten.
„Was, wenn wir diesen Stab durchsägen?“, fragte Rick.
„Durchsägen?“, fragte ich und überlegte rasend schnell. Das könnte funktionieren. Um Luke könnte ich die Trümmer wegräumen. Dann wäre es ihm möglich raus zu kriechen und Rick hätte Platz dort rein zu kriechen. Und wenn ich den Betonblock auf Ivy soweit wie möglich anheben würde, könnte Rick zwischen Ivys Bein und dem Block sägen. Sie wäre frei und wir könnten sie hier draußen versorgen. Das könnte wirklich funktionieren.

„Ivy?“, hörte ich eine Stimme dicht vor meinem Gesicht. Es war Rick, der mich besorgt ansah und mit seiner Hand sanft über mein blutverklebtes Haar strich. Eigentlich sollte ich noch immer wütend auf ihn sein, doch in diesem Augenblick, war ich froh ihn zu sehen. Aber wo war Luke hin verschwunden? „Alles in Ordnung. Wir holen dich hier gleich raus.“
Ich glaube in dem Moment lächelte ich, aber sicher war ich mir nicht.
Rick kroch weiter an mir vorbei zu meinen Beinen. Ich wusste nicht, was er dort vorhatte. Ich hoffte nur, dass er bald wieder kommen würde. Ich mochte nicht alleine sein.
Plötzlich spürte ich wieder, wie der Betonblock, der meine Beine einklemmte, wieder angehoben wurde. Noch blieb der Schmerz von eben, der mein Bein durchzogen hat als der Block das letzte Mal angehoben wurde, aus. Aber ich wartete schon darauf, dass der Schmerz wieder kam, und wappnete mich dafür. Doch gerade, als der Schmerz aufflammte, hielt er an. Der Betonblock bewegte sich nicht weiter. Dafür aber Rick. Er kroch weiter, bis ich mir sicher war, dass er neben meinen Beinen unter dem Betonblock lag. Vorsichtig nicht meine pochend schmerzenden Beine zu berühren, drehte er sich auf den Rücken. Ich spürte wie er den Stab, der sich durch mein Bein gebohrt hatte, anfasste. Tief in meinem Bein spürte ich es. Dann bewegte er den Stab, sägte daran. Er tat sein bestes mir nicht noch mehr Schmerzen zu bereiten. Aber es wollte ihm nicht so ganz gelingen. Die Vibration, die vom Sägen verursacht wurde, hallte in meiner Wunde, sogar in meinen Knochen und strahlte in meinen ganzen Körper aus.
Schließlich hörten die Vibration und das Sägen auf, als Rick den Stab durch hatte. Ich war frei, konnte mich aber nicht unter den Betonblock hervorziehen. Zulange war ich darunter begraben gewesen und nun zu schwach mich zu bewegen. Das einzige, wozu ich noch im Stande war, war atmen. Es ermüdete mich aber auch.
„Kannst du dich rausziehen?“, fragte mich Rick. Ich schaffte es nicht einmal ihm zu antworten. Da kroch er zurück an meine Seite. „Ivy?“ Ich hörte die Sorge in seiner Stimme. „Hey! Bleib bei mir, ja? Ivy!“
Ich war nicht bewusstlos. Ich konnte immer noch sagen, was um mich herum geschah. Auch wenn es nur hinter einem dicken und verrauchten Schleier stattfand. Es kroch noch jemand zu uns herein. Doris. Sie nahm mein Handgelenk und fühlte meinen Puls. Ich nehme an, er war flach, kaum erkennbar. Jedenfalls fühlte es sich so an. Dann spürte ich einen heftigen Schmerz, der zwar nichts im Vergleich zu den Schmerzen in meinem Bein war, mich aber trotzdem zum Zusammenzucken brachte. Doris steckte eine Nadel in meinem Arm und fixierte sie dort. Ich wurde von irgendjemand herausgezogen und auf eine improvisierte Trage gelegt. Mein Atem war so gut wie alles, was ich noch hören konnte. Aber ich wusste, dass Leute um mich herum standen und wild und hektisch durcheinander redeten. Hier und da wurde ich berührt und festgehalten, bis ich wieder einen heftigen Schmerz in meinem Bein spürte, als man den Stab herauszog, der mein Bein aufgespießt hatte.
Nach einer Weile spürte ich nur noch eine stetige Bewegung an meinem Kopf. Jemand strich mir übers Haar, als wir schließlich zurück nach Hause fuhren.

Sie war am Leben und würde durchkommen. Das hatte ich auch gewusst, ohne dass Doris es mir versicherte. Ich saß auf dem Boden des Trucks, der mit einem herunterklappbaren Bett ausgestattet war, auf dem Ivy nun lag, und strich ihr sanft übers Haar. Sie sollte wissen, dass ihr Vater da war. Als ihr Blutdruck langsam wieder stabil wurde, war ich so glücklich. Für einen Moment hatte ich nämlich gedacht, ich sei schon zu spät gekommen. Aber jetzt war sie wieder auf dem Weg der Besserung und sah so friedlich aus, als sie schlief und sich ausruhte.
Nun konnte ich mir wieder Gedanken über die anstehende Mission machen. Jetzt, wo Ivy verletzt war, konnte es nicht ablaufen, wie geplant. Wie sollten wir nun vorgehen? Warten bis Ivy wieder einigermaßen gesund war? Das konnte noch eine Weile dauern. Oder sollte ich Jodie einfach alleine dort hinschicken, wie ursprünglich geplant?
In Ricks Gedanken, die nur um Ivy kreisten, konnte ich fühlen, dass er neben der Sorge um Ivy auch fast schon glücklich über den Umstand war, dass sie verletzt wurde. Er rechnete nun fest damit, dass ich sie nun nicht mehr wegschicken würde. Rae wäre es wohl auch lieber, wenn Ivy zu Hause bleiben würde. Sie hatte ein riesen Theater veranstaltet, als ich ihr meine Entscheidung mitgeteilt hatte. Seitdem, und bis heute, hatte sie wirklich kein einziges, noch so kleines Wort mit mir gesprochen. Sie wusste, ich hasste es, wenn sie mich mit Schweigen strafte.
„Du siehst sorgenvoll aus.“, stellte Doris fest, die immer wieder Ivys Zustand überprüfte. „Sie ist über den Berg.“, versicherte sie mir noch einmal.
„Ich weiß.“, sagte ich. „Es ist auch nicht das, was mich gerade beschäftigt.“
„Was dann? Die Mission?“
„Nein, nicht wirklich.“, gab ich zu. „Du hättest wohl auch sorgen, wenn du deine Frau in eine Zelle gesperrt hättest, nur um ihren Vorwürfen aus dem Weg zu gehen.“
„Ja, das war schon ziemlich dumm von dir.“, rügte sie mich, zu Recht.

Dieser Mistkerl! Dieser verdammte Mistkerl. Eingesperrt wie einen Verbrecher, hat er mich. Und das, wo mein kleines Mädchen irgendwo dort draußen war, und wer weiß wie schwer verletzt. Gefragt hatte ich ihn, was geschehen war, und zur Antwort sperrte er mich ein. Ich werde ihn umbringen. Ihn unangespitzt in den Boden rammen. Wenn ich mit ihm fertig war, wird er sich einen Zombietod wünschen. Ich war die einzige im Gefängnis. Es waren nie viele hier. Höchstens mal ein zwei Betrunkene, die hier ihren Rausch ausschliefen, weil sie sonst herumpöbelten. Umso demütigender war es, jetzt hier eingesperrt zu sein. Und zwar von meinem eigenen Mann. Es war nicht der einzige Fehltritt, den er sich bisher erlaubt hatte, in der Meinung mich zu beschützen. Aber es war das Sahnehäubchen auf dem Berg seiner Entgleisungen.
„Lisa.“, ermahnte ich die Frau, die am Schreibtisch in der Mitte des Raumes saß. Sichtlich unwohl, verrichtete sie ihre Arbeit. Sie war diejenige, die die Schlüssel des Hauptgebäudes verwaltete, und die Kolonie praktisch organisierte.
„Ich kann dich nicht rauslassen.“, sagte sie.
„Das ist so demütigend.“, jammerte ich.
„Ich kann mir denken, wie dir zumute ist.“, sagte Lisa. „Und ich würde dir gerne helfen. Aber John hat den Schlüssel mitgenommen. Tut mir Leid.“
Ich zählte die Minuten, die ich hier drinnen verbrachte. Genug Zeit um mir Strafen zu überlegen. Doch so kreativ war ich nicht, dass ich zufrieden sein konnte. So oft hatte er mich schon von der Erziehung unserer Tochter ausgeschlossen. In anderen Familien hier, war es häufig so, dass die Frauen das Sagen über die Erziehung der Kinder hatten. Bei uns, war es John. Darüber konnte ich nur seufzen. Und jammern so viel ich wollte, es würde ja doch nichts bringen. Wie sollte ich gegen einen Telepathen ankommen? Er tat, was er wollte. In den Jahren unserer Beziehung hatte ich mich schon ein paar Mal gefragt, ob meine Gefühle für ihn, wirklich echt und meine eigenen waren, oder er mich sie einfach fühlen ließ. Denn das konnten Telepathen, hatte er mir anvertraut, andere fühlen lassen, was sie wollten. So hatte er Sam, seinen besten Freund, in den Tod begleitet. Aber dann, wenn ich mich wirklich fragte, ob meine Gefühle echt waren, wusste ich, dass sie es waren. Ich liebte ihn, all die Jahre hindurch. Und Ivy war der Beweis für unsere Liebe, die wahrhaftig echt war. Entgegen des gesunden Menschenverstandes. Denn oft schloss er mich von meiner eigenen Tochter aus. Die Telepathie, zu der beide fähig waren, war eine starke Verbindung, die mich nicht miteinschloss. Alles, was mich mit meiner Tochter verband war, dass wir beide Frauen waren, und sie daher mit ihren Problemen oft lieber zu mir kam, als zu ihm. Aber das reichte mir nicht. Es ging auch nicht um die Beziehung zu Ivy. Mit der war ich zufrieden. Mehr konnte ich mir nicht erwarten. Aber es verletzte mich, dass John mich ausschloss, und er es noch nicht einmal zu bemerken schien. Konnte er denn wirklich so ignorant sein?
„Tut mir Leid.“, war das erste, das John sagte, als er schließlich endlich wieder zurückkam, von wo auch immer er war, um meine Tochter zu retten, der was auch immer passiert war.
„Ich will zu Ivy.“, sagte ich nur und blickte ihm hart und eisern entgegen. „Ich will zu meiner Tochter.“ Er hatte mich vollkommen im Dunkeln, über ihren Zustand gelassen. Wäre Sara nicht gewesen, wüsste ich nicht einmal, dass sie in Gefahr war.
„Es geht ihr soweit wieder ganz gut.“, sagte er hilflos, ohne die Zelle mit dem Schlüssel, den er in der Hand hielt, aufzuschließen. „Sie ist übern Berg.“
„Übern Berg?“, wiederholte ich außer mir vor Wut. „John! Du hast mich hier eingesperrt, ohne mir zu sagen, was passiert war. Ich wusste nicht, ob meine Tochter überhaupt noch am Leben ist.“
„Ich hab das nur getan, weil ich nicht wollte, dass du mir folgst.“, erklärte er mir weiterhin hilflos. Ich bekam den Eindruck, er wusste nicht genau, warum er es tat. Und ich sollte Recht behalten. „Es war eine Kurzschlussreaktion.“
„Lass mich raus.“, sagte ich. „Und bring mich zu meiner Tochter.“
Langsam trat er an das Zellengitter heran und steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch. Doch er zögert die Türe aufzuschließen. Sein Blick war, wie meiner, auf das Schloss gerichtet. Worauf wartete er noch? Er soll endlich aufschließen. Ich hab ja immerhin nichts verbrochen, dass ich zu Recht hier eingesperrt wäre. Dann berührte er meine Hand, mit der ich eine der Gitterstäbe festhielt.
„Kannst du mir verzeihen?“, fragte er mich.
Ich wusste es nicht. In letzter Zeit brachte er mich immer häufiger zur Weißglut. Und ich fürchte, das wird sich so schnell nicht ändern. Die Frage war, ob ich ihn genug liebte, um ihm immer wieder verzeihen zu können.
„Du wirst sie trotzdem wegschicken. Hab ich recht?“
„Sobald sie wieder einigermaßen laufen kann.“, gab er zu. Wenigstens sagte er mir die Wahrheit. Auch wenn er mir dabei nicht ins Gesicht sehen konnte.
„Wieso tust du das nur?“, fragte ich. „Sie ist doch deine Tochter. Warum willst du sie unbedingt in den Tod schicken? Warum verlangst du nur so viel von ihr?“
„Sie will es selbst so.“, verteidigte er seine Entscheidung. „Sie glaubt sie muss etwas beweisen.“
„Und wie ich dich kenne, hast du nicht mal versucht sie vom Gegenteil zu überzeugen.“, warf ich ihm vor.
„Sie ist noch nicht aufgewacht. Wie hätte ich das anstellen sollen?“
„Ich weiß nicht. Aber du scheinst doch sonst immer alles zu wissen. Und jetzt lass mich endlich hier raus.“ Ich zog meine Hand unter seiner weg.


9


Ich wachte nicht einfach auf, im Sinne von, erst schlief ich und war ich wach. Es war eher so, dass ich langsam ins Leben zurückkam. Zuerst hörte ich Geräusche, dann kam das Bewusstsein, dass ich die Augen geschlossen hielt, und schließlich öffnete ich meine Augen. In einem der Krankenzimmer fand ich mich wieder. Eine Blutflasche hing über meinem Kopf. Auf der anderen Seite des Zimmers, auf einem Tisch, stand eine Vase mit Wildblumen. Irgendwie wusste ich sofort, dass sie von Pablo und Sara waren. Sie hatten irgendwie ihre Handschrift an sich.
„Sieh mal einer an, wer wieder wach ist.“, begrüßte mich Kyle unter den lebenden. „Deine Mum, ist gerade gegangen. Soll ich sie holen?“
„Nein. Ich will ihr lieber noch nicht begegnen.“
„Hier.“ Kyle hielt mir ein Glas Wasser hin. „Deine Stimme klingt furchtbar.“
Mir ist es gar nicht aufgefallen, aber ich glaube er hatte Recht. Vorsichtig teste ich, ob ich mich aufrichten konnte, um zu trinken. Die Wunde an meinem Bein zog etwas, aber mit der Hilfe von Kyle gelang es mir, ein paar Schlucke zu trinken. Es fühlte sich gut an, wie das kühle Wasser meine ausgetrocknete Kehle anfeuchtete und mir in den Magen floss.
„Was ist mit Dad?“, fragte ich. Wir mussten uns unbedingt unterhalten. Was sollte denn jetzt aus der Mission werden?
Kyle zögerte. „Ähm… Dein Dad war noch gar nicht da.“, gab er schließlich zu.
Was sagt man dazu? Dad war noch gar nicht bei mir? Warum? War er etwas wütend auf mich, weil ich seinen Plan über den Haufen geworfen habe? Ich wusste, ich hätte nicht in das Gebäude gehen sollen. Diese verdammten Zombies hätten bestimmt nicht mehr lange auf sich warten lassen. Sie wären bestimmt von alleine rausgekommen. Warum bin ich da nur rein gegangen?
„Deine Mum hat ihn rausgeworfen, als er in dein Zimmer wollte.“, erklärte mir Kyle schließlich. Wahrscheinlich hatte er bemerkt, dass mein Puls sich mit der Wut über mich selbst anstieg. „Seitdem hat er sich nicht mehr reingetraut.“
„Dann ist sie wohl sehr sauer, oder?“
„Eher auf deinen Vater, als auf dich.“, meinte er.
Und das war allein meine Schuld. Erst torpedierte ich die Beziehung von Dad und Jodie, und dann brachte ich auch noch meine Eltern auseinander. Vielleicht war es besser, wenn ich an der Mission gar nicht erst teilnahm, egal mit welcher Aufgabe. Ich mache ja doch alles falsch.
„Hey? Ähm…“, fing er dann an. „Kann ich mal mit dir reden?“
„Klar.“ Was kommt denn jetzt? Gab es Probleme mit meinem Bein?
„Es geht um Rick.“, sagte er. Rick? Wieso will er mit mir über seinen Bruder reden? „Ich weiß nicht was zwischen euch vorgefallen ist, aber er ist ziemlich fertig wegen dir.“
Für einen Moment konnte ich an nichts denken. Das, was Kyle mir gerade sagte, schwebte einfach so über mir. Was wusste er? Hat Rick es ihm erzählt? Wir haben doch von Anfang an abgemacht, dass wir es für uns behalten und es niemanden sagen. Es war doch nur Sex, oder? Aber dann ergab das gar kein Sinn, wenn es für Rick wirklich nur bedeutungsloser Sex war, wie für mich. War es das überhaupt noch?
„Was hat er dir erzählt?“, fragte ich ihn.
„Nichts Genaues. Nur dass er nicht weiß, was er noch tun soll.“ Kyle sah mich durchdringend an. Es war ihm ernst und wichtig. „Du bedeutest ihm viel. Als du gestern verschüttet warst, wollte er dich sofort mit seinen Händen ausgraben.“
„Ich fass es nicht dass er es dir erzählt hat.“, sagte ich kopfschüttelnd. „Hat er dich geschickt, um mit mir zu reden?“
„Nein.“, verteidigte er sich. „Er weiß gar nicht, dass ich mit dir darüber rede. Hörzu, wenn du nicht so empfindest wie er, solltest du es ihm sagen, bevor er sich noch weiter quält.“
Wenn ich nicht so empfinde wie er? Empfindet er denn etwas für mich? Er war es, der wollte, dass es zwanglos ist. Er hat nie etwas gesagt. Oder doch, und ich wollte es nur nicht hören? Ich weiß nicht, was ich für ihn fühle. Wir hatten immer Spaß, wenn wir miteinander schliefen. Ich habe es immer genossen. Sein Geruch, er roch immer so gut, und umhüllte mich damit. Wenn seine Arme mich umarmten, fühlte ich mich immer sicher und geborgen. War das Liebe? Ich weiß es nicht. Ich kann mir gar nicht vorstellen, Rick zu lieben. Wir passten nicht unbedingt zusammen. Er mochte es nicht raus ins Ödland zu gehen. Sah es nur als seine Pflicht an, die er dem Wohl der Gemeinde gegenüber spürte. Ich hingegen, ging immer gerne raus. Dort fühlte ich mich frei und nicht mehr eingesperrt. Selbst wenn die Freiheit bedeutete, von Untoten umzingelt zu sein.
Kyle ging, als er keine Antwort von mir bekam. Ich legte mich hin und versuchte zu schlafen. Plötzlich fühlte ich mich so erschöpft. Aber ich konnte kein Auge zumachen. Von meinem Bein ging ein pochender Schmerz aus, der mich nicht in Ruhe schlafen lassen wollte. Oder war es vielleicht die Sache mit Rick, die mir nicht aus dem Kopf gehen wollte? Vielleicht sollte ich mit ihm reden. Aber nicht, bevor ich mir nicht überlegt hatte, was ich ihm sagen wollte. Es würde mir die Sache erleichtern, wenn ich genau wüsste, was Rick in mir sah. Und was ich für ihn fühlte.
Unruhige Tage verbrachte ich ans Bett gefesselt. Es fühlte sich wieder so an, wie am Anfang der Jahreszeit, die schon fast wieder um war, als ich angeschossen hier, in eben diesem Bett, lag. Nur diesmal zerrte etwas an mir. Unvollendete Dinge. Mum ließ nicht mit sich über Dad reden. Er dufte mich immer noch nicht besuchen. Obwohl ich sie mehrmals darum gebeten hatte. Nur in Gedanken konnte er bei mir sein. Dagegen konnte Mum nichts unternehmen.
Auch Rick ließ sich nicht blicken. Als ich angeschossen hier lag, hatte ich wenigstens den Eindruck, dass er mich besuchte. Aber jetzt blieb er mir fern. Seit der Sache im Wald hatte ich ihn nur noch flüchtig zu Gesicht bekommen. Beinahe hatte ich das Gefühl, dass er mir aus dem Weg ging. Und weil ich hier festgehalten wurde, fiel es ihm jetzt sogar noch leichter. Ich musste sogar zugeben, dass ich ihn etwas vermisste. Sein Gesicht, das mich ansah. Seine Finger, die mich berührten. Seine bloße Gegenwart.
Luke besuchte mich oft. Weil sein gebrochenes Bein von oben bis unten eingeschient war, brauchte er keinen Dienst zu vollziehen. Ab und zu, löste er aber jemanden für ein paar Stunden vom Überwachungsposten ab. Hauptsächlich Mum, damit sie entweder noch mehr Zeit mit mir verbringen konnte, oder mehr Zeit damit verbringen konnte, Dad mit Schweigen zu strafen. Aber die Zeit die wir miteinander verbrachten, ließ uns zu wahrhaftigen Freunden werden. Wir verstanden uns schon vorher sehr gut. Aber außer der Tatsache, dass ich seine Ausbilderin war, hatten wir nie wirklich Zeit miteinander verbracht. Im Laufe der Zeit vertraute er mir sogar an, dass er sich zu den Jägern und Sammlern gemeldet hatte, um Penny, ein Mädchen der Gemeinde, zu beeindrucken. Er gab zu, dass seine Motive vielleicht nicht die richtigen waren. Aber er traute sich zu, einen guten Job zu machen. Und als ich ihm sagte, dass er wie geboren für diese Art der Arbeit war, wurde er nur rot und schwieg den Rest seines Besuches in sich hinein.
„Du solltest sie fragen, ob sie mit dir zum Kinoabend geht.“, riet ich ihm, als er an diesem Tag gerade dabei war zu gehen.
Pablo hatte mir bei seinem gestrigen Besuch davon erzählt, dass heute wieder ein Kinoabend stattfinden sollte. Der Kleine war ganz aufgeregt deswegen. Es sollte ein Film über eine Prinzessin gezeigt werden, die von ihrer bösen Stiefmutter um ihre Schönheit beneidet wurde, und deshalb in einer Zuflucht mit sieben Zwergen Schutz vor der Frau fand. Es war ein Märchen, das vor vielen, vielen Jahren vor der Apokalypse auf die Filmleinwand gebannt wurde. Pablos Lieblings Märchen. Er liebte die sieben unterschiedlichen Zwerge. Als er noch kleiner war als jetzt, wollte er immer der achte Zwerg sein. Obwohl es einen solchen gar nicht gab.
Ich würde den Kinoabend verpassen. Entlassen wurde ich erst zwei Tage danach. Aber es war mir auch egal. Ich wollte den Film gar nicht sehen. Schon unzählige Male hatte ich ihn gesehen und kannte ihn bereits auswendig. Unter die ganzen Leute wollte ich mich auch nicht mischen. Der Kinoabend, war immer sehr beliebt. Und das wollte ich mir nicht antun. Vor allem aber, wollte ich Rick aus dem Weg gehen. Viel hatte ich in den letzten Tagen, die ich hier ans Bett gefesselt war, über ihn nachgedacht. Aber ich wusste einfach nicht, was ich ihm sagen sollte. Ich wusste nicht, was ich wirklich von ihm wollte.
Mithilfe von Pablo, der mich noch einmal besuchen kam, als Mum auch da war, konnte ich sie überreden, heute auch zum Kinoabend zu gehen. Pablo war es auch, der mir gestern erzählt hatte, dass meine Eltern nicht einmal mehr zusammen in einem Bett schliefen, geschweige denn in einem Zimmer. Ich teilte Dad mit, dass ich ihn gerne sehen wollte, wenn Mum sich den Film ansah. Er konnte sich ja hier rein schleichen, während Mum abgelenkt war.
Erst als wir uns von Angesicht zu Angesicht wieder begegneten, erzählte er mir, was er für die Befreiung der Sklaven geplant hatte. Der Plan sollte wie gehabt bleiben. Der Zeitpunkt wurde nur hinausgezögert. Zum einen warteten alle nur darauf, dass ich wieder einigermaßen gehen konnte. Und zum anderen, dass Dad sich endlich traute, sich über Mum hinwegzusetzen, die nicht zulassen wollte, dass ich die Kolonie so schnell wieder verließ. Ich konnte sie ja verstehen. Sie machte sich sorgen um mich. Innerhalb einer Jahreszeit wurde ich erst angeschossen, dann unter einem eingestürzten Gebäude begraben, und dann sollte ich mich auch noch als Sklave hergeben, für wer weiß wie lange. Denn man konnte nie so genau abschätzen, wann der passende Zeitpunkt kommen würde, um die ganzen Sklaven zu befreien. Besonders unter den gegebenen Umständen.
„Hast du mal überlegt, sie einfach … du weißt schon, zu manipulieren?“, fragte ich ihn, als sich ein tiefes Schweigen über uns gelegt hatte, nachdem er mir von seinem Plan erzählt hatte.
Er schwieg noch etwas länger. „Das kann ich nicht tun. Sie ist deine Mutter und hat ein Recht darauf, dich zu beschützen.“
Da musste ich plötzlich an den Tag zurück denken, als Dad Jodie gestand, dass er mir nicht vertrauen konnte. Dass er mich für zu ungestüm und unvorsichtig hielt. Wenn er wirklich so über mich dachte, glaubte er wirklich, dass ich die Mission voranbringen konnte? Wollte er mich nicht beschützen? Ich äußerte ihm gegenüber meine Gedanken nicht. Und er erriet sie nicht. Das würde wohl immer unausgesprochen zwischen uns hängen. Denn trotzdem war ich bereit es zu versuchen, und ihm zu beweisen, dass ich ein Wertvoller Teil der Mission sein konnte.
Dad verließ mich, bevor der Film zu Ende war. Es war spät und Mum kam einige Minuten später, und wünschte mir nur noch eine gute Nacht.
Ich träumte, ich sei die Prinzessin aus dem Film, den die halbe Kolonie gerade gesehen hatte. Nur lief ich nicht vor meiner Stiefmutter davon, sondern vor Declan, den zuletzt vor vier Jahren sah, als er mich fast umgebracht hatte, wo ich doch ihn umbringen wollte. Er schlüpfte in die Rolle der bösen Hexe, die neidisch auf mich war. Die Kolonie war das Haus der sieben Zwerge, bei denen ich Unterschlupf fand. Und ausgerechnet Rick, war der Prinz, der mich aus dem gläsernen Sarg zurück ins Leben holte. Hatte das etwas zu bedeuten? Rick, mein mich errettender Prinz? Declan, von dem ich schon so lange nicht mehr träumen musste? Wieso ausgerechnet jetzt?

Im dunklen Wohnzimmer saß ich auf der Couch und beobachtete geistig Raes Schritte, als sie von Ivys Krankenzimmer aus, nach Hause kam. Der Film langweilte Rae üblicherweise. Sie hielt ihn für unrealistisch. Die meisten taten das. Denn er stammte aus einer ganz anderen Welt. Aber heute hatte sie Spaß gehabt. Sie saß zusammen mit Sara und Pablo, die beide den Film liebten. Sie schliefen bereits in ihrer Wohnung neben uns. Rae war alleine noch zu Ivy gegangen um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Jetzt öffnete sie die Wohnungstür und knipste das Licht an. Nur kurz sah sie mich, weil sie überrascht war, dass ich hier im Dunkeln saß. Dann ignorierte sie mich wieder, wie sie es die letzten Tage getan hat. Sie wusste, dass sie mir damit wehtat. Das musste sie mir ansehen. Und genau deshalb schwieg sie mich an und ignorierte meine Existenz. Um mich zu quälen, weil sie glaubte, ich wolle ihr unser Kind wegnehmen.
Rae ging in die Küche und goss sich ein Glas Milch ein, bevor sie ins Bett ging. Ich folgte ihr, ohne ein Wort zu sagen. Ich war verzweifelt. Meine Arbeit war gefährdet und darüber hinaus, gefährdete das meine Beziehung zu der Frau, die ich so sehr liebte. Ich wusste nicht was ich sonst tun sollte. Noch mehr Schweigen ertrug ich einfach nicht mehr. Ich wollte unser altes Leben wieder zurück.
Würde Sam noch leben, würde er mich davon abhalten. Er wäre der einzige gewesen der erkannt hätte, was ich gleich tun würde. Und er wäre der einzige gewesen, der mich davon hätte abhalten könne. Aber er Tod. Und so lief ich in die Klinge, ohne langsamer zu werden.
Ausgerechnet Ivys Frage, ob ich nicht schon mal darüber nachgedacht hätte, Rae nicht einfach zu manipulieren, hatte den Ausschlag dazu gegeben. Schon vorher hatte ich darüber nachgedacht. Eigentlich schon, bevor ich überhaupt in Erwägung gezogen hatte, Ivy vor vier Jahren auf eine Mission mitzunehmen. Es war immer ein Plan, der ganz hinten in meinem Kopf darauf wartete, ausgegraben zu werden. Doch erst das laute Aussprechen durch Ivy, hatte ich den Mut dazu gefunden, es wirklich zu tun. Auch wenn Ivy bestimmt nicht an dieses Ausmaß gedacht hatte.
Ich nahm Rae mit meinen Gedanken in meine Gewalt. Unwohl fühlte ich mich, als sie nicht vor mir zurückwich, als ich meine Arme von hinten um sie legte, wie es bestimmt getan hätte. Aber über hundert Leben hingen davon ab, dass Rae Ivy gehen ließ. Und Ivy brauchte das, für sich selbst. Sie musste sich selbst etwas beweisen. Seit ihre Freundin vor vier Jahren gestorben ist, und Ivy sie nicht mehr rächen kann, wie sie glaubte, es ihr versprochen zu haben, fehlte etwas in ihr. Gemerkt hatte ich es erst, als Ivy wütend über mich hereinbrach, weil ich verhindern wollte, dass sie mitkam. Zu sehr war ich mit meinen Erinnerungen an Sam abgelenkt. Das musste aufhören. Wenn ich das jetzt mit Rae wirklich durchziehe, schwor ich mir, musste ich Sam endlich loslassen, wie er es selbst gewollt hatte.
Mit einer Leichtigkeit, die mir fast wie eine Schicksalsfügung vorkam, drang ich in Raes Gedanken und ihren Erinnerungen ein. Ich wühlte mich durch die Wut, die sie auf mich hatte, und fand ihre Wurzel. Es war nicht nur, dass ich Ivy wegschicken wollte. Auch nicht, dass ich sie wegschicken wollte, obwohl sie noch verletzt war. Sie war vor allem wütend auf mich, weil ich sie ausschloss. Aus ihrer Sicht, hielt ich sie irgendwo in der zweiten Reihe, und verdrängte sie von der Erziehung unserer Tochter. Und das nahm sie mir schon sehr lange übel. Genaugenommen schon seit es mir möglich war mit Ivy zu kommunizieren, als sie noch in ihrem Bauch ruhte und wuchs. Rae fand, ich nahm ihr etwas Wichtiges weg.
Wo war ich nur all die Jahre mit meinen Gedanken? Nie hatte ich es so gesehen. Nie hatte ich gesehen, dass ich die Liebe meines Lebens von mir wegstieß. Vielleicht wollte ich es auch nicht sehen. Ich erkannte, dass Sam für mich immer an erster Stelle kam. Dann die Arbeit meines Vaters, die ich weiterführen musste. Dann die Kolonie. Dann Ivy. Und dann erst Rae. Ich schätze, ich war ihr all die Jahre kein sehr guter Mann. Und jetzt machte ich es auch noch schlimmer, indem ich ihr ihre Zweifel, wegen Ivys Rolle in der bevorstehenden Mission, wegnahm. Es fühlte sich so an, als würde ich sie betrügen, so wie Nick Jodie betrogen hatte.
Als ich fertig war, ließ ich Rae wieder los. Sie drehte sich um, und ich bekam noch den Eindruck des leeren Blicks an ihr, den man hatte, wenn einem die Gedanken von einem Telepathen manipuliert wurden. Eigentlich wollte ich das verhindern. Aber ich ließ es zu und tat mir den Anblick ihrer leeren Augen an. Als eine Art Bestrafung meiner Selbst. Dann blinzelte Rae kurz und lächelte mich an. So lange hatte sie es nicht mehr getan. Fast hatte ich vergessen, wie schön sie war, wenn sie mich anlächelte, und nur mich. Ein Lächeln breitete sich auch auf meinem Gesicht aus. Dann streckte sie sich, meinem Gesicht entgegen – sie etwas kleiner als ich – und küsste mich.
„Bleib nicht zu lange wach.“, sagte sie und ging mit ihrem Glas Milch in unser gemeinsames Schlafzimmer, das ich seit Ivys Unfall nicht mehr betreten hatte, wenn sie zu Hause war.
Ich löschte das Licht in der Küche und hasste mich dafür, was ich meiner Frau gerade angetan habe. Einen Teil ihrer selbst habe ich ihr genommen. Irgendwann, werde ich das rückgängig machen müssen. Und dann, würde ich sie bestimmt verlieren. Da war ich sicher.

Endlich kam ich weg von meinem Krankenbett. Ich wurde entlassen, konnte aber nur mithilfe von Krücken gehen, weshalb die nächsten zehn Tage noch nichts passieren wird. Das war Mums Bedingung, sodass sie mich in die Sklavenhalterstadt gehen lassen würde. Mehr als nur überrascht war ich von ihrem Sinneswandel. Verdutzt, verblüfft, erstaunt, ja sogar geschockt. Aber Dad hatte offenbar ein langes und klärendes Gespräch mit ihr geführt, in dem er sie umstimmen, ihre Beziehung retten und annähernd alles bereinigen konnte. Ich war froh, dass zwischen ihnen wieder alles in Ordnung war.
(Insgeheim wusste ich, dass er nicht nur mit ihr gesprochen hatte, und sich deshalb ganz mies fühlte – was ich natürlich niemals so in meinen Gedanken zuließ und weit hinten unter Verschluss hielt.)
Nachdem Kyle mir abermals den Verband um meine Wunde in seinem Untersuchungszimmer erneuerte, humpelte ich mit meinen Krücken aus dem Hauptgebäude und fühlte mich wieder frei. Freier hätte ich mich natürlich gefühlt, wenn ich die Mauern hätte verlassen dürfen, aber man musste sich nach einer Verletzung erst Schritt für Schritt wieder in den Sattel setzen. Ich wollte es ja nicht übertreiben und die Mission erneut gefährden. Denn beim nächsten Mal, würde man nicht mehr auf mich warten, sondern Jodie einfach doch alleine losschicken, auch wenn es Dad mittlerweile wirklich lieber war, wenn sie nicht alleine ging.
Ich machte mich auf die Suche nach Rick. Ich hatte nicht vor mit ihm unsere jeweiligen Empfindungen zu diskutieren. Doch eigentlich schon, aber genau genommen hatte im Augenblick nur eine Empfindung, die ich ihm mitteilen wollte. In den letzten beiden Tagen wurde ich immer wütender auf ihn, was es mir unmöglich machte ihm solche Gefühle, wie Liebe entgegen zu bringen.
Glücklich darüber, dass er im Erdgeschoss wohnte, humpelte ich über den Innenhof des Wohnhauses, in dem er mit seinen Eltern und seinem Bruder wohnte. Ich spürte immer noch wie meine Wunde zog, wo sie zusammengenäht wurde. Jedes Mal wenn ich mein verletztes Bein bewegte, fühlte ich hinterher ein stetes Pochen um die Wunde herum. Es war unangenehm, aber auszuhalten. Außerdem musste ich anfangen mein Bein zu bewegen und zu belasten, damit ich in zehn Tagen fit für die Mission war.
Als ich an seine Tür klopfte, öffnete niemand. Norah, seine Mutter, war gerade bei ihrer Schicht im Überwachungsraum. Am Nachmittag bis zum Abend übernahm sie den Posten meiner Mutter. Außerdem hatte sie das Sagen über das gesamte Wachpersonal. Ricks Vater, Heath war Lehrer und würde vermutlich gerade den Nachmittagsunterricht leiten. Und Kyle war auf der Krankenstation, wo ich ihn gerade erst verlassen hatte.
Meine nächste Station auf der Suche nach Rick, war das Parkhaus, wo er oft an den Autos arbeitete. Zu meinem Leidwesen musste ich auf die oberste Etage des Parkhauses. Dort wurden die Autos abgestellt, damit sie Sonne für die Solaranlagen abbekamen. Doch auch das hinaufschleppen in die oberste Etage des Parkhauses war umsonst. Rick war auch dort nicht. Den einzigen, den ich dort vorfand, war Sully.
„Du bist schon auf den Beinen?“, sagte er, als er mich schnaufend zu ihm humpelnd bemerkte. „Wie geht´s dem Bein?“
„Es zieht noch, wenn ich es bewege.“, sagte ich. „Hast du vielleicht Rick gesehen?“
„Klar, der arbeitet gerade für Lisa, die neuen Wohnungen vorbereiten. Wer weiß wie lange es noch dauert bis wir viermal so viele Leute hier sind…“
Er redete weiter und bemerkte gar nicht, dass ich schon wieder fort ging. Die ganzen Treppen zu den unbewohnten Wohnungen, konnte ich noch nicht hinauf steigen. Deshalb stellte ich mich an die Wand des Hauptgebäudes, das zwei der drei Wohnhäuser gegenüberlag, und rutschte die Wand zu einer sitzenden Position runter. Schmerzen flammten in meinem Bein auf, als ich auf dem Boden aufkam. Ich musste die Zähne zusammenbeißen. Dann saß ich dort und wartete, bis er womöglich irgendwann aus einem der Häuser kommen würde.
Die Schatten wurden länger und gegen Abend kam Rick endlich aus einem der Häuser. Den ganzen Tag hatte ich hier gesessen, und erst jetzt ließ er sich blicken. Aber nicht nur, das er mich solange hat warten lassen, er lief auch an mir vorbei, als hätte er mich nicht gesehen.
„Rick!“, rief ich ihm hinterher und kämpfte darum aufzustehen, bevor er mir entwischen konnte.
Widerwillig hielt er an, drehte sich um und kam zurück. Ich schaffte es nicht alleine aufzustehen. Die Schmerzen fesselnden mich an den Boden. Doch dann bot mir Rick seine Hand an und half mir auf.
„Du siehst furchtbar aus.“, stellte ich fest, als er vor mir stand. Als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Tiefe und dunkle Augenringe zierten seine blutunterlaufenen Augen. Das Rasieren hat er wohl schon vor Tagen aufgegeben.
„Danke, gleichfalls.“, sagte er und wollte schon wieder abhauen.
„Ich kann es nicht fassen, dass du Kyle von uns erzählt hast.“, rief ich ihm hinterher. Meiner Wut war es egal, ob mich jemand hören konnte.
„Schämst du dich für die Zeit, die wir zusammen verbracht haben?“, fragte Rick überraschend ernst.
„Darum geht es nicht. Du warst es doch, der wollte, dass wir das nicht an die große Glocke hängen.“
„Dann bist du verletzt, dass ich es unter uns halten wollte?“ Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber er klang bei dieser Frage tatsächlich hoffnungsvoll. Empfindet er wirklich etwas für mich? „Hörzu, ich versuch nur herauszufinden, was du eigentlich willst. Also wenn du es mir sagen willst, weißt du, wo du mich findest.“ Und damit ergriff er die Flucht. Er will herausfinden, was ich eigentlich will? Er fühlt wirklich etwas für mich. Aber warum sagt er es nicht einfach.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Zum einen, weil ich sauer auf ihn war, und er einfach nur starke Gefühle für mich verspürte. Und zum anderen, weil ich einfach nicht wusste, was ich damit anstellen sollte. Um ehrlich zu sein, wusste ich nämlich ganz und gar nicht was ich wollte – was ich von ihm wollte. Ich konnte mir nur immer vor Augen führen, dass ich gerne mit ihm zusammen gewesen bin und Spaß mit ihm hatte. Aber das konnte auch nur bedeuten, dass er einfach gut war. Geredet haben wir nicht wirklich.

Stress, war gar kein Ausdruck. Ich war vollkommen überfordert. Die Arbeit wuchs mir über den Kopf. Hauptsächlich deshalb, weil John mich darum gebeten hatte, die Wohnungen für die Neuankömmlinge möglichst jetzt schon fertig zu machen. Dabei wussten wir noch nicht einmal wie viele es genau sein würden. Brad, der vor Ort war, konnte mir auch nichts Genaueres sagen. Nicht einmal Jodie wusste, wie viele Wohnungen ich vorbereiten sollte.
„Bereite einfach Wohnungen für etwa hundertfünfzig Leute vor.“, hatte sie gesagt, als ich sie darauf angesprochen habe. „Sie haben Jahrelang als Sklaven gelebt. Vorerst werden sie nicht wählerisch sein mit wem sie zusammen wohnen, solange sie freie Menschen sind.“
Da war schon etwas Wahres dran. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, als ich noch eine Sklavin war. Meine ganze Kindheit hindurch, bis ich vierundzwanzig Jahre alt war, musste ich das tun, was ein Mann, der meine Eltern in den Tod getrieben hat, von mir verlangte. Dann kam Johns Vater zu uns, und hat uns befreit. Anfangs war ich zurückhaltend und traute mich kaum das Zimmer zu verlassen, das man mir zugewiesen hatte. Es dauerte ein paar Monate, bis ich mich in die Gemeinde eingliedern konnte. Und ein paar Jahre, bis ich mich einem Mann nähern konnte. Solange ich also jedem Sklaven ein eigenes Zimmer bieten konnte, würde das vorläufig wohl reichen. Glücklicherweise hatten wir noch genug freie Zimmer übrig. Allerdings musste noch einiges an ihnen gemacht werden. Einige brauchten neue Rohre, damit das Wasser nicht mehr als rostige Schlammbrühe aus den Hähnen kam. Bei anderen musste einfach nur der Strom angeschlossen werden. Und alle brauchten natürlich noch Möbel. Das hieß, dass die schweren Möbel aus den Lagern in die Wohnungen geschleppt werden mussten, die auch noch in der zweiten, dritten und vierten Etagen waren, weil die untersten schon lange belegt waren.
Obwohl ich einen Plan hatte, wollte einfach nichts funktionieren. Für ein Drittel der Wohnungen, die ich vorbereiten wollte, reichten die intakten Rohre nicht, die wir noch auf Lager hatten, und John war gegen einen Sammler Ausflug. Ich konnte das natürlich verstehen. Gerade gab es wichtigeres zu tun. Da waren so ein paar Rohre nicht vorrangig. So musste das fließende Wasser wohl noch auf sich warten lassen.
Genug Betten hatten wir auch nicht. Also musste ich entweder neue Betten bauen lassen, oder vorläufig die Zimmer mit Heu gefüllten Matratzen ausstatten. Wenigstens funktionierte der Strom.
Die Kleidung, die wir im Lager hatten, würde wohl locker reichen, wenn wir nicht das Pech gehabt hätten, dass sich dort unbemerkt Mäuse eingenistet hatten. Sie knabberten einige Hosen, Hemden und Schuhe an. Der Verlust der Hosen und Hemden, der kein voller Verlust war, da man sie flicken konnte, war noch zu verkraften. Aber die Schuhe waren rar. Wir hatten nicht die Mittel neue herzustellen. Deshalb würden einige eine Weile Barfuß herumlaufen müssen, bis Sammler einen Schuhladen oder ähnliches fanden, den wir noch nicht geleert hatten.
Vorerst, bis wir die Mäuse im Kleiderlager restlos vertrieben haben, müssen wir die Kleider jedoch woanders lagern, damit nicht noch mehr drauf geht. Weil die meisten Bewohner, die gerade abkömmlich waren, die Möbel schleppten, hatte ich mir die Kinder der Kinderbetreuung zu Hilfe geholt. Es würde ihnen schon nicht schaden ein paar Kleider umzuräumen. Jeder musste immerhin seinen Beitrag leisten. Meine Jüngste, Nina – sie war gerade erst acht Jahre alt geworden – half auch mit.
„Ich weiß jetzt was ich später mal machen will.“, verkündete sie mir, als wir zusammen einige Säcke mit Hosen und ähnlichem in einem der Lagerräume für Möbel, der schon zur Hälfte geleert war, räumten.
„Und was willst du werden?“, fragte ich und hielt ihr die schwere Tür auf.
„Ich will dasselbe machen wie Daddy.“, sagte sie. „Ich will auch arme Leute vor bösen Menschen retten.“
Ich blieb in der Tür stehen und beobachtete meine kleine Tochter wie sie die beiden Säcke, die sie hinter sich her schleifte in die Ecke des Raumes schleuderte. Schon bei Carla hatte ich die Befürchtungen, dass sie in die Fußstapfen ihres Vaters treten, und Sklaven befreien wollte. Damals war ich noch einmal glimpflich davon gekommen, als Carla sich dafür entschied das Vieh zu betreuen. Jetzt war ich nicht mehr so mit Glück gesegnet. Mein kleines Mädchen war gewillt die sicheren Mauern unserer Zuflucht zu verlassen um sich in den Kampf zu stürzen, der Tag täglich dort draußen stattfand und sich Überleben nannte. Irgendwie hatte ich es sogar kommen sehen. Nina vergötterte ihren Vater. Natürlich wollte sie das tun, was er tat.
Nachdem das Kleiderlager ausgeräumt war, wollte ich eigentlich das Lager mit Mausefallen ausstatten und dann beim Einräumen der Wohnungen helfen. Aber stattdessen verließ ich das Hauptgebäude und wanderte schnurstracks zum alten Parkhaus, wo ich Brad zu finden hoffte. Geschockt über das, was Nina mir eröffnet hatte, wollte ich sofort mit ihm darüber reden. Irgendwie mussten wir sie davon abbringen. Ich wollte nicht, dass mein kleines Mädchen dort raus geht. Es reicht ja schon, dass mein Mann das tat.
Ich fand Brad, wie er einigen Bewohnern gerade die Waffen erklärte, die sie bald benutzen werden müssen. Es sollte ja niemand erschossen werden, weil seine Waffe nicht funktionierte. Brad konnte seine Pistole, die er immer mit sich nahm, im Schlaf auseinander und wieder zusammen bauen. Das gleiche galt für sein Gewehr.
„Hey.“, begrüßte er mich und gab mir einen Kuss. „Was verschafft mir die Ehre?“
„Können wir uns mal unterhalten?“, fragte ich.
Er spürte, dass es mir ernst war. „Was ist los?“, fragte er. „Ist was passiert?“
„Nina hat mir gerade erzählt, was sie werden will.“, erklärte ich ihm. „Und rate mal, was es ist.“ Ich ließ ihm gar keine Zeit zu antworten. „Kein Viehbetreuer, kein Mediziner, kein Techniker oder Mechaniker und in der öffentlichen Küche will sie auch nicht arbeiten.“ Brad sah mich nur verwirrt an, was mich dazu brachte stöhnend vor Ungeduld mit den Augen zu rollen. „Nina will Sklaven befreien.“
Bevor er etwas darauf erwiderte, schwieg er eine Weile. Wartete er etwa auf mehr?
„Und?“, fragte er und mir klappte der Mund auf. „Lisa, sie ist doch erst acht Jahre alt. Bis sie sich wirklich entscheiden muss, vergeht noch so viel Zeit, dass sie sich bestimmt noch zwei Dutzend Mal um entscheidet. Außerdem muss sie doppelt so alt sein, um die Mauern überhaupt verlassen zu dürfen. Und davor muss sie erst mal zur Wache. Was meinst du, wie viele von den heutigen Wachen mal zu den Sklaven Befreiern oder zu den Jägern und Sammlern wollten, und sich dann doch entschieden bei der Wache zu bleiben? Ich würde mir darüber noch keine Sorgen machen.“
„Glaubst du?“, fragte ich unsicher. So ganz war ich noch nicht überzeugt und beruhigt.
„Na klar. Vertrau mir ruhig.“, versicherte er mir.


10


Auf das grelle Licht, das von der Decke auf mich herunter schien, starrte ich, als Kyle sich mein Bein noch einmal ansah, bevor ich in zwei Tagen aufbrechen würde, um ein Sklave zu werden. Dad verlangte, dass ich täglich untersucht wurde, damit wir bald aufbrechen konnten. Die Krücken brauchte ich nicht mehr. Ich kam schon wieder ohne ganz gut zurecht. Aber ein starkes humpeln ließ sich nicht vermeiden. An rennen war noch nicht wirklich zu denken. Mein Muskel war von dem Eisenstab, der mein Bein durchbohrt hatte, beschädigt worden. Marnie, die Medizinerin mit der meisten Erfahrung hier, meinte, ich solle während meiner Mission in der Sklavenhalterstadt einige einfache Übungen machen, und zu viel Ballast vermeiden. Der letzte Teil ihrer Anweisung ließ sich wohl nicht bewerkstelligen, da ich als Sklave hart arbeiten müssen werde.
„Tja, die Narbe wird unvermeidlich sein.“, sagte Kyle heiter. Ich lag ohne Hose auf der Liege, weil meine Wunde ziemlich weit oben saß. Mittlerweile hatte er mich bestimmt schon öfter ohne Hose gesehen als sein Bruder. In letzter Zeit sowieso, denn Rick hat mich das letzte Mal nackt gesehen, an dem Morgen als Jodie und die anderen wieder nach Hause kamen. Und seit ich ihn nach meiner Entlassung aus der Krankenstation abgefangen hatte, hatte ich ihn gar nicht mehr gesehen. Gestern wurde mir dann klar, dass ich ihn tatsächlich vermisste.
Und als könnte Kyle meine Gedanken lesen, griff er dasselbe Thema auf, an das ich denken musste. „Weißt du, deinetwegen hab ich mir ganz schön Ärger eingehandelt.“, sagte er.
„Warum wegen mir?“, fragte ich und setzte mich wieder auf. Kyle reichte mir meine Hose.
„Weil du Rick erzählt hast, dass ich mit dir gesprochen habe, wollte er mir praktisch den Kopf abreißen.“, erklärte er mir.
Was sollte ich darauf sagen? Tut mir Leid? Ich glaube nicht, dass er darauf überhaupt hinaus wollte. Ich hatte das Gefühl, er wollte seinem Bruder nur helfen. Was auch immer das bedeutete. Vermutlich ging es Kyle nicht mal unbedingt darum, mich mit Rick irgendwie zu verkuppeln. Er wollte die Sache nur endlich voranbringen. Ob in die eine oder in die andere Richtung, schien ihm dabei völlig egal. Sprach Rick womöglich mit ihm über so etwas – über mich? Es war nur normal, dass Kyle die Sache zwischen mir und Rick – was es nun auch wirklich sein mochte – voranbringen wollte, weil er Ricks ständige Gequatsche über mich nicht mehr aushielt. Aber das war nur eine Theorie. Eine ziemlich dumme Theorie, wenn ich es mir so überlegte.
„Kann ich dich mal was fragen?“, fragte ich, als ich meine Hose angezogen hatte, und mich an meine Schuhe machte.
„Was denn?“ Kyle hatte mir den Rücken zugewandt und schrieb irgendwas auf einen Zettel. Ob es etwas über mein Bein war, war mir dabei vollkommen egal. Ich hatte etwas ganz anderes im Kopf.
„Kannst du mir sagen, was er für mich empfindet?“, wollte ich wissen.
Kyle drehte sich zu mir um und blickte zu mir hinab. Ich band mir meine Turnschuhe zu, die ich nur innerhalb der Mauern trug. Normalerweise trug ich Stiefel.
„Solltest du ihn das nicht lieber fragen?“, fragte er.
Er hatte Recht. Wenn ich wissen wollte, was Rick für mich empfand, sollte ich besser direkt an die Quelle gehen. Niemand würde mir eher erklären können was für Gefühle Rick für mich hatte als Rick selbst. Ich stand auf, sah aber immer noch zu Boden.
„Ja, schon.“, druckste ich herum. „Aber wenn ich ihn das frage, will er doch gleich wissen was ich für ihn fühle. Und das weiß ich einfach nicht.“ Als ich das sagte, kam ich mir in der Zeit zurück versetzt. Zuletzt war ich in so einer Situation, als ich noch ein Teenager war.
„Weißt du wie sich das anhört? Wie von einer verknallten Halbwüchsigen.“ Ich spürte wie ich langsam rot wurde. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, ausgerechnet so etwas mit Kyle zu besprechen.
„Also wenn du mich fragst.“, sagte er schließlich. „Er liebt dich.“

Einunddreißig Stunden. Solange war ich noch hier. Dann fuhren wir los, zur Sklavenhalterstadt. Dad setzte den Aufbruch für Sonnenaufgang an. Er wollte das Tageslicht ausnutzen, denn aus irgendeinem Grund erregten wir nachts mehr Aufmerksamkeit der Zombies, die überall lauerten. Vermutlich lag es an der Wirkung des Scheinwerferlichts in der dunklen Nacht. Bisher hat noch nie jemand ein psychologisches Profil von Zombies aufgestellt. Falls so etwas überhaupt möglich war. Denn oft genug kam uns der ein oder andere Zombie unter, der entgegen unserer auf zahlreichen Beobachtungen basierenden Kenntnisse über ihre Angewohnheiten handelte.
Nie würde ich es Dad gegenüber erwähnen, aber ich war nervös. Sogar etwas Angst hatte ich. Letzte Nacht hatte ich einen Traum. Ich träumte von verschiedenen Erinnerungen. Noch einmal musste ich durchleben, wie Panda starb und ich versäumte Declan dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Ich war Beobachter von Erinnerungen, die nicht meine waren. In unserer Familie war es üblich, weil wir unnatürliche Telepathen sind, wie wir es manchmal nannten, die Erinnerungen unserer Vorfahren irgendwie im Laufe des Zusammenlebens aufzufangen. Dann hielten wir diese Erinnerungen unser Leben lang in uns, gab sie weiter an unsere Kinder und Kindes Kinder, und konnten sie abrufen, als wären sie unsere eigenen. Von einigen dieser Erinnerungen habe ich geträumt. Ich wurde Zeuge, wie mein Großvater, als er ein gerade elf Jahre alt war, aus dem Bunker kam, in dem schon seine Großeltern geboren wurden, und von Sklavenhändlern aufgegriffen wurde. Dreißig Jahre lebte er als Sklave. Mein Vater wurde als Sklave geboren. Und sie hatten kein gutes Leben. Als ich vor vier Jahren zum ersten und einzigen Mal mit auf eine Befreiungsaktion durfte, war ich kaum drei Tage ein Sklave. Kaum genug Zeit den harten Alltag mitzumachen. Ich konnte von Glück reden, dass sich damals niemand weiter für mich interessiert hatte, als für meine Arbeitskraft.
Seit ich diesen schier endlosen Traum geträumt hatte, fühlte ich mich sehr unsicher. Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich das konnte. Und das, obwohl ich so einen Aufriss veranstaltet hatte, um mitfahren zu dürfen. Ich hatte die Beziehung meiner Eltern gefährdet. Und jetzt hatte ich Angst? Ich muss das jetzt durchziehen. Mir blieb nichts anderes übrig. Außerdem bin ich ein Telepath. Ich muss nur stets all meine Sinne offen und auf Alarm halten, dann konnte mir nichts passieren. Zudem war ich ja auch nicht alleine.
Doch genauso fühlte ich mich jetzt. Unruhig und einsam. Niemanden konnte ich von meinen Zweifeln erzählen. Aber es gab einen, dessen Nähe ich mir jetzt wünschte. Aber Rick war entweder wütend auf mich, oder zog sich von mir zurück, weil ich ihn verletzt hatte. Eigentlich wollte ich warten, bis ich mir sicher war, was ich ihm sagen sollte, wenn er nach meinen Gefühlen fragte. Ich war nicht herzlos, weil ich ihn nicht liebte. Er bedeutet mir viel, weshalb ich ihm nicht mit einem Korb wehtun wollte. Trotzdem wünschte ich mir seine Nähe. Die Wärme seines Körpers an meinem. Das Gefühl, wie seine Arme sich um mich schlangen.
Bevor ich nachdenken konnte war ich schon auf dem Weg zu seiner Wohnung. Heath, Ricks Vater öffnete die Tür auf mein Klopfen. Er trug eine Brille, mit der er aber nicht richtig gut sah. Immer wenn wir sammeln gingen, sollten wir nach Brillen Ausschau halten und mitnehmen, damit Heath eine passende fand. Er war nicht der einzige, der keine passende hatte. Seine dunklen Haare waren hier und da von grauen strähnen durchzogen. Und sein Bart war vorsichtig geschnitten. Er wendete laut Rick immer viel Zeit für die Pflege seines Bartes auf.
„Ivy.“, sagte er überrascht. „Es ist spät. Was machst du hier? Probleme mit deinem Bein?“ Heath ist Lehrer in unserer Gemeinde. Mich hatte er auch schon unterrichtet. Neben den Telepathen meiner Familie, die die Einzelheiten der Zeit vor der Apokalypse kannten, wusste nur Heath so viele Einzelheiten. Wir kannten sie aus quasi zweiter Hand, durch unsere Erinnerungen. Er wusste all diese Dinge aus Büchern. Wie die Menschen früher gelebt haben, was sie den ganzen Tag trieben, welche Möglichkeiten sie hatten, wo sie überall hin reisen konnten. Er wusste so viel über die verschiedenen Kulturen unterschiedlicher Länder. Auch welche, die schon lange Zeit vor der Apokalypse untergegangen sind.
„Ist Rick da?“, fragte ich.
„Nein.“, sagte er und dachte kurz darüber nach. „In letzter Zeit ist er wirklich selten zu Hause. Ich fürchte er hat Probleme, weil er öfter in der Bar verkehrt. Lange ist er dort nicht mehr hingegangen. Du weißt nicht zufällig was ihn bedrückt? Kyle scheint etwas zu wissen, aber er redet nicht.“
„Ich glaube das klärt sich bald.“, sagte ich. Ich hoffte, das klärt sich bald. „Also ist er jetzt in der Bar?“
„Würde ich sagen. Ja.“
Ich ging also zur Bar im Hauptgebäude, dem einzigen Ort, wo man an Alkohol kam. Es war schon lange dunkel. Mum und Dad saßen zu Hause zusammen auf der Couch. Beide lasen ein Buch und Mum hatte sich an Dad gelehnt. Obwohl ich wusste, dass es nicht echt war, war schön sie nach ihrer Streiterei so zu sehen. Als sie fragten, wo ich noch hin wollte, sagte ich, ich wolle noch zusammen mit Stella zu Ava und Eve, meinen besten Freundinnen, wo wir einen Mädelsabend verbringen wollten. Natürlich stimmte das nicht. Aber was sollten sie schon für einen Grund haben meine Geschichte zu überprüfen. Im Grunde wäre es sogar egal gewesen, dass ich log.
Ein starker Alkoholgeruch gemischt mit lautstarken Unterhaltungen wehte mir entgegen, als ich die Tür zur Bar öffnete, und ich tauchte darin ein. Als erstes sah zum Bartresen hinüber, der sich in der Mitte des Raumes befand, und entdeckte sofort Rick, wie er über einem Glas hing. Ich schlängelte mich durch die Amüsierte Gemütslage der Trinker auf ihn zu. Greg, einer der Viehbetreuer und ein Freund von mir, griff mich und fing an mit mir tanzend hin und her zu taumeln. Der Kerl war jetzt schon am Limit von dem, was er trinken durfte. Er war total betrunken. Nur weil er ein Freund war, ließ ich mich von ihm mitreißen. Als der Sohn der besten Freunde meiner Eltern, sind wir unweigerlich eng miteinander aufgewachsen. Manchmal ärgerte oder nervte er mich so, als sei er mein Bruder. Und ich genoss es. Immer hatte ich mir einen Bruder gewünscht. Doch jetzt war der Zeitpunkt ungünstig. Ich schaffte es mich von ihm loszureißen, ohne dass er, betrunken wie er war, das als Aufforderung sah mich weiter von meinem Ziel abzuhalten.
Bevor ich ihn ansprach, kündigte ich mein Eintreffen mit einer Berührung an seiner Schulter an. Er zuckte zusammen und fuhr herum.
„Was willst du denn hier?“, fragte er mit lallender Aussprache. Dafür, dass er mich liebte, benahm er sich reichlich abweisend. Hatte er mich schon aufgegeben und versucht schon mich zu vergessen?
„Können wir uns unterhalten?“, fragte ich meine Stimme über den Geräuschpegel erhebend. „Unter vier Augen?“
„Klar.“, sagte er und ich dachte schon er würde gleich mit mir mitkommen. Aber weit gefehlt. Er war wirklich irgendwie sauer auf mich. „Wenn du es schaffst, dass alle anderen hier im Raum die Augen schließen, können wir uns unter vier Augen unterhalten. Andernfalls wird wohl nichts draus, weil ich nicht beabsichtige hier bald zu verschwinden.“
„Rick, bitte.“
„Lass mich zufrieden.“, sagte er nur und wandte sich wieder seinem Drink zu.
Ich versuchte ihn irgendwie dazu zu bewegen mit mir zu reden – alleine – aber ich redete nur gegen eine Wand. Als ich es schließlich mit Körperkontakt versuchte, wurde er wütend und ging. Aber ich traute mich nicht ihm zu folgen. Nick rief ihn zurück, weil er noch seinen Drink in der Hand hatte, als er die Bar verlassen wollte. Das war nicht erlaubt. Der Alkohol durfte nur abgefüllt in den Mägen der Trinker die Bar verlassen. Mit aufgebrachter Gestik stellte Rick dann doch seinen Drink auf den nächstgelegenen Tisch ab und verließ die Bar endgültig.
Noch nie hatte ich ihn so aggressiv erlebt. War er immer so, wenn er getrunken hat? Ich bin noch nicht lange alt genug um in die Bar zu dürfen. Das darf man nämlich erst ab zwanzig. Und seit ich alt genug bin, verspürte ich nicht unbedingt den Drang mich zu betrinken – wobei ich im Augenblick anders denke. Daher hatte ich nie Gelegenheit gehabt ihn so zu erleben. War es der Alkohol, der ihn so aggressiv gemacht hat, oder habe ich ihn zu sehr verletzt? Hatte er den Kampf um mich schon aufgegeben, ehe er ihn überhaupt richtig begonnen hat?
„Gibst du mir einen Drink?“, fragte ich Nick, der von der anderen Seite des Tresens beobachtet hatte, was sich zwischen Rick und mir abgespielt hat.
„Ich glaube nicht, dass dein Vater das gerne sieht, wenn du jetzt anfängst zu trinken.“, sagte er über dem allgemeinen Stimmengewirr hinweg.
„Nur ein Drink, Nick.“ Ich schätze, er hörte diesen Satz oft. Nur noch einen Drink. Mach doch mal eine Ausnahme. Bestimmt war ich nicht die erste, die ihn anbettelte.
Schließlich schenkte mir Nick ein kleines Glas Schnaps ein. Zuerst dachte ich, dass er mir ein extra kleines Glas gab. Aber dann sah ich, dass die meisten so kleine Gläser vor sich stehen hatten. Mit einem Zug schüttete ich mir das Gesöff die Kehle runter. Der Schnaps brannte sich tief in mir ein. Sogar in meinen Gliedern spürte ich die Wärme, die sich in mir ausbreitete. Das Wohlige Gefühl breitete sich in mir aus, als ich niedergeschlagen nach Hause humpelte. Der Alkohol machte es auch nicht besser. Vielleicht wenn ich mehr trinken würde? Aber im Augenblick war das unmöglich. Übermorgen musste ich fit sein, wenn wir endlich aufbrechen.
Mitten auf der Straße vor unserem Wohnhaus blieb ich plötzlich stehen. Ich wollte nicht nach Hause. Gerade weil ich mich einsam und unsicher fühlte habe ich es ja erst verlassen. Ich wollte Dad jetzt nicht um mich haben. Also machte ich wieder kehrt. Stella oder Ava und Eve, irgendjemand wird noch wach sein. Vielleicht konnte ich bei ihnen auf der Couch schlafen. Ganz alleine in meinem Zimmer konnte ich einfach nicht sein. Auf dem Weg zu ihnen begegnete mir Rick nochmal. Er saß auf dem Boden am Eingang zu seinem Wohnhaus. Es wirkte beinahe so, als würde er schlafen. Sein Kopf war zur Seite gesackte, seine Beine angewinkelt. Seine ganze Haltung verriet mir, dass er sich quälte. Und ich befürchte, das tat er wegen mir. Obwohl ich das nie beabsichtigt hatte. Was war nur passiert? Vor einigen Tagen, bevor Jodie zurückgekommen ist, war noch alles in Ordnung. Und dann bröckelte alles ineinander, wie das Haus, das vor ein paar Tagen über mir zusammen gekracht war. Wieso hat er früher nie klare Annäherungsversuche unternommen, wenn er wirklich etwas wie Liebe für mich empfand. Hatte er Angst, ich hätte ihn zurückweisen können?
Gerade als ich mich dazu entschloss zu ihm zu gehen, öffnete sich plötzlich ein Lichtschein tiefer im Innenhof des Wohngebäudes. Unsicher blieb ich im Dunklen verborgen.
„Rick?“, rief eine Stimme. Heath Silhouette trat in mein Sichtfeld und kniete sich neben Rick, der ihn gar nicht zu bemerken schien. „Komm schon, Junge. Steh auf.“ Er zerrte Rick mit aller Kraft auf die Beine, stütze ihn mit seiner Schulter, und zog ihn halb in ihre Wohnung. Als ich Zeuge davon wurde, hasste ich mich regelrecht dafür. Ohne es zu beabsichtigen, hatte ich einen Erwachsenen Mann, der mir auch noch viel bedeutet, zu einen wandelnden Wrack gemacht. Und ich wusste nicht, wie ich das wieder bereinigen sollte. Vor allem, wenn er nicht mit mir sprechen will.
Nachdem der Lichtschein wieder von der Dunkelheit verschluckt wurde, setzte ich meinen Weg zu meinen Freundinnen fort, die alle im Wohnhaus nebenan wohnten. Ava und Eve teilten sich seit fünf Jahren eine Wohnung. Sie waren beide ohne Eltern hier her gekommen und waren wie Schwestern. Da war es naheliegend, dass sie zusammen wohnten. Stella hingegen, wohnte in einer Wohnung mit ihrem Freund Chad. Ich glaube die beiden werden bald eine Familie gründen. Jedenfalls wirkte es so, weil sie immer noch so verliebt waren wie am ersten Tag.
Im Treppenhaus des Wohnhauses überlegte ich, bei wem ich heute Nacht lieber Unterschlupf finden wolle. Bei meiner aller besten Freundin, die aber in einer glücklichen Beziehung steckte, und das auch offen zeigte, wo ich mich doch so schlecht wegen Rick fühlte? Oder bei meinen nächst besten Freundinnen, die beide Single waren, und selbst immer meinten, dass sie keine Ahnung von Männern hatten? Spontan würde ich eher zu Eve und Ava tendieren. Ich hatte eigentlich nicht vor über meine Probleme zu reden – weder über die Sache mit Rick, noch über meine Ängste, dass ich der anstehenden Mission wohl doch nicht gewachsen war. Alles was ich brauchte war eine Couch auf der ich schlafen konnte, die ich bei meinen beiden Freundinnen nicht fand. Ava bot mir an, dass ich bei ihr im Bett schlafen konnte. Beide hatten sie große Betten, die für zwei Personen gemacht waren. Wir sammelten immer nur große Betten, wenn wir ins Ödland fuhren, weil die Kinder ja irgendwann erwachsen wurden und bald auch zu zweit waren.
Bevor wir schlafen gingen, bestanden Ava und Eve aber darauf, dass wir noch ein wenig im Wohnzimmer zusammensaßen. Immerhin konnte es ja eine Weile dauern, bis wir wieder so zusammensitzen konnten, da ich schon bis zu einer Jahreszeit brauchen konnte, bis Jodie und ich uns sicher sein konnten, dass der richtige Zeitpunkt für das Stürmen der Stadt gekommen war.
Hätte ich gewusst, dass die beiden nur über Kerle quatschen, wäre ich doch zu Stella und Chad gegangen. Ava schwärmte die ganze Zeit von Aaron. Und als sie mich fragte, wie er auf unseren Touren so ist, sagte ich ihr unüberlegt, dass ich vermutete, dass er auf Lulu stand. Jedenfalls scherzte er immer darüber mit den anderen Jungs auf der Tour, was er mit ihr tun wolle. Ich hörte meistens augenrollend weg, wenn sie über so etwas redeten. Doch entgehen konnte ich dem Machogerede nicht, wenn wir alle zusammen in einem Wagen saßen. Ava war den Rest des Abends etwas angebunden, nachdem ich ihr davon erzählt hatte.
Eve war da etwas anders. Sie hatte ein Auge auf die älteren Singles der Gemeinde geworfen. Darunter fielen auch Chris und Cooper, die wie Aaron auch zu meinem Team zählten. Über die beiden ließ sich aber nur sagen, dass sie sich oft wie pubertäre Idioten verhielten. Sie waren die Schlimmsten, wenn es darum ging über Frauen zu reden. Oft bewerteten sie die Frauen der Gemeinde nach Aussehen und mit welcher sie am liebsten schlafen wollten. Dabei machten sie nicht mal vor Frauen halt, die in einer Beziehung lebten. Natürlich verlangten Ava und Eve sofort, ob ihre Namen dabei auch gefallen sind. Ich erzählte ihnen, was sie vermutlich hören wollten, dass sie beide ganz oben auf der Liste der heißesten Frauen aufgeführt waren. Doch um die Wahrheit zu sagen, war Ava den beiden an bestimmten Stellen zu flach, und Eve hatte zu viel auf dem Kasten – was sie auch brauchte, immerhin arbeitete sie im Wasserwerk. Alle mechanischen und technischen Jobs wurden von den klügeren Bewohnern ausgeführt.
Ich tauchte auf der Liste der beiden Idioten auch nicht allzu weit oben auf. Sie sagten es nie, aber ich war ihnen auch zu flach. Aber ich hatte einen Bonus, weil ich das Sagen hatte, wenn wir zusammen im Ödland unterwegs waren. Sie fanden es scharf mit einer Frau zu schlafen, die sie herumkommandierte. Aber all das hatte ich nur aus zweiter Hand erfahren, von Rick, als wir uns eines Nachts heimlich im Wald trafen, als wir uns noch einig waren, dass niemand von uns erfahren sollte. Am Abend dieses Tages waren wir mal wieder von einem Ausflug im Ödland zurück nach Hause kamen. Er hatte darauf gedrängt, dass wir uns trafen, weil es ihn fertig machte, die ganze Zeit so eng mit mir aufeinander zu sitzen, ohne mich berühren zu können, wie er es wollte. Wo ich so darüber nachdachte, musste ich mich fragen, warum ich nicht früher darauf kam, dass er mehr als nur den Spaß mit gelegentlichem Sex von mir wollte. Wo hatte ich nur meinen Kopf?
Ich verabschiedete mich schließlich zu Bett, als diese Gedanken wieder in mir aufkamen. Dort würde ich wohl eher weiter darüber nachdenken, da ich mit meinen Gedanken alleine war. Aber die Bewusstlosigkeit des Schlafes würde mich dann umso schneller einholen, wenn ich erst einmal in einem dunklen und halbwegs ruhigen Raum lag.

Einerseits verging der nächste und vorerst letzte Tag zu Hause zu schnell. Aber andererseits auch viel zu langsam. Mit der ewigen Furcht etwas falsch zu machen, wollte ich die Mission endlich hinter mich bringen. Ich hatte die Bedenken, die mich erst gestern so richtig eingeholt hatten, satt. Konnte es denn nicht endlich vorbei sein? Dann wüsste ich wenigstens, ob ich versagt habe oder nicht. Aber wir standen erst am Anfang. Das hieß wir bereiten heute unsere Ausrüstung vor. Jodie und ich eigentlich nicht. Immerhin mussten wir unbewaffnet in die Sklavenhalterstadt gehen, um nicht sofort hingerichtet zu werden. Seit einigen Tagen sollte ich schon nicht mehr duschen – zumindest meine Haare nicht mit Seife waschen – damit ich verwahrlost genug aussah, sodass man mir abkaufen würde, dass ich seit Tagen durch das Ödland laufe. Im Grunde hatte ich also nichts weiter zu tun. Trotzdem stand ich früh morgens auf und verließ die Wohnung bevor Ava wach war.
Als ich draußen, am Eingang zu Ricks Wohnhaus vorbei ging, blieb ich stehen und überlegte, ob ich noch einmal versuchen sollte mit ihm zu reden. Lange würde ich ihn nicht mehr sehen. Und es fühlte sich falsch an, nicht mit ihm zu sprechen. Aber Rick würde verkatert sein. Es wäre besser, wenn ich ihn schlafen lasse. Also ging ich weiter.
Um meine Nervosität zu verbergen, suchte ich mir den ganzen Tag über Arbeit. Zuerst half ich Dad und Brad Waffen und Munition im Lager zusammen zu suchen und im Wagen zu verstauen. Danach waren die Vorräte dran. Wir hatten einen vollen Tag zu fahren, bis wir in die Nähe des Gebietes der Stadt waren. Dort würden wir einen sicheren Ort suchen, der weit genug weg war, aber trotzdem noch nah genug, sodass Dad mit Jodie und mir in Kontakt bleiben konnte. Während wir das Sklavenleben über uns ergehen lassen, und versuchen herauszufinden, wie wir die ganzen Sklaven am besten von dort befreien, würde Dad die ganze Zeit über in seinem Versteck bleiben. Die anderen, die uns begleiten würden hin und wieder mit anderen tauschen. Alle zehn Tage, war der Plan. Zunächst würden Brad, Sully und Doris mitfahren. Sie werden sich dann mit Kyle, Marty und Judd abwechseln.
Nachdem ich keine Arbeit mehr fand, mit der ich mich ablenken konnte, verbrachte ich ein wenig Zeit mit Pablo. Ich würde den kleinen Kerl sehr vermissen. Zusammen mit seinem Freund Joe spielten wir Ball im Baumgarten. Es war schön noch einmal wie ein Kind zu spielen. Bisher hatte ich es vermieden zu denken, aber ich hatte nicht nur Angst die Mission zu vergeigen, sondern zu sterben. Mein Großvater ist bei so einer Mission, die sogar noch viel kleiner war, umgekommen. Und er war nicht der einzige.
Als ich in dieser Nacht versuchte zu schlafen, wollte es nicht klappen. Ich war hellwach. Und mein Kopf schwirrte mir vor Gedanken. Unruhig lag ich in der Mitte meines Bettes, im Dunkeln, und starrte die schwarze Decke an. Irgendetwas brodelte in mir.
Und dann hörte ich das leise Klopfen am Fenster. Zuerst dachte ich, dass ich es mir nur eingebildet hatte. Da hörte ich es noch einmal energischer und lauter. Als ich mich aufrichtete sah ich die Silhouette am Fenster. Ich krabbelte aus dem Bett und wusste wer dort draußen stand. War das ein Traum?
„Rick?“, sagte ich, als ich das Fenster öffnete und er dort draußen vor mir stand.
Er sah mir nicht in die Augen. „Ich wollte nur sagen, sei vorsichtig da draußen.“, sagte er. „Und komm gesund wieder.“ Dann wollte auch schon wieder gehen.
„Rick, warte.“, rief ich ihn zurück. „Willst du … willst du nicht noch rein kommen?“
Er blieb stehen, drehte sich um, und lächelte mich mit einem schiefen Lächeln zurückhaltend an. „Ich dachte, du nimmst keine Männer mir nach Hause.“
„Na ja.“, sagte ich und zuckte auch lächelnd mit den Schultern. „Nicht durch die Tür.“
Für einen Moment stand er nur so herum. Seine Körpersprache sagte er wolle gehen, aber sein Kopf wollte bleiben. Schließlich kam er zurück, setzte sich auf mein Fensterbrett und schwang seine Beine zu mir rein.
„Ich fasse es nicht, dass ich zu einer Frau durchs Fenster klettere.“, sagte er dabei.
In wenigen Augenblicken verringerte er den Raum zwischen uns. Seine Arme schlangen sich um mich und ich versank in seiner Wärme. Außer einem kurzen aber schönen Kuss passierte in dieser Nacht nichts. Wir fanden uns irgendwann auf dem Bett Arm in Arm liegend und redeten.
„Liebst du mich?“, fragte ich. Ich hatte es eigentlich gar nicht vor, aber die Frage platzte so aus mir raus, als er mir über mein ungepflegtes Haar strich.
Mit einem knappen und einfachen „Ja“ antwortete er mir.
Dann wartete ich, sein Herzschlag unter meinem Ohr. Aber es kam nichts weiter. Er fragte mich nicht, was ich für ihn empfand. Stillschweigend lag auf meinem Bett und hielt mich fest.
„Willst du mich nicht fragen ob ich dich auch liebe?“, fragte ich schließlich.
Nach langem Schweigen sagte er, „Nein.“
Das verwirrte mich dann doch ziemlich. Fragend richtete ich mich auf einem Arm auf und sah ihn durch die Dunkelheit an. Er sah mir direkt in die Augen. „Warum nicht?“, wollte ich wissen.
Mit seiner rechten Hand strich er mir meine Haare aus dem Gesicht, die dann gleich wieder zurück fielen. Er tat es noch einmal und hielt sie dort. „Weil ich fürchte du sagst nein.“
Als er das sagte, und ich wusste, dass es das war, was ich geantwortet hätte, wollte ich ihn küssen um ihm sonst etwas zu geben. Aber das war vermutlich keine so gute Idee. Bestimmt machte ich es damit nur noch unerträglicher für ihn. Ich ließ es auf sich beruhen und legte mich wieder auf seine Brust. Nach einer Weile unterbrach ich aber wieder das Schweigen. „Wieso liebst du mich? Du kennst mich doch gar nicht so genau. Es ist ja nicht so, als hätten wir oft miteinander geredet.“
Er lachte kurz. „Wir sind gemeinsam aufgewachsen. Über drei Jahre, sind wir regelmäßig zusammen ins Ödland raus gefahren. Eine Menge Zeit, die wir nicht mit Sex gefüllt haben. Und da sagst du, ich kenne dich nicht gut genug?“
Ich musste schon zugeben, dieses Gespräch verlief wesentlich besser, als ich es mir ausgemalt und befürchtet hatte. Er war überhaupt nicht betreten, obwohl er sich dachte, dass ich nicht dasselbe für ihn empfand, wie er für mich. Er war nicht verletzt oder traurig. Ich glaube, er war einfach glücklich, mich im Arm zu halten. Dann machte es ihm vielleicht auch nichts aus, wenn ich jetzt ein wenig neugierig war.
„Was liebst du an mir?“, wollte ich wissen. Denn ich konnte es mir nicht vorstellen. Was sah er in mir?
Diesmal schwieg er nicht lange, sondern antwortete gleich, als hätte er darauf gewartet es mir erzählen zu können. „Ich liebe es, dass ich ganz automatisch lächeln muss, wenn ich dein Lächeln sehe. Du lässt nie jemanden zurück, wenn wir draußen im Ödland sind, und in Schwierigkeiten geraten. Und es fasziniert mich, dass es dich immer wieder dort raus zieht, obwohl dort jederzeit der Tod lauert. Ich bewundere an dir, dass du die sicheren Mauern der Gemeinde trotzdem immer wieder verlassen kannst.“ Dann hörte ich eine Traurigkeit in seiner Stimme. „Aber das ist auch das, was ich am meisten an dir hasse. Du bringst dich immer wieder in Gefahr, weshalb ich nie aufhören kann mir Sorgen um dich zu machen.“
Ich schwieg nachdem er zu Ende gesprochen hatte. Er kannte mich besser als ich dachte. Aber nicht so gut, wie er denkt. Trotzdem fühlte ich mich wohl damit. Obwohl ich mich immer noch schlecht fühlte, weil ich ihn nicht liebte.
„Es tut mir Leid.“, sagte ich kleinlaut. „Aber ich glaube, ich liebe dich nicht. Dennoch hab ich dich sehr gern, Rick.“ Ich hatte ihn wirklich sehr gern. Immer wenn wir Zeit miteinander verbrachten war ich zufrieden – und das nicht nur, wenn wir unter uns waren. Selbst wenn wir stritten. „Vielleicht kann ich dich, wenn wir wieder zurück sind, auch so gut kennenlernen, wie du mich zu kennen scheinst.“
Sein ganzer Körper drehte sich nun zu mir. Er sah mir direkt in die Augen und strich mir wieder mein Haar aus dem Gesicht. „Das fände ich schön.“, lächelte er mich an. Dann küsste er mich und es dauerte nicht lange, bis wir Arm in Arm zusammen einschliefen.
Rick schlief noch, als ich wieder aufwachte. Meine innere Uhr weckte mich immer zum richtigen Zeitpunkt. Die Nacht vor meinem Fenster verriet mir, dass die Sonne nicht mehr lange auf sich warten ließ. Es war Zeit aufzustehen. Vorsichtig entfesselte ich mich von Ricks Umarmung, die die ganze Nacht über gehalten hatte, und kroch aus dem Bett. Ich nahm meine Kleidung mit in das Badezimmer, das direkt an meinem Zimmer anschloss. Dort zog ich mich an und starrte, bevor ich wieder raus ging, in den Spiegel. Meine Haare waren ein Gewirr, dass ich nicht auszukämmen versuchte. Dunkle Ringe zogen sich unter meine Augen. Niemand würde anzweifeln, dass ich seit Tagen im Ödland umher irrte, auf der ewigen Suche nach einem Ort, wo bleiben konnte und wo es sicher war. Da machte es auch nichts, dass ich mir kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, um richtig wach zu werden. Dann schlich ich wieder raus, um Rick nicht zu wecken. Aber er war schon wach. Wie ein trauriger Klotz saß er auf der Ecke meines Bettes. Es tat mir weh, ihn so zu sehen. Er stand auf, starrte auf den Boden als er zu mir rüber kam, und umarmte mich wieder. Seinen heißen Atem, den er zurückzuhalten versuchte, spürte ich in meinem Nacken. Als er zurück wich nahm er mein Gesicht in seine Hände und mir entwich eine einzelne Träne, als ich seine Lippen auf meinen spürte.
„Komm bitte wieder.“, flehte er mich mit seiner Stirn an meiner lehnend an.


11


Obwohl es sehr früh am Morgen war, kamen mindestens die Hälfte der Bewohner unserer Kolonie um uns zu verabschieden und uns auf unserer Mission glück zu wünschen. Mum wollte mich aus ihrer Umarmung gar nicht mehr loslassen. Auch Dad und Jodie nicht. Aber schließlich sah sie ein, dass sie nichts mehr dagegen tun konnte, dass wir die Kolonie verließen. Rick war nicht mehr da. Nachdem er mich gehen ließ, ging ich in der öffentlichen Küche mit den anderen, die mitfuhren, zu frühstücken. Wo er sich hin verdrückt hatte, wusste ich nicht. Er war einfach nicht mehr da. Aber das brauchte er auch nicht, schätze ich. Ich meine, wir haben uns ja schon verabschiedet. Trotzdem wäre es schön gewesen, ihn noch einmal zu umarmen, bevor ich in den Wagen stieg. Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, wie er sich jetzt fühlte. Schlimm genug war es, zu wissen, dass ich ihn schrecklich vermissen würde, jetzt wo ich wusste, dass ich ihn besser kennen lernen wollte – und ich wollte es wirklich.
Dad fuhr den mit Gittern verstärkten Truck, währen Brad neben ihm saß und ihn navigierte. Wir anderen vertrieben uns die lange Zeit der Fahrt, die einen ganzen Tag dauern würde, mit Kartenspielen. Wie in der Kolonie spielten wir nur um theoretische Einsätze, da wir so etwas wie Geld, das vor der Apokalypse praktisch die Welt beherrschte, nicht hatten. Das was wir waren, nannte man früher eine Kommune. Wir teilten alles und arbeiteten mit- und füreinander.
Auf der Fahrt vermied ich es aus dem Fenster zu sehen. Obwohl ich immer gerne auf Außeneinsätze ging, deprimierte es mich oft die leeren Städte zu sehen. Wobei ich durch den aufgewirbelten Sand nicht viel hätte erkennen können. Von außen sah es bestimmt so aus, als seien wir nur eine Staubwolke, die vom kalten Wind, der selbst an heißen Tagen durchs Land zog, aufgewirbelt wird. Die Zombies, die meistens in den Städten zu finden waren, weil sie einer entfernten und längst in Vergessenheit geratenen Erinnerung an ein Leben nachhingen, würden sich für uns nicht interessieren. Selbst wenn, wären wir schon längst über alle Berge, wenn sie die Stelle erreicht haben, wo wir waren, als sie uns gesehen hatten. Auf Straßen zu fahren, war weitgehend unmöglich geworden. Die meisten waren aufgesprungen und zerbröckelt, sodass unsere Reifen zerplatzen würden, wenn wir darüber fuhren.
Der Tag zog sich dahin. Irgendwann hatte ich keine Lust mehr beim Kartenspielen zu verlieren – Sully war unschlagbar, aber nur, weil Jodie und ich seine Gedanken nicht lesen durften. Nach einer Weile lehnte ich mich auf meinem Sitz zurück und schloss die Augen. Fast automatisch reif sich mir der Kuss von Rick wieder ins Gedächtnis, als er mich heute Morgen noch einmal anflehte gesund wieder zu kommen. Ausgesprochen hatte ich es nicht, aber ich versprach ihm in Gedanken, dass ich mein Möglichstes tun würde zurück zu kommen – zu ihm. Als ich das dachte, musste ich in mich hinein lächeln, und erinnerte mich daran, was er letzte Nacht zu mir gesagt hat. Wäre er jetzt hier, würde er wohl auch lächeln.
„Ivy?“ Für einen Moment dachte ich, es wäre Rick, aber das war natürlich unmöglich. Als ich meine Augen wieder öffnete, spürte ich, dass der Wagen angehalten hatte. Jodie, die neben mir saß, hatte mich geweckt. Wie hatte ich sie mit Rick verwechseln können? Wann war ich eingeschlafen?
„Ich hab doch gesagt, du sollst sie schlafen lassen.“, sagte Dad, der außerhalb des Wagens stand. „Wer weiß, wann ihr das nächste Mal die Chance dazu habt ruhig zu schlafen.“
„Was ist los?“, fragte ich. „Warum haben wir angehalten?“
„Ein kleines Hindernis auf unserer Route.“, erklärte mir Jodie und zeigte dabei durch die Windschutzscheibe unseres Fahrzeugs, auf eine eingestürzte Brücke, die vor uns lag. „Als wir nach Hause gefahren sind, war die Brücke noch vollkommen intakt. Sah nicht mal brüchig aus. Brad und Sully sind unten, bei den Trümmern um nach eventuellen Sprengsätzen zu suchen.“
„Sprengsätze?“, wiederholte ich überrascht. „Was glaubt ihr, was mit der Brücke passiert ist?“
„In Anbetracht der Umstände, dass Jodie sich genau erinnert, dass die Brück noch absolut in Ordnung war, müssen wir auf Nummer sicher gehen.“, erklärte Dad, durch das heruntergerollte Fenster des Wagens. „Wir können nicht riskieren die Stadt zu infiltrieren, wenn die Sklavenhalter womöglich dafür verantwortlich sind, was mit ihr passiert ist. Vielleicht haben sie doch Wind davon bekommen, was wir haben.“
„Ich hab dir doch gesagt, dass ich vorsichtig war.“, keifte Jodie Dad an.
„Ja, ich weiß.“, sagte er schnell. „Trotzdem müssen wir vorsichtig sein. Wenn du verstehst.“
Vor sich hin nörgelnd verließ Jodie den Wagen und schlenderte zum Abgrund, in dem die Brücke gestürzt war. Dad sah ihr Kopfschüttelnd nach.
„Streitet ihr?“, fragte ich ihn.
„Hm? Nein. Es ist nur…“
„Was?“
„Vergiss es.“, sagte er wieder kopfschüttelnd, ging auch davon und ließ mich mit dem Gefühl zurück etwas verpasst zu haben.
„Wenn wir nicht bald weiterfahren, kommen wir nicht vor Einbruch der Nacht in unser geplantes Lager.“, sagte Doris auf dem Sitz hinter mir. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass sie noch da war.
„Wie lange stehen wir hier schon?“, wollte ich wissen.
„Eine Weile.“, sagte sie genervt. Ich wusste, wenn es heiß wurde, konnte sie oft etwas patzig werden. Und der Sommer hatte vor einigen Tagen schon begonnen. Die Sonne stand hoch am Himmel, brannte zwar nicht kochendheiß zu uns runter, heizte den Wagen aber dennoch ziemlich auf. Schweiß lief mir schon den Körper herunter. Also beschloss ich, den Truck auch zu verlassen. Auf den kühlen Wind war verlass. Es wehte mir eine kalte Brise um die Ohren, und ich fing schon an etwas zu frösteln. Dennoch war es angenehm.
Als ich in Richtung des Abgrundes, der sich vor uns auftat, zu Dad und Jodie ging, entdeckte ich die Seile, die an der verstärkten Stoßstange des Wagens befestigt waren und hinunter führten. Daran mussten Brad und Sully heruntergeklettert sein. Ich kam näher an den Abgrund, und entdeckte Bewegungen an den Seilen. Sie kletterten schon wieder hoch.
„Die Stahlträger der Brücke waren total durchgerostet.“, berichtete uns Sully, als sie die Seile wieder aufrollten. „War echt ein Wunder, dass wir letztes Mal doch drüber gekommen sind. Ich schätze kurz darauf ist das Ding dann eingestürzt.“
„Also keine Sprengsätze.“, stellte Dad fest.
„Nein. Definitiv der Rost.“, urteilte Brad. „Wobei ich mir nicht ganz erklären kann, warum sich der Rost so auf bestimmte Stellen konzentriert hat, wie hier.“
„Was willst du damit sagen?“, fragte Dad. „Dass das unnatürlich ist? Womöglich von Menschenhand?“
„So was in der Art.“, sagte Sully. „Wir haben Leichenteile da unten gefunden. Meiner Theorie nach, wurden Menschen unter die Brücke gebunden. Deren Körperflüssigkeiten haben dann den Rost hervorgerufen.“
„Leichen? Wer bindet denn Menschen an die Unterseite einer Brücke?“, wollte ich wissen.
„Kannst du dir das nicht denken?“, fragte Sully, als wolle er mir Angst einjagen.
„Die Sklavenhalter?“, fragte ich erschüttert.
„Die, oder eine Bande, die hier in der Nähe ihr Unwesen treibt.“, meinte Dad beruhigend. Ihm war meine Erschütterung über die Brutalität der Sklavenhalter, die mich in der nächsten Zeit besitzen würden, nicht entgangen. Als ich wieder in den Wagen stieg, weil wir weiterfahren wollten, spürte ich sogar seine trostspendende und aufbauende Hand auf meiner Schulter.
Während der Fahrt aßen wir auch zu Mittag. Ein eingepackter Eintopf, den die beiden Mädchen Penny und Carry, die in der öffentlichen Küche arbeiteten, gestern Abend noch für uns gekocht hatten. Es war nicht das Beste, das ich je gegessen hatte, aber das lag wohl eher daran, dass er schon solange der Hitze im Wagen ausgesetzt war. Wir hätten anhalten sollen, um ihn richtig heiß zu machen, an einem Lagerfeuer. Aber durch den Zwischenfall mit der Brücke hatten wir schon zu viel Zeit vergeudet. Wir mussten einen Umweg fahren, der uns noch mal einige Stunden hätte kosten können. Aber nach einigen Kilometern fanden wir eine weitere Brücke die uns über die Schlucht, die eigentlich nicht allzu tief war und durch die eine andere Straße führte, die noch halbwegs gut befahrbar gewesen wäre, aber in die falsche Richtung führte. Bevor wir jedoch auf die andere Seite fuhren, vergewisserten wir uns, dass unter dieser Brücke nicht auch Leichen angebunden waren, oder die Stahlträger nicht wegen sonst irgendetwas durchgerostet waren.
Nach einer Weile versuchte ich wieder etwas zu schlafen. Die Hitze trieb jegliche Energie aus meinem Körper. Und Dad hatte Recht. Wer konnte schon sagen, wann wir das nächste Mal die Chance bekämen ruhig und sicher zu schlafen? Aber dieses Mal konnte ich nicht genug loslassen um einschlafen zu können. Ich dachte an die Leichen, die unter die Brückenpfeiler gebunden waren. Was hatte das für einen Zweck? Wer hatte das getan? Eigentlich war es zu weit weg, um von den Sklavenhaltern zu sein, die wir anfuhren. Doch auch wenn das nicht ihr Werk war, konnten sie doch zu der gleichen Tat fähig sein. Meine Gedanken wanderten bald wieder zurück zu Rick. Aber nicht nur zu ihm, auch zu Mum, Tante Sarah, Onkel Javier, Pablo, meine Freunde. Und nicht nur an die Menschen, die ich liebte musste ich denken. An alle Bewohner unserer Gemeinde, an mein zu Hause.
Dann spürte ich den Blick meines Vaters, der vom Rückspiegel aus auf mich fiel. Sogleich fühlte ich mich besser. Und, obwohl ich wusste, warum ich mich besser fühlte, war ich nicht wütend auf ihn, dass er meine Gefühle manipulierte. Ich war ihm sogar dankbar, dass er es tat. Es gab mir Kraft für meine bevorstehende Aufgabe. Trotzdem konnte ich noch nicht wieder einschlafen. Aber das lag jetzt am holprigen Weg, den wir entlangfuhren.
Die Sonne erreichte schließlich irgendwann den Horizont und tauchte darin ab. Bis wir dann endlich an unserem Ziel anhielten, hatten wir noch gerade genug Licht um uns auch ohne Scheinwerfer am Anfang einer Stadt in der wir uns fanden zu Recht zu finden. Vor Ausbruch dieses Virus, der die Menschheit in eine bis dahin neue Hölle warf, war dies hier wohl eine wahre Metropole. Wir waren hier am Rande der Stadt, und die Häuser waren schon riesig. Es hieß, dass in wirklich großen Städten, die Gebäude im tiefen Innern der Stadt immer höher und höher wurden. Zu Hause waren wir nur vier Etagen gewöhnt. Die Gebäude in den wir wohnten, waren zwar mal etwas höher, aber nur die jeweils unteren vier Etagen waren für uns bewohnbar. Beim Hauptgebäude waren es sogar nur drei Etagen. Jedenfalls schien hier das Minimum bei zehn Ebenen zu liegen. Natürlich waren die ein oder anderen Gebäude mitgenommen vom Verfall wegen des Mangels an Pflege – es gab auch eine Theorie, dass das Gas, das das Virus hervorgerufen hatte, und in der ganzen Welt verteilt wurde, die Bauten überall angegriffen hat. Aber diese Theorie wurde nie bestätigt oder auch nur untersucht. Wie auch? Uns fehlte dazu das fachliche Wissen. Es gab so viel in der längst untergegangenen Welt, das wir nicht wussten, und auch nie wissen würden. Alles was wir darüber in Erfahrung bringen konnten, kam aus Büchern, die oft durch eine spärlich intakte Auswahl begrenzt waren, und dem Wissen, dass unserer Familie von unseren telepathischen Vorfahren hinterlassen wurde. Und die wussten, weiß Gott, auch nicht alles. Zum Beispiel, wer dieser Gott überhaupt war.
Dad hielt den Wagen vor einem Backsteingebäude an, dass mit großen roten Toren verschlossen war. Brad und Sully stiegen aus und gingen um eine Ecke des Gebäudes.
„Wo gehen sie hin?“, fragte ich.
„Hinter dem Gebäude sind Treppen, durch die man rein kommt.“, erklärte mir Jodie. Ich schien die einzige zu sein, die nichts darüber wusste. „Als wir hier waren, haben wir das Haus sicher gemacht, sodass es sich nur von Innen öffnen lässt.“
Nachdem die roten Tore geöffnet waren, fuhr Dad den Truck in das Gebäude. Als ich das Innere sah, wusste ich was das früher einmal war, ohne dass es mir jemand sagen musste. Ein Feuerwehrhaus. Hier waren Männer und Frauen einst stationiert, die auf einen Alarm warteten, der bedeutete, dass es irgendwo in der Stadt brannte. Brad erzählte, dass wir in der oberen Etage schlafen konnten. Dort waren noch immer Betten, denn die Feuerwehrleute mussten oft hier übernachten, falls der Alarm losging. Sogar eine Küche gab es. Aber die funktionierte nicht. Und wir würden sie wohl auch nicht zum Funktionieren bringen können. Das brauchten wir auch gar nicht. Wir waren gut genug ausgerüstet, um kochen zu können. Bei ihren letzten Aufenthalt, konnten Jodie und die anderen feststellen, dass die großen roten Tore durchaus mehrere dutzend Zombies aushielten, die dagegen schlugen. So konnten wir die Nacht über beruhigt schlafen, bis Jodie und ich uns der Stadt alleine und zu Fuß näherten.
Jodie verzog sich in den Schlafraum und las in ihrem Buch, das sie mitgebracht hatte. Doris richtete die medizinischen Materialien ein, sodass sie immer griffbereit waren. Sully überprüfte den Wagen, den wir zuvor ausgeräumt hatten, auf seine Funktionsfähigkeit. Und Dad redete auf dem Dach zusammen mit Brad über sonst irgendwas. Ich glaube es ging um Brads jüngste Tochter, die ihren Eltern eröffnet hatte, was sie später werden wollte. Ich hingegen wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. Schlafen gehen, wollte ich noch nicht. Also ging ich Sully zur Hand und reichte ihm das ein oder andere Werkzeug. Weil ich aber all die Namen nicht kannte, musste er sie mir alle beschreiben. Irgendwann wurde es uns beiden zu viel und ich ließ ihn alleine weiter arbeiten.
Brad kam die Wendeltreppe, die zum Dach hinaufführte, herunter, und ich hatte irgendwie das Gefühl, dass ich hinauf gehen sollte. Wahrscheinlich gab mir Dad tatsächlich dieses Gefühl. Es wird wohl irgendetwas geben, dass er mir noch sagen wollte, bevor ich morgen versklavt wurde.
Der schwarze Nachthimmel war gespickt von Millionen und Abermillionen Lichter, die auf uns herab funkelten. So oft ich mir die Sterne auf ansah, konnte ich mir nicht vorstellen, dass dies weitentfernte Planeten waren, die irgendwelche Lichter aus dem Universum wiederspiegelten. Diese Tatsache war einfach zu fantastisch. Gab es wirklich Planeten dort draußen, die so waren, wie unserer?
„Wie ich sehe, denkst du immer noch daran.“, sagte Dad, den Rücken zu mir gewandt. „Ich frage mich auch oft, ob Dave wirklich einen anderen Planeten gefunden hat, auf dem Menschen leben können.“
„Fragst du dich auch, wie er einfach so weg konnte, obwohl er wusste, dass er Millionen Menschen in der Hölle zurückließ?“, fragte ich ihn. „Darunter auch seine eigene Familie.“ Ich konnte es nämlich nicht verstehen. Familie war für mich das wichtigste.
„Er hat mich doch gefragt, Ivy, ob wir nicht mitkommen wollen.“, erklärte er mir. „Das kam für mich nur nicht in Frage.“ Weil es bedeutete, dass er Mum hätte zurücklassen müssen, beendete ich in Gedanken seinen Satz. Und zum allerersten Mal wurde mir klar, dass es mich dann gar nicht gegeben hätte. Ein äußerst beklemmendes Gefühl, wenn ich so darüber nachdachte.
„Weißt du“, fing er dann an, „in dieser Hölle, in der wir leben, ist es wichtig jemanden zu haben, für den man lebt. Ob Freunde, Familie, oder … einen ganz bestimmten Menschen.“
„Hab ich doch.“, zuckte ich mit meinen Schultern. Und trotzdem verließ mich das Gefühl nicht, dass er mir etwas damit sagen wollte. „Mum, dich, Jodie, Sarah, Javier, Pablo, Stella, Eve …“
„… Rick?“, unterbrach er mich.
Mir stockte regelrecht der Atem. Es war nicht unvermeidlich, dass Dad irgendwann davon Wind bekommen hätte. Aber was wollte er mir jetzt damit sagen? Wieso kam er gerade jetzt damit zu mir? Ich bezweifle, dass er es erst seit unserer Fahrt hier her wusste, als ich an ihn denken musste.
„Ich weiß, es ist nicht leicht sich auf so eine Beziehung einzulassen, wenn man den Tod so oft vor Augen hat, wie wir.“, sagte Dad. „Aber es hilft einem, nicht den Verstand zu verlieren. Was glaubst du, warum wir die Bar eingerichtet haben? Es wird einfach zu viel, wenn man nicht mal für einen Moment des Lebens ein triviales Leben haben kann. Dazu gehört, loslassen zu könne. Und das geht am leichtesten mit einem feuchtfröhlichen Abend mit Freunden. Oder …“
„Oder was?“, fragte ich verwirrt. Was sollte das? Wieso erzählt er mir das?
„Oder einer liebevollen Beziehung zu einem besonderen Menschen.“, sagte er hastig. Es war ihm sichtlich unangenehm mit mir darüber zu reden. Aber es schien ihm auch unheimlich wichtig zu sein.
„Dad, wieso erzählst du mir das?“, wollte ich wissen.
„Als ich in deinem Alter war, fiel es mir auch schwer mich auf … so eine Beziehung einzulassen. Weil ich Angst hatte, darin aufzugehen und sie irgendwann zu verlieren, weil entweder ich sterben könnte oder sie. Dann fand ich, eine Frau, auf die ich mich einließ.“
„Mum.“, stellte ich fest.
„Nein, nicht Mum.“, sagte er in den Himmel hinauf und seufzte. „Lana.“
Ich kannte die Geschichte. Als Dad etwa so alt war wie ich jetzt, kam da dieses Mädchen aus dem Ödland, das gerade aus einem defekten Bunker gekrochen war. Er verliebte sich in sie. Aber da war er nicht der einzige. Sein Großcousin erlag ebenfalls dem Charme des Mädchens. Und als dieser die damalige Kolonie verließ, um dem Gerücht nachzugehen, ob es wirklich eine große Zivilisation ohne Zombies auf einem alten Kontinent gab, ging sie ihm nach und entschied sich so gegen Dad. Zu meinem Glück, denn in seiner Trauer um seine verlorene Liebe, kam er sich mit Mum näher.
„Liebst du sie etwa noch?“, musste ich einfach fragen. Obwohl ich die Antwort womöglich gar nicht hören wollte.
„Sie wird immer einen Platz in meinem Herzen haben.“, sagte er. „Und deine Mutter weiß das auch. Aber darum geht es auch gar nicht. Durch Lana erkannte ich, dass die Hölle auf Erden nicht bedeutet, dass man kein, für frühere Verhältnisse, normales Leben führen kann. Eine Beziehung führen, eine Familie gründen … Kinder kriegen.“ Er lag seinen Arm um meine Schulter – seit wann stand er neben mir – und gab mir einen Kuss auf mein Haar.
„Ich versteh immer noch nicht so ganz, was du mir eigentlich sagen willst.“, gab ich zu.
„Dann lass es mich dir sagen. Lauf nicht vor der Liebe davon, nur weil du Angst davor hast sie wieder zu verlieren.“
„Ich lauf nicht vor der Liebe davon.“, sagte ich. Was redete er da nur?
„Ivy.“, sagte er.
„Wenn es hier um Rick geht … Ich mag ihn, aber ich liebe ihn nicht.“ Oder?
„Verstehe.“, sagte er. „Schon gut.“
Das … war … merkwürdig. Wieso redete Dad mit mir über Liebe? Und dann auch noch über meine mögliche Liebe zu Rick. Mag ja sein, dass er sich irgendwie Sorgen um mich machte, dass ich wie er sagte vor der Liebe davon laufen könne, weil ich Angst hatte sie wieder zu verlieren, aber war das heute der Richtige Zeitpunkt, mit mir darüber zu sprechen? Immerhin musste ich mich ab morgen stark konzentrieren. Wieso vernebelte er meine Gedanken also mit solch einem Gespräch?
Beim Abendessen, das Doris zubereitet hatte, konnte ich nicht aufhören über dieses seltsame Gespräch mit Dad nachzudenken. Ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen. Und immer wieder kam die Frage in mir auf, ob er nicht sogar irgendwie Recht hatte.
Wie Rick gestern Nach gesagt hatte, sind wir zusammen aufgewachsen. Wenngleich wir nicht so eng miteinander aufgewachsen sind wir Greg und ich, die wir praktisch schon Geschwister waren. Rick war immerhin fünf Jahre älter. Er hatte andere Freunde. Und als er in der Pubertät war und sich für Mädchen und dergleichen interessiert hat, machte ich mir noch sorgen darum, was ich als nächstes mit meinen Freunden spielen sollte. Wir kannten uns lange genug. Und weil wir in den letzten drei Jahren oft im Ödland aufeinander hockten, kannten wir uns sicherlich auch gut genug. Viel mehr konnte ich gar nicht mehr von ihm lernen. Ich muss zugeben, vor mir selbst, dass ich mich in seiner Gegenwart sichtlich wohlfühlte. Tatsächlich hatte ich heute im Wagen, als ich an ihn dachte, lächeln musste. War das Liebe? Es fühlte sich nämlich irgendwie so wenig an. Das kann doch nicht alles sein?

Ich hatte sie verwirrt. Das wurde klar, als ich sie nach unserem Gespräch, beim Abendessen beobachtete. Ich konnte förmlich sehen wie ihre Gedanken daran arbeiteten herauszufinden, was ich mit diesem Gespräch hatte bezwecken wollen, und was sie wirklich für Rick empfand. Statt ihr zu helfen einzusehen, dass sie ihn liebte, hatte ich sie nur noch mehr verwirrt. Das genaue Gegenteil davon, was ich beabsichtigte. Schon zuvor war sie verwirrt genug, sodass ihre Konzentration genau im falschen Augenblick nachlassen könnte. Jetzt war es klar, dass sie wegen ihrer ungezügelten Gedanken, die um Rick kreisten, enttarnt werden würde, sobald sie nah genug an den Telepathen der Stadt war.
Oft genug tat ich das Falsche aus den vielleicht richtigen Gründen. Wie diese Nacht. Gleich zweimal. Erst als ich mit Ivy gesprochen hatte und sie sichtlich verwirrte, dann als ich es wieder gut machen wollte. Wir gingen bald alle Schlafen. Alle zusammen im Schlafraum der alten Feuerwache. Ivy lag in dem Bett rechts von mir, und Jodie in dem links von mir. Bevor ich mich darauf konzentrierte Ivys Erinnerung an heute Abend zu manipulieren, drehte ich mich zu Jodie rüber. Sie schlief bereits. Nick hatte ihr, wie von mir verlangt, noch nichts von seinem Seitensprung mit Lulu erzählt. Was gut war. Besonders als ich Ivy jetzt erlebte, wusste ich, wie gefährlich es sein konnte, wenn die beiden sich nicht genug konzentrieren konnten. Als ich während der letzten Tage über die Sache mit Nick nachgedacht hatte, hatte ich auch überlegt, ob ich sie nicht davor beschützen sollte. Aber das konnte ich nicht tun. Ich musste damit aufhören. Meiner Tochter und meiner Schwester verbat ich ihre Telepathie bei anderen anzuwenden, wenn es kein Notfall war, und selbst hielt ich mich nicht daran. So konnte das nicht weiter gehen. Das wusste ich auch, als ich Raes Gedanken und Erinnerungen manipulierte. Deshalb würde ich das nach der Mission auch ganz sicher rückgängig machen. Genau, wie die Sache, die ich bei Ivy vorhatte. Aber bei Jodie wäre es etwas anderes. Ich konnte verhindern, dass sie vor der Mission etwas von dem Seitensprung erfuhr. Was danach sein würde, durfte ich nicht verhindern. Sonst würde ich sie auch betrügen – es war schon genug, dass ich es ihr jetzt verheimlichte. Ich konnte nur hoffen, dass sie mir irgendwann verzeihen konnte. Auch Rae. Und Ivy.
Ich drehte mich zu Ivy hinüber und sah sie im Dunkeln an. Das ferne Licht der Sterne schien durch die Fenster, die an der Decke angrenzten, und erhellte den Raum minimal, und ich konnte das unschuldige, schlafende Gesicht meiner Tochter beobachten. Und als ich in ihre Gedanken eindrang, wurde ich Zeuge ihres Traumes. Eigentlich dachte ich, dass sie nicht mehr von den Ereignissen von vor vier Jahren träumte. Aber hier erlebte ich, nicht zum ersten Mal, mit, wie sie hinter Declan herrannte und ihn töten wollte. Dieses Mädchen, Panda, lief mit einem halbzertrümmerten Kopf neben ihr her, und redete auf sie ein, sie solle sich an ihr Versprechen erinnern. Sollte ich diese Erinnerung auch löschen?
Ich tat es. Um sie zu schützen. Sie sollte nicht länger daran zu knabbern haben, dass sie das Versprechen, das sie einem toten Mädchen gab, nicht einlösen konnte. Auch ihre Erinnerungen an das Gespräch mit mir, in dem ich sie über ihre Gefühle für Rick verwirrt hatte, ließ ich sie vergessen. Dann schwor ich mir, es nie wieder zu tun. Das sollte das letzte Mal gewesen sein, dass ich mit den Erinnerungen der Menschen spielte, die ich liebte. Das war nicht gerecht. Es war ein Vertrauensbruch, der eigentlich nicht zu entschuldigen war. Ich konnte nur hoffen, dass Rae und Ivy mir verzeihen konnte.
Ich würde mein Bestes tun, es nie wieder zu machen. Denn nur weil ich es konnte, war das kein Freifahrtschein, dass ich es auch jederzeit tun durfte. Das war es nämlich ganz und gar nicht. Ich würde mein Leben ändern müssen. Auch Sam dürfte ich nicht mehr ganz so oft besuchen. Rae und all die anderen hatten schon Recht, es war nicht gut für mich. Meine Trauer und meine Gewissensbisse, verhinderten, dass ich aktiv am Leben teilnahm – nicht hundertprozentig, aber es schränkte mein Leben doch stark ein. Wie er es wollte, musste ich ihn endlich loslassen, und weiter leben. Für meine Frau, meine Tochter, meine Schwestern und allen Bewohnern unserer Gemeinde, denen ich ein sicheres zu Hause geben wollte.


12


Die Sonne stand schon hoch am Himmel, aber noch nicht an ihrem Höchsten Punkt, als wir vor das Tor der alten Feuerwache traten, um uns zu verabschieden. Es wurde Zeit, dass Jodie und ich aufbrachen, und auf die Stadt, die sich die Sklavenhalter aufgebaut haben, zuzugehen. Meine Nervosität hatte sich über Nacht beruhigt. Ich verspürte zwar noch ein leichtes Kribbeln, war aber nicht mehr starr vor Unsicherheit. Doch als ich Dad vor dem roten Tor noch einmal zum Abschied umarmte, hängte sich Wehmut über mich. Jetzt, wo der Abschied gekommen war, fühlte es sich noch erdrückender, als ich es mir die letzten Tage immer vorgestellt hatte.
„Seit vorsichtig.“, sagte Dad, als er mich drückte. Und vor allem an Jodie gewandt, fügte er hinzu, „Ihr beide.“
Die lange und feste Umarmung von Dad, war mir vor den anderen, die uns beobachteten, etwas peinlich. Dennoch war nicht ich diejenige von uns beiden, die zuerst losließ. Er küsste mich noch einmal auf die Stirn, bevor er Jodie zum Abschied umarmte. Auch Brad, Doris und Sully umarmten uns, bevor wir uns auf den Weg machten. Aber längst nicht so lange, wie Dad es getan hatte. Sully scherzte, dass er uns die Chance geben würde unsere Kartenspielschulden wieder auszugleichen, wenn das alles vorbei wäre und wir wieder zu Hause sind.
„Hast du jemals gegen Sully gewonnen?“, fragte ich Jodie, als wir uns endlich auf den Weg gemacht hatten und außer Hörweite der anderen waren, die uns noch nachsahen.
„Nur selten.“, antwortete sie. „Aber auch nur, weil ich ein besonders glückliches Blatt hatte.“
„Seine Gedanken hast du nie gelesen, wenn ich gespielt habt?“, wollte ich wissen.
„Nein. Das wäre ja dann geschummelt.“, lächelte sie. „Weißt du was ich glaube? Manchmal denken ich wirklich, dass er auch ein Telepath ist, und deshalb immer gewinnt.“
„Sully ein Telepath? Bist du sicher?“, fragte ich sie.
„Ja. Wohl nicht so begabt wie wir, aber genug um zu wissen, welche Karten er ausspielen muss, um zu gewinnen. Du weißt ja, wie die Telepathen früher eingestuft wurden.“ Obwohl ich es wusste, zählte sie es noch einmal auf, als wir durch die leeren und verwüsteten Straßen der Stadt gingen, um uns unserem Sklavendasein zu nähern. „Stufe Null waren die Nicht-Telepathen. Stufe eins, waren diejenigen, die nur die Tendenz zu einer Begabung aufwiesen. Die, die richtig mit Telepathie arbeiten konnten, wie zum Beispiel Gedanken lesen oder manipulieren, waren Stufe zwei. Die dritte Stufe, wurde ohnehin nur für Caya neuerfunden, weil sie begabter war als alle anderen. Dass der jüngere ihrer beiden Söhne in dieselbe Stufe eingeteilt wurde, war wohl nur den Medikamenten und Experimenten zuzuschreiben, die sie an Caya durchgeführt haben. Und in welcher dieser Stufen der andere Sohn wäre eingeteilt worden, werden wir wohl nie erfahren. Aber wenn du mich fragst, musste er mindestens so begabt sein, wie sein Bruder, sonst hätte er ihn nie aufhalten können. Sully wäre wohl, denke ich, in Stufe eins einzuteilen. Bei ihm scheint es eher unterbewusst zu sein. Aber das ist natürlich nur eine Theorie, die ich mir so ausgedacht habe.“
Nachdem mir Jodie ihre Theorie offengelegt hatte, gingen wir in Schweigen weiter. Ich musste zugeben, dass ich nie darüber nachgedacht hatte, ob einer der Bewohner unserer Gemeinde, der nicht gerade wie wir von Caya abstammte, ein Telepath sein könnte. Wir waren keine natürlichen Telepathen, und deshalb mehr oder weniger so begabt wie unsere Vorfahrin Caya. Und wenn man so begabt war, nahm man geringe Begabungen der Telepathie nicht so richtig als überhaupt eine Begabung wahr. Vielleicht klang es etwas arrogant, aber es war nun mal so.
„Du solltest langsam anfangen.“, sagte Jodie plötzlich und ich sah sie verwirrt an. „Deine Tarnung? Schon vergessen? John wollte, dass du sehr früh damit anfängst dich zu konzentrieren, weil du noch Schwierigkeiten damit hast.“
Ich ignorierte den Vorwurf, der höchstwahrscheinlich keiner gewesen ist, und schritt einfach zur Tat. Den ganzen Müll auf den Straßen, über den wir hinwegstiegen, ignorierend, konzentrierte ich mich tief in mich hinein. Wie ich es Dad vor einigen Tagen vorgeführt hatte, änderte ich meine Atmung, schloss meine Augen und ließ das Wissen über meine Fähigkeiten los, das ich mir vor Augen führte. Aber etwas tat ich anderes. Dad hatte mir gesagt, dass die genauen Erinnerungen an die vergangenen Leben, unserer Vorfahren, mich verraten würden. Also ließ ich auch das Wissen darüber hinter mir. Diesmal fühlte ich mich noch nackter, als ich es Dad vorgeführt hatte. Es war, als ob da ein tiefes und dunkles Loch war, wo zuvor die Kenntnisse meiner Fähigkeiten und die Erinnerungen meiner Vorfahren gehalten hatte. Jedenfalls für mich fühlte es sich so an. Ob das einem anderen Telepathen auffallen würde, wusste ich nicht. Aber Jodie würde es mir mit Sicherheit sagen.
„In Ordnung.“, sagte sie. „Und denk daran, möglichst nicht an unser Vorhaben zu denken.“
Wir schritten immer weiter voran, immer tiefer ins Innere der Geisterstadt. Einerseits achtete ich auf unsere Umgebung, andererseits beobachtete ich Jodie, wie sie ihre Tarnung vor den Telepathen aufbaute. Verblüfft war ich, wie schnell sie das zu Wege brachte. Ganz anders als ich, benötigte sie nur wenige Sekunden, bis man ihr nicht mehr nachweisen konnte, dass sie wirklich ein Telepath war.
„Du kannst das ganz schön schnell.“, sagte ich überrascht.
„Alles Übungssache.“, meinte sie. „Wenn du das auch regelmäßig tun würdest wie ich, könntest du es bestimmt auch so schnell hinbekommen.“ Es klang fast schon herablassend, wie sie es sagte. Aber es war klar zu spüren, dass sie es nicht so meinte.
Ich weiß gar nicht ob ich das wollte. Wann würde ich es schon das nächste Mal benötigen? So viele Telepathen gab es gar nicht. Schon gar nicht feindlich gesinnte. Trotzdem wollte ein kleiner Teil meines Egos, dass ich es auch so schnell schaffen konnte. Aber das musste ich fürs erste aufschieben.
Als wir an den ganzen Häusern, Läden und anderen Gebäuden vorbei gingen, fragte ich mich, ob diese schon leergeräumt waren. Bestimmt hatte es hier viel zu Sammeln gegeben. Und das, alles zentral an einem Ort. Unsere Kolonie lag in einer Kleinstadt. Doch die Häuser, die unseren beschränkten Lebensraum einst umringt hatten, waren schon lange nicht mehr. Um ein ebenes Umfeld, ohne jegliche Behinderung der Sicht zu schaffen, wurden die Bauten alle dem Erdboden gleich gemacht. Als Dave Dad das letzte Mal besucht hatte, um ihm zu erzählen, dass er die Erde mit einem riesigen Raumschiff verlassen würde, hatte er unserer Gemeinde so einige Geschenke gemacht. Darunter waren Waffen, Munition und vor allem auch Sprengstoff. Mit dem Sprengstoff wurden die Gebäude zu Hause niedergerissen, und dann wurden die größten Brocken weggeschafft. So konnten sich die Zombies nirgendwo mehr vor uns verstecken.
Anders als hier. In dieser Stadt gab es unzählige versteckte Winkel, aus dem ein Zombie nach dem anderen hervor springen konnte, sodass man, sollte man es schaffen auf den ersten zu reagieren, sich vor den zweiten, dritten und vierten, nicht mehr retten konnte. Wenn man vor ihnen davon eilte, lief man Gefahr in eine Sackgassen zu geraten und sich dann von dutzenden Untoten eingekesselt zu finden. Die einzige Chance die man dann noch hatte war, sich in einem der Häuser zu verbarrikadieren, vorausgesetzt dort lauerte nicht schon der nächste. Und wenn man dort eingekesselt wurde, würde man verdursten oder am Hungertod nagen.
„Was war das?“, fragte Jodie plötzlich.
„Was? Wo?“, fragte ich aufgeregt. Hatte ich etwa etwas heraufbeschworen?
„Da hinten, in der Gasse. Ich glaub ich hab da was gehört.“
„Sollen wir nachsehen gehen? Oder verschwinden wir?“
Jodie wog unsere Optionen ab, die sich meines Erachtens nur in nachsehen oder weiter gehen teilten. Aber sie hatte darin mehr Erfahrung als ich. Wenn ich in einer Stadt unterwegs war, um zu sammeln oder zu jagen, verlangten es die Regeln, die uns Dad auferlegt hatte, dass ich sicher ging, dass kein Zombie weit und breit auf uns lauerte. Demnach bin ich in verwinkelten Städten noch nie auf einen oder gar mehrere Zombies gestoßen. Also würde ich mich ganz nach ihrem Urteil richten müssen. Ohnehin vertraute ich ihr darin blind.
„Die Stadt ist nicht mehr weit weg.“, überlegte sie laut. „Aber es ist nicht sicher, dass sie uns sofort hoch holen. Andererseits haben wir auch keine Waffen. Wobei wir mit einem Zombie wohl noch fertig würden.“
Dann erkannten wir, dass ihre Überlegungen gar nicht erst zum Zug kommen würden. In der Gasse kam nicht nur ein einzelner Untoter auf uns zu, sondern ein paar dutzend.
„Und wie sieht es mit denen aus?“, fragte ich. „Werden wir mit denen auch fertig?“
„Unsere Chancen stehen nicht gerade gut.“, sagte sie. Und wir beide machten automatisch ein paar Schritte zurück, als die wiederauferstandenen Leichen auf uns zu taumelten. Aber Jodie ließ nicht zu, dass wir den ganzen Weg zurück liefen. Sie packte meinen Arm und zog mich in die Richtung, in der die Stadt lag. Erst joggten wir die Straße entlang. Jodie sah sich immer wieder um, um sich zu vergewissern, wie viele Verfolger hinter uns her waren. Dann legte sie einen Zahn zu. Nicht wissend, was das zu bedeuten hatte, versuchte ich mit ihr Schritt zu halten, aber mein Bein hinderte mich mit einem ständigen ziehen daran. Ein paar Schritte hinkte ich hinter ihr her. Und es wurden immer mehr, bis Jodie schließlich merkte, dass ich nicht so Recht hinterher kam, und verlangsamte ihr Tempo.
„Geht es?“, fragte sie unter schnellerem Atem.
„Ja. Nur mein Bein…“ Es war nicht weiter schlimm, denn die Zombies konnten nicht viel mehr als hinter uns her zu stolpern. Aber mir war es unangenehm, dass wir meinetwegen die Zombies nicht sofort hinter uns lassen konnten. Normalerweise hätten wir sie schon längst abgehängt, wenn ich schon wieder normal hätte laufen können. Doch es war bald vorbei. Ohne dass sie uns zu nahe gekommen wären, schüttelten wir sie ab. Irgendwo in den verwinkelten Gassen, die wegen Trümmern von eingestürzten Häusern die einzige Art waren, voran zu kommen, waren wir ihnen entkommen. Jodie fing wieder an leicht zu joggen, aber ich konnte ihr ansehen, dass sie das nur zu meinem Wohl tat. Am liebsten wäre sie noch einige hundert Meter so weiter gerannt. Die Wunde an meinem Bein, die noch bis heute Morgen mit einem sauberen Verband an der Ein- und Austrittsstelle verklebt war, und jetzt nur noch mit einem spärlich gesäuberten Fetzen Stoff – was zur Tarnung diente, denn immerhin wäre es seltsam gewesen, wenn ich einen sauberen Verband darum herum gewickelt hätte, wo wir doch angeblich seit Tagen durch das Ödland streiften – fing wider an heftig zu pochen. Ich konnte mir nicht sicher sein, weil ich nicht nachsehen konnte, aber ich glaubte sie hatte wieder zu bluten begonnen. Ich konnte nur hoffen, dass die Sklavenhalter in der Stadt, halbwegs auf die Arbeiter, die in ihrem Besitz waren, achteten, und mir mein Bein neu verbinden würden, sodass ich keine Infektion riskierte.
„Wirklich alles in Ordnung?“, fragte mich Jodie. Ihr war nicht entgangen, dass ich wieder in ein Humpeln verfallen bin.
„Ja, ja. Es geht schon noch.“, versicherte ich ihr. Doch selbst, war ich mir gar nicht so sicher. Der Schmerz breitete sich wieder in meinem Bein aus. Vielleicht war es doch noch zu früh für mich gewesen, um auf diese Mission zu gehen. Aber daran war nun nichts mehr zu ändern. Jetzt wollte ich auch nicht mehr zurückgehen. Das einzige, das für mich jetzt zählte war, dass ich diese Mission nicht auch so vermasseln würde, wie die letzte, auf der ich war. Niemand sollte sterben, selbst wenn es mich alles kostete. Ich würde dafür sorgen, dass wir jedem Sklaven in dieser Stadt seine Freiheit zurückgeben, und sie in Sicherheit bringen konnten.
Wir liefen durch eine breite und offene Straße, als Jodie plötzlich stehen blieb. „Da.“, sagte sie und zeigte über unsere Köpfe hinweg. Ich folgte ihrer Bewegung, und entdeckte … ich weiß nicht genau was ich entdeckte. Von hier unten sah es aus wie eine Brücke, die mindestens zehn Meter über uns das eine Gebäude, mit dem anderen auf der anderen Straßenseite verband. Dann fiel mir ein, was Jodie über die Stadt berichtet hatte. Der Kern der Stadt war mit den äußeren, eroberten Gebieten oder Gebäuden durch viele solcher Brücken verbunden. „Wir sind schon ganz nah.“, meinte Jodie und ging weiter.
Doch viel weiter kamen wir gar nicht. Das Stöhnen war das erste, was ich bemerkte. Der Zombie, der früher einmal eine junge Frau gewesen ist, stand in der Tür eines modrigen Wohnhauses. Ich vermute, sie war etwas jünger als ich, bevor sie zu den Untoten gehörte. Sie stolperte und fiel zu Boden, als sie versuchte die Treppe vor der Tür runter zu gehen.
„Drei auf meiner Seite.“, sagte Jodie zu meiner Überraschung. „Wie viel bei dir?“
Ich sah mich schnell um, aber die junge Frau war die einzige, die ich sehen konnte. Und spüren – was jetzt ganz automatisch machte – konnte ich auch nur die eine und die drei auf Jodies Seite. „Eine.“, sagte ich. „Was tun wir jetzt?“
„Wir sind nicht bewaffnet, also sollten wir erst einmal ein bisschen Platz zwischen und denen bringen.“, sagte sie und ging vorsichtig weiter um die Zombies, die uns jetzt verfolgten, nicht aufzuschrecken. „Vielleicht finden wir irgendwas, das uns weiterhelfen kann.“
Während ich auf unserer erneuten Flucht die vier Zombies hinter uns her taumelnd beobachtete, sah sich Jodie nach etwas um, das wir als Waffe umfunktionieren konnten. Doch so leicht war die Suche gar nicht. Zwar war die Straße, über die wir von den Untoten getrieben wurden, voller Schutt, aber es war nicht gerade übersichtlich hier. Und zum herumkramen war keine Zeit.
„Aber wir müssen ihnen doch helfen.“, hörte ich eine weit entfernte Stimme argumentieren. „Sireno ist doch immer auf der Suche, nach neuen.“
Ich sah mich um – auch auf den Dächern der umliegenden Gebäude. Jemand musste hier sein, und uns beobachten. Mein Gefühl sagte mir, dass es mehr als eine Person war. Immerhin argumentierte er – es klang als sei es eine männliche Person – mit irgendjemand. Und tatsächlich, ich erkannte zwei Männer auf dem Dach eines der Gebäude. Einzelheiten der beiden Männer, außer dass der eine jünger zu sein schien als der andere, konnte ich nicht erkennen. Dafür waren sie zu weit oben. Ich machte Jodie auf unsere Beobachter aufmerksam und sie sprach aus, was ich dachte, „Der eine will sehen, wie wir uns gegen die Zombies schlagen.“ Und etwas anderes würde uns auch nicht übrig bleiben, wenn die Männer uns nicht gerade helfen wollten, denn die Zombies rückten uns immer weiter auf die Pelle.
„Hierher.“, rief Jodie zu mir. Sie stand vor dem Eingang zu einer engen Seitengasse und winkte mich zu sich. „Wir können da hoch klettern.“ Sie zeigte auf eine, nicht ganz stabil wirkende, Leiter, die sich an der Seitenfassade hinaufzog. Energisch winkte sie mich erneut zu sich rüber. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass sie nur mich hochklettern lassen wollte, und selbst gegen vier Untote vorgehen wollte, ging ich auf sie zu. Aber aus dem Klettern wurde nichts. Die Leiter gab bei dem kleinsten Gewicht nach, brach ab und fiel zu unseren Füßen. Eine Flucht aus der Gasse gab es nun auch nicht mehr. Der Weg hinter uns, wurde uns von einer zu hohen Backsteinmauer, die unüberwindbar schien, versperrt. Und vor uns drangen die vier Zombies in die Gasse. Wir saßen in der Falle. Doch noch war nichts verloren.
Als einer der Zombies, der ein kleingewachsener und üppiger Mann mittleren Alters war bevor er zum Zombie wurde, aus der Gruppe ausbrach, stürzte Jodie ihm entgegen und sprang ihm in die Hüften. Bevor er aber zubeißen konnte, drehte Jodie ihm seinen Kopf um fast hundertachtzig Grad, sodass sein Genick brach. Es musste schon etwas beschädigt gewesen sein, sonst hätte Jodie es nicht so leicht geschafft, ihm das Genick zu brechen. Als der außer Gefecht gesetzte Zombie dann zusammenbrach, sprang Jodie von ihm herunter. Die übrigen drei Zombies kamen, vollkommen unbeeindruckt darüber, dass Jodie gerade einen von ihnen endgültig den gar ausgemacht hatte, weiter auf uns zu.
Instinktiv sah ich mich nach einer Waffe um. Wegen meinem Bein konnte ich nämlich keine solchen Sprünge wagen. So wie die Schmerzen nun an mir zerrten, war ich mir sicher, dass die Wunde wieder aufgegangen ist und erneut blutete. Unverhofft entdeckte ich ausgerechnet ein Eisenrohr, ähnlich wie das, das vor einigen Tagen mein Bein durchbohrt hatte. Als ich es aufheben wollte, war es sogar noch länger als ich erwartet hatte. Wir konnten es sogar als Lanze verwenden und die übrigen drei Zombies aufspießen.
„Jodie!“, rief ich ihr zu, um sie von meinem Plan in Kenntnis zu setzten. Mit einem einzigen Blick wusste sie, was ich vorhatte. Zusammen hoben wir den langen Eisenstab auf, und stießen ihn einem der Zombies, einer alten Frau, in die Brust. Sie bewegte sich noch, als wir sie zusammen mit dem Stab manövrierten, damit wir auch die restlichen beiden Zombies damit aufspießen konnten. Nachdem wir sie aufgefädelt hatten – sie hatten sich kaum gewehrt – steckten wir die Stang durch einen Eisenzaun und in einen offen stehenden Gully. So konnten sie sich bestimmt nicht mehr befreien, auch wenn sie noch nicht tot waren.
Wir atmeten durch, ließen das Adrenalin wieder tief in unsere Körper sickern, als Jodie sich zu mir umdrehte um meinen Zustand zu begutachten. Ihr Blick ging sofort auf mein Bein. Und als ich an mir hinunter sah, erkannte ich, dass das Blut bereits durch meine verschlissene Hose gesickert war und den Großteil des Hosenbeins in Blut tränkte. Viel länger würde es nicht dauern, bis mein Kreislauf sich wegen des Blutverlustes meldete. Aber im Augenblick verhinderte das Adrenalin in meinem Körper eine Reaktion auf den Blutverlust.
Dann hörten wir einen Pfiff. Ich hatte die Männer, die uns beobachtet hatten, schon ganz vergessen. Aber einer der beiden rang nun um unsere Aufmerksamkeit, indem er zu uns winkte.
„Geht zu der Brücke über der Straße!“, rief er uns zu. „Dann holen wir euch hoch.“ Es war der jüngere von den beiden. Der andere war verschwunden – oder zumindest außer Sicht.
Wir folgten der Anweisung, die von oben kam, und gingen an den zappelnden Zombies vorbei, aus der Gasse hinaus. Ein paar hundert Meter zu unserer linken, fanden wir die Brücke, die die Dächer zweier Gebäude miteinander verband. Über der Brücke erstreckte sich ein Dach, das darüber hinausging. Jodie nahm meinen Arm, legte ihn um ihre Schultern und unterstützte mich damit. Es fiel mir zusehend schwerer auf mein Bein aufzutreten. Die Anstrengung, die ich heute über mich ergehen lassen musste, war einfach zu viel für mein verletztes Bein.
Zombies begegneten uns wenigstens nicht mehr, auf unserem Weg unter die Brücke, auf der sich die beiden Männer und eine Frau und ein dritter Mann gesammelt hatten. Sie ließen zwei Stahlseile herunter, die mit jeweils einer Schlaufe endeten. Man rief uns zu, dass wir mit einem Bein in die Schlaufe treten und uns gut fest halten sollten, sie würden uns dann mit einem Mechanismus hochziehen. Eigentlich wäre ich mit meinem rechten Bein in die Schlaufe steigen, aber das war mein verletztes Bein. Ich fürchte, ich würde damit einknicken, bevor ich oben angekommen sein würde.
Als ich gerade vielleicht zwei Meter über den Boden war und weiter hinauf stieg, fiel mir ein Zombie auf, der ganz alleine um eine Ecke der Straße stolperte. Nur war er gar nicht alleine. Eine ganze Horde Untoter taumelte um dieselbe Ecke. Sie wurden von meinem Blut, das aus meiner Wunde austrat und sogar schon zu Boden tropfte, angezogen. Und als sie sich auf den Boden unter mir stürzten, um an meinem Blut zu lecken, wenn sie ihre Zähne schon nicht in mein Fleisch vergraben konnten, war ich bereits oben angekommen.
Einer der Männer, der jüngere, der uns zugerufen hatte, streckte mir seine von der Sonne dunkelgefärbte Hand entgegen, um mir zu helfen auf den sicheren Boden der Brücke. Leuchtend blaue Augen sahen mich unter einem ungebändigten blonden Schopf an. Er sah vertrauenswürdig aus. Weil er nur eine Hose trug und sein Oberkörper nicht bedeckt war, hatte ich einen Blick auf seinen ausgemergelt wirkenden Körper, der allerdings Anzeichen von zähen Muskeln hatte. Bestimmt war er einer der Sklaven hier. Ich zögerte, nahm aber dann seine Hilfe in Anspruch. Er zog mich zu sich heran, damit ich auf die Brücke steigen konnte, die aus dichten Gittern bestand und an den Dächern irgendwie festgeschweißt war.
Jodie wurde von einem dunkelhaarigen, kleineren Mann geholfen. Er war der jüngste hier, aber nicht viel jünger als ich. Es war nicht schwer auszumachen, dass einer der vier Personen, die uns gerettet haben, ein Sklavenhalter war. Er sah gesünder und wohlgenährter aus, als die anderen. Ein rundes Gesicht, aber mit leeren Wangen. Er wog nicht viel – aber wer tat das heutzutage schon. Groß war er auch nicht, vielleicht ein oder zwei Zentimeter kleiner als ich. Er war schwarz und trug einen dichten Schnauzbart unter der Nase. Und er beugte Jodie und mich ganz genau, was mich etwas nervös machte. Was würde er jetzt mit uns anstellen?
Als sein Blick auf mein Bein und all das Blut fiel, zückte er ohne Vorwarnung einen Revolver. Aber bevor er auf mich zielen konnte, hatte sich Jodie schon zwischen uns geschoben.
„Sie wurde nicht gebissen.“, erklärte sie mit hastigen Worten. Ich spürte echte Panik in ihrer Stimme. „Vor einigen Tagen hatte sich ein Eisenstab durch ihr Bein gebohrt. Die Wunde muss wieder aufgegangen sein, als wir vor ein paar dutzend Zombies geflohen sind.“ Trotz der ausführlichen Erklärung sengte der Sklavenhalter seine Waffe nicht. „Bitte. Wir sind schon so lange auf der Suche nach einem sicheren Ort, wo wir bleiben können.“ Schon war sie in ihrer Rolle.
„Tja.“, sagte der Mann mit der Waffe und steckte sie langsam wieder ein. „Dann wollen euch mal mit in die Stadt nehmen, wo wir die Wunde da“, er zeigte mit einer vagen Handbewegung auf mein Bein, „versorgen können. Kannst du laufen?“
„Ich helfe ihr schon.“, sagte Jodie, bevor ich antworten konnte. „Und danke.“
Der Sklavenhalter ging voran, gefolgt von dem kleineren Mann, der Jodie geholfen hatte, und der Frau, die in Jodies alter zu sein schien. Der große Blonde, der mir geholfen hatte, ging hinter uns her. Etwas in seinem Blick zwang mich dazu, mich immer wieder zu ihm umzusehen. Vermutlich dachte er, dass wir arme Schweine waren, weil wir direkt in ein Sklavenleben gestolpert sind. Er konnte ja nicht wissen, dass wir darauf vorbereitet waren, und sein Ticket in die Freiheit waren. Immerhin gehörte es zu unserem Plan niemanden – nicht einmal andere Sklaven – einzuweihen, was sie zu erwarten hatte. Jetzt jedenfalls noch nicht.
Über vier solche Brücken gingen wir, bevor wir die Stadt erkennen konnten. Zwischen den Gebäuden, die die Stadt eingrenzten, waren schwere und dicke Mauern hochgezogen worden. Ein paar vereinzelte Untote versuchten sich dort, um irgendwie an das frische Menschenfleisch dahinter zu kommen. Aber sie hatten keine Chance, die Mauer war zu fest und stabil. Vermutlich würden sie sie in hundert Jahren nicht überwinden können. Doch dazu würden sie auch gar nicht die Gelegenheit haben. Einer nach dem anderen fielen sie zu Boden. Ich vermutete, dass sie erschossen wurden. Das Fehlen des ohrenbetäubenden Krachs eines losgelösten Schusses, der durch die Straßen hallen sollte, war lediglich damit zu erklären, dass sie Schalldämpfer benutzten. Würden sie es nicht tun, würden sie noch mehr Zombies auf die Stadtmauern ziehen. Zombies hatten nämlich noch so viel Verstand zu kombinieren, dass Geräusche oft auch Leben bedeuteten.
„Sie sieht schlecht aus.“, sagte der Blonde, der hinter uns her ging.
Der Sklavenhalter blieb nicht stehen, als er sich kurz zu uns umdrehte, um sich selbst von meinem Zustand zu überzeugen. Kaum hatte er mich in Augenschein genommen, sah er wieder voraus. „Sammy, trag sie.“, sagte er. „Wir wollen ja nicht, dass sie uns umkippt, oder?“
Jodie machte Platz für den Blonden, Sammy, der meinen Arm um seine Schulter legte und mich hochhob.


13


Die letzte Brücke führte vom Dach eines Gebäudes, durch ein eingeschlagenes Loch in die Außenfassade des anderen Gebäudes. Der Raum, in dem wir eintraten, war voller Schutt – Stein und Holz – der an die Wände geräumt war. Wie so ziemlich überall, war der Raum ungepflegt, allerdings bis auf eine Sache. Eine stark wirkende Stahltür, war in die Wand eingelassen und installiert worden. Vermutlich zur Sicherheit der Stadt, damit keine Fremden in die Stadt kommen konnten. Aber das würde lediglich einen Nicht-Telepathen davon abhalten in die Stadt einzudringen. Auch einen unkreativen Telepathen würde sie abhalten. Denn wenn man nicht gerade über Telekinese verfügte, mit der man die Tür aus den Angeln reißen konnte, konnte man jemanden vom Innern der Stadt dazu bringen, die Tür von innen zu öffnen. Das schien der geplante Weg zu sein, um hinein zu kommen.
Der Sklavenhalter klopfte dreimal kräftig gegen die Stahltür. Ein Schlitz in der Tür öffnete sich und zwei dunkle Augen starrten daraus hervor. Dann schloss sich der Schlitz wieder und die Tür öffnete sich nach außen. Wir gingen hindurch – oder in meinem Fall, wurde ich hindurch getragen – während uns die Tür offengehalten wurde.
„James.“, grüßte der Mann, der an der Tür stand, den Sklavenhalter. Als er mein blutiges Bein sah, nahm er sein Gewehr in den Anschlag, bereit mir eine Kugel in den Kopf zu schießen. „Scheiße, James! Was soll der Mist?“
„Schon gut.“, sagte James, der Sklavenhalter, und legte seine Hand auf den Lauf der Waffe und drückte sie ein wenig nach unten. „Nimm die Waffe runter, Percy. Sie wurde nicht gebissen. Eine alte Verletzung… die wir behandeln lassen sollten, wenn du erlaubst.“
Der Mann an der Tür ließ uns weiter gehen. „Auf deine Verantwortung, Mann.“, sagte er, und zog die Tür hinter uns zu.
Als wir in den Raum hinter der Stahltür kamen, erkannte ich, dass sie hier Elektrizität hatten. Zu Hause hatten wir ein kleines, improvisiertes Kraftwerk, dass unsere Gemeinde mit Strom versorgte. Wie genau es bei uns funktionierte, wusste ich nicht. Es interessierte mich im Grunde auch nicht. Aber wie es hier funktionierte, konnte nicht schaden, in Erfahrung zu bringen. Vielleicht könnte es uns bei dem Sturm auf die Stadt irgendwie behilflich sein.
Ich spürte, wie es Treppen hinunterging – mittlerweile hielt ich meine Augen geschlossen, um meine Konzentration aufrecht zu erhalten. Die Schritte hallten in einem hohen Treppenhaus, das meinem Gefühl nach noch einige Etagen nach oben ging. Von außen hatte ich nicht ganz erkennen können, wie hoch das Gebäude noch ging. Es erschien mir auch nicht wichtig. Nachdem wir durch eine weitere Stahltür gegangen waren, die wir mit demselben Prozedere wie oben durchschritten – inklusive der Beruhigung eines Schießwütigen Wache, die mich für infiziert hielt – dauerte es nicht lange, bis wieder Tageslicht durch meine geschlossenen Augenlieder drang. Die Fenster des Gebäudes waren aus irgendeinem Grund verdunkelt gewesen. Eventuell konnte das auch etwas bedeuten. Eine Sicherheitsmaßnahme? Oder einfach nur Zufall, Lust oder Laune?
Entlastet dadurch, dass ich nicht selber gehen musste, konnte ich es wagen meine Augen zu öffnen, ohne zu riskieren, dass ich meine Tarnung verlor. Wir traten auf eine vollkommen intakt geteerte Straße hinaus. Die Häuser im Innern der Stadt, wo wir uns jetzt befinden mussten, sahen auch wesentlich gepflegte aus, als die außerhalb. Sie sahen nicht Nigel Nagel neu aus, aber nicht so vermodert und heruntergekommen, wie die, die wir in der Stadt oder sonst wo zu sehen bekamen. Aus manchen Fenstern blinzelten sogar Vorhänge heraus. Straßenlaternen zierten die Ränder der Straße. Und ich wette, sie erstrahlten in hellem Licht in der Nacht. Zu Hause mussten wir Strom, wie Wasser, sparen. Vielleicht konnten wir uns von hier noch was abschauen, wenn wir mit dieser Stadt fertig waren.
Wir wurden in das zweite Haus auf der rechten Seite der Straße, welche ich sehen konnte, so wie ich lag. James, der Sklavenhalter meinte, dort würde man sich um mein Bein kümmern. Ich konnte nicht glauben, dass er dachte, wir hätten nicht den Hauch einer Ahnung was hier vorging. Gut, bisher waren uns noch keine eindeutigen Anzeichen für Sklaverei untergekommen, außer vielleicht, dass er der einzige war, der uns gefunden hatte und eine Waffe trug. Aber, als wir vorhin auf die Brücke gekommen waren, und er uns ansah, bevor er mein blutiges Bein entdeckte, war es eindeutig, dass etwas nicht stimmte. Auch, dass er Jodie so einfach geglaubt hatte, war eigenartig. Es war klar, dass er etwas mit uns vorhatte. Und er dachte wirklich, dass wir keinen Schimmer davon hatten.
„James.“, wurde der Sklavenhalter von einer Frau gegrüßt. „Wer sind die neuen Mädchen?“ Und als auch sie mein Bein entdeckte, fügte sie hinzu, „Was ist mit dem Bein von der hier?“ Die Frau, die in ihren Vierzigern sein musste und eine kleine Brille trug, trat an uns heran und warf einen Blick auf mein Bein. Ungefragt wiederholte Jodie die grobe Geschichte meiner Verletzung und nannte mich dabei ihre Schwester. Die Frau wies Sammy an, mich nach hinten zu bringen. Dort erkannte ich, dass dies hier eine Art Krankenstation sein musste. Doch früher war es, glaube ich, ein stinknormaler Laden, wovon allerdings nicht mehr viel zu sehen war. Sammy legte mich auf eine eiskalte Oberfläche, die mich zusammenzucken ließ. Er warf mir einen vertrauenswürdigen Blick zu, bevor er für die Frau Platz machte, um sie arbeiten zu lassen. Jodie tauchte auf der Seite meines gesunden Beins auf, und hielt meine Hand.
Ich achtete nicht besonders darauf, was die Frau, die so etwas wie eine Medizinerin gewesen sein musste, mit meinem Bein anstellte. Das gleiche hatte ich schon vor einigen Tagen durchmachen müssen, als meine Wunde das erste Mal versorgt wurde. Sie würde wohl nichts anderes tun, als die Wunde wieder zu reinigen und sie erneut zu verbinden, mit sauberem Verbandsmaterial. Allerdings gab es etwas, dass sie anders machte. Wäre mir zu Hause nur einige beruhigende Kräuter gegeben worden, spritzte sie mir hier etwas in meine Adern, das den Schmerz wesentlich abstumpfte.
„Was ist das für ein Zeug?“, wurde die Frau von Jodie gefragt.
„Ein schmerzstillendes Medikament.“, antwortete sie. „Deine Schwester musste höllische Schmerzen ertragen haben, als sie mit dem Bein durch das Ödland gewandert ist. Wo kommt ihr eigentlich her?“, hörte ich die Frau fragen.
Auf diese Frage hatten wir uns schon vorbereitet, bevor das Gebäude über mir zusammengestürzt war. Wir bemühten uns sogar, unsere Erinnerungen, die wir erfanden, aufeinander abzustimmen, um noch glaubwürdiger zu erscheinen. Jodie erzählte ihnen, die Geschichte, die wir uns ausgedacht hatten. Wir waren vor einigen Tagen aus einem der letzten Bunker gekrochen, als die Tore einer Horde Zombies nicht mehr standhielten, und wir hätten nur durch reines Glück überlebt und es bis hier her geschafft, während die anderen Bewohner unseres Bunkers alle umgekommen, oder infiziert wurden. Es gab Gerüchte, dass noch längst nicht alle Bunker, die einen Teil der Menschheit vor der Apokalypse in Form der Zombieseuche retten sollten, geöffnet waren. Niemand wusste, woher die Gerüchte überhaupt stammten, aber viele glaubten ihnen.
„Aus einem Bunker, huh?“, fragte die Frau überrascht, als sie mein Bein wieder verband. „Hast du das gehört, James?“, rief sie durch den Raum, zu den Wartenden, die im Nebenraum darauf warteten, dass wir fertig wurden. „Du hast wahrscheinlich die letzten Bunkerbewohner gefunden. Sireno dürfte das interessieren.“
„Bevor er davon hören wird, habe ich bereits die Formalitäten erledigt.“, rief James zu uns rein.
„Du solltest dich wirklich nicht so mit ihm anlegen.“, meinte die Frau. „Du weißt doch wozu er fähig ist.“
„Was für Formalitäten?“, fragte Jodie, wieder ganz in ihrer Rolle.
„Das soll euch James erklären.“, sagte die Frau ausweichend.
Ich fühlte mich noch ziemlich benommen, als die Medizinerin mich zusammen mit Jodie wieder zurück zu den anderen führte, aber die Schmerzen, die ich beim Auftreten hatte, waren weg. Nicht hundertprozentig, ich verspürte immer noch ein stetes Pulsieren, aber ich konnte wieder auftreten, auch wenn ich nur humpeln konnte. Die Medizinerin sagte James, ich würde mich noch etwas schonen müssen, damit ich bald wieder richtig gesund sein würde.
„Dann kommt mal mit.“, sagte James und ging wieder voran. Ohne dazu aufgefordert zu werden, unterstützte mich Sammy wieder beim Gehen. Ich wehrte mich nicht dagegen, weil er mir damit wirklich half.
„Ihr dürft hierbleiben und ich werde mich um euch kümmern.“, erklärte James uns, als wir die Treppen des Hauses hinauf gingen. „Aber ich schätze ihr werdet verstehen, dass ich das nicht einfach so tun kann. In den heutigen Zeiten muss jeder da mit anpacken, wo man gebraucht wird. Daher müssen wir euch als meine Angestellten eintragen lassen.“
Mit Angestellten, meinte er natürlich Sklaven. Aber es war überraschend, dass man hier Sklaven eintragen lassen musste. Ich hätte gedacht, dass die Sklaven hier jedem Sklavenhalter gehörten. Doch dem war ganz offensichtlich nicht so. Offenbar hielt man hier nicht so viel vom Teilen, und es galt, wer es findet, darf es behalten – wenn man es rechtzeitig eintragen ließ, was auch immer das bedeutete.
Die Räume, in die ich einen kurzen Blick hinein werfen konnte, als wir daran vorbei kamen, waren allesamt solche Krankenstationen, wie die, in der ich behandelt wurde. Alle, bis auf ein Raum. James führte uns in ein Büro, wo eine grauhaarige alte Dame saß, die Kleidung trug, die wie aus einer anderen Zeit zu stammen schien. Dank der Erinnerungen meiner Vorfahren, die für mich natürlich noch Existent waren, wusste ich, wie ihre Kleidung zu nennen war. Es war ein Kostüm, in einem grau-lila Farbton. Ein Blazer und ein Rock, der, wie unter dem Tisch hervorging, bis unter die Knie der Dame reichte. Unter dem Blazer trug sie einen fein aussehenden Pullover in einer ähnlichen Farbe, und darüber trug sie eine Kette aus weißen perlen. Es war wirklich, als stammte sie aus einer längst vergangen Zeit, denn ich wusste, dass die Menschen früher solche Kleider trugen. Hin und wieder hatten wir so etwas gefunden, als ich mit den Jungs Sammeln gegangen war. Aber nie nahmen wir dergleichen mit. Es war einfach zu unpraktisch, um im Ödland zu überleben. Unter dem Kostüm der alten Frau, war eine dünne und zähe Figur zu vermuten, obwohl sie kein Sklave zu sein schien. Ich schätze, viele ältere Menschen, werden ab einen gewissen Alter, einfach etwas knochiger, so wie sie. Ihre grau-weißen Haare, schien sie zu einem kunstvollen Knoten nach hinten gebunden zu haben.
„Wie ich sehe hast du zwei neue Mädchen, James.“, sagte die Frau hinter dem Schreibtisch und musterte Jodie und mich. „Was hast du denn mit dem armen Ding, das an Sammy hängt, gemacht?“
„Wir haben sie verletzt gefunden.“, sagte James ungeduldig und mit einem kühlen Ton. „Würdest du die beiden jetzt bitte für mich eintragen.“
„Aber klar doch.“, sagte sie mit einem unheimlichen Lächeln auf den Lippen. „Olga!“, rief sie durch eine offen stehende Tür in einen Nebenraum. „Bring mir zwei aufgefüllte Armbänder.“
Dann stand die alte Frau auf, ging zu einer Schrankwand hinter ihrem Tisch, und holte etwas aus einer der Schubladen. Wie sich herausstellte, war es eine Kamera. So ein Ding hatte ich schon lange nicht mehr gesehen, und noch nie, wie es benutzt wurde. Sie machte ein Foto von Jodie und dann auch von mir. Die Bilder, die sofort fertig aus der Kamera herauskamen, heftete sie auf zwei Blätter Papier und schrieb etwas darauf, als ein junges Mädchen in den Raum kam. Sie hatte zwei weiße Armbänder, die sie der Alten auf den Tisch legte, ohne aufzusehen.
„Wie heißen denn die beiden?“, fragte die alte Frau.
„Jodie und Ivy.“, sagte James, und zeigte jeweils auf uns. Jodie hatte ihnen während sie unsere Geschichte erzählt hatte, unsere Namen genannt.
Sie erklärten uns nichts zu den weißen Armbändern, die sie uns anlegten. Unseren Fragen, was das sollte, wichen sie aus. Spätestens jetzt, war es offensichtlich, dass wir nicht an die freundlichen Leute geraten sind, für die sie sich zunächst ausgaben. Als das Anlegen hinter uns lag, entschuldigte sich James, weil er noch etwas vorhabe. Er nahm die Frau und den Mann, die er dabei hatte, als er uns fand, mit und wies Sammy an, uns unsere Schlafplätze zu zeigen und uns alles zu erklären.
„Ich überlege mir bis morgen, wo ich sie einsetzen werde.“, sagte er und verließ uns.
Sammy führte uns aus dem Gebäude und half mir wieder dabei. So langsam fing ich wirklich an, ihn zu mögen, obwohl wir noch kein Wort miteinander gewechselt hatten. Es war die Art, mit der er seine Hilfe anbot, ohne aufgefordert zu werden. Als sei es für ihn ganz selbstverständlich. Es gab zwei Arten von Sklaven. Die, die alles taten, um ihre eigene Haut zu retten, egal ob es auf die Kosten eines anderen Sklaven ging, und die, die zu denen hielten, die praktisch im selben Boot saßen. Sammy war mit Sicherheit einer von der letzten Sorte, das merkte man sofort. Allerdings spürte ich einen inneren Konflikt, der in ihm tobte. Vielleicht, weil er mitansehen musste, dass Jodie und ich jetzt zu Sklaven geworden waren.
„Ich bring euch erst mal zu euren Schlafplätzen.“, sagte Sammy, als wieder auf die sauber geteerte Straße kamen. Wir gingen denselben Weg zurück, den wir gekommen waren, und verließen so wieder die Stadt. Hätte Jodie nicht berichtet, dass sie das Gebiet der Stadt weiter erstreckte, als nur über den Kern, den wir gerade verließen, hätte ich gedacht, dass er uns jetzt schon zur Flucht verhalf.
„Irgendetwas stimmt hier nicht.“, sagte Jodie, als wir die untere Stahltür überwunden hatten. „Und was sind das für komische Armbänder? Was soll das?“
Sammy blieb stehen – ich demnach auch, weil er mich immer noch beim Gehen unterstützte. Er überlegte, was er sagen sollte. Es spiegelte sich ganz klar auf seinem Gesicht wieder.
„Die Armbänder…“, fing er an, „Sie sollen uns daran hindern, dass wir weglaufen.“ Das ließ er im Raum, dem Treppenhaus, das im Dunkeln lag, stehen.
„Wieso weglaufen?“, fragte Jodie. Sie war sehr überzeugend in der Rolle des ahnungslosen Sklaven. „Hier sind wir doch sicher vor den Zombies, oder? Wieso sollten wir von hier weglaufen wollen?“ Sie zwang Sammy regelrecht zu der Antwort, dass wir nun Sklaven waren.
„Glaubt mir, hätte ich eine Wahl gehabt, hätte ich euch gewarnt. Aber deine Schwester war verletzt. Das konnte ich vom Dach aus sehen. Sie brauchte Hilfe.“, entschuldigte er sich.
„Wovon redest du da bitte? Was ist hier los?“, hackte Jodie nach.
„In dieser Stadt gibt es zwei Arten von Menschen.“, erklärte Sammy, Jodies Blick ausweichend. „Die normalen Menschen, die rechte haben. Und wir, die Sklaven, die nur so viel Rechte haben, wie unsere Besitzer uns gerade zusprechen wollen.“
„Sklaven?“, regte sich Jodie künstlich auf. Doch für Sammy würde es wohl überzeugend sein, er kannte sie immerhin seit höchstens zwei Stunden. „Was meinst du damit?“
„Das was es heißt. Von euch wird verlangt, dass ihr die Arbeiten verrichtet, die man euch aufträgt. Wenn ihr das nicht tut, wird man euch mit den Armbändern erst lähmen, und bei einer zweiten vergeigten Chance, werfen sie euch den Zombies zum Fraß vor.“
Jodie spielte die Hysterische, und war dabei sehr überzeugend. Sie stammelte irgendwelche Sätze vor sich hin, die sie bestimmt immer in so einer Situation verwendete. Solche Situationen waren aber sehr, sehr selten, denn normalerweise war es doch so, dass man sie einfach ins Sklavendasein prügelte, und es ihr nicht einfach erklärte.
„Ich hasse, dass sie immer einen von uns zwingen, diesen Mist zu erklären.“, sagte Sammy, als Jodie immer noch dabei war, sich aufzuregen.
„Wenn du ein Sklave bist, hast du nie darüber nachgedacht zu fliehen?“, fragte ich ihn. Ich musste gar nicht so tun, aufgeregt zu sein. Niemand würde es mir verdenken, dass ich in meinem geschwächten Zustand eine Weile brauchte, bis ich das alles überhaupt verstand.
„Du kannst von hier nicht fliehen. Sie würden dich nur wieder finden.“, sagte er. „Die Armbänder haben einen Sender eingebaut, mit dem sie dich aufspüren können. Außerdem können sie dich damit lähmen, egal wie weit weg du bist.“ Ich erkannte in seiner Stimme, dass er sich damit längst abgefunden hatte, ein Sklave zu sein. Er sah keine Hoffnung seiner Situation wieder zu entgehen. Das fand ich traurig.
„Könne wir die Armbänder nicht einfach abnehmen?“, fragte jetzt Jodie, die sich wieder etwas beruhigt hatte.
„Das kann nur einer.“, erklärte Sammy. „Und ihr könnt euch sicher sein, dass er das nicht tun wird.“
„Wer?“, wollte Jodie wissen. „Wer ist er, dass er der einzige ist, der die Armbänder abmachen kann?“
„Das erklär ich euch besser draußen.“, sagte Sammy und setzte sich wieder in Bewegung. „Wir sind schon zu lange hier unten. Die Posten stehen in Kontakt und werden Stutzig, wenn man so lange braucht, die Treppe rauf zu gehen.“
Als wir an die obere Stahltür kamen, entschuldigte Sammy sich für uns, dass wir so lange gebraucht hätten, weil ich so schwach war. Der Wachmann – ich habe seinen Namen vergessen – lachte Sammy aus, das er wohl zu schwach sei, eine leichte Frau zu tragen. Sammy ließ es sich gefallen, aber ich merkte in der Anspannung seines Körpers, dass es ihn ärgerte. Wir waren bereits auf der zweiten Brücke nach der Stahltür, als Sammy weiter redete.
„Sireno und seine Geschwister regieren hier sozusagen, über alle. Das heißt über die Leute, die Rechte haben, und die Sklaven. Sireno ist der ältere von seinen Geschwistern. Und es geht das Gerücht um, dass er einen seiner Brüder und seine Schwester sogar getötet hat.“ Dann setzte eine kurze Pause ein. „Er und seine Brüder, sind nicht normal, müsst ihr wissen. Jede Organisation einer Revolution oder ähnlichen, haben sie herausgefunden und zerschlagen.“
„Und wie?“, fragte Jodie, obwohl sie die Antwort natürlich schon längst wusste. „Haben sie Spione unter den Sklaven?“
Sammy lachte kurz auf. „Das brauchen die gar nicht. Wisst ihr was Telepathie ist?“ Er wartete gar nicht auf eine Antwort. „Das heißt, dass sie Gedanken lesen können. Ziemlich unheimlich, aber das ist die Wahrheit. Ihr werdet es schon noch früh genug selbst sehen.“
Dann ließ er uns mit unseren Gedanken alleine, als er uns über weitere drei Brücken führte. Sicher dachte er, wir versuchten das alles erst einmal in unsere Köpfe zu bringen. Oder, dass wir womöglich über irgendeine Fluchtmöglichkeit nachdachten. Aber bevor wir das taten, brauchten wir erst einmal mehr Informationen. Immerhin wollten wir alle Sklaven lebend befreien. Und dazu mussten wir auch noch herausfinden, wie viele es überhaupt gab.
Wir kamen wieder über die Brücke, von der aus wir gerettet wurden. Die Zombies hatten gerade angefangen sich wieder zu verteilen, als wir mit lauten Schritten, über die Brücke gingen. Sie bemerkten uns, reckten ihre Köpfe zu uns auf, und versuchten nach uns zu greifen, obwohl wir gute zehn Meter über ihnen waren. Ohne sie weiter zu beachten, gingen wir über die Brücke und noch eine weitere. Dort schienen wir endlich angekommen zu sein. Sammy bat Jodie die Tür zu öffnen, die ins Innere des Gebäudes führte.
Es war dunkel und roch modrig und verfallen. Erst jetzt fiel mir auf, dass es in der Stadt keine derartigen Gerüche gab. Das lag womöglich daran, dass die Stadt, im Gegensatz zu diesem Gebäude, wesentlich gepflegter war. Als Sammy einen Schalter umlegte, wurde das Treppenhaus, in dem wir uns wieder fanden, erhellt, und ich erkannte das volle Ausmaß des Verfalls. Die Wände waren nicht einfach nur heruntergekommen, rissig und bröselig, sie waren auch stellenweise von Schimmel überzogen, der hier wegen des undichten Daches ein perfektes Plätzchen zum Wuchern gefunden hatte. Das konnte nicht gesund sein. Schimmel einzuatmen, konnte schwere Schädigungen in der Gesundheit hervorrufen. Auch das Mauerwerk würde dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn man nichts dagegen unternahm.
Die Treppe führte uns in ein ehemaliges Wohnhaus. Die Türen zu den einzelnen Wohnungen waren beseitigt worden und nur wenige Fenster, deren Glas überlebt hatte, waren nicht zugemauert oder mit Brettern vernagelt. Sie ließen gerade so viel Licht ins Innere des Hauses, dass man nicht über irgendwelche Hindernisse auf dem Boden stolperte. Alles was ich als Einrichtung erkannte, waren nichts weiter, als ein paar Regale an den Wänden, für persönliche Habseligkeiten, und gammlige Matratzen, die den Boden pflasterten. Ich hatte die Orientierung verloren, weshalb ich nicht sagen konnte, in welcher Etage wir uns befanden, als Sammy mich in eine der offen stehenden Wohnungen brachte und mich auf eine der versifften Matratzen setzte.
„Es ist nichts Besonderes“, sagte er dabei, „aber wir haben hier ein Dach über den Kopf und vier Wände, die uns vor den Zombies beschützen. Also können wir nachts ohne Sorgen einschlafen.“
„Du meinst keine Sorgen außer, dass wir am nächsten Tag wieder Sklavenarbeit verrichten müssen?“, sagte eine junge schwarze Frau hinter uns mit kühler und stolz wirkender Ausdrucksweise. Sogar aus zwei, drei Metern Entfernung, konnte ich ihre dunklen und wilden Augen sehen, die, wenn sie es könnten, wie eine Katze fauchen würden. Insgesamt hatte sie eine Katzenhafte Ausstrahlung, obwohl ich noch nie eine mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Ihre kurzen, fransigen Haare flatterten und schwirrten ihr in ihre Augen bis an ihre ausgeprägten Wangenknochen. Und um ihre Katzenhafte Erscheinung abzurunden, war ihr gesamter Körper sehr muskulös gebaut, sodass sie bestimmt auch kämpfen und springen konnte, wie ihr tierisches Ebenbild. Sie war eine wirklich attraktive junge Frau, etwa in meinem Alter.
Sie ließ gar kein Gespräch zwischen uns zustande kommen. Nicht mal neugierig auf Jodie und mich, die schließlich neu hier waren, schien sie zu sein. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, nahm sie die Treppe nach oben.
„Das war Imani.“, sagte Sammy, als die katzenhafte Frau gegangen war. „Sie war mal James´ Tochter.“
„War?“, fragte ich. Dieses Wort machte mich stutzig, ich weiß nicht genau warum.
„Ja.“, antwortete er. „Er hat sie vor einer Weile an den jüngeren Bruder von Sireno verkauft.“
„Als Sklavin verkauft?“, fragte ich. „Seine eigene Tochter?“
„Das Leben hier ist hart.“, erläuterte er. „Aber der eigentliche Grund, warum er sie verkauft hatte, war, dass Ira sie einfach haben wollte. Die Telepathen haben Möglichkeiten mit uns zu machen, was sie wollen. Da ist es ganz egal, was wir wollen oder nicht.“
Nachdem niemand mehr etwas sagte, meinte Sammy, „Ihr könnt euch heute erst einmal noch hier ausruhen, bevor es morgen so richtig losgeht. Ich muss wieder an die Arbeit. Aber heute Abend bin ich wieder da, um euch zur Essensausgabe zu bringen. Wenn ihr Durst habt, das Wasser fließt in dem Badezimmer da hinten um die Ecke.“ Sammy war schon wieder auf dem Flur, als er sich noch einmal zu uns umdrehte. „Ach ja, bevor ich es vergesse. Ihr solltet euch nicht in der Stadt blicken lassen – heute jedenfalls noch nicht. Wenn ihr arbeitet, könnt ihr euch im Grunde frei bewegen, wenn es euch nichts ausmacht die Zielscheibe für gewissen brutale Besitzer und anderen Individuen zu sein.“
Jodie blickte sich im Raum um und setzte sich dann seufzend neben mich. Wir starrten noch ein wenig vor uns hin, bevor Jodie zu sprechen begann. „Wie geht es deinem Bein?“, fragte sie sorgenvoll.
„Es fühlt sich taub an.“, sagte ich. „Irgendwie merkwürdig.“
„Dann hältst du es durch?“ Ich nickte nur. „Wir könnten die Sache auch vorerst abblasen. Du siehst nämlich ziemlich blass aus.“ Sie strich mir mein zerzaustes Haar aus dem Gesicht, um es besser in Augenschein nehmen zu können.
„Schon gut. Ein bisschen Schlaf und etwas zwischen die Zähne und ich bin wieder wie neu.“, versicherte ich ihr.
Sie glaubte mir – oder wollte es – denn dann kamen wir zum Geschäftlichen. Aber nicht bevor Jodie sich nicht noch einmal vergewisserte, dass wir auch wirklich alleine waren. „Und? Was hältst du von der Stadt?“
„Ich weiß nicht. Um darüber urteilen zu können, hab ich noch zu wenig gesehen. Aber diese Armbänder“, ich sah das weiße Plastik, das eng an meinem linken Handgelenk anlag, „sind seltsam.“
„Ja. Aber das erklärt, warum bisher noch niemand geflohen ist. Und diese Anmeldung von Sklaven, ist irgendwie skurril.“
Des Weiteren stimmten wir darüber ein, dass der Schlüssel für eine erfolgreiche Befreiung, die Strom- und Wasserversorgung der Stadt sein könnte. Aber natürlich war es noch zu früh, um das zu beurteilen. Bei so einer riesigen Stadt, mussten wir etliche Tage einkalkulieren, um zu beobachten. Es gehörte immerhin zu unseren Aufgaben, zu sichern, dass unsere Leute hier einmarschieren konnten. Und da wir in der absoluten Unterzahl waren, mussten wir auch noch sicherstellen, dass wir nicht nur das Überraschungsmoment auf unserer Seite hatten, sondern auch soweit in Deckung gehen konnten, dass niemand auf unserer Seite hinterrücks erschossen werden konnte.
Für die nächsten Tage beschlossen wir, erst einmal das zu tun, was man uns sagte, und dabei zu beobachten. Jodie überlegte, ob wir eine der Mauern, die zwischen den Gebäuden um den Stadtkern gezogen wurden, um die Stadt von Zombies sauber zu halten, sprengen könnten, damit unsere Leute einfallen konnte. Aber wir hatten nun mal keinen Sprengstoff. Und ich bezweifle, dass wir hier so einfach an Sprengstoff kamen. Waffen und ähnliches, wurden bestimmt gut bewacht, damit die Sklaven hier nicht auf dumme Gedanken kommen.
Ich schlug vor, dass wir versuchen sollten, uns mit einigen der anderen Sklaven anzufreunden, um sie aus ein wenig über die Stadt auszuhorchen, ohne dass wir dabei auffielen. Vielleicht konnten sie uns etwas Hilfreiches erzählen. Beim Abendessen hatten wir auch schon die erste Gelegenheit. Ich war, nachdem ich den restlichen Tag geschlafen hatte, was mir wegen des Geruchs der Matratzen, der fast noch übler war, als der Verwesungsgeruch der Zombies, schwer fiel, wieder relativ fit – fit genug um zu versuchen einige erste Informationen zu sammeln.
Bevor Sammy uns holen kam, hatte sich das Wohnhaus schon wieder mit Leben gefüllt, denn den ganzen Tag, war es totenstill gewesen. Nicht mal Kinder, die es, wie wir jetzt bemerkten, durchaus gaben, hatten sich im Laufe des Tages blicken lassen. Aber als ich aufwachte, vom Stimmengewirr auf den Fluren, und auch hier im Raum – Jodie hatte uns einigen ersten Neugierigen vorgestellt – fand ich ein halbes Dutzend Kinder auf dem Flur, die zu uns herein guckten. Sie kicherten, flüsterten und drucksten herum, als sie merkten, dass ich aufwachte. Dann stoben sie auseinander und liefen weg. Ich fragte mich, ob sie die Kinder – vor allem die ganz kleinen – auch zur Arbeit zwangen. Und wenn ja, was mussten sie tun? Ich beschloss, das auch noch in Erfahrung zu bringen, wenn ich konnte.
Die junge Frau, die heute bei unserer Rettung dabei war, und sich als Sammys Schwester Pamela vorstellte, erzählte uns, dass sie mit unseren gemeinsamen Besitzer gesprochen hatte, und in Erfahrung gebracht, dass Jodie sie in der ersten Zeit hier, mit zu ihrer Arbeit nehmen sollte, um sie dort einzulernen. Sie erklärte, dass sie bei der Herstellung von neuer Kleidung tätig war. Das bedeutete, weben und schneidern. Ehrlich gesagt, konnte ich mir Jodie ganz und gar nicht dabei vorstellen. Sie war nicht der Typ für so eine langatmige Arbeit. All die Jahre hatte sie nur gekämpft. Sie wirkte einfach nicht wie eine Art Heimchen am Herd, und entsprach auch nicht dem typischen Frauenbild, das vor der Apokalypse und teilweise heute noch herrschte.
Als Sammy schließlich kam, um uns zum Essen zu bringen, berichtete er mir, dass ich ihn bei seiner Arbeit unterstützen sollte. Ich hatte mich schon gefreut, weil ich dachte, er würde irgendetwas Aufregendes zu arbeiten haben. Aber da irrte ich mich gewaltig. Wie die letzten unendlichen Tage zu Hause, würde mich nun hier auch wieder Treibhausarbeit erwarten. Ähnlich wie wir zu Hause, hatte die Stadt hier auch ehemalige Räume zu Treibhäusern für alle möglichen essbaren Pflanzen umfunktioniert. Nur in einem viel größeren Ausmaß, da sie immerhin mehrere Hundert Menschen zu versorgen hatten – auch wenn einige davon nicht so viel abbekommen, wie andere, weil sie Sklaven waren.


14


Das Abendessen für die Sklaven wurde in einem Nebengebäude ausgegeben. Spärliche Tische und Stühle waren in den Räumlichkeiten eines alten Bürogebäudes aufgestellt waren, was mich ziemlich an die öffentliche Küche zu Hause erinnerte. Sammy erzählte mir – Jodie saß mit Pamela bereits mit ihrem Essen am Tisch, weil Sammy mir geholfen hatte hierher zu humpelt – dass die Kantine, wie sie es hier nannten, ganz alleine von den Sklaven eingerichtet wurde. Die Besitzer hatten dies lediglich toleriert. Nach getaner Arbeit also, was sehr spät war, versammelten sich alle Sklaven hier, aßen und unterhielten sich, bis sie irgendwann halbtot ins Bett fielen. Aus den allgemeinen Tischgesprächen, die ich auffing, als wir zwischen den Tischen hindurch zur Essensausgabe gingen, war zu entnehmen, dass sich die Menschen hier, mit ihrer Situation schlicht und ergreifend abgefunden hatten, wie Sammy. Eigentlich hatte ich erwartet, dass der ein oder andere flüsternd überlegte, wie man hier am besten fliehen konnte, oder sich zumindest darüber beschwerte, wie furchtbar es hier war. Aber nichts dergleichen. Niemand erhob seine Stimme. Jeder zog nur einfach den Kopf ein. Nicht einmal das Beste machten sie aus ihrer Situation. Sie ertrugen es und ließen es über sich ergehen. Kein erstrebenswerter Umgang mit einer Situation, in der man unglücklich dahinvegetierte.
Das Essen sah nicht besonders appetitlich aus. Trüb und etwas matschig wirkte es. Aber was sollte man von den abgelegten Resten der Besitzer erwarten. Sammy erklärte mir, dass sie nur das in der Kantine zubereiten durften, was die Besitzer nicht mehr haben wollten. Doch manchmal, wenn es unter den Sklaven etwas zu feiern gab, wurde schon mal etwas eingesteckt, um ein besonderes Mahl – besonders für Sklavenverhältnisse – zuzubereiten. Heute gab es nichts Besonderes, nur ein Gemüseeintopf, den es hier offenbar sehr häufig gab, mit etwas Fleischeinlage. Das Fleisch waren auch Reste der Tiere, die die Besitzer nicht einmal ansehen würden. Vom Fleisch hatte sich bisher noch niemand getraut, etwas mitzunehmen.
Weil an Jodies und Pamelas Tisch kein Platz mehr frei war, begaben Sammy und ich uns zu einem Tisch, der weitab in der Ecke stand. Wir waren einen Augenblick unter uns, den ich eigentlich gleich nutzen wollte, um Sammy ein paar Fragen erst einmal zur Geschichte der Stadt zu stellen. Aber dazu hatte ich keine Gelegenheit, denn vier Frauen setzten sich zu uns. Eine davon war Imani, die katzenhafte und stolz wirkende Frau. Die zweite, eine ältere Dame, mit grau-weißem Haar, begrüßte Sammy sehr herzlich, als sei sie seine Mutter, oder etwas junge Großmutter. Er stellte sie mir als Adele vor, eine gute Freundin – die hier wirklich sehr wichtig waren. Die übrigen beiden Frauen, die sich zu uns setzten, glichen sich wie ein Ei dem anderen. Sie waren Zwillinge, etwa Mitte dreißig. Ich traute mich gar nicht die beiden anzusehen, was nicht daran lag, dass sie sich so ähnlich sahen, sondern, dass ihre Gesichter sogar dieselben entstellenden Narben hatten. Bei jeder von beiden reichte die Narbe vom Haaransatz, über das Auge, bis runter an die Lippen. Soweit ich das beurteilen konnte, gab es nur eine Kleinigkeit, mit der man die beiden unterscheiden konnte. Eine der beiden Zwillingsfrauen, hatte die Narbe auf der linken Seite, während die andere sie auf der rechten Seite tragen musste.
Nachdem die drei Frauen sich zu uns gesetzt hatten, überlegte ich mir, dass ich mich vielleicht langsam an die Geschichte der Stadt herantasten konnte, indem ich nach den einzelnen Geschichten der Sklaven, die hier am Tisch saßen. Denn ich wollte wirklich nicht die Aufmerksamkeit der drei Telepathen, denen die Stadt zu gehören schien, auf mich ziehen, weil vier ihrer Sklaven daran dachten, dass sie mir die Geschichte der Stadt erzählt hatten. Es wäre schon merkwürdig sich gleich nach der Geschichte zu erkundigen, wo ich doch gerade erst erfahren hatte, dass ich ein Sklave sein würde. Bestimmt würde es ihnen schon komisch vorkommen, weil Jodie und ich keinen Fluchtversuch unternehmen würden. Denn auch, wenn man uns sagte es sei unmöglich von hier weg zu kommen, mussten die meisten doch verzweifelt genug sein, von hier fliehen zu wollen.
„Wie seid ihr denn hier her geraten, wenn ich fragen darf?“, fragte ich.
Vor meiner Frage war keine richtige Unterhaltung am Tisch zugange. Aber wäre dies der Fall gewesen, würde sie nun stocken. Eine erdrückende Stille legte sich über unsere kleine Runde, als die anderen entweder mich überrascht anstarrten, oder sich gegenseitig. Sammy aber redete über seine Geschichte.
„Die meisten Sklaven sind hier geboren.“, fing er an mir zu erklären. „Andere, wie ich und meine Schwestern, wurden von den Besitzern hier, gefangen genommen. Wir lebten in einer kleinen Kolonie, die auf ehemaligen Boden der Army existierte, als sie auf uns aufmerksam wurden. Die alten und schwachen töteten sie sofort. Auch die, die versuchten sich zu wehren, wie meine Eltern. Nancy, meine älteste Schwester, gab unserer Mutter noch das Versprechen, dass wir überleben würden. Nur deshalb hatte ich nicht mit den anderen gegen die Besitzer gekämpft, um sie in die Flucht zu schlagen. Nancy hatte sich damals mit uns versteckt, und wir haben die Kämpfe einfach ausgesessen, bis wir von den Besitzern gefunden und schließlich versklavt wurden.“
Ich hatte eine gewisse Traurigkeit von ihm erwartet, wenn er von seiner Geschichte erzählte. Aber alles was ich an ihm erkannte, war Kälte. Er hatte mit seiner Vergangenheit abgeschlossen, was für ihn im Moment womöglich gut war, aber bestimmt nicht auf lange Sicht gesehen. Es wirkte so, als hätte er es verdrängt, und nie verarbeitet.
„Und, wie lange bist du schon hier?“, fragte ich nach einem kurzen Augenblick des Schweigens.
„Neun Jahre.“, antwortete er und aß weiter. „Seit ich dreizehn Jahre alt bin.“ Seine blauen Augen starrten stur in seine Schüssel mit Eintopf, als er sich einen Löffel nach dem anderen in den Mund schob. Ein sicheres Zeichen, dass er dem, was ihm passiert war, aus dem Weg ging, und sich nicht damit auseinander setzte. Ich hoffe, er würde sich seinen Dämonen stellen, wenn er erst einmal wieder in Freiheit lebte. Vielleicht würde ich ihm dabei sogar behilflich sein können – ob mit oder ohne Telepathie.
„Weißt du Ivy, in dieser Stadt gab es schon Sklaven, solange ich denken kann.“, sagte Adele. „Aber erst vor ein paar Jahren ist es so richtig schlimm geworden. Früher wurden wir wenigstens noch richtig ernährt. Und unsere Besitzer arbeiteten noch mit uns zusammen. Wir sollten lediglich ihre Arbeit auf ihrem Besitz ergänzen und ihnen helfen. Doch dann bekam Sireno das Wort, nachdem seine Eltern gestorben waren. Überall suchte er nach neuen Sklaven und brachte sie hierher, bis kein Besitzer mehr arbeiten musste.“
„Kurz gesagt, wir machen alles für sie, und bekommen rein gar nichts dafür zurück.“, warf Imani ein.
„Na ja.“, überlegte Sammy. „Sie lassen uns am Leben.“ Da sprach der Pure Sarkasmus aus ihm. Wie konnte man das hier auch Leben nennen. Es war wohl genauso eine Hölle, als würde man außerhalb der scheinbar sicheren Mauern dieser Stadt, unter den Zombies leben.
Nach dem Abendessen gab es eigentlich nichts weiter mehr zu tun als schlafen zu gehen. Ich hatte mich zwar den Nachmittag über ausgeruht, fühlte mich aber wegen des Blutverlustes und dem Medikament, das mir verabreicht wurde, und noch immer mein Bein taub machte, fühlte ich mich immer noch matt. Weil ich nicht das Gefühl hatte, dass Sammy nicht noch weiter hier in der Kantine bei denen die noch ein wenig blieben und sich unterhielten bleiben wollte, nahm ich seien Hilfe beim Aufstieg der Treppe wieder in Anspruch. Er half mir, mich wieder auf die Matratzen, die auf dem Boden verteilt waren, zu setzen.
Außer Sammy, seinen Schwestern, Jodie und mir, schliefen noch drei andere in diesem Raum. Ein Mann, der Willy hieß, und seine beiden Töchter Olivia und Cameron. Olivia war etwa in Pablos alter, und Cameron war acht Jahre alt. Sie waren zwei süße Mädchen. Und während Cameron die ruhige und schüchterne war, gab sich Olivia eher aufbrausend. Aber welches Kind war das in diesem Alter denn nicht? Allerdings hatte Olivia auch schon öfter eine Abreibung von ihrem Besitzer bekommen. Das sah man an ihren Brandnarben, die überall auf ihrem Körper verteilt waren. Trotzdem schien sie aber ein recht fröhliches Kind zu sein.
Die sechs Personen mit dem wir das Zimmer teilten, waren eigentlich alle vollkommen in Ordnung, und ich hatte das Gefühl, dass wir alle gut auskommen würden. Aber es war trotzdem irgendwie eigenartig mit sechs Fremden einzuschlafen. Doch darüber machte ich mir nur im ersten Moment Gedanken, denn schon bald schweiften sie ab, und landeten zu Hause … bei Rick. Ich fragte mich, was er wohl gerade machte, ob er eventuell an mich dachte, und wenn ja, was er über mich dachte. Zugegebenermaßen wünschte ich mir jetzt in seinen Armen zu liegen. Und mit diesem Gedanken schlief ich schließlich ein.
Doch während ich schlief und träumte, konnte ich diese Gedanken nicht beibehalten. Ganz automatisch kam wieder der Traum, den ich den letzten Nächten sehr häufig hatte. Wieder war ich vier Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt. Aber diesmal war ich nicht ich selbst. Ich erlebte die damaligen Ereignisse aus Pandas Sicht. Zusammen mit mir, waren wir in der Küche, als Declan ohne Vorwarnung hereingestürmt kam. Er schrie mich – Panda – an, fuchtelte wild mit den Armen und packte mich plötzlich. Wie eine Schildkröte zog ich meinen Kopf in den Nacken, wo er seine widerliche Hand platziert hatte, aber er ließ nicht locker. Als er anfing mich in Richtung Herdplatte zu drücken, die vor Hitze noch ganz orange glühte, versuchte ich dagegen zu halten. Aber er war stärker als ich und so landete ich auf das glühende Metall. Ich wachte auf, als ich eigentlich den Schmerz hätte spüren sollen.
Es war noch tiefste Nacht, als ich aus meinem Albtraum erwachte. Ich setzte mich auf und atmete erst einmal durch. Die anderen machten gleichmäßige Atemgeräusche, was nur bedeuten konnte, dass sie tief und fest schliefen, worum ich sie beneidete. Obwohl wohl niemand in diesem Raum das perfekte Leben hatte, konnten sie ihre täglichen Probleme wenigstens nachts hinter sich lassen. Ich wollte, ich könnte das auch. Doch ich musste sagen, dass ich im Wachen Zustand nicht mehr so oft über Panda nachdachte wie früher. Vielleicht ist das der Grund, warum ich nicht mehr aufhören konnte, davon zu träumen.
Plötzlich hörte ich ein unterdrücktes Winseln. Eigentlich hätte mich das in einem Sklavenlager nicht überrascht. Denn wem konnte in so einer Lebenssituation nicht zum Heulen zumute sein? Aber das kein Winseln vor Trauer, Depression oder Angst, es entsprang eher großen Schmerzen.
„Kommst du jetzt endlich?“, fragte eine gesenkte und ungeduldige männliche Stimme. Dann hörte ich jemanden von seinem Schlafplatz aufstehen. Einen Augenblick dachte ich, hier wäre gerade eine heimlich Flucht im Gange. Doch dann erblickte ich ihn durch das Dunkel der Nacht – nicht einmal das Licht der fernen Sterne fiel hier ein. Sofort als ich ihn sah, wusste ich wer er war, einer der Telepathen. Obwohl wir uns einige Sekunden genau in die Augen starrten, als er mich entdeckte, war ich mir sicher, dass er nichts von meiner Telepathie wusste. Und deswegen fühlte ich mich sogar etwas überlegen, weil ich etwas über ihn wusste, und er nichts über mich. Dann spürte ich, wie etwas an meiner Konzentration zerrte. Ich vermute, er überprüft aus lauter Spaß an der Freude meine Gedanken. Aber er würde nur das auffangen können, was ich ihn wissen lassen wollte. Wie zum Beispiel Fragen, die sich darum drehten, wer er war, was er hier wollte und warum Imani plötzlich hinter ihm aus ihrem Zimmer taumelte. Bei meiner letzten vorgeschobenen Frage, drehte er sich zu Imani um, die mich gar nicht zu bemerken schien. Sie atmete schwer, und ich wusste, dass er ihr solche Schmerzen bereitet hatte, wie Dad mir, wenn er mich wegen meiner ungestümen Nutzung meiner Telepathie bestrafte.
Der Telepath, dessen Name Ira war, wie ich aus Imanis Gedanken erfuhr, packte sie grob am Arm, sah sich noch einmal kurz zu mir um, und zerrte sie schließlich die Treppe hinauf.
„Es hilft, nicht darüber nachzudenken.“, sagte plötzlich Sammy hinter mir. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er auch wach war. Als ich ihn überrascht und verwirrt ansah, sagte er, „Er hat nur weibliche Sklaven. Und nur für ein und denselben Zweck. Wenn du verstehst was ich meine.“
„Hat er viele Sklaven?“ Es war dämlich zu fragen, aber irgendwie rutschte es mir raus.
„Fünf.“, antwortete er trotzdem. „Die Ältesten sind einundzwanzig, und die Jüngste zwölf.“
Zwölf! War er ein Pädophiler? Wobei er selbst noch ziemlich jung war. Jünger auf jeden Fall als ich. Aber nicht um viel.

Es war spät, als ich das Protokoll anfing, dass ich Rae versprochen hatte. Weil ich die alte Feuerwache nicht verlassen würde, bevor wir die Sklaven nicht befreien konnten, sicherte ich ihr zu, dass ich ihr ein Protokoll von dem aufschrieb, was bei Ivy und Jodie passierte. Sie wünschte sich, dass es detailliert war. Erst als Ivy wieder eingeschlafen war, nachdem sie von ihrem Albtraum geweckt wurde, setzte ich mich mit einer Öllampe an den Tisch, wo wir aßen, und überlegte was ich aufschreiben sollte. Es würde Rae bestimmt nicht gefallen zu hören, dass die beiden Mädchen von Zombies verfolgt wurden, gegen die sie kämpfen mussten, obwohl sie schon hätten gerettet werden können. Auch scheute ich davor ihr zu schreiben, dass Ivys Beinwunde wieder aufgerissen ist, und sie viel Blut verloren hatte. Aber ich musste ehrlich zu ihr sein. Das hatte ich nicht nur ihr versprochen, sondern auch mir. Der einfachere Weg war eben oft nicht der bessere.
Nach ein paar persönlichen Zeilen, in denen ich ihr schrieb, wie sehr ich sie vermisste und liebte, und dass sie allen zu Hause Grüße ausrichten solle, schrieb ich:
Gegen Mittag des nächsten Tages ließen wir die beiden alleine durch die Ruinenstadt auf die Sklavenstadt zugehen. Sie brauchten mehr als zwei Stunden, bevor sie von jemand gefunden wurden. Doch vorher waren sie von Zombies verfolgt worden, während dessen Ivys Beinwunde wieder aufgegangen war. Sie konnten ihnen entkommen, nur um etwas später wieder angegriffen zu werden. Ivys Bein blutete stark, als sie und Jodie vier Zombies außer Gefecht setzten, während sie von einem der Sklavenhalter und seinen drei Sklaven beobachtet wurden. Diese vier holten die beiden Mädchen dann mit einer Drahtseil-Konstruktion auf eine Brücke, die zwischen zwei Gebäuden einherging und in zehn Metern Höhe ragte. In der Stadt angekommen, wurde Ivy Bein erst einmal versorgt. Sie bekam ein Medikament verabreicht, dass ihre Schmerzen abschwächten und ihr Bein fast taub werden ließ. Aber mittlerweile ließ die Wirkung wieder nach, und ihre Schmerzen kamen nun langsam zurück. Doch Ivy steht das schon durch. Ihnen wurden seltsame Armbänder verpasst, die sie an einer Flucht hindern sollten. So ganz verstanden wir noch nicht, wie sie funktionieren. Bisher konnte es ihnen auch niemand erklären. Denn während Ivy sich unter den Sklaven nach ihren Geschichten erkundigte, um der Geschichte der Stadt näher zu kommen, versuchte Jodie Informationen über die Armbänder zu sammeln. Doch es war weder eine befriedigende noch eine brauchbare Erklärung aus den Sklaven herauszukriegen. Sie wissen selbst nicht genau wie sie funktionierten.

Als Juan und ich diesen Abend vom Training nach Hause kamen, war Fred in der Küche zugange. In letzter Zeit kochte er häufig, sodass wir nicht in die öffentliche Küche gehen mussten, um zu essen. Fred kochte uns immer etwas mit. Wir wohnten seit etwa einem Jahr zusammen in dieser Wohnung, und bisher hatte ich keine Beschwerden über ihn. Anders als über Juan, der unordentlich war und oft nur an seine eigenen Lebensmittel dachte, wenn er sich im Lager bediente. Waschen tat er auch nur seine eigene Schmutzkleidung, währen Fred und ich uns abwechselten und die Wäsche des jeweils anderen mitwuschen. Aber bei Juan nützte es nichts sich darüber aufzuregen, er änderte sich ohnehin nicht. Das hatte ich sofort im Gefühl, als wir zusammen zogen.
Nachdem wir Freds köstliche Suppe vertilgt hatten, bot Juan wie erwartet nicht an das schmutzige Geschirr abzuwaschen. Lieber ging er zur Lagerfeuerstelle auf der eine der wenigen Straßen der Kolonie. Dort trafen sich oft die jugendlichen der Gemeinde, die noch nicht alt genug waren, um in die Bar zu gehen. Man durfte nämlich erst ab zwanzig trinken. Es war bequem, dass das Lagerfeuer, dass von Ivys Tante Jodie, mit der sie in die Sklavenhalterstadt gegangen war, ins Leben gerufen wurde, weil sie sich irgendwo mit ihren Freunden treffen wollte, gleich neben unserer Wohnung befand. Fred ging nie dort hin. Juan war fast jeden Abend dort. Und ich ging normalerweise auch nur selten dort hin, aber in letzter Zeit häuften sich meine Aufenthalte am Lagerfeuer. Dafür gab es eine ganz einfache Erklärung. Und die hieß, Penny.
Irgendwie war ich schon immer in sie verknallt gewesen, seit ich sie kannte. Im Unterricht starrte ich sie pausenlos an, sodass ich von Heath, unserem Lehrer, oft genug ermahnt wurde, besser aufzupassen. Immer wurde ich deswegen ausgelacht, aber ich glaube, dass Penny nie realisiert hatte, dass ich sie anglotzte. Doch nachdem ich Ivys Rat angenommen hatte, und Penny fragte, ob sie mit mir zusammen zum Kinoabend gehen wolle, war ich bei ihr schon ein ganzes Stück weiter gekommen. Wir hatten uns noch nicht geküsst, und übers schüchterne Anlächeln sind wir noch gar nicht hinaus gekommen, aber wir verbrachten immer mehr Zeit miteinander, sodass ich den ersten Kuss bald in Angriff nehmen würde. Vielleicht sogar schon heute Abend, denn wir waren am Lagerfeuer miteinander verabredet.
Als ich mich nach dem Abwasch auf den Weg machte, verließ ich die Wohnung nicht ohne Fred zu fragen, ob er nicht auch mitkommen wolle. Aber er lehnte ab, und ich ging aus der Wohnung, gerade als Penny die kleine Gasse unseres offenstehenden Wohnhauses zwischen zwei Wohnungen betreten wollte. Sie drehte sich mit einem Lächeln um.
„Perfektes Timing.“, strahlte sie mich an.
In einem peinlichen Moment standen wir uns stillschweigend gegenüber. Erwartet sie, dass ich etwas unternehme? Wenn ja, was?
„Hast du vielleicht Lust spazieren zu gehen, bevor wir zum Lagerfeuer gehen?“, fragte ich ganz spontan. Vielleicht würde sich eine Gelegenheit für einen ersten Kuss ergeben, wenn wir nur unter uns durch die Nacht der Kolonie spazierten. So etwas konnte ja durchaus romantisch sein, wenn es nicht gerade einen Zombiealarm gab.
Penny nickte und wir gingen gemeinsam den anderen Weg, entgegengesetzt des Lagerfeuers. Es dauerte nur einen Moment, bis sie ihre Hand in meine schob. Nicht das erste Mal, dass wir Hand in Hand gingen, aber diesmal klopfte mein Herz wieder so stark, wie beim ersten Mal, und ich wusste, diese Nacht war die Nacht. Die Nacht in der ich sie zum ersten Mal küssen würde. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, wie ich es am besten anstellte.
Niemand von uns legte einen Kurs für unseren Spaziergang fest, den wir folgten, sodass wir Willkürlich durch das Gebiet der Kolonie streiften – Hand in Hand. Die Nächte wurden jetzt immer wärmer, sodass wir immer noch ohne Ärmel rausgehen konnten, wenn die Sonne untergegangen war. Penny trug sogar extrem kurze Hosen, die viel Haut ihrer Oberschenkel zeigte. Aber das war mir egal, meine Aufmerksamkeit galt ihren Lippen, die ich küssen wollte – für heute zumindest.
„Wie war dein Training heute?“, fragte Penny mich.
„Anstrengend.“, antwortete ich. „Ava hat uns durch das ganze Parkhaus gescheucht. Wenn das so weiter geht, kann ich zu Fuß in die Stadt laufen, und bin dann immer noch vor den Wagen dort.“ Penny lachte über meinen Scherz. Ich hörte und sah sie so gerne lachen.
Penny war noch nicht alt genug, dass sie mit in die Stadt dürfte. Deshalb trainierte sie auch nicht mit uns, wenn wir uns auf unseren Einsatz vorbereiten. Aber hin und wieder, wenn ich mal eine kurze Pause einlegen konnte, entdeckte ich, dass sie ab und zu zum Parkhaus herüber sah. Ich bildete mir ein, dass sie das womöglich nur wegen mir tat. Aber sicher, konnte ich mir dabei nicht sein. Trotzdem war das ein schönes Gefühl. Lange hatte ich niemanden, den ich so sehr mochte. Meine Mutter starb bei meiner Geburt, und mein Vater ließ sein Leben, als er kämpfen musste, als wir von John und den anderen befreit wurden. Ich war damals zehn Jahre alt gewesen. Aufgezogen wurde ich dann von den Kinderbetreuern, bis ich alt genug war größten Teils für mich selbst zu sorgen, und mit Juan zusammenzog, sodass wir uns gegenseitig ein wenig unterstützen konnten.
Penny und ich schlenderten durch den Baumgarten. Die Bäume trugen verschiedene Früchte, die aber noch etwas wachsen müssten, ehe man sie erntete, was möglicherweise in die Zeit fallen könnte, in der wir die Sklaven aus der Stadt befreien würden.
„Die Nacht ist schön.“, sagte Penny und sah zum sternebesetzten Himmel hinauf. „Findest du nicht?“
„Doch.“, sagte ich, sah aber statt des Nachthimmels sie an. Ich glaube, sie sendete mir spezielle Signale. Signale, die ich allzu gerne empfangen wollte. Bildete ich es mir nur ein? Wollte sie, dass ich sie küsse?
Ohne groß weiter darüber nachzudenken, sammelte ich meinen Mut zusammen, trat näher auf sie zu, lag eine Hand an ihr Gesicht und die andere an ihre Hüfte, zog sie zu mir und küsste sie.


15


Die Schmerzen fingen wieder an. Das Gefühl kehrte auch wieder in mein Bein zurück. Es fing mit einem Kribbeln an, das immer heftiger wurde, bis es schließlich in einen zugleich stechenden und auch pulsierenden Schmerz mündete. Noch vor Sonnenaufgang war ich deswegen aufgewacht, und konnte nicht wieder einschlafen. Als Sammy das merkte, bevor wir zu einem spärlichen Frühstück in die Kantine aufbrachen, meinte er, er könne mir helfen, ließ mich in unserem Zimmer zurück, und verschwand. Mit einer älteren Frau kam er wieder. Sie hatte dickes schwarzes und langes Haar, das ihr bis an die Hüften reichte. Aber das war nicht das Merkmal, das mir so fremd war. Vielmehr ihre spezielle dunkle Hautfarbe war es, die mich sie anstarren ließ. Sie sah nicht aus, wie eine normale schwarze Frau, deren Vorfahren einst ihre Wurzel in Afrika fanden. Von der Sonne war sie aber auch nicht gebräunt. Dafür war sie zu dunkel.
Wie die Medizinerin, die mich gestern behandelt hatte, verabreichte die Frau, die Sammy mir als Pavati vorstellte, ein flüssiges Medikament, das sie mir unter die Haut verabreichte. Das tat sie, indem sie mir einen sehr, sehr spitzen Gegenstand in die Haut einstach. Außer ein angestrengtes Ziepen, als meine Haut unter der Spitze nachgab, spürte ich nichts – mal abgesehen vom stechenden, zerrenden und pulsierenden Schmerz meiner Wunde, die über Nacht meinen Verband wieder vollgeblutet hat. Bevor wir dann zum Frühstück gingen, erneuerte Pavati noch einmal meinen Verband. Ich erfuhr, dass die Frau, die mich gestern behandelt hatte, die Medizinerin, ihre Besitzerin war, und sie deshalb Zugriff auf medizinisches Material hatte, solange sie sich nicht erwischen ließ.
Ich war kaum vierundzwanzig Stunden hier, und mir fiel schon auf, dass etwas nicht stimmte. Die Telepathen, die diese Stadt zu führen schienen, konnten doch nicht einfach nicht wissen, dass die Sklaven hier Gemüse und Obst und medizinisches Material heimlich einsteckten. Wie konnten sie eine Stadt voller Sklaven führen, die nicht wagten zu fliehen, ohne ihre Gedanken zu kontrollieren? Und dann müssten sie doch wissen, was hier vor sich ging. Das ergab keinen Sinn für mich. Doch irgendeinen Grund musste das doch haben. Nicht wahr? Vielleicht lag darin sogar der Schlüssel, wie wir die Sklaven ohne Verluste hier raus bekommen könnten. Doch bevor ich nicht diese Schmerzen los war – und zwar auch ohne diese Schmerzmittel – konnte ich meine Konzentration für meine Tarnung nicht aufs Spiel setzen, indem ich unbemerkt in den Köpfen dieser drei Telepathen herumschnüffelte. Aber womöglich konnte ich Jodie darum bitten. Sie war nicht durch den Mix von Schmerzen und Medikamente geschwächt, wie ich.
Unglücklicherweise würde ich Jodie aber erst wieder am Abend sehen können. Sklaven bekamen hier kein Mittagessen, weil sie den ganzen Tag hindurch arbeiten mussten, vom Frühstück bis zum Abendessen. Solange würde ich zusammen mit Sammy in den Treibhäusern der Stadt arbeiten. Wenigstens musste ich dafür nicht allzu viel hin und her laufen, denn ohne einen Gehstock, den mir Pavati besorgte, konnte ich kaum sicher mit meinem Bein, das wieder richtig taub wurde, auftreten.
Während des Frühstücks fiel mir auch endlich ein, welche Herkunft sie hatte, die sie so besonders aussehen ließ. Früher, vor der Apokalypse, als die Welt noch in Länder aufgeteilt war, gab es auf der anderen Seite des Planeten ein Land, das man Indien nannte. Soweit ich aus den Erinnerungen meiner Vorfahren wusste, sahen die dort Einheimischen genauso wie Pavati aus. Dichtes schwarzes Haar, und eine dunkle, nicht richtig schwarze Hautfarbe.
Als ich zusammen mit Sammy zurück über die Brücken in die Stadt ging, bereitete ich mich darauf vor, alles in der Stadt von meinen Augen erblicken und meinen Ohren hören zu lassen, damit wir in unserem Plan endlich voran kamen. Derselbe Wachmann ließ uns durch die untere Stahltür, der uns auch schon gestern hindurch gelassen hatte. Mittlerweile schien er mich sogar schon zu kennen, denn er grüßte mich mit meinem Namen. Ich fragte Sammy, ob dieser Wachmann auch ein Sklave war, da ich mir sonst nicht vorstellen konnte, warum er so freundlich wirkte. Das war er nicht, meinte Sammy, er war nur ein einfacher Mann, der weder Sklave noch Besitzer eines Sklaven war. Denn die Bewohner dieser Stadt waren nicht nur in diese beiden Kategorien einzuteilen. Es gab auch normale Menschen, die es bisher verhindern konnten, zu Sklaven gemacht zu werden, oder es sich nicht leisten konnten, sich einen Sklaven zuzulegen. Das stellte ein Problem für Dads Plan dar. Was sollten wir mit den neutralen Bewohnern machen, wenn wir die Sklaven befreien und die Besitzer strafen? Sogleich kamen mir noch andere Fragen in den Sinn. Zählten denn Kinder wirklich auch zu den Besitzern? Was sollten wir mit ihnen machen? Und war es wirklich in Ordnung ihnen ihre Eltern zu nehmen, weil sie sich Sklaven hielten? Auf der einen Seite verdienten die sklavenbesitzenden Eltern es wohl nicht anders. Doch auf der anderen Seite würden wir die Kinder dann zu Waisen machen. Und würden diese Kinder sich dann nicht sogar irgendwann an uns rächen wollen, wenn wir ihre Eltern auf den Gewissen hatten? So würde es mir jedenfalls ergehen, wenn mir jemand meine Eltern nahm. Bevor wir etwas unternehmen, müssen wir uns eine Lösung für dieses Problem überlegen.
Um zu den Treibhäusern der Stadt zu gelangen, müssen Sammy und ich durch die Stadt zur Südseite, und noch über einige Brücken durch die Ruinenstadt gehen. Auf unserem Weg, gleich als wir aus der unteren Stahltür traten, war ein Gebäude, an dem wir wohl auch schon gestern vorbei gekommen waren, mir aber nicht richtig aufgefallen ist. Sammy erklärte mir, was es damit auf sich hatte. Es war nämlich kein Wohnhaus wie die meisten anderen Häuser im Kern der Stadt. Es war eine Arena, meinte er. Und als ich nachfragte, was für eine Arena das war, antwortete er, dort würden Kämpfe gegen Zombies stattfinden. Daraufhin blieb ich schockiert auf der Stelle stehen. Sie kämpfen hier gegen Zombies? Zu einem Unterhaltungszweck etwa? Das war das mit Abstand das groteskeste, das ich je gehört habe.
Die normalen Bürger der Stadt, die weder Sklave noch Besitzer waren, konnten dort kämpfen wenn sie wollten. Sie bekommen eine Waffe ihrer Wahl, werden je nach Wahl zusammen mit einem oder mehreren Zombies, in einen Käfig gesperrt und mussten die Zombies ausschalten, bevor sie sie infizierten und der Herausforderer selbst zu einem Zombie wird. Oder ein Sklavenbesitzer schickt einen seiner Sklaven in den Ring. Nur dass dieser dann keine Waffen mit in den Käfig nehmen dürfen. Sie sind ganz auf ihre eigenen zwei Hände angewiesen, und müssen so versuchen dem Zombie das Genick zu brechen, oder mit dem Fuß den Kopfeinzuschlagen. Schon viele Sklaven wurden auf diese Weise zu Zombies, weshalb die meisten Sklavenhalter ihre Sklaven entweder darauf trainieren lassen, oder sie gar nicht erst in den Ring schicken, damit sie ihre Arbeitskraft nicht verlieren. Allerdings konnte so ein riskanter Einsatz des Lebens eines Sklaven durchaus lohnenswert für seinen Besitzer sein, denn so konnte er jede Menge an Wetteinsätzen einstreichen, wenn sein Sklave gegen den Zombie gewinnt.
Nichtsdestotrotz, meinte Sammy, musste ich mir bei unseren Besitzer, James keine Sorgen machen. Er würde meine Arbeitskraft vorerst nicht aufs Spiel setzen. Es sei denn ich würde ihn mit meiner Arbeit nicht zufriedenstellen. Doch als Sammy mir das erzählte, merkte ich, dass da noch etwas war.
„Aber…?“, sagte ich, um ihn zum Reden zu bringen.
„Na ja…“, druckste er herum, „wenn du mich fragst, sieht das bei deiner Schwester anders aus.“
Meine Schwester? Ach ja, meine Schwester. Jodie hatte uns ja als Schwestern ausgegeben, als sie unsere angebliche Geschichte erzählt hatte. Beinahe hätte ich uns mit meiner Reaktion noch verraten. Wobei das bestimmt halb so schlimm gewesen wäre, würden die Telepathen durch Umwege erfahren, dass wir gar keine richtigen Schwestern waren.
„Was meinst du?“, fragte ich. „Wieso soll das bei ihr anders aussehen?“
„Na ja, ich schätze der Grund warum James gestern erst sehen wollte, wie ihr gegen die Zombies ankommt, bevor wir euch helfen durften, ist, dass er immer wieder auf der Suche nach Sklaven ist, die er in die Arena schicken kann. Er wollte sehen, ob ihr was drauf habt. Und Jodie ihm das gezeigt, wonach er gesucht hat.“
„Du meinst also, er schickt sie in einen Käfig mit Zombies? Und das ohne Waffen?“, wollte ich wissen.
„Kann gut sein.“, antwortete Sammy entschuldigend.
Probleme über Probleme. Zuerst die Lücken im Wissen der Telepathen, die die Stadt führen, dann der Zwiespalt, was wir mit den Sklavenhaltern machen sollen, die Kinder haben, die ja wohl größten Teils unschuldig sein dürften, und jetzt auch noch die Sache mit dieser Zombie-Kampf-Arena. Ich brauchte mir keine Sorgen zu machen, dass Jodie infiziert werden könnte. Mit einem oder zwei Zombies konnte sie auch ohne Waffen gut fertig werden. Aber wenn es mehr werden, würde sie gezwungen sein sich die Zombies mit ihrer Telepathie vom Hals zu halten. Und damit wäre unsere Tarnung aufgeflogen. Denn wenn wir die Gedanken anderer lesen, war es uns noch möglich unsere Fähigkeiten zu verbergen. Aber wenn wir damit gegen Zombies kämpfen sollten, war das schon wieder eine Sache der Unmöglichkeit. Denn dafür würde Telepathie nicht reichen. Bei Zombies war damit nichts zu erreichen, weil sie keinerlei logisches Denken besaßen. Sie werden nur vom Hunger getrieben. Um mit unseren Fähigkeiten gegen Zombies anzukommen, würden wir auf unsere Telekinese zurückgreifen müssen, mit der wir die Zombies von innen heraus zerplatzen lassen können. Ich hab das aber noch nie gemacht. Und Jodie glaube ich auch nicht. Rein theoretisch wussten wir, wie es funktioniert. Aber praktisch hatten wir noch nicht das Vergnügen, es auszuprobieren. Im Nachhinein wäre es mal gut gewesen, wenn Dad uns das beigebracht hätte. Wobei ich auch nicht sicher weiß, ob er das auch wirklich kann. Ich weiß nur, dass er diese Art des Kampfes einmal ausprobiert hatte. Es mochte auch einfach nur Zufall gewesen sein.
Irgendwie hatte ich mir diese Mission anders vorgestellt. Gut, ich wusste, dass sich die Sache länger hinziehen konnte, da es sich hier um so viele Sklaven und noch viel mehr Sklavenhalter handelte. Aber ich hätte nur damit gerechnet, dass wir uns die Stadt ein wenig von innen ansehen brauchten, und dann auf den richtigen Zeitpunkt warten, bis wir den Sturm auf die Stadt einleiten können. Doch offensichtlich war dem nicht so. Ob hier wohl noch weitere Probleme auf uns warteten? Jedenfalls hatte ich heute mit Jodie noch jede Menge zu besprechen.
Als wir an einer Gasse zwischen zwei Gebäuden vorbei kamen, zeigte Sammy darauf, und erklärte mir, dass sich dort der Hauptmarkt befand. Später würden wir auch dort hingehen. Aber zunächst müssen wir erst einmal die heutige Ernte in den Treibhäusern einsammeln, sodass wir etwas zu verkaufen haben. Denn das war unsere eigentliche Aufgabe. Neben der Pflege der Gemüse Anbauten, sollten wir die Ernte auch noch auf dem Markt verkaufen, und die Einnahmen ausnahmslos bei James abliefern. Damit verdiente James sein Geld.
Geld… Ich war gespannt wie das Geld hier aussah. Zu Hause hatten wir ja nun keines, da jeder für jeden arbeitete, zum Wohle der Kolonie und eines jeden Bewohners. Mit der Tatsache, dass hier Geld, oder irgendein anderes Zahlungsmittel, das Leben der Stadtbewohner beherrschte, konnte man sofort erkennen, was das hier für eine Stadt war. Hier zählte nur das Wohl des einen – vielleicht noch das der Familie oder Freunde, aber da hörte es dann auch schon auf. Es sei denn, sie hatte hier nur aus sentimentalen Gründen Geld, um sich der Vergangenheit vor der Apokalypse verbunden zu fühlen. Aber das schien mir dann doch weniger der Fall zu sein, in Anbetracht der Umstände, dass man hier Sklaven besaß.
Wie dem auch sei. Sammy führte mich über die Straße, über deren erstklassigen Zustand ich nur immer wieder staunen konnte, zur Südseite der Stadt, wo wir wieder erst durch eine Stahltür am Eingang des Gebäudes durchschritten, und dann wieder eine zweite Stahltür, am oberen Ausgang. Wieder gingen wir über mehrere Brücken durch die Ruinenstadt. Nur diesmal glichen die Brücken eher einem Labyrinth, als einer relativ geraden Strecke, wie die, die zu den Quartieren der Sklaven führten. Eine Weile verlief unser Weg in den Osten der Ruinenstadt, sodass ich beinahe befürchtete, dass wir in die Nähe der alten Feuerwache kamen, in der Dad und die anderen stationiert waren. Doch dann ging es wieder weiter gen Süden. Ab und zu torkelten vereinzelt Zombies unter uns hinweg, die uns erst bemerkten, als wir schon wieder weg waren.
Die Treibhäuser erstreckten sich über einen ganzen Häuserblock. Alles Mögliche wurde angebaut. Sogar Getreide hatte sie im Innern der Häuser zum Wachsen gebracht. Sammy erzählte mir, dass eines der Gebäude, in denen angebaut wurde, James ganz alleine gehörte. Es war zwar das kleinste, im Vergleich zu den anderen, aber dafür teilten sich die Besitzer die anderen Gebäude. Jeder von ihnen hatte ein oder mehrere Etagen zur Verfügung, wo sie anbauen konnten, was ihnen von den drei telepathischen Brüdern erlaubt wurde.
James baute – oder besser gesagt ließ er von seinen Sklaven alle Arten von Gemüse anbauen. Sammy und ich ernteten zu zweit ganze Körbe von Tomaten, Gurken, verschieden Sorten von Salaten, Paprikas und vieles mehr. Es dauerte beinahe den halben Vormittag, bis wir so viel zusammen getragen haben, dass wir es in die Stadt tragen konnten und auf dem Markt zum Verkauf boten. Allein hätte Sammy bis in den Nachmittag gebraucht, erzählte er mir, weil James vor einigen Tagen die beiden, die ihm dabei geholfen hätten, woanders eingesetzt hatte. Sammy vermutete, dass James sich ärger mit den drei Brüdern eingehandelt hat, weil jetzt seine älteste Schwester Nancy und Kirk, der dabei war, als Jodie und ich in die Stadt kamen, für die Brüder arbeiteten.
Jeden der Körbe mussten wir einzeln zum Markt tragen, weil sie so groß waren. Sammy konnte zwei auf einmal tragen. Ich konnte wegen meines verletzten Beins nur einen tragen. Und auch nur, weil man sie auf den Rücken schnallen konnte. Der Markt war voll und geschäftig, als wir mit der ersten Ladung dort eintrudelten. Weil der Stand, an dem wir die Waren verkaufen sollten, ohne uns nicht besetzt war, wies Sammy mich an, hier aufzupassen, während er die restlichen Körbe hier her trug. Bevor ich in die Stadt kam, war er darauf angewiesen, dass einer der Besetzer der anderen Stände auf die Waren aufpasste. Aber ihm war klar, dass er sich nicht hundertprozentig darauf verlassen konnte. Jedes Mal fehlte etwas vom Gemüse. Doch bisher hatte er die Verluste in Kauf nehmen müssen. Auch wenn dies bedeutete, dass es ihm Ärger mit James einhandelte. Sammy zeigte mir die Narben an seinem Rücken, die er deswegen schon kassiert hatte. Er ging wieder um die nächsten Körbe zu holen, und ließ mich dabei erstaunt zurück. Sammy war etwas Besonderes. Anders konnte ich es einfach nicht beschreiben. Aber es dürfte auch nicht sehr gesund sein, wenn er das, was ihm hier zustieß, immer nur verdrängt und runterschluckt. Trotzdem war es irgendwie bewundernswert, dass er immer weitermachte so gut es ging. Lange würde er jedenfalls nicht mehr durchhalten müssen. Ich würde ihn schon hier rausbringen, wie die anderen Sklaven auch.
Ich räumte das Gemüse aus den Körben in die Auslage des Standes, während ich auf Kundschaft wartete. Sammy hatte mir erklärt, welche Preise wir für was verlangten und dass ich das Geld in einer Schublade unter der Auslage aufbewahren sollte. Ich sah hinein, als Sammy wieder aufbrach. Das Geld war nichts weiter als kleine metallische Scheiben, in denen Zahlen eingestanzt waren. Ich vermutete, dass sie die irgendwo selbst herstellten. Demnach musste es irgendwo auch so etwas wie eine Schmiede geben. Dort konnten sie natürlich auch primitive Munition herstellen, womit sie die Waffen, die einige Wachleute mit sich herumtrugen, fütterten. Aber es konnte natürlich aus so sein, dass sie eine weit fortgeschrittener Produktion vorweisen konnten. Immerhin passte nicht jede Munitionsart in solche Waffen.
Im Laufe des Tages war viel los – jedenfalls für meine Verhältnisse. Eine Kunde nach dem anderen kam an den Stand und wollte dieses und jenes, und dann sollte ich auch noch die Beträge ausrechnen und sofort das Wechselgeld rausgeben. So etwas hatte ich noch nie getan, weshalb es mir schwer fiel und ich womöglich etwas langsam war. Das passte den ausschließlich hektischen Kunden natürlich nicht in den Kram. Sie wurden unhöflich und als einer von ihnen auch noch grob wurde, weil ich ihm nicht genug Wechselgeld zurückgegeben hatte, tauchte zum Glück Sammy wieder auf.
„Willst du mich veraschen, Marco?“, warf er ihm an den Kopf. „Der Betrag ist absolut korrekt. Wenn sich hier jemand verzählt hat, warst das ja wohl du – natürlich unabsichtlich, nicht wahr?“, sagte Sammy und sah den Mann durchdringend an, woraufhin dieser sich dann zurückzog.
Sobald wir die restlichen Kunden bedient hatten, die bereits eine Schlange gebildet hatten, und wir wieder eine kurze Pause hatten, sagte Sammy, „Lass dich nicht von den Leuten hier unterkriegen. Sie hacken erst mal nur auf dir rum, weil du neu bist, und sie sich ein paar Geldstücke erschleichen wollen. Das versuchen sie immer.“
„Und das ändert sich irgendwann?“, fragte ich sarkastisch. Ich bin hier nichts weiter als ein Sklave. Nichts dem man Respekt entgegenbringen musste.
Sammy überlegte ernsthaft kurz, musste mir aber dann Recht geben. „Wohl nicht ganz, da hast du recht. Aber es bessert sich etwas – jedenfalls bei ein paar Leuten hier.“
Entspannt konnte man die Arbeit auf dem Markt eigentlich nicht nennen. Müssen wir keine Kunden bedienen, die immer Hektik verbreiteten, mussten wir darauf aufpassen, dass keine Langfinger sich an unseren Waren vergriffen ohne dafür zu löhnen. Ich bemerkte schnell, dass nicht nur die Sklaven hier Probleme hatten. Auch diejenigen, die keine Besitzer von gratis Arbeitskräften waren, hatten meist Probleme mit Armut, weshalb sie zu unlauteren Mitteln greifen mussten, um sich und ihre Familien zu ernähren. Daher gab es auch so viele bewaffnete Wachleute auf dem Markt, die auch der Grund war, dass die Diebe sich nur an den Ständen vergriffen, die von Sklaven geführt wurden. Denn oft hatten die Sklaven das größere Verständnis für die Lage der Ärmsten der Stadt hatten. Doch es gab auch solche, die die Langfinger sofort an die Wachleute auslieferten, um sich vor der folgenden Wut ihrer Besitzer zu schützen, die aufkam, wenn sie Verluste verzeichneten. Was mit den Erwischten gemacht wurde, wollte mir Sammy gar nicht erst erzählen. Ich konnte nur Vermutungen anstellen, weil ich noch nicht bereit war zu riskieren die Gedanken anderer zu lesen. Gestern Nacht, als ich einem der Brüder unverhofft begegnet war, als er vor unserem Zimmer auf dem Flur war, war etwas anderes. Das Medikament hatte nachgelassen, aber die Schmerzen waren noch nicht wieder so stark, dass es mir nicht schwer fiel mich zu konzentrieren.
Als wir doch mal gerade nichts zu tun hatten, weil es gerade ruhig war, fragte ich Sammy, ob er etwas über die Geschichte der Stadt wusste.
„Nein.“, sagte er. „Die wenigsten wissen wie es mit der Stadt angefangen hat. Alles was ich weiß ist, dass sich am Anfang eine Gruppe zusammen gefunden hat, die dieses Gebiet so abgesperrt hat, wie es heute ist, und die Idee mit den Brücken hatte.“
„Sind Sireno und seine Brüder vielleicht nachkommen von jemanden aus dieser Gruppe?“, wollte ich wissen.
„Ist anzunehmen.“, meinte Sammy. „Immerhin kann man nicht einfach so Sklavenbesitzer werden.“
„Na ja, die drei konnten sich das mit ihren Fähigkeiten erschlichen haben.“, überlegte ich mehr für mich als für Sammy.
„Das glaube ich nicht. Ich habe gehört, dass schon ihre Großeltern Sklaven hatten.“
„Und die konnten keine Gedanken lesen.“
„Nicht das ich wüsste.“, sagte er und zuckte mit den Schultern.
„Hast du eine Ahnung, ob es jemanden gibt, der mehr über die Geschichte der Stadt weiß?“, fragte ich, nach einem Moment des Schweigens.
Als Sammy nichts darauf sagte, sah ich ihn an und entdeckte, dass auch er mich ansah, misstrauisch. Bin ich zu weit gegangen? Habe ich zu viel verraten? Würden seine Gedanken mich bei den Brüdern womöglich verraten?
„Was ist?“, fragte ich trügerisch unschuldig. „Kennst du niemanden?“, fragte ich vorsichtig, als er immer noch nichts sagte.
„Ivy, ich weiß nicht was du zu erfahren hoffst“, sagte er eindringlich, aber leise genug, dass uns niemand belauschen konnte, „aber ich kann dir gleich sagen, dass eine Flucht unmöglich ist. Und falls du es doch irgendwie schaffen solltest hier raus zu kommen, kannst du dir sicher sein, dass sie dich aufspüren. Wenn nicht mit dem Armband an deinem Armgelenk, dann finden dich Sireno und seine Brüder.“
„Gab es schon mal solche Fluchtversuche?“, fragte ich.
„Natürlich, was denkst du denn? Der Großteil der Neuen wagt einen Versuch. Und weißt du wie viele es geschafft haben? Kein einziger.“
„Hm.“, überlegte ich.
„Hm? Nein, Ivy, nicht hm. Vertrau mir, es wurde schon alles versucht.“, versuchte er mich zu überzeugen. Es schien ihm durchaus erst zu sein. Aber eine Flucht war doch immerhin das, wofür ich gekommen bin. Außerdem hatte ich einen Vorteil, den meine Vorgänger, die auf dem Gebiet der Flucht gescheitert waren. Ich bin, wie die Brüder, ein Telepath, nicht der einzige hier drinnen, und es gab noch einen der draußen auf uns wartete. Zudem würde es mich dann doch wundern, wenn die Brüder auch noch über telekinetische Fähigkeiten verfügten. Trotzdem wäre es bestimmt nicht von Nachteil, wenn ich wüsste, wie es meine Vorgänger anstellen wollten zu fliehen. Aber Sammy würde mir bestimmt nichts verraten. Das konnte ich an seinem Gesichtsausdruck erkennen. Also muss ich mir jemand anderen suchen, der mehr darüber wusste, und zwar am besten ohne Sammys Wissen.
Der Tag zog sich nach unserem Gespräch nur so dahin. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Was womöglich an der Art lag, wie wir miteinander verblieben sind. Ich konnte spüren, dass Sammy sich darum sorgte, dass ich von meiner Idee der Flucht noch nicht abgelassen habe. Immer wieder blickte er mich durchbohrend an. Als ich seinen Blicken entgehen wollte, und dabei in die andere Richtung sah, stockte mir plötzlich der Atem. Noch bevor ich irgendwie realisierte, was ich da sah, brach panischer Schweiß auf meiner Stirn aus. Träumte ich etwa? Oder stand dort drüben, uns gegenüber, bei dem Stand, der Fleischwaren verkaufte, wirklich Declan? Declan, dem ich vor vier Jahren nach dem Leben trachtete? Nein, das war unmöglich. Wie groß war denn schon die Wahrscheinlichkeit, dass ich diesem widerlichen Kerl nach vier Jahren, bei meiner zweiten Mission als Sklavenbefreier, in einer Sklavenhalterstadt begegnete? Durch eine Kurzschlussreaktion, als der Kerl, der wirklich Declan zu sein schien, sich umdrehte, versteckte ich mich hinter unserem Verkaufsstand.
„Was ist los?“, fragte mich Sammy. „Dein Bein?“


16


„Ivy!“, rief mir Sammy hinterher, als ich ohne weitere Vorwarnung aufsprang und rennend unseren Verkaufsstand verließ. Aber ich ignorierte ihn und lief weiter durch eine der Gassen, die die einzigen Ausgänge des Marktes waren. Doch weiter als bis zur Straße, über die ich schon an meinem ersten Tag gewandert war, kam ich nicht. Zwei Wachleute versperrten mir den Weg. Ein Mann und eine Frau. Der Mann hatte langes schwarzes Haar, das er zusammengebunden hatte. Und er richtete seine Waffe auf mich, genau wie die Frau, die blond war und eine Brille mit einem dunklen Gestell aufhatte.
„Stehen bleiben!“, schrie mich die Frau an und beide luden ihre Waffe durch. Daraufhin blieb mir nichts anderes übrig, als zu tun, was sie sagte. An ihnen kam ich ohnehin nicht so einfach vorbei. „Keinen Schritt weiter.“
„Die meisten warten wenigstens bis es dunkel ist, um einen Fluchtversuch zu unternehmen.“, sagte der Mann mit einem grausamen und verschmitzten Grinsen.
„Offenbar werden die Sklaven von Jahr zu Jahr immer dümmer.“, urteilte die Frau.
„Hey!“, reif Sammy hinter mir. „Nicht schießen, ja?“ Er hatte die Hände erhoben. „Das ist ein Missverständnis, klar? Sie wollte nicht weglaufen. Sie hat versucht einen Dieb zu schnappen – jedenfalls bis ihr sie aufgehalten habt und er wohl entkommen ist.“, sagte er sehr überzeugend.
„Ach ja? Und warum ist dann an uns niemand vorbeigekommen?“, forderte der Mann ihn heraus.
„Na gut.“, gab Sammy zu, „Dann seit nicht ihr daran schuld, dass der Kerl entkommen ist. Dann hat sie die Spur eben schon vorher verloren. Das werdet ihr uns doch nicht übel nehmen, oder?“ Er konnte einen mit seinem Charme wirklich verzaubern.
Der Mann legte sein Gewehr über die Schulter und trat an mir vorbei und an Sammy näher heran. Die Arroganz, die er jetzt an den Tag legte, konnte ich förmlich riechen. Langsam drehte ich mich zu ihnen um, um zu beobachten, was sich zwischen den beiden abspielt. Ich versuchte keine schnellen Bewegungen zu unternehmen, da die Frau noch immer ihr Gewehr im Anschlag hielt. Der Mann zückte ein Messer aus seinem Gürtel und legte es an Sammys Hals an.
„Du sagst mir nicht, was ich zu tun oder zu lassen habe.“, sagte der Mann mit bedrohlich wirkender Stimme. „Ist das klar? Du Wurm.“ Wurm, war nicht gerade das, was zu Sammy passte. Im Vergleich zu ihm, war eher der Mann mit dem Messer der Wurm von beiden. Er war nicht sonderlich groß, und war auch nicht in bester Form. Ich würde glatt sagen, dass er aussah wie eine Wurst.
„Ist klar, Mann.“, sagte Sammy auf das Messer starrend. „Vollkommen klar.“
Für einen Moment rührte sich der Mann mit dem Messer nicht von Sammys Hals weg, sodass ich schon fast eingreifen wollte. Aber dann steckte er das Messer doch wieder ein und tätschelte spielerisch Sammys Wange.
„Du hast glück, dass ich heute gut drauf bin, kleiner.“, sagte er und wandte sich dann an mich, „Und du genauso. Du kannst von Glück sprechen, dass wir dich nicht zuerst erschossen haben, und dann die Fragen gestellt hätten.“
„Du bist zu gut, Virgil.“, scherzte die Frau, steckte ihr Gewehr weg und machte sich wieder auf den Weg.
„Ja, ich weiß.“, sagte der Mann, der offenbar Virgil hieß, und folgte ihr.
Ich sah ihnen überrascht darüber hinterher, dass sie uns so einfach vom Hacken ließen. Dann spürte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter, und fuhr erschrocken herum. Es war Sammy.
„Was sollte das denn eben?“, fragte er mich.
Bei unserer Begegnung mit den beiden Wachleuten, hätte ich beinahe vergessen, warum ich überhaupt in dieser Gasse mit den beiden zusammengestoßen war. Declan war hier in dieser Stadt. Ausgerechnet Declan.
„Ivy?“, fragte er fordernd.
„Ich … ich weiß nicht.“, stammelte ich herum. Meine Gedanken rasten um Declan. Hatte er mich womöglich gesehen, bevor ich entkommen konnte? Das könnte fatal werden. Immerhin musste er doch wissen, was wir hier womöglich wollten. Er musste wissen, was wir waren – oder zumindest was ich bin und ich hier wollen könnte. Wenn er erführe, dass ich hier bin, konnte das unsere ganze Tarnung und die gesamte Mission gefährden und zerstören.
„Na schön, hör zu, vielleicht solltest du dich den Rest des Tages ausruhen. Dein Bein scheint noch nicht so viel auszuhalten. Ich schaff den Rest schon alleine.“
„Okay.“, sagte ich womöglich etwas zu schnell. „Danke.“

Die Nacht war vor Stunden eingebrochen, und nach meinem Gefühl musste es nach Mitternacht sein. In unserem Zimmer schliefen alle, als ich mich hinausgeschlichen hatte, nachdem ich Jodie geweckt hatte. Den restlichen Tag hatte ich in dem kleinen Zimmer verbracht, in dem wir schlafen sollten. Außer mir war niemand im ganzen Gebäude. Und zum Abendessen hatte ich mich klammheimlich reingeschlichen, immer auf der Hut Declan noch einmal zu begegnen. Aber er blieb außer Sicht. Sammy ging ich auch aus dem Weg.
Jetzt wartete ich auf dem Dach unseres Wohngebäudes, und wartete darauf, dass ich den Tag mit Jodie besprechen konnte. Und es gab jede Menge zu besprechen. Die Telepathen wussten nicht was in ihrer Stadt vor sich ging, Jodie lief Gefahr in einem Käfig gegen Zombies kämpfen zu müssen, und Declan, der uns auffliegen lassen konnte, befand sich ausgerechnet in dieser verdammten Stadt. Dad musste auch schon Wind davon bekommen haben. Er versuchte schon die ganze Zeit Kontakt zu mir aufzunehmen. Aber ich blockte ihn nur ab.
Die Tür zum Dach ging auf und ich drehte mich um. Es war Jodie.
„Und? Wie war dein Tag?“, fragte sie, „Ich hab dich seit dem Frühstück nicht mehr gesehen.“
„Ereignisreich.“, teilte ich ihr mit. Ich erzählte ihr von meinem Verdacht, dass die drei telepathischen Brüder gar nicht wussten, was in ihrer Stadt eigentlich vorging, weil die Sklaven sich von den Materialien, die ihnen eigentlich verboten waren, ganz einfach bedienen konnten.
„Vielleicht interessiert es sich ganz einfach nicht.“, überlegte Jodie. „Vielleicht sind sie nicht von der Sorte, die ihre Sklaven übermäßig quälen. Dennoch sollten wir das im Auge behalten, wenn du mich fragst.“
„Da gibt es noch was.“, sagte ich ihr. „Hast du schon von der Zombie-Kampf-Arena hier gehört? Sammy meint, dass James dich womöglich in diese Arena schicken wird, um waffenlos gegen Zombies anzutreten, damit die Besitzer und Zuschauer auf den Ausgang des Kampfes wetten können.“
„Wie kommt er darauf?“, fragte sie.
„Er meinte, dass James schon immer scharf auf einen Sklaven war, der sich waffenlos gegen Zombies wehren kann. Deshalb hat er uns zuerst beobachtet, bevor er uns gerettet hat.“
Jodie seufzte und überlegte erst einmal. Nach einer ganzen Weile des Schweigens, beschloss ich noch meinen letzten Punkt zu äußern, bevor uns noch jemand unterbrechen konnte.
„Da gibt es noch eine Sache, die ich herausgefunden habe. Und zwar könnte das unsere ganze Mission zunichtemachen.“
„Du meinst außer, dass sie mich in eine Arena stecken wollen, wo ich gegen Zombies ums Überleben kämpfen muss? Da bin ich ja mal gespannt.“ Sie wirkte etwas gereizt. Aber das wäre ich vermutlich auch, wenn ich das erfahren hätte, was ich ihr gerade berichtet habe.
„Du erinnerst dich doch noch an meine erste Mission als Sklavenbefreier vor vier Jahren. Damals wurde ich doch von jemanden angeschossen, der dann geflohen ist.“
„Und der ist hier?“, fragte sie entsetzt. „Soll das ein Scherz sein? Bist du dir sicher?“
„Ja.“, nickte ich. „Ich hab ihn heute auf dem Markt gesehen. Aber ich glaube, er hat mich nicht entdeckt. Ich bin gleich verschwunden.“
„Probleme über Probleme.“, sagte Jodie vor sich hin. „Ich den ganzen Tag heute versucht herauszufinden, wie diese Armbänder funktionieren. Aber denkst du, irgendjemand, dem ich begegnet bin, hatte irgendwelche Informationen zu diesen Plastikdingern. Nicht mal telepathisch bin ich weitergekommen. Ich vermute dass die drei Brüder irgendwas miteinander zu tun haben. Wie, kann ich mir allerdings auch nicht vorstellen.“ Jodie überlegte still vor sich hin. „Du musst auf jeden Fall vorsichtig sein, Ivy, wenn dieser Kerl wirklich hier ist und dich erkennen kann.“ Als ob ich das nicht wüsste.
Wir hatten uns überlegt, ob Jodie nicht irgendwie die Kranke spielen könne, um dem möglichen Einsatz in der Zombie-Kampf-Arena zu entgehen, was wir aber gleich wieder verwarfen. Wer wusste schon so genau, was sie dann mit ihr anstellen würden. Vermutlich würden sie sie trotzdem in diesen Käfig stecken. Damit wäre ihr also auch nicht geholfen. Jodie sah die einzige Möglichkeit darin, diesem Schicksal zu entgehen, indem sie bei ihrer Arbeit bei der Kleiderherstellung unabkömmlich war. Im Großen und Ganzen bestand die Arbeit nur aus dem zusammenflicken und –nähen von alten und ramponierten Kleidern, erzählte sie mir. Das könne wirklich jeder ganz schnell erlernen. Demnach würde sie dort leicht zu ersetzen. Wir überlegten noch bis spät in die Nach hinein, was wir dafür tun könnten, dass James Jodie nicht in diese grausame Arena schickte. Aber uns wollte partout nichts einfallen. Wir verbleiben also dabei, dass ich immer ein Auge offen hielt um Declan weiträumig aus dem Weg zu gehen, und Jodie vor James den Kopf einzog. Wenn das nicht funktionierte, blieb ihr nichts anderes übrig als doch zu kämpfen. Was sie ja eigentlich drauf hatte. Aber wenn es mehr als drei oder vier Zombies waren, die auf sie losgelassen wurden, würde sie Schwierigkeiten bekommen. Aufgrund dessen, wollte Jodie Dad in aller Ruhe zu Rate ziehen. Da bat ich sie gleich um einen gefallen. Ich schob meine schmerzende Verletzung vor, sodass sie Dad sagen sollte, dass er mich in den nächsten Tagen nicht kontaktieren solle, weil ich mich nicht im Stande sah, mich auch noch darauf zu konzentrieren. Ein bisschen entsprach das auch der Wahrheit. Aber eigentlich wollte ich nur verhindern, dass er mich noch einmal einbläute, dass ich vorsichtig sein solle. Das wusste ich ja immerhin schon zur Genüge.
Wir gingen also wieder ins Bett, nur um bei Sonnenaufgang wieder aus unseren Träumen gerissen zu werden, um den Tag zu beginnen. Hatten Sammy und ich uns gestern noch Zeit beim Frühstück gelassen, hetzte er mich heute Morgen. Auf meine Frage, ob meine frühes Verschwinden von Gestern der Grund dafür war, versicherte er mir, dass es nicht so sein. Er musste nur alle paar Tage etwas früher als sonst anfangen zu arbeiten, damit er sich neben dem Verkauf auch um die Pflege der Ernte kümmern könne. In Zukunft können wir uns das teilen, meine er. Einer kann beim Verkauf tätig sein, und der andere konnte sich ausreichend um die Gewächse kümmern, damit wir eine ertragreiche Ernte bekamen. Nur die nächste Zeit über, würde das noch nicht klappen, weil er, wenn er mir das Wichtigste beibrachte, ja sicher gehen musste, dass ich auch alles richtig mache. Nicht, dass wir noch Ärger von James bekamen. Denn James, so sagte Sammy mir, konnte zwar recht umgänglich sein, wenn man seine Arbeit richtig erledigte, aber wenn man einen Fehler machte, würde er schnell handgreiflich werden. Ich erinnerte mich an Gestern, als Sammy mir seine Narben am Rücken zeigte. James hatte ihn mit einer Rute, oder ähnlichem, ausgepeitscht.
Schnell stellte Sammy fest, dass ich nicht ganz ahnungslos war, wenn es um die Pflege von Pflanzen ging. Ich selbst war am meisten erstaunt, dass doch so viel, von meiner verletzten Zeit, die ich zu Hause damit verbringen sollte, mich an Freds Fersen zu heften, und ihm zur Hand zu gehen, hängengeblieben ist. Eigentlich empfand ich mich immer als Last für Fred. Aber offenbar hatte er mich nicht angelogen, als er immer wieder sagte, dass ich ihm eine gute Hilfe war. Mir fiel immer wieder auf, dass er niemals große Hilfe sagte. Doch damit hatte er schon Recht gehabt. Eine große Hilfe war ich wirklich nicht gewesen. Oft genug, starrte ich nur Löcher in die Luft und sehnte mich danach wieder vor die Mauer zu dürfen, damit ich mich nicht mehr so eingesperrt fühlte.
Die Schmerzen meines Beines waren mittlerweile soweit eingedämmt, dass ich schon wieder wagte ohne Gehstock zu laufen. Natürlich tat es noch höllisch weh, und ich war nur im Schneckentempo unterwegs, aber so konnte ich wenigstens zwei Körbe tragen, sodass ich Sammy einen Weg zurück ersparte, bei dem er den letzten Korb zum Markt schleppen musste, während ich wieder am Stand nach dem Rechten sah. Gegen Mitte des Tages kamen die beiden Wachleute an unseren Stand, mit denen ich gestern zusammen gestoßen war, und bedienten sich an einer Gurke, von der die Frau abbiss und sie wieder zurück legte. Natürlich tat sie das ohne zu bezahlen. Der Verlust war halb so schlimm, meinte Sammy. James achtete nicht so genau auf die Einnahmen, wie die anderen Besitzer. Vermutlich, weil er in so vielen verschiedenen Geschäften seine Finger mit im Spiel hatte. Aber nochmal sollte das nicht passieren. Vor allem jetzt nicht, wo er Zwist mit den Brüdern hatte, was ihn meistens in eine schlechte Laune versetzte.
„Was ist das denn für ein Streit, den er mit den Brüdern hat?“, fragte ich Sammy.
Er überlegte kurz. „Ich glaube angefangen hat das mit Imani. Ich hab dir ja erzählt, dass sie seine Tochter ist – oder war. Ira, der jüngste der drei, wollte sie für seine Bettgeschichten haben. Aber sie hat ihn immer abblitzen lassen. Also ging er zu James, und bot ihm ein nettes Sümmchen, damit er sie an ihm verkauft.“
„Und er hat sie einfach so verkauft?“, fragte ich entsetzt.
„Nein, nicht einfach so. So skrupellos die meisten Besitzer – oder alle hier sind, was ihre Sklaven angeht, passen sie doch besser auf ihre eigenen Familien auf. Ich schätze James blieb nichts anderes übrig. Ira hat ihm das Leben schwer gemacht und ihn in den Ruin getrieben, bis James schließlich weder Besitz hatte, noch Sklaven, die er verkaufen konnte, um sich und seine beiden Töchter zu ernähren. Er sah wohl keinen anderen Ausweg, als ihm Imani doch noch zu überlassen, damit er sich wenigstens noch um seine andere Tochter Ruby kümmern konnte.“
„Trotzdem.“, sagte ich. „Er hätte seine Tochter nicht verkaufen sollen. Bestimmt gab es noch einen anderen Weg.“
Sammy zuckte nur mit den Schultern. Er nahm wieder diese Haltung ein, die zeigte, dass ihm alles egal zu sein scheint. Aber ich konnte spüren, dass er es einfach runterschluckte und verdrängte. Sein Kampfwille, war schon vor langer Zeit gebrochen worden. Vermutlich schon als seine Eltern getötet wurden.
Ich dachte noch eine Weile darüber nach, als mir plötzlich etwas auffiel. „Warum hat Ira sich so viel Mühe gegeben James erst Pleite zu machen, damit er Imani bekommt? Warum hat er sie nicht einfach mit dem Wissen bezirzt, dass er aus ihren Gedanken gewinnen konnte, wenn er so scharf auf sie war?“
„Also ich glaube nicht, dass er in Imani verliebt war, oder so. Es ging ihm, wie bei den anderen seiner Sklaven, wahrscheinlich nur um das Gefühl der Macht.“, meinte Sammy. „Das ist bei den meisten so. Er ist einer von der ganz grausamen Sorte. Du kannst von Glück reden, wenn er nicht auch ein Auge auf dich oder deine Schwester wirft.“
„Ach, du glaubst wir sind sein Typ?“, fragte ich Sammy.
„Na ja.“, überlegte er. „Er hat eigentlich zwei Arten von Typ. Einmal die starke Kämpfernatur, und dann die schwache und zerbrechliche Blume.“
Ich sah Sammy an. „Und als was schätzt du mich ein?“, wollte ich wissen.
Er verstand sofort was ich hier tat und grinste. „Das erste von beiden natürlich.“
„Obwohl du mich nicht hast kämpfen sehen?“
„Na ja. Du scheinst ziemlich zäh zu sein, wenn du mit der Wunde da an deinem Bein von eurem Bunker, bis hier her gewandert bist. Das schafft nicht jeder.“
Damit war die kurzzeitige gute Laune für mich verflogen. Irgendwie hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich ihn über meine Herkunft belügen musste. Besonders, weil er so dringend einen Hoffnungsschimmer in seinem Leben gebrauchen könnte. Dann würde er vielleicht nicht mehr alles nur verdrängen, was hier um ihn herum geschah. Aber jetzt konnte ich ihm noch nicht helfen. Er würde noch eine Weile so ausharren müssen, bevor wir die Sklaven hier alle sicher befreien konnten.
Nach einer längeren Schweigepause, sagte Sammy plötzlich zusammenhangslos, „Es geht das Gerücht um, dass Ira jetzt auch scharf auf Ruby ist, und James deshalb verstärkt nach einem Kämpfer für die Arena Ausschau hält.“
„Was hat das eine mit dem anderen zu tun?“, fragte ich nachdem ich den Sinn seiner Aussage entschlüsselt hatte.
„Na ja, wenn er unter Beweis stellen kann, dass er einen guten Kämpfer hat, kann er diesen an Sireno verkaufen, unter der Bedingung, dass Sireno Ruby vor Ira beschützt.“
„Und warum sollte Sireno sich auf so einen Deal einlassen?“, fragte ich. „Er kann James doch, genau wie sein Bruder, erst einmal in den Ruin treiben. Dann kann er ihm den Kämpfer-Sklaven billig abkaufen.“
„Sireno ist da ganz speziell.“, meinte Sammy. „Er liebte gute Arenakämpfe, und ist selbst auch immer auf der Suche nach neuen und guten Kämpfern. Außerdem würgen sich die Brüder ganz gern mal gegenseitig was rein. Es heißt, dass sie das seit ihrer Kindheit immer taten. Ist wohl so ein Brüder Ding. Kann ich mit meinen beiden Schwestern nicht beurteilen.“
Ohne es eigentlich darauf angelegt zu haben, habe ich doch so einiges über die Brüder herausgefunden. Und in mir keimte ein Verdacht. Waren sie wirklich Telepathen? Oder taten sie nur so? Es kam mir nämlich sehr fadenscheinig vor, dass Ira so einen Umweg gegangen ist, um Imani zu seinem Besitz zählen zu können, und dass Sireno sich nicht einfach die Kämpfer gefügig machte, die er wollte. Das alles klang nur wie irgendwelche Ausreden, die sie als Gerüchte in die Menge streuten.
Wobei…? Hatte Jodie nicht selbst gesagt, dass sie Telepathen waren? Und hatte ich mich nicht selbst auch schon bei Ira davon überzeugen können? Warum erschien mir das alles dann so fadenscheinig? Was war hier bloß los? Nicht schien wirklich zusammen zu passen. Es sei denn… Sie sind wirklich Telepathen, wussten aber nicht genau, wozu sie im Stande sein sollten. Vielleicht war es wirklich nur eine Laune der Natur, dass diese drei Brüder gleichzeitig Telepathen sind. Vielleicht wurde an ihnen oder ihren Vorfahren nicht herumexperimentiert, wie Dad und Jodie vermutet haben, damit ihre Nachfahren genauso wurden, wie in unserer Familie. Vielleicht wurden sie mit ihren Fähigkeiten einfach alleine gelassen. Das Gedankenlesen kam bei einem Telepathen mit der Zeit des älter Werdens nämlich ganz von alleine. Andere Fähigkeiten wie das gezielte Manipulieren von Gedanken musste man bewusst trainieren, damit es nicht so willkürlich ausfällt, wie im Säuglings- oder Kindesalter bei uns Telepathen. Ich musste mehr darüber in Erfahrung bringen, womit wir es hier überhaupt zu tun haben. Und ich muss das unbedingt mit Jodie besprechen. Immerhin wollte ich mich streng an den Plan halten, damit diesmal nichts schief ging, und weder ich, noch sonst irgendjemand wegen mir halbtot geschossen wird. Ob Dad meine Gedanken wohl rund um die Uhr verfolgte? Er war nämlich schon so gut darin, dass ich es nicht mehr spüren konnte, wenn er in meine Gedanken eindrang. Anders als bei Ira in meiner ersten Nacht hier. Ihn hatte ich genau fühlen können, als er mit seinen Gedanken über meine scannte, und nur das bekam, was ich ihm hergeben wollte.
Wieder zog sich der Tag zwischen den hektischen kurzen anstürmen der Kunden hin, sodass Sammy und ich immer mal wieder Zeit hatten, uns über dieses und jenes zu unterhalten. Über mich gab ich nicht viel preis. Zum einen, weil ich mir nichts ausdenken wollte, nur um ihn nach seiner Befreiung die Wahrheit zu erzählen, und zum anderen, weil ich mir erhoffte etwas mehr über die Stadt durch seine Erzählungen zu erfahren. Aber er konzentrierte sich dabei eher um seine frühe Kindheit, die er noch als freier Mensch verbracht hatte. Es sollte mich nicht überraschen, dass er sich ungern an seine Sklavenzeit erinnert, die ja immer noch anhielt. Aber wenn er von seinen Eltern und seinem alten zu Hause, der militärischen Kolonie berichtete, funkelten seine Augen richtig lebendig. Anders als normal. Er erzählte mir, dass seine beiden Eltern eine militärische Ausbildung in ihrer Kolonie gemacht hatten, und er immer wieder fragte, wann er denn endlich auch mitmachen dürfe. Damals hatten sie allerdings eine Altersgrenze von fünfzehn Jahren, die Sammy als freier Junge nie erreicht hatte. So musste er eben mit den Weisheiten, die seine Eltern ihm immer wieder von ihrer zurückliegenden Ausbildung nahegebracht hatte, zurechtkommen, während er einem Leben entgegengefiebert hatte, das er nie hatte leben können. Kurz bevor die Sklavenhalter dann in ihre Kolonie einfielen, berichtete er mir fast peinlich berührt, hatte er gerade angefangen das andere Geschlecht für sich zu entdecken.
„Da gab es dieses Mädchen, Veronica.“, erzählte er mir, während sein Blick in die Vergangenheit starrte. „Sie war ein richtiger Wildfang. Immer hat sie mit uns Jungs gespielt, während die anderen Mädchen in dem Alter lieber Mädchenkram getan haben. Ich war aber nicht der einzige, der sie gemocht hat.“
Ich traute mich nicht zu fragen, was aus ihr geworden ist. Aber das musste ich auch gar nicht. Sein Schweigen, das seiner Erzählung folgte, sprach für sich selbst. Es war schwermütig und trostlos. Sie musste bei den Kämpfen gestorben sein. Oder irgendwann hier, als Sklave.
Heute blieb ich bis zum Schluss des Marktes, bis Sonnenuntergang. Bevor wir uns ein zu ärmliches, nicht ganz wohlschmeckendes Abendessen genehmigten, trugen wir die Körbe wieder zurück in das Gebäude, wo die Ernte darauf wartete, am nächsten Tag verkauft zu werden. Während Sammy die heutigen Einnahmen zu James brachte, nahm ich das Gemüse, dass wir morgen nicht mehr losbringen würden, weil schon zu lange herumlag, und brachte es in die Kantine für die Sklavenspeisung, damit die freiwilligen Köche dort, etwas Essbares daraus zaubern konnten.
Jodie begegnete mir, als ich den Köchen bei der Zubereitung einer Suppe zusah, und ich gab ihr zu verstehen, dass ich heute Nacht noch einmal mit ihr reden wolle.

Das Licht des Vollmonds erhellte das Dach, als ich aus der Tür der Sklavenquartiere trat und Jodie auf mich wartend erblickte. Gestern Nacht war mir gar nicht aufgefallen, wie hell es hier draußen durch das fahle Mondlicht eigentlich war. Wir mussten gut aufpassen, dass uns niemand sieht, der gerade einen nächtlichen Mondsparziergang über die Brücken machte. Und vor allem Ira nicht, der offenbar ab und zu nachts in die Quartiere kam, um eines seiner Mädchen zu sich zu holen.
„Hast du was herausgefunden?“, fragte mich Jodie in einem etwas lauteren Flüsterton. Eigentlich hatten wir ausgemacht, dass wir uns erst wieder trafen um die Sachlage zu besprechen, wenn eine von uns etwas Informatives herausgefunden hat. Aber ich glaube, das hab ich. Zumindest ansatzweise. Ich erzählte ihr von meinen aus Sammys gewonnenen Erkenntnissen über Sireno und Ira, und dass ich glaube, dass sie nicht viel mehr können, als Gedanken zu lesen. Außerdem hatte ich einen Plan entwickelt.
„Wenn James also eine von uns als Kämpferin für einen Deal mit Sireno tauscht, können wir vielleicht mehr Zeit mit ihm verbringen, sodass wir herausfinden können, wozu sie eigentlich fähig sind.“, erklärte ich ihr.
„Hm.“, überlegte sie. Jetzt wusste ich wie genervt Sammy gestern mit mir war, als ich eben diesen Laut bei meinen damaligen Überlegungen gemacht hatte. „Ist es das denn wert?“, fragte sie.
„Was meinst du? Natürlich.“, sagte ich. „Sie sind hier doch wohl unsere Primärgegner. Und ist es nicht immer das Beste so viel wie möglich über seinen Gegner in Erfahrung zu bringen?“
„Das schon.“, gab Jodie widerwillig zu. „Aber wie stellst du dir das vor, wenn sie mich oder dich mit einem halben Dutzend in diesen Käfig sperren? Entweder wir infizieren uns, oder wir lassen unsere Tarnung auffliegen. Damit wäre niemanden geholfen.“
„Aber…“, fing ich an, wurde aber von ihr unterbrochen.
„Ivy, ich weiß du meinst es nur gut. Aber ich halte das für keine so gute Idee. Das ist einfach zu gefährlich. Für dich, mich und jeden, der an diesem Plan wissentlich oder unwissentlich beteiligt ist.“
Das hielt ich jetzt aber für ein wenig zu hochgegriffen. Doch ich konnte verstehen, worauf sie hinaus wollte. Es war wirklich gefährlich, wenn sie uns mit zu vielen Zombies in den Käfig der Arena sperren würden – was sie vermutlich würden. Nichtsdestotrotz war das ein Plan, der uns auch weiterhelfen könnte. Und Jodie sah das sogar ein.
„Wenn James mich wirklich in diese Arena schicken will, dann können wir uns überlegen, ob wir das so angehen sollten, bevor wir uns dazu entschließen das Feld vorerst zu räumen. Aber es darauf anzulegen, ist wirklich keine gute Idee.“ Und damit wurde es eine beschlossene Sache, dass wir diesen Plan auf Eis legen. Wer weiß, vielleicht würde er sich zu einem späteren Zeitpunkt sogar als der Plan entpuppen.
Bevor wir wieder zu Bett gingen, erzählte mir Jodie, was aus dem telepathischen Gespräch mit Dad hervor ging. Sie meinte, Dad wolle auch, dass wir wegen der Möglichkeit, dass Jodie in die Arena müsse, erst einmal abwarten sollen. Er würde sich solange einen Plan überlegen. Außerdem ließ er mir ausrichten, dass ich gute Arbeit leistete, als ich Sammy so viele Informationen entlockt hatte. Offenbar fand das Gespräch zwischen ihnen statt, nachdem Sammy mir von James Konflikt mit den Brüdern erzählt hatte. Dann hieß das wohl, dass er meine Gedanken wirklich rund um die Uhr beobachtete.


17


Tage vergingen. Die Mädchen gliederten sich in der Stadt unter den Sklaven ein, sodass sie nicht auffielen, außer, dass sie noch immer etwas besser ernährt aussahen, als die anderen, die schon länger hier waren. Ivys Bein schien gut zu verheilen, weshalb sie schon soweit mitarbeiten konnte, dass sie ihr Besitzer nicht verprügeln würde. Beide versuchten immer wieder etwas über die Stadt von den anderen Sklaven zu erfahren. Doch oft wichen diese ihnen aus, weil sie nicht mehr an schmerzliche Erfahrungen erinnert werden wollten. Eigentlich sah ich es nicht ungern, dass die beiden sich mit einigen Sklaven anfreundeten. Aber es konnte durchaus gefährlich werden. Nicht, weil sie ihnen zu viel verraten könnten, was sie dann weiterplappern, bis ihre Tarnung aufflog, sondern, weil immer mit Verlusten zu rechnen war. Vielleicht war ich gerade, wegen Sam so empfindlich und vorsichtig bei neuen Freundschaften unter freiheitslosen Sklaven. Trotzdem hoffte ich, dass die beiden vorsichtig waren. Ich wollte zu Hause nicht mitansehen, dass sie der Verlust eines Freundes so mitnimmt, wie mich Sams. Natürlich konnte auch ein Freund in Freiheit sterben, denn nichts anderes war ja Sam passiert, aber da war es noch einmal etwas anderes, weil sie dann eben in Freiheit waren. Es konnte sehr bedrückend sein, einen Freund zu verlieren, der die Freiheit noch nie, oder schon lange nicht mehr auskosten konnte.
Brad und die anderen haben gestern das Feld geräumt. Ihre zehn Tage der Wache und Bereitschaft waren um, und sie konnten wieder nach Hause zu Freunden und Familie. Heute würde die Ablöse ankommen. Die ganze Nacht war ich alleine in der Alten Feuerwache. Und hätte ich nicht schon so viel in meinem Leben gesehen, hätte ich womöglich Angst gehabt. Eine kleine Gruppe von Zombies war an meinem Unterschlupf vorbeigekommen, und muss mich irgendwie gewittert haben. Die ganze Nacht haben sie gegen das große rote Tor geschlagen und gekratzt, und dabei dieses gruselige Stöhn Konzert veranstaltet. Ich konnte von Glück sprechen, dass sie nicht noch mehr hier her gerufen hatten, sonst hätte ich heute Morgen wirklich eine Feuerwaffe bemühen müssen, um die Zombies auszuschalten, damit die Wachablöse ungehindert in das Gebäude fahren konnte, wenn sie ankämen. Es waren nur drei, mit denen ich spielend mit einer einfachen Machete fertig geworden bin. Die Leichen habe ich dann eine Straße weiter verbrannt.
Noch vor Sonnenuntergang kamen sie schließlich an. Ich stand zu diesem Zeitpunkt auf dem Dach, weil ich schon auf sie gewartet hatte – ich hatte ja sonst nichts zu tun, außer Ivys und Jodies Gedanken zu verfolgen, was ich auch nebenbei konnte.
Todd, Ava, Rick und Kyle fuhren mit dem Truck in die Feuerwache. Ich hielt das Tor offen, und schloss es direkt hinter ihnen. Ava überreichte mir einen Brief von Rae, gleich, als sie ausstieg. Der Brief war dicker, als das Protokoll, dass ich ihr über die letzten Tage geschrieben hatte, und Brad für sie mitgegeben hatte. Ich würde ihn später lesen, wenn Ivy und Jodie sicher in ihren Quartieren schliefen. Rick war der erste, der sich nach dem Zustand der beiden Mädchen erkundigte. Er wollte es nicht zeigen, aber ihm lag viel an der Nachricht, dass Ivy wohlauf sei. Er würde keine Gelegenheit gehabt haben von Rae zu hören, was ich ihr geschrieben habe. Sie erzählte den anderen zu Hause nämlich immer die Dinge aus meinen Briefen, die nicht nur für ihre Augen bestimmt waren. Immerhin interessierte es jeden, wie wir hier an der Front vorankamen, und wie diese Stadt so ist.
Ich lächelte tief in mich hinein, als ich Rick und den anderen zusammenfasste, was ich Rae auch geschrieben hatte. Ich fand es schön, dass Ivy jemanden gefunden hatte, mit dem sie ihr Leben teilen wollen würde, würde sie es endlich zugeben. Aber ich wusste es mittlerweile besser, als mich erneut darin einzumischen. Also blieb ich ein stiller Beobachter und freute mich für die beiden. Auch wenn die jetzige Zeit für beide ganz und gar nicht leicht war.
Dann musste ich wieder an Jodie denken, und was dieser Bastard Nick ihr angetan hatte. Immer noch würde ich am liebsten verhindern, dass sie es erfahren musste. Aber ich hatte mir selbst versprochen, das in Zukunft sein zu lassen. Es war nicht richtig. Auch nicht, um das aufzuheben, was er getan hat. Etwas anderes, als für meine Schwester, die oft wirklich wie eine Tochter für mich war, da zu sein, konnte ich nicht tun. Und da spürte ich plötzlich Zuspruch. Nicht von Jodie. Sie war noch nicht soweit, ihre Gedanken soweit, bis zu mir auszustrecken, weshalb ich die ganze Arbeit bei unserer Kommunikation erledigen musste. Bei Ivy war es dasselbe. Es war Sarahs Zuspruch, den ich in mir spürte. Oft machte es mir richtig Angst, dass sie einen so großen Radius mit ihren Gedanken abtasten konnte. Nicht mal ich war dazu in der Lage, und ich hatte sieben Jahre länger Praxis mit der Telepathie. Es war schon erstaunlich wozu sie im Stande sein konnte. Vor allem wenn man erlebt, dass sie so in sich zurückgezogen lebt, dass man meinen könne, dass sie geistig zurückgeblieben ist, war man umso erstaunter, wenn man ihre Begabung erkennt. Nur zu Menschen hat sie eine tiefe und enge Beziehung. Ihrem Mann Javier und ihrem Sohn Pablo. Nicht mal ich konnte so zu ihr durchdringen, wie der Nicht-Telepath Javier und der sechsjährige aber frühreife Spross der beiden. Ich glaube nicht einmal Dad hatte das gekonnt.
Ava schäkerte mit Todd, als sie die Vorräte für die nächsten zehn Tage aus dem Wagen räumten. Rick hatte sich in den Schlafraum verzogen, vermutlich hatte ihn die Fahrt angestrengt. Als ich hier her kam, ging es mir nicht anders. Kyle sah sich den Bestand des medizinischen Materials an und kramte dann das aus dem Auto, das er mitgenommen hatte. Wie hatten beschlossen einen kleinen Vorrat mit den wichtigsten Dingen anzulegen, falls nach der großen Schlacht einige oder viele unserer Kämpfer so schwer verwundet sein würden, dass sie es ohne Versorgung nicht nach Hause schaffen würden. Immerhin wussten wir nicht, ob wir die Materialien der Stadt noch benützen könnten, nachdem wir mit ihnen fertig waren. Ich half mit auspacken, da mir ein wenig Bewegung nach all dem langen herumsitzen hier gut tun würde. Heute Morgen beim Beseitigen meiner drei unliebsamen Gäste, bin ich glatt etwas außer Puste gekommen. Entweder lag das also an der mangelnden Bewegung, oder doch schon an meinem Alter. Ich war ja nun nicht mehr der Jüngste, wie ich zugeben musste. Zum Beispiel war ich in Ricks Alter, als dieser noch ein kleines, neugeborenes Baby war, und heute ist er schon ein ausgewachsener Mann, der sich für meine Tochter interessiert, die auch schon so alt ist. Wie doch die Zeit vergeht, wenn man tag täglich gegen Untote und grausame Sklavenhalter kämpfen muss.
Nach unserem Abendessen dauerte es nicht lange, bis Ivy und Jodie ohne besondere Vorkommnisse am vergangenen Tag, übermüdet in ihre Betten fielen, und ich mich dem Brief von Rae widmen konnte. Die anderen hier, in der Feuerwache, waren alle noch wach. Ava, Kyle und Todd spielten Karten und redeten dabei, wie die meisten es zu Hause auch immer beim Kartenspielen taten, über Sully und sein ungeheures Glück beim Spielen.
„Dabei heißt es doch immer“, sagte Kyle, „Glück im Spiel, Pech in der Liebe. Aber er gewinnt andauernd, ist glücklich verheiratet und hat zwei Kinder. Das ist doch nicht fair.“
Sein Bruder Rick hatte sich wieder alleine in den Schlafraum zurückgezogen. Instinktiv hatte er sich auf das Bett gelegt, in dem Ivy vor ihrem Aufbruch in die Stadt geschlafen hatte. Ich wollte nicht in seine Privatsphäre eindringen, weshalb ich es auch ließ seine Gedanken zu lesen. Aber ich vermutete, dass er gerade an sie dachte.
Ich für meinen Teil, verkrümelte mich wieder auf das Dach des Gebäudes, nahm unter dem Sternenzelt Platz und öffnete Raes Brief. Zunächst schreib sie mir ihre Antwort auf meine persönlichen Zeilen an sie. Diesen Teil würde ich später noch genauer lesen, um mich zu entspannen. Danach brachte sie wieder einmal ihre Sorge um unsere Tochter zum Ausdruck. Auch um Jodie. Sie schrieb mir ihre Hoffnungen, dass alles würde gut gehen und sie bald alle wieder nach Hause kommen können, zusammen mit den befreiten Sklaven. Nach diesen Ellenlangen Ausführungen, schilderte sie mir das Tagesgeschehen in der Kolonie. Es grassiere gerade eine Grippewelle, die Javier eiskalt erwischt hatte. Weil Sarah nicht wollte, dass Pablo sich bei ihm mit dem Fieber und Schüttelfrost ansteckte, wohnte der Junge vorerst bei Rae. So hatte sie sogar etwas Gesellschaft in der einsamen Wohnung. Auch andere waren Krank, aber Lester habe gemeint, dass dies kein Hindernis für die Mission darstellen sollte. In ein paar Tagen würde alles überstanden sein, sodass alle wieder rechtzeitig für das große Gefecht fit sind. Ansonsten gäbe es nicht viel zu berichten, außer, dass das Training hart und ermüdend war, es einige vereinzelte Zombiesichtungen gab, und dass Gigi, nachdem sie sich solange ein zweites Kind gewünscht hatte, endlich schwanger war. Das durchkreuzte zwar meine Pläne, sie mit in den Kampf um die Stadt zu nehmen, aber natürlich freute ich mich für sie und Colin, und hoffte das ihr beider Sohn Fabien diese Nachricht gut aufnehmen wird, da ich wusste, dass Kinder in so einem Alter oft sehr egoistisch sein konnten.

Tage vergingen, als ich mich immer wieder vorsichtig nach Declan umsah. Zweimal hatte ich ihn gesehen. Einmal ging er direkt an unserem Stand vorbei. Erst als er vorübergezogen war, hatte ich gemerkt, dass er es war. Und beim zweiten Mal war es sogar noch haarsträubender. Er kam an unseren Stand, um einzukaufen. Glücklicherweise konnte ich vorher knapp entkommen, indem ich Sammy sagte, ich würde Nachschub holen. An diesem Tag war unsere Auslage wirklich schnell vergriffen. Entdeckt hatte mich Declan augenscheinlich nicht, sonst hätte er mich wohl irgendwann abgefangen, oder wäre gleich schnurstracks zu einem der Brüder gelaufen, und hätte mich verpfiffen. Es sei denn, er wusste gar nicht über mich Bescheid. Aber darauf surfte ich mich nicht verlassen. Ich musste weiterhin auf der Hut bleiben.
James ist bisher nicht zu Jodie gekommen, um sie in die Arena für Zombiekämpfe zu schaffen. Womöglich war er dann doch nicht so beeindruckt von ihrem Zombiekampfstil wie wir angenommen hatten. Wobei ich sagen muss, dass es für mich schon beeindruckend war, was Jodie ihm geboten hatte, als er uns beobachtete bevor er uns rettete. Na ja, dachte ich, vielleicht war er auf der Suche nach einem Kämpfer, der noch beeindruckender ist. Uns kann es in diesem Moment, nicht egaler sein.
Meinem Bein geht es trotz der Arbeit auf dem Markt, wo ich oft keine ruhigen Augenblicke mehr verbrachte, wenn Sammy gerade mit der Pflege der Ernte beschäftigt war, gut. Es heilte zu. Und diesmal schien es endlich permanent zu sein. Schmerzen verspürte ich auch nur noch, wenn ich auftrat – und die waren zu ertragen. Trotzdem ließ sich ein Humpeln nicht vermeiden.
Die Qualität des Essens verbesserte sich leider genauso wenig wie die Quantität. Wir hatten oft zu wenig, weshalb wir noch immer hungrig zu Bett gingen, und auf ein reichhaltigeres Frühstück hofften, woraus aber natürlich auch nichts wurde. Wenn wir besonders hungrig waren, erlaubte Sammy uns beiden, etwas von der Auslage unserer Waren zu nehmen. Aber dann durfte es auch nur etwas sein, das wir am nächsten Tag sicher nicht mehr verkaufen konnten. Die fauligen Stellen waren zwar eklig, aber wegschneiden wollte ich sie dann doch nicht. Sonst hätte ich ja noch weniger zu essen.
Eines Abends, als Sammy wieder kam, nachdem er die Einnahmen des Tages bei James abgeliefert hat, kam er mit blutigen Striemen am Rücken zurück. James war ein größerer Verlust im Tages Geschäft aufgefallen, der ihn eigentlich nicht hätte kümmern müssen. Immerhin hatten wir die Tage zuvor mehr als üblich verkauf. Trotzdem prügelte er auf Sammys Rücken ein, damit wir ja nie wieder unter dem Limit liegen würden. Pavati, die Medizinerin unter den Sklaven, die auch schon mich wegen meiner Schmerzen im Bein behandelt hatte, kümmerte sich um ihn. Dabei lernte ich auch ihre Tochter kennen, die ihr zur Hand ging, Sammys aufgeplatzten Rücken zu versorgen. In der Nacht war es ihm nicht möglich auf dem Rücken zu schlafen, sodass er sich mit einer Bauchlage abfinden musste, die für ihn absolut ungewohnt war. Am nächsten Tag musste ich Sammy fast schon zwingen mit seinem verwundeten Rücken am Stand zu warten, während ich die Körbe alleine zum Markt schaffte. Es war zwar nicht ganz einfach humpelnd über Brücken zu gehen, und dabei doppelt so viele Körbe von A nach B zu transportieren, aber es fiel mir sichtlich leichter, als es bei Sammy der Fall sein würde.
Am Nachmittag, als eine Flaute im Geschäft eintrat, und ich Sammy damit alleine lassen konnte, machte ich mich auf dem Weg zurück zu den Treibhäusern, um nach den Gewächsen zu sehen. Wäre ich nicht noch immer so betroffen gewesen, nachdem Sammy wegen einer Kleinigkeit, über die James sich nun wirklich nicht so hätte aufregen müssen, ausgepeitscht wurde, hätte ich ihm wohl noch entwischen können, bevor er überhaupt begriff, dass ich es war, dem er gerade entgegen ging. Aber die Sachlage war nun mal so, wie sie war, und Declan zerrte mich ohne Vorwarnung – nicht einmal gesehen hatte ich ihn – in eine Seitengasse, die zu einem anderen Markt führte, der nur als Schwarzmarkt bekannt war. Niemanden war es aufgefallen, sodass ich ganz alleine mit Declan in der Gasse war, als er mich gewaltsam gegen die Wand drückte.
„Sie mal einer an, wen wir hier haben.“, hauchte er mir mit einem sauren Atem dicht vor meinem Gesicht entgegen. „Und ich dachte, ich hätte mir dich nur eingebildet.“
„Was willst du?“, fragte ich angestrengt von seinem Geruch, der bei den meisten Menschen (bei mir im Augenblick auch) unangenehm war, aber ihm noch viel übler wirkte, nicht ohnmächtig zu werden. „Ich hab dir nichts getan.“
„Nichts getan, sagst du? Du hast damals auf mich geschossen.“
„Und du hast mich zweimal getroffen und damit fast umgebracht.“, entgegnete ich ihm, als er mich soweit an der Wand hochdrückte, dass ich fast den Boden unter den Füßen verlor. „Außerdem hast du Panda grausam ermordet – nur wegen einer salzigen Suppe.“
„Panda?“, fragte er sichtlich verwirrt. Dann dämmerte es ihm. „Ach, du meinst das dumme Gör. Die war doch nicht die Luft wert, die sie geatmet hat.“
„Du hast sie getötet. Und dafür musstest du sterben.“
Er lachte. „Tja, das ist dir ja wohl nicht ganz gelungen, was?“ Meine Lage amüsierte ihn sichtlich. Wie ich dort an ihm hing, ihm vollkommen ausgeliefert, und darum zappelte wieder runtergelassen zu werden. „Ich weiß, was ihr damals gemacht habt. Du hast zu den Arschlöchern gehört, die uns überfallen haben, nicht wahr? Das war ein abgekartetes Spiel, hab ich Recht? Deinetwegen bin ich dann hier gelandet. Als Sklave.“ Na das geschieht ihm Recht. Niemand hatte es mehr verdient ein Sklave zu sein. Ich hoffe, er hat einen ganz brutalten und gewalttätigen, der ihn oft verprügelt und quält, wie er es mit Panda getan hat. „Und weißt du was? Seit ich hier bin, weiß ich auch was du bist.“
Oh oh. Das war nicht gut. Wenn er weiß, was ich bin und sich jetzt sicher war, dass ich hier bin, würde es nicht lange dauern, bis seinetwegen meine Tarnung auffliegt. Die drei telepathischen Brüder würden doch sofort aus seinen Gedanken entnehmen können, dass ich ein Telepath bin, wenn Declan nicht sogar gleich zu ihnen rennt um ihnen von seiner Entdeckung persönlich zu berichten. Ich war geliefert, unsere Mission zum Scheitern verurteilt, und es würde wieder meine Schuld sein. Nur weil ich es vor vier Jahren nicht geschafft habe diesen Mistkerl zu erschießen. Dad würde jegliches Vertrauen in mich verlieren. Und das, wo ich doch gerade angefangen hatte, die Mission genauso zu erledigen, wie er es sich vorstellte und für richtig hielt. Als hätte ich nicht schon genug Probleme.
„Ich wette, du kannst mich zu einem Besitzer machen.“, sagte er schließlich gewitzt. „So viel sollte dir mein Schweigen doch wert sein, oder?“ War er wirklich so dumm? Er wusste doch anscheinend, warum ich in diese Stadt gekommen bin. Warum also wollte er ein Besitzer sein? Als Sklave hatte er weit bessere Chancen, wenn sich unser Plan verwirklichte. Das heißt, wenn ich ihn diesmal so einfach davon kommen ließe, was ich nicht vorhatte. Außerdem war es gar nicht nötig mir sein Schweigen zu erkaufen. Seine Gedanken würden ohnehin alles verraten.
„Damit du andere genauso behandeln kannst, wie du Panda behandelt hast?“, brachte ich unter knirschenden Zähnen hervor. „Nie im Leben.“, sagte ich und spuckte ihm ins Gesicht.
Er ließ von mir ab und wischte sich seinem Ärmel meine Spucke aus dem Gesicht, während ich haltlos zu Boden plumpste wie ein Sack Mehl. Ich erhob mich nicht. Erst wollte ich sehen, was er vorhatte, jetzt wo ich ihn so respektlos behandelte.
„Ist das dein letztes Wort?“, fragte er wütend.
„Darauf kannst du dein Leben verwetten.“, sagte ich angewidert.
„Na schön.“, sagte er und unternahm ein paar Schritte zurück, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Dann seh ich mal zu, dass ich ein kleines Pläuschchen mit den Bossen hier halte.“ Er wollte mich ködern. Aber das prallte an mir ab – jedenfalls in der Hinsicht, die er beabsichtigt hatte. Stattdessen testete ich meine Konzentration, die ich seit meiner schmerzenden Beinwunde nur bedingt aufrechterhielt. Ich spürte einen Aufschrei tief in mir drinnen, der von Dad kam, als er merkte, was ich mit Declan vorhatte. Ich fühlte mich in dessen Eingeweide hinein, spürte die Wärme seines Blutes in seinen Adern und die seiner Innereien, auf meiner Haut, als würde ich mich darin laben wie ein Zombie. Mit meinen Gedanken hielt ich an seinen Gedärmen fest und ließ sie anschwellen. Immer weiter und weiter und weiter. Die Panik in ihm kroch aus seinem Versteck und durchflutete seinen gesamten Körper, der jetzt starr vor Schreck war, weil er nicht verstand, was mit ihm und in ihm vor sich ging. Seine Innereien bäumten sich immer weiter auf, bis schließlich seine Haut aufriss, seine Knochen unter dem Druck nachgaben, und ich ihn zerplatzen ließ, noch bevor ich überhaupt realisierte, dass ich gerade einen Menschen tötete. Aber war kein einfacher Mensch. Für mich war nur ein Monster. Nicht anders als die Zombies.
„Wow.“, sagte jemand am Eingang der Gasse, den ich bis dahin nicht bemerkt hatte. „Das war ja nun nicht ganz uninteressant.“
Zitternd stand ich über den Blutüberströmten Eingeweiden, die in der Gasse verteilt waren, und vor wenigen Augenblicken noch ein Mann gewesen waren. Ich beäugte meinen Zuschauer. Sein hellbraunes Haar glitzerte richtig in dem dünnen Sonnenschein, der ihn am Kopf erfasste. Er hatte graue, fast weiße Augen, und ein schmales Gesicht. Aufgrund seiner besser aussehenden Kleidung vermutete ich, dass er ein Sklavenhalter war, und kein Sklave, die fast in Lumpen herumliefen. Seine ganze Erscheinung ließ ihn sehr intelligent wirken, was vor allem an diesem Gesichtsausdruck lag. Er war jung, so jung wie ich. Und er war nicht der einzige, der das Spektakel beobachtet hatte. Hinter ihm lugten noch Dutzende andere Leute in die Gasse. Und ich wette hinter mir auch. Hatten Declans verwirrte Schmerzensschreie sie auf den Plan gerufen?
„Meine Brüder sind bestimm interessiert daran, dich kennen zu lernen.“, verkündete er vergnügt mit sich selbst, dass er so einen Fund gemacht hatte. Der junge Mann trat auf mich zu, vorsichtig nicht in die schleimigen Überreste von Declan zu treten, und zerrte mich am Arm mit sich. Ich konnte nicht verhindern in all das Blut zu treten, das sich stetig auf dem Boden verteilte. „Bloß keine Mätzchen, ist das klar? Ich kann dich genauso schnell erledigen wie du ihn.“, sagte er mir, und wandte sich dann an die umherstehenden Schaulustigen. „Was steht ihr hier so rum? Schafft ihn weg, bevor er zu stinken anfängt.“
Vollkommen benommen von meiner Tat, und dem Toben, das von Dad in mir hinüberschwappte, folgte ich dem jungen Mann, wo auch immer er mich hinbringen wollte – vermutlich zu seinen Brüdern. Eine Moment später hatte ich mich schon wieder soweit gefangen, dass ich bemerkte, dass Dad sich auf den Weg hier her machen wollte. Nach einigem Gerangel konnte ich ihn telepathisch davon überzeugen, nicht her zu kommen. Sollten sie vorhaben mich zu töten, würde ich einen Weg finden mir Jodie zu schnappen und aus der Stadt zu fliehen. Nur müssten wir uns dann einen vollkommen neuen Plan überlegen, mit dem wir die Sklaven von hier befreien konnten.


18


Der junge Mann – aus den Gedanken anderer, die uns auf unserem Weg begegnet waren, hatte ich erfahren, dass er Dino hieß – brachte mich in ein Gebäude, das besser aussah als alle anderen. Über den Eingang waren in großen roten Lettern mit Wandfarbe die Worte Haus Casey geschrieben. Wer ist, oder war Casey? Keiner von den Brüdern, das stand fest. Vielleicht ihr Vater oder ihre Mutter – der Name klang ziemlich A-sexuell – oder ein Vorfahr, der auch ein Stadtgründer war. Ich wusste es nicht. Und ich glaube es war im Grunde auch gar nicht wichtig. Trotzdem stellte ich mir diese Frage. Vermutlich weil ich mich mit meiner jetzigen Situation nicht auseinander setzen wollte oder konnte.
Er zerrte mich eine Treppe nach der anderen hinauf, bis wir in der obersten Etage angelangt waren. Dort führte er mich durch einen mager beschienenen Gang, in einen Raum, in den er mich voran schubste, sodass ich zu Boden fiel. Im ersten Moment harrte ich so aus, mit meinen Händen auf den Boden, wie ich meinen Sturz abgefangen hatte, und wartete, was als nächstes passieren würde.
„Was soll ich damit?“, fragte eine andere männliche Stimme herablassend. „Du verwechselst mich wohl mit Ira.“ War das Sireno zu dem ich gebracht wurde?
„Du solltest mal das Geschehen in der Stadt genauer beobachten, Bruder.“, sagte Dino arrogant, hinter mir in der Tür stehend.
„Ich hab keine Zeit dafür.“, sagte die Stimme, von der ich vermutete, sie gehöre Sireno.
„Ja, ja.“, ließ Dino abwertend verlauten.
„Du weißt genau, dass ich versuche-!“, dann wurde er von Dino unterbrochen.
„Achte doch mal darauf, was sie ist!“, keifte er ihn an.
In dem Augenblick, in dem Sireno verstummte, und sich von seinem Stuhl, auf dem er an einem Schreibtisch gesessen hatte, blickte ich auf. Er hatte wildes, rot-blondes Haar, das er bestimmt seit einiger Zeit nicht mehr gekämmt hatte. Die Sonne hatte ihn braun geröstet, wie Sammy, aber ganz anders als Dino, der sogar relativ blass war. Dieselben grauen, fast weißen Augen wie bei Dino sahen mich jetzt an. Als wirkten sie nicht schon von ihrem Ansehen hier in dieser Stadt nicht schon bedrohlich genug, sahen die Brüder kalt und irgendwie unheimlich mit ihren hellen Augen aus.
„Wilde Augen hat sie ja.“, sagte Sireno und kniete sich zu mir runter. „Aber sonst ist da gar nichts.“, sagte mit einem faszinierten Lächeln. „Hörst du irgendwas?“, fragte er seinen Bruder und ich folgte seinem Blick auf ihn.
„Nein“, sagte Dino, „nicht seit ich sie auf freischer Tat erwischt habe.“
Im ersten Moment konnte ich ihrem Gespräch gar nicht folgen, bis mir schließlich einfiel, dass ich längst aufgegeben hatte ihnen Erinnerungen vorzugaukeln, die ohnehin nicht wahr waren. Auch meine wahren Gedanken verbarg ich instinktiv vor ihnen. Es war schon genug der Katastrophe, dass sie wussten, dass ich ein Telepath war. Da mussten sie nicht auch noch Details von unserem Plan erfahren. Sie sollten ruhig in der Hinsicht noch etwas im Dunkeln zu tappen.
„Ist das nicht eine von James neuen?“, fragte er und packte mich plötzlich an meinen Haaren, und riss mich wieder zu sich herum, sodass ich ihn ansah, als er seine zweite Frage stellte. „Wie kommt es dann, dass wir erst jetzt merken, was sie ist, huh?“ Dann wandte er sich an mich. „Kannst du uns das vielleicht verraten?“
Ich Schwieg mich aus und unterdrückte den Drang auch ihm ins Gesicht zu spucken. Denn würde ich das tun, wäre mir der Tod wohl sicher. Ich musste jetzt wirklich vorsichtig und überlegt vorgehen. Nicht nur mein Leben könnte daran hängen, sondern auch Jodies, und womöglich sogar Dads, der in der Nähe war, und sich kaum in der Feuerwache halten konnte.
„Na schön.“, sagte er und schleuderte meinen Kopf dem Boden entgegen, sodass ich mit einem dumpfen Schlag dort aufprallte. Mein ganzer Schädel vibrierte wegen des Aufschlags. Sireno stand auf. „Wir werden dich schon noch zum Reden bringen.“
„Hey, was gibt’s den so wichtiges?“, fragte eine dritte Stimme – Ira, wie ich vermutete.
„Ein Telepath hat sich in unsere Stadt eingeschlichen.“, erklärte Dino ihm. „Ohne dass wir es gemerkt haben.“
„Wer? Sie?“, fragte Ira und trat langsam auf Sirenos Höhe, sodass ich den Jungen von meiner ersten Nacht erkannte, der Imani aus dem Sklavenquartier geholt hatte.
„Ja.“, sagte Sireno.
„Und was machen wir mit ihr?“, fragte Ira.
„Ich weiß noch nicht.“, antwortete Sireno.
Alle drei blickten auf mich herab. Nun war ich ihrer Gnade ausgeliefert, falls sie so etwas überhaupt in sich trugen. Ich bezweifelte es fast. Wieso sollten sie sonst ein System, gestützt auf dem Rücken unzähliger, verwahrloster Sklaven, in ihrer Stadt aufrechterhalten? Ich sollte mir nichts vormachen. Diese Männer, denen ich jetzt ausgeliefert war, waren grausam. Das bester wäre für mich, wenn ich sofort abhauen würde. Doch meine Neugier auf die folgenden Ereignisse hielt mich dort unter ihnen auf den Boden.
„Ich würde sagen, ich werde sie vorerst behalten.“, überlegte Sireno laut. „Dino, lass James zu mir kommen. Ira, hol Agnes, damit ich es offiziell machen kann.“ Während seine Brüder seine Aufträge erledigten, ohne zu murren, packte Sireno mich wieder am Arm und zerrte mich mit sich. Er verfrachtete mich in den Nebenraum und sagte, „Versuch gar nicht erst zu fliehen. Das schaffst du ohnehin nicht.“ Dann schloss er die Tür mit einem mechanischen Klick. Ich war offenbar in seinem Schlafzimmer. Ein großes und luxuriös wirkendes Bett stand an der Wand. Obwohl er sehr alt sein musste, sah es gar nicht in Mitleidenschaft gezogen aus. Vielleicht wurde es regelmäßig gewartet. Oder wurde womöglich doch irgendwie nach der Apokalypse gebaut. Wieso hatte er mich in sein Schlafzimmer gebracht?
Ungeduldig wartete ich und wartete und wartete. Noch immer zitterte ich von meinem Mord an Declan. Ich konnte es noch gar nicht fassen, dass ich es nach all den Jahren doch noch geschafft habe, mein Versprechen an Panda einzulösen. Ich dachte ich hätte meine Chance vor vier Jahren verspielt.
Oder zitterte ich aus Angst? Ich konnte gar nicht mal sagen, ob ich jetzt in dieser ungewissen Situation Angst hatte. War diese Situation überhaupt so ungewiss? Immerhin hieß es, dass Sireno mich vorerst behalten wollte, dass er mich vorerst wohl nicht töten würde. Nur, was hatte er dann mit mir vor? Dasselbe, das sein Bruder mit seinen Sklaven macht? Oder wollte er, jetzt wo er wusste, dass ich wie er ein Telepath bin, dass ich als besonderer Kämpfer für die Zombie-Arena, in seine Sammlung einging? Erst vor wenigen Tage hatte ich daran gedacht, ob ich es nicht vorsätzlich so drehen sollte, dass ich als Kämpfer bei Sireno landete, um ihn im Auge zu behalten, damit ich mehr über ihn und seine Brüder erfuhr. Nur wegen Jodies Einwände hatte ich diese Idee als zu gefährlich verworfen.
Ich ging zum Fenster hinüber und sah hinaus. Der Hauptmarkt befand sich dort. Von hier aus konnte ich sogar Sammys Verkaufsstand sehen. Das Treiben auf dem Markt wirkte sogar noch geschäftiger, als zuvor. Vermutlich hatte sich der Mord, den ich begangen hatte, herumgesprochen. Sammy würde mittlerweile wohl wissen, dass ich nicht mehr zurückkam. Vielleicht hatte sogar Jodie schon von meiner Tat gehört. Ich konnte nur hoffen, dass sie jetzt nichts Unüberlegtes tat, um mich hieraus zu befreien. Aber ich schätze Dad, würde sie schon irgendwie davon abhalten. Außerdem war Jodie längst nicht so ungestüm wie ich, wie Dad es so schön ausgedrückt hatte. Seufzend musste ich erkennen, dass er Recht hatte. Ich war ungestüm, und hatte zu unüberlegt gehandelt, als ich Declan ermordet habe. Doch dies schien mir in diesem Moment das richtige gewesen zu sein. Ich gab zu, dass ich mich erst im Nachhinein mit der Begründung entschuldigte, dass er unsere Mission so, nicht vollkommen ruinieren konnte, indem er den telepathischen Brüdern erzählte, was wir mit seinem damaligen Sklavenhalterlager angestellt hatten. Immerhin wussten Sireno und seine Brüder jetzt nur, dass ich auch ein Telepath war, der zudem auch noch seine Gedanken vor ihnen verbergen konnte, wozu sie bislang offenbar nicht im Stande waren, oder auch nur davon gehört hatten.
Nach einer Weile öffnete sich schließlich die Türe wieder. Ira kam herein und beäugte mich, bevo er dann fragte, „Na, bewunderst du die Aussicht?“ Ich antwortete nicht. „Wir haben hier doch ein feines kleines Paradies aufgebaut. Findest du nicht?“ Wieder gab ich keine Antwort. Es war offensichtlich, dass er diese Situation wegen seiner grausamen Ader genoss. Wie sonst konnte sich so viele junge Mädchen als Sklaven halten, damit er sich an ihnen vergehen konnte?“
„Ira!“, hörte ich Sireno aus dem Nebenzimmer hereinrufen. „Ich hab Weiß Gott wichtigeres zu tun, als den ganzen Tag darauf zu warten, dass du endlich mit deinen Spielchen fertig bist.“
Ira seufzte genervt. „Komm schon. Dein Typ wird verlangt.“, sagte er schließlich.
Vorsichtig folgte ich ihm in mein Ungewisses Schicksal. Die drei Brüder waren nicht alleine im Nebenzimmer. Die Frau, die mir dieses weiße Armband angelegt hatte, stand hinter Dino in einer Ecke. Und in der Mitte des Raumes, vor Sireno stehend, war James, der ihn fragend anblickte.
„Siehst du? Das ist mein Problem.“, sagte Sireno an James gewandt, zeigte aber mit einer vagen Kopfbewegung auf mich.
James blickte erst überrascht, dann wütend und dann unterwürfig drein. Die Wut blieb aber in seiner Stimme, als er sagte, „Was hat das Miststück angestellt?“, fragte er. Ich vermute, er dachte er ich hätte Sireno bestohlen, oder so etwas in der Art, und er würde jetzt die Konsequenzen zu tragen haben, die er wahrscheinlich mich dann hätte spüren lassen.
„Sie hat einen unwichtigen Sklaven getötet.“, sagte Sireno, als wäre es vollkommen belanglos, das ein Mensch meinetwegen vor wenigen Augenblicken gestorben war. Was es für ihn, vermutlich auch war. „Aber das tut hier nichts zu Sache. Wichtig ist nur, wie sie es getan hat.“
„Erschossen?“, fragte James, als Sireno nicht weiter sprach. „Vergiftet?“
Sireno lachte kurz auf. „Nein, nein. Nichts dergleichen, mein Freund.“ James Augen verrieten genau, was er jetzt dachte. Ich bin nicht dein Freund. Aber Sireno war dies augenscheinlich egal, denn er musste es auch gesehen haben. „Ich will dich etwas fragen James. Wusstest du in dem Augenblick, als du sie in unsere Stadt brachtest, oder zu einem späteren Zeitpunkt, dass diese Frau ein Telepath ist?“, fragte Sireno ihn prüfend, obwohl ich sagen konnte, dass die Antwort, wie sie auch ausfallen mochte, keine große Rolle für ihn spielte.
In James allerdings, kroch Panik zum Vorschein. „Nein, Sireno. Das wusste ich bestimmt nicht. Wirklich, du musst mir glauben.“, bettelte er.
„Schon gut.“, sagte Sireno in gespielt gnadenvoller Stimme. „Ich glaube dir. Aber in Anbetracht der Umstände, wirst du mir sicherlich zustimmen, dass du diese Sklaven nicht länger behalten kannst. Es ist schon ein Wunder, dass dir bislang noch nicht auf der Nase herum getanzt ist. Deshalb erkläre ich mich dazu bereit, sie für dich zu übernehmen. Und du wirst bestimmt nichts dagegen haben, sie mir einfach so zu überlassen, da ein Besitzer für die Taten seiner Sklaven zu verantworten ist, und du wohl kaum in der Lage bist, sie im Zaum zu halten. Hab ich Recht?“
James überlegte einen Moment. Es ging ihm sichtlich gegen den Strich einen Sklaven an Sireno zu verlieren, ohne selbst etwas dafür zu bekommen. Vor allen Dingen, weil er ein Anliegen hatte, um das er bei ihm mit dem richtigen Sklaven bitten wollte. Vermutlich erkannte er sogar, das ich dieser richtige Sklaven hätte sein könne, wenn er früher gewusst hätte, was ich bin, und seine Karten geschickt ausgespielt hätte. Ich konnte nur hoffen, dass Jodie das nicht für mich ausbaden musste.
„Ja, Sireno.“, zwang sich James zu sagen, „Danke.“
Damit wurde James schließlich entlassen, und er verließ den Raum mit einem Blick auf mich, der zum einen erstaunt und zum anderen verächtlich war. Die Frau, die mir das Armband an meinem ersten Tag hier angelegt hatte, wurde von Sireno beauftragt die nötigen Formalitäten für meine Übernahme zu bearbeiten, und auch sie verließ das Zimmer, sodass ich wieder alleine mit den drei Brüdern war. Ich konnte nicht umhin zurückzuweichen, als Sireno näher auf mich zukam, um mich näher in Augenschein zu nehmen, wie ich vermutete. Ich hasste es zuzugeben, aber ich hatte etwas Angst, was jetzt passieren würde. Ich wollte nicht, dass sie mich berührten, und wünschte in diesem Augenblick zum allerersten Mal, ich hätte auf Rick gehört, und wäre nicht zu dieser Mission aufgebrochen, die ich vermutlich schon längst in den Sand gesetzt hatte.
„Wie süß, sie ist schüchtern.“, sagte Sireno sichtlich amüsiert von meiner aufsteigenden Angst, die er bestimmt auch spüren konnte, wie sie mich durchfloss.
Sein vorsichtig, waren die angsterfüllten Worte meines Vaters, die mich in diesem Moment erreichten. Er beobachtete mit Argusaugen – natürlich nur telepathisch – was hier vor sich ging. Ganz deutlich konnte ich spüre, wie neben der Angst um mich, die Wut auf die drei Brüder wuchs, und die beiden Gefühle um die Oberhand seiner Gedanken miteinander rangen. Aber noch war nichts passiert, sagte ich mir, und hoffte, es würde Dad soweit beruhigen, das er nicht unüberlegt hier einfiel um mich zu rächen, wofür es ja immerhin noch gar keinen Grund gab.
„So, wirst du uns nun verraten, warum wir dich erst jetzt enttarnen konnten?“, fragte Sireno. „Oder bevorzugst du die hart Tour?“
„Lass mich ein bisschen mit ihr alleine, und ich finde alles heraus, was wir wissen müssen.“, sagte Ira mit einem sadistischen Grinsen. Ich schenkte ihm sofort Glauben. Bestimmt hatte er einige Foltermethoden drauf, die jeden zum Singen bringen würden – ob nun Telepath oder nicht.
„Halt dich ein bisschen zurück, kleiner.“, sagte Sireno verächtlich. „Du kannst mit deinen Mädchen machen was du willst. Aber die gehört immer noch mir.“
„Lass ihn doch.“, warf Dino ein. „Ich dachte ohnehin, du hättest besseres zu tun. Hast du jedenfalls eben noch behauptet.“
„Lass das mal meine Sorge sein, ja?“, keifte Sireno ihn an. Fangen die drei jetzt etwa tatsächlich an, über mich zu streiten? „Also?“, fragte er mich ungeduldig und wegen seiner Brüder jetzt auch wütend. „Wirst du mir nun antworten, oder nicht?“
Obwohl er keinen Schritt auf mich zumachte, wich ich, sicher darüber, dass es nicht Dad war, der es mir zuflüsterte, sondern reiner Selbsterhaltungstrieb – auch wenn ich jetzt noch nicht begriff, warum – vor ihm zurück. Aber das genaue Gegenteil traf dann ein. Sireno packte mich am Arm, als ich keine zwei Schritte von ihm weg unternehmen konnte, und schleuderte mich herum, sodass ich vor ihm auf den Boden krachte. Rückwerts kroch ich auf dem Boden vor ihm weg, um wenigstens ein bisschen Raum zwischen uns zu bekommen.
„Fass mich bloß nicht noch mal an.“, entgegnete ich ihn, auch wenn das von hier unten bestimmt nicht so effektiv wirkte, wie von einer stehenden Position aus.
„Oder was?“, forderte Sireno mich heraus.
„Ich schätze sie bettelt dich geradezu um die harte Tour an.“, lachte Ira hinter ihm. Etwas in seinem Blick machte mir noch mehr Angst und ich kroch noch weiter davon.
Für Sireno war eine einfach Armbewegung meinerseits, als ich meinen Arm schützend auf meinen Körper legte, Hinweis genug auf meine Gedanken. Immerhin verwehrte ich ihm immer noch den Einblick in meine Gedanken.
„Denkst du etwa, ich würde eine dreckige Sklavin so anfassen, wie mein kleiner irrer Bruder.“, entgegnete er außer sich. Ira verging dabei das Lachen, als er erkannte, dass er gemeint war. „Als ob ich nicht jede Frau in hier haben könnte, die ich haben will. Sogar Dionne wäre glücklich, mich in ihrem Bett zu haben.“ Ich wusste zwar nicht wer Dionne war, aber Dino dafür umso mehr.
„Hey!“, schrie er Sireno wütend an. „Jetzt nimm dir bloß nicht zu viel raus, ja?“ Jetzt hatte Sireno offenbar beide Brüder gegen sich aufgebracht. Leider war ich mir sicher, dass das noch lange kein gutes Zeichen für mich und meine Lage bedeutete.
„Du naiver Bastard.“, schrie Sireno zurück. „Du wirst doch wohl nicht ernsthaft behaupten wollen, dass sie keine kleine dreckige Schlampe ist, die herumhurt, als gäbe es kein Morgen.“
Plötzlich verspürte ich einen heftigen Kopfschmerz, der mich vor Überraschung und Schmerz aufschreien ließ. Nur benommen konnte ich dem weiteren Gespräch folgen.
„Haltet mal beide die Luft an, ja?“, mischte sich Ira ein. „Merkt ihr denn nicht dass die kleine Schlampe da, versucht uns gegeneinander aufzuhetzen?“
Ach ja? Tat ich das? Nicht, dass ich wüsste, musste ich sarkastisch in Gedanken zugeben. Aber vielleicht waren es Dad oder Jodie, die mir so versuchten aus der Patsche zu helfen.
„Selbst wenn“, sagte Dino, „würde sie das nie so leicht schaffen, wenn da nicht ein Fünkchen Wahrheit dran wäre, was Sireno denkt.“
Sireno hatte sich einigermaßen wieder gesammelt, wies seine beiden Brüder aber trotzdem an, „Verschwindet! Lasst mich mit ihr alleine.“
Dino zögerte keinen Moment und verließ den Raum. Aber nicht gerade aus Respekt vor seinen älteren Bruder. Ira hingegen zögerte einen Augenblick, folgte seinem Bruder aber dann. Damit war ich ganz allein mit Sireno, dem ältesten Bruder, und obwohl ich Ira erlebt hatte, den grausamsten, wenn auch auf eine beherrschender Weise, die ihn aber genau deshalb noch furchteinflößender erscheinen ließ.

Gezwungenermaßen, hatte ich auf der Couch in seinem Arbeitszimmer – so würde ich es jedenfalls nennen, mit dem schreibtisch, all den Büchern und Akten – platzgenommen. Auf einem kunstvoll gefertigten Holzstuhl, mit ornamenten an den Stuhlbeinen und der Rückenlehne, saß er mir gegenüber und starrte mir in die Augen. Er versuchte nun schon seit Stunden durch meine geistige Blockade, die ich um meine Gedanken und Erinnerungen errichtet hatte, zu dringen. Keiner von uns bewegte sich. Sireno wurde zunehmend wütender, weil er es einfach nicht schaffte meine Gedanken zu lesen, was mich zunehmend amüsierte. Hatte ich zuvor noch Angst gehabt, hatte sich diese Angst bald in Selbstbewusstsein verwandelt. Ich kostete es regelrecht aus, dass er an mir verzweifelte, und musste mich zusammenreißen, nicht übermütig zu werden. Dads Angst, die ich gespürte hatte, als sie seinen Höhepunkt fand, ist mittlerweile auch leiser geworden. So wie es den Anschein hatte, hatte ich die Situation voll im Griff, was sich natürlich jederzeit ändern könnte, wenn ich nicht achtgab. Zudem war zu befürchten, dass Sireno noch ein Ass im Ärmel hatte. Denn während meine Gedanken ihm gar nichts hergaben, waren seine von Wut vernebelt, sodass ich nicht viel über ihn in Erfahrung bringen konnte.
Seufzend stand er schließlich von seinem Stuhl auf, ging zu einem Tisch, und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Mir bot er selbstverständlich nichts an. Immerhin war ein wertloser Sklave in seinen Augen.
„Vielleicht sollte ich doch ein paar Stunden mit Ira alleine lassen.“, überlegte er laut, und beobachtete meine Reaktion von dort, wo er am Getränketisch lehnte. Aber diese Befriedigung würde ich ihm nicht geben. Ich zeigte keine Angst, nur Neutralität. Als er sich wieder vor mich setzte sagte, „Weißt du, ich muss schon sagen, so ungerne ich es auch zugebe, du faszinierst mich.“
Ich sah ihn skeptisch an. „Ach, ja?“
„Ich schätze ich verrate nicht zu viel, indem ich sage, dass du Dinge beherrschst, die ich nicht kann. Vermutlich hast du das schon längst selbst herausgefunden. Oder?“ Mit Gedankenlesen funktionierte es nicht, also versuchte er es mit reden, um etwas mehr über mich herauszufinden. Für wie blöd hält er mich eigentlich?
„Möglich.“, sagte ich ausdruckslos.
Er lachte ein kurzes und humorloses, fast verbittert wirkendes Lachen. „Du wirst nichts über dich preisgeben, hab ich recht?“
„Nein.“, sagte ich.
„Dann verrate mir doch wenigstens eins.“, sagte er. „Warum sollte ich dich nicht auf der Stelle töten? Denn auch wenn du etwas begabter wirkst als ich, so werden meine Brüder und ich es doch wenigstens zu dritt schaffen, dich auszuschalten.“
Da hatte er allerdings Recht. „So würdest du ja nie das lernen, was ich alles kann.“, bluffte ich und hoffte dabei, dass er mich nicht durchschaute.
„Als ob du mir was beibringen würdest. Ich muss deine Gedanken nicht erst lesen, um sie erraten zu können. Du bist keiner der Menschen, die ihre Prinzipien nur für ihr eigenes kümmerliches Leben aufs Spiel setzen.“
Menschenkenntnis hatte er, das muss man ihm lassen. „Vielleicht kannst du mir ja was bieten, dass mir gefällt, sodass ich dir im Gegenzug etwas beibringe.“ Wieder ein Bluff. Hoffentlich hatte ich oft genug mit Sully Karten gespielt, sodass ich mir etwas hatte abgucken können.
„Du meinst also ein Tauschgeschäft?“, fragte Sireno.
„Ganz recht.“
„Hm, mal sehen, ob ich etwas habe, das die gefallen könnte.“, überlegte er, und ich wusste sofort, dass er etwas im Schilde führte. Als ich dazu dann seine Gedanken befragte, hatte ich die Antwort, bevor er es aussprach. Und mir stockte der Atem, was ihm bestimmt nicht entgangen ist. „Wie wäre es mit dem Leben deiner Schwester?“
Ich schwieg, was vermutlich genau das war, was er bezwecken wollte. „Oh, hab ich jetzt deine Aufmerksamkeit?“, fragte er selbstsicher.
„Der letzte, der mich erpressen wollte, ist jetzt nur noch ein Häufchen blutiges Fleisch.“, sagte ich, und versuchte dabei meine Unsicherheit darüber, ob es wirklich das Richtige war, ihm zu drohen, zu überspielen.
„Du willst mir doch nicht ernsthaft drohen?“, fragte Sireno spielerisch und selbstsicher. Er wusste, er hatte mich in der Hand, solange Jodie sich in seinem Terrain befand.
Er erhob sich von seinem Stuhl und setzte sich dicht neben mich auf die Couch, auf der ich saß. Ich zuckte zusammen, als sein Gewicht die Polter der Couch bewegte, und rutschte instinktiv etwas weiter von ihm weg. Ich konnte es nicht ausstehen, dass er so dicht bei mir war.
Sireno belächelte meine Reaktion zu seiner Nähe nur. „Du denkst doch nicht immer noch, dass ich dich will, oder?“, fragte er verächtlich und fast schon angewidert. „Der einzige Grund, warum du für mich interessant bist, sind deine Fähigkeiten.“
„Ihr Männer wollt doch immer das, was ihr nicht haben könnt.“, sagte ich, versuchte mein Selbstbewusstsein darauf aufzubauen. Es klappte nicht ganz so gut, wie ich es mir gewünscht hatte. Ich war immer noch unsicher, und Sireno konnte dies bestimmt spüren.
„Du denkst, ich könne dich nicht haben?“, fragte er ernsthaft überrascht. Dann dämmerte es ihm. „Du denkst, ich könne dich nicht haben.“, wiederholte er. „Warum, weil du ein Telepath bist? Denkst du, damit kannst du mich einfach davon abhalten?“
Ich traute mich schon gar nichts mehr sagen, so selbstsicher klang er. Und selbstsicher, konnte er sein, das stellte er unter Beweis, als er sich ohne jegliche Vorwarnung – ich hatte nicht genau genug auf seine Gedanken geachtet – auf mich stürzte. Ehe ich mich versah, lag ich unter ihm, er, zwischen meinen gespreizten Beinen, eine Hand rieb er mir zwischen meine Beine, mit der anderen hielt er mir den Mund zu.
„Du bist eine genauso leichte Beute wie all die anderen Schlampen hier.“, flüsterte er mir ins Ohr. „Wenn nicht sogar leichter, wegen deiner Arroganz, dass du glaubst meine Gedanken nicht genau beobachten zu müssen.“
Panisch versuchte ich daran zu erinnern, wie ich ihn wieder von mir herunter bekommen konnte. Aber mein Kopf blieb leer. Auch Dads Angst um mich machte es mir nicht leichter. Wieder stand er kurz davor die Feuerwache zu verlassen und hier einzuschlagen wie ein tosender Sturm. Es setzte mich nur zusätzlich unter Druck, mich von Sireno zu befreien, sodass ich gar nicht mehr vernünftig denken konnte.
Plötzlich öffnete sich die Tür und es kam jemand rein. Ich konnte nicht sehen wer, weil Sireno immer noch auf mir lag und mir so die Sicht versperrte, aber wegen seiner Gedanken, wusste ich, dass es Dino war. Er trat an den Rücken der Couch, stützte sich mit den Händen darauf ab, und sah zu uns runter. Sireno kroch von mir runter. Beide hatten dieses verschlagene Grinsen im Gesicht, sodass ich, sobald ich wieder frei war, den halben Raum zwischen mich und die beiden brachte.
„Schön, du hattest recht.“, sagte Dino zu seinem Bruder, blickte mich dabei aber an. Nach einem Moment vermutete ich, dass er von dieser Dionne sprach, von der Sireno behauptet hatte, dass sie herumhurt. Aber das war es nicht worauf er anspielte. Seine Gedanken kreisten um mich, waren aber enttäuscht.
„Hast du was herausgefunden?“, fragte Sireno ihn.
Oh, nein! Nein, nein, nein. Hatte ich etwa meine Deckung fallen lassen? Als Sireno auf mir lag, konnte ich nicht mal mehr darüber nachdenken, wie ich ihn wieder von mir runterkriegen sollte. Hatte ich meine Konzentration etwa soweit verloren, dass sie Einblick in meine Gedanken und Erinnerungen hatten und somit alles über die Mission und unsere Kolonie wussten?
Schlagartig konnte ich nicht mehr. Ich wollte nur noch, nach Hause zu Mum, Dad und Rick. Es sollte, doch bitte alles endlich vorbei sein. Anfangs hatte ich mich doch so gut gemacht, dass Dad mich sogar gelobt hatte. Warum brach heute, wo ich endlich mein Versprechen an Panda hatte einlösen können, und Declan getötet hatte, alles schief? Ich hätte abwarten müssen. Für meine Dummheit könnte ich mich ohrfeigen. Wenn ich meine Tarnung einfach aufrechterhalten hätte, hätten sie Declan doch niemals sein Gerede davon geglaubt, dass ich ein Telepath sei. Sie wussten gar nicht, zu was wir im Stande sein konnten, wenn wir unsere Fähigkeiten richtig schulten. Ich hätte meine Rache an Declan auch dann vollziehen könne, wenn wir die Stadt angegriffen hätten. Solange, hätte ich nun wirklich auch noch warten können, wo ich doch schon vier Jahre habe warten müssen.
„Nein, nicht viel.“, sagte Dino, und ich wurde wieder hellhörig. „Ich hab nur Eindrücke von ihren Gedanken gewinnen können.“
„Und? Erzähl.“, forderte Sireno ihn auf und vergaß mich darüber hinaus vollkommen.
„Ein rotes Tor an einem Gebäude“, zählte er enttäuscht auf, „ihr Vater, der wütend ist, und ein paar Namen: Rich, oder so ähnlich, Eva, Stella und so weiter.“
Sireno starrte ihn an. „Sehr hilfreich, danke.“, sagte er sarkastisch. Dann fiel sein Blick wieder auf mich. „Wo bleibt dieser Nichtsnutz Ira schon wieder?“, fragte er seinen Bruder hinter sich.
„Sei nicht immer so hart zu ihm.“, sagte Dino. „Sonst wendet er sich womöglich auch noch gegen dich.“
„Denkst du, das interessiert mich? Dann hab ich eben noch einen Bruder weniger.“ Das war offenbar nicht nur auf Ira bezogen, dachte ich. Es sollte wohl auch eine Drohung an den anwesenden Bruder darstellen. Ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte.
Wieder öffnete sich die Tür und Ira kam herein. Mir fiel sofort der Gegenstand in seiner Hand auf. Es war eines von diesen Dingern, mit denen sie hier Medikamente unter die Haut schossen. Die Erinnerung einer meiner Vorfahren, verriet mir, dass es eine Spritze war. Doch es vermag mir nicht, zu wissen, was sich in genau dieser Spritze befand. Doch zwei Dinge wusste ich genau. Die Spritze war für mich bestimmt. Und der Inhalt, konnte demnach nichts Gutes sein. Es war bestimmt kein schmerzstillendes Medikament, wie es mir hier schon einmal verabreicht wurde. Vielleicht war es Gift? Das lag immerhin nahe.
Ira gab die Spritze an Sireno weiter, der auf mich zukam. Er drängte mich bis in die hinterste Ecke des Raumes, bis ich an einem Regal voller Bücher nicht mehr weiterkam. Das Regal wackelte und zwei Bücher fielen heraus. Eines traf mich an meiner Schulter, doch ein blauer Fleck war das Geringst worum ich mir jetzt Sorgen machen musste. Sireno bekam mein Handgelenk zu greifen und zerrte mich zu sich. Doch so leicht gab ich mich nicht geschlagen. Wie Dad mich immer strafte, versetzte ich denselben Schmerz jetzt auch Sirenos Kopf. Überrascht davon, taumelte er einen Schritt zurück, was mir dabei half ihn zu schubsen und zu Boden zu werfen. Bestimmt hatte ich nicht so viel Power wie Dad hinter meiner Strafe, aber es tat durchaus seinen Zweck. Ich hatte jetzt etwas mehr Raum, und nur noch zwei Gegner. Ira trat sofort zurück. Aber nicht, weil er Angst vor mir hatte. Er wollte lediglich die Tür versperren. Dino hingegen unternahm gar nichts. Er starrte nur auf den sich krümmenden Sireno. Also versuchte ich mein Glück an der Tür hinter Dino. Vorsichtig ging ich um die Couch herum und machte einen weiten Bogen um Dino, der meinen Bewegungen jetzt folgte. In einer defensiven Haltung drehte er sich mit meinen Fortschritten durch den Raum mit, sodass wir uns in die Gesichter sehen konnten. Schließlich ertastete ich mir den Griff der Tür, die zu Sirenos Schlafzimmer führte – ich konnte mich zwar nicht erinnern, dass es von dort einen Ausgang gab, aber es würde mir etwas mehr Zeit erkaufen.
Plötzlich, als ich die Tür gerade öffnen wollte, um hindurch zu gehen und sie hinter mir zu verbarrikadieren, war da ein fester Halt an meinem Handgelenk. Bevor ich mich zum Besitzer der Hand umdrehen konnte, spürte ich einen Einstich in meinen Hals. Es war Ira. Ich hatte, weil ich Dino beobachtete, gar nicht bemerkt, dass er von seiner Tür zu mir gekommen war. Und immer noch eine – oder dieselbe? – Spritze hatte, deren Inhalt er in meinen Blutkreislauf presste.
Zur selben Zeit, als er die Spritze wieder aus meinem Körper zog, ließ er mein Handgelenk los. Ich atmete schwer, stützte mich an der Wand, auch ein Bücherregal, hinter mir ab, und hielt eine Hand, an die Einstichstelle. Mit jedem Blinzeln verschwamm meine Sicht immer mehr. Ein Taubes Gefühl, das in meinen Gliedmaßen anfing, arbeitete sich durch meinen Körper, bis meine Beine schließlich nachgaben. Das letzte was ich sah, bevor ich das Bewusstsein verlor – ich hoffte, dass es nur das war, denn wäre es Gift, müsste ich doch Schmerzen haben, oder? – war, wie Sireno hinter der Couch wieder auf den Beinen war und sich wütend zu mir umdrehte.


19


Ich konnte mich genau erinnern. Als ich mein Bewusstsein verlor, waren da keine Schmerzen. Also warum hatte ich sie jetzt? Und das auch nur in meinem Kopf? War es vielleicht doch Gift gewesen, das sie mir verabreicht haben? Das nur langsamer wirkte? Wenn es das überhaupt tat. Ich hatte nämlich kein genaues Zeitgefühl. Es konnte sowohl eine Minute, als auch eine ganze Jahreszeit vergangen sein. Beim besten Willen konnte ich das nicht beurteilen.
Wach auf, hörte ich unter den Schmerzen aufquellen. Ivy, wach auf!
Es dauerte einen Augenblick, bis ich in der panischen Stimme in meinem Kopf, Dad heraushörte, wie er versuchte mich aufzuwecken. Also war ich wohl doch noch nicht tot. Jedenfalls hatte Dad die Hoffnung noch nicht aufgegeben.
Und tatsächlich, ich spürte wieder etwas. Das Gefühl kam zurück in meine schwachen Glieder, und ich merkte, dass ich auf einen nackten und sandigen Boden lag. Ich hatte keinerlei Verletzungen, soweit ich das beurteilen konnte – na ja, bis auf den Schmerz in meinem Kopf. Hatte ich eine Kopfverletzung? Nein, ich glaube die Schmerzen fügt mir Dad zu. Will er mich mit den Schmerzen aufwecken? Das würde er nicht ohne wichtigen Grund tun, oder?
Noch einen kurzen Moment später schaffte ich es sogar meine Augen zu öffnen, und zur selben Zeit hörte ich die Rufe. Ein aufgeregtes Jubeln preschte von irgendwo oberhalb auf mich ein. Und unterhalb des Jubels, ich wusste nicht, wie ich es aus diesem Getöse von oben, ausmachen konnte, war ein Stöhnen. Ein hungriges Stöhnen – direkt hinter mir. Bevor ich mich überhaupt umdrehen konnte, rollte ich davon. Da wo ich gerade erst aufgewacht war, stolperte nun ein Zombie zu Boden. Ich am Boden entlang, bis ich dabei an eine Wand stieß. Was ging hier vor? Wo war ich hier gelandet?
Weil der Zombie noch darum kämpfte wieder aufzustehen, nahm ich mir die Zeit einige Eindrücke zu gewinnen. Die Arena war groß, mit einer Fläche von etwa zwanzig mal zehn Metern. An einigen Stellen im Boden prangten Metallplatten. Ich wusste nicht, zu was sie gut waren, konnte aber jetzt auch nicht darüber nachdenken. Die Wände um die Kampffläche der Arena, waren mit dicken Stahlgitterstäben versehen, wo unzählige jubelnde Menschen hindurchsahen, drei Etage hoch.
Der Zombie hatte sich wieder aufgerichtet und befand sich schon wieder auf den Weg zu mir, um in irgendeiner Weise seinen unstillbaren Hunger doch noch zu stillen. Als der Zombie so auf mich zu torkelte, erkannte ich, dass er, als er noch gelebt hatte, eine junge Frau gewesen ist. Er – äh, sie – äh, es war nackt. Eine nackte Zombiefrau eilte auf mich zu. Lange verklebte Haare – auch von Blut – hingen ihr herunter. Trüb milchige Augen starrten mich an, und es fühlte sich so an, als würde sie – es durch mich hindurch starren. Ihre Brüste, die zu ihren Lebzeiten noch prall und fest gewesen sein musste – jetzt ließ sich das nicht mehr so genau feststellen – wabbelten vor ihr her, als sie mir entgegenkamen. In ihrer linken Brust klaffte eine Bisswunde, die sie hat zum Zombie werden lassen. Ihr Stöhnen hatte diese besonders gruselige Note, die animalisch und irgendwie auch mechanisch verstärkt klang. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr auszuweichen und ich flüchtete mich wieder auf die andere Seite der Arena.
Sie wissen was du bist, hörte ich Dad wieder in meinem Kopf, also setz dem ein Ende.
Kurz überlegte ich, was er damit sagen wollte. Meinte er damit nur die Zombiefrau, die jetzt wieder auf mich zustürzte, oder die gesamte Mission?
Plötzlich fiel mir Sireno zwischen der Menge auf. Er starrte von der zweiten Etage selbstzufrieden zu mir herunter. Entweder wollte er, dass die Zombiefrau mir die Eingeweide rausriss, oder ich sie zerplatzen ließ, wie ich es bei Declan getan hatte. Ich beschloss das letztere zu tun, da die erstere von beiden Optionen für mich nicht in Frage kam. Doch bevor ich das tat, musste ich noch einmal vor der Zombiefrau fliehen. Als ich wieder auf der anderen Seite der Arena angekommen war, und die Zombiefrau wieder auf mich zu stolperte, drang ich mit meinen Gedanken in ihren Körper ein. Ich spürte ihre verfaulten Eingeweide, das stinkende, eitrige Fleisch, das geronnene aber immer noch bewegliche Blut in ihren Adern, und ihren unbändigen Hunger, der sich, egal, was sie unternahm und fraß, niemals würde stillen lassen. Irgendwie machte mich ihr Hunger auch hungrig. Doch bevor ich mich davon groß beeindrucken lasse, ließ ihre Eingeweide anschwellen, bis die Zombiefrau schließlich zerbarst. Vorsichtshalber hielt ich meinen Mund und Augen geschlossen und hielt den Atem an, falls sie doch schon so nah gekommen war, dass mich ihr herumspritzendes Blut erreichte. Tatsächlich traf mich nicht nur Blut. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich, wie nah sie mir schon gekommen war, weniger als ein Meter war noch zwischen uns. Irgendein fleischiges Ding hing an meiner Schulter, das sich sogleich angewidert von mir abschüttelte. Über und über war ich in infiziertes Blut getaucht. Hoffentlich hatte ich nicht irgendwelche offenen Wunden oder Kratzer, durch die die Infizierung in meinen Blutkreislauf gelangen konnte, meinen Körper infizierte, und mich zu genauso einem Ding machte.
An manchen Stellen auf den Rängen über mir, brach Applaus aus. An anderen blieb es vollkommen ruhig und unbeteiligt. Ich atmete nur durch und versuchte irgendwie das infizierte Blut von mir abzuwischen. Es stank bestialisch, schlimmer als ein Zombie an sich. Als ich mich umsah, konnte ich Sireno nicht mehr sehen. Ich hätte gerne sein Gesichtsausdruck gesehen, als sein Plan mich umzubringen, nicht aufging. Andere auf den Rängen verließen ihre Plätze auch wieder. Durch die Gitterstäbe erkannte ich, wie der Strom der Menschen nach hinten floss und dort verschwand. Ich vermute, dort war der Ausgang. Aber wo ist der Ausgang für mich? Es gab keine Tür, durch die ich die Arena verlassen konnte. Der Einzige Weg wäre, die drei Etagen hochzuklettern, denn das Dach fehlte. Aber das war keine sehr realistische Option, da ich mich ohnehin nirgends hochziehen konnte.
Das war ja mal ein verdammt toller Tag, bemerkte ich sarkastisch. Ich habe jemanden ermordet, wurde als Telepath enttarnt, fast vergewaltigt, unter Drogengesetzt, musste mich gegen einen nackten Zombie vor einem Publikum behaupten, und saß jetzt auch noch in einer Arena fest, aus der es keinen Ausgang für mich gab. Vermutlich wollen sie mich hier auch noch solange drinnen lassen, bis ich jämmerlich verdurste. Ich war ihnen eben nicht mehr wert, als eine halbwegs unterhaltsame und grausame Show. Ob ein paar Schaulustige wohl mal ab und zu vorbeikommen, um den Grad meines langsamen und qualvollen Todes zu ermessen? Bestimm. Ich hatte keinen Zweifel mehr, dass es hier noch mehr grausame Besitzer gab, wie Sireno, der mich bewusstlos und unter Einfluss von Drogen einem Zombie ausgesetzt hatte. Es blieb mir jetzt also nichts anderes übrig als hier zu warten, was passieren würde, und dabei zu hoffen, dass weder Dad noch Jodie etwas Voreiliges unternehmen würden, um mich hier raus zu holen.
Und als ich das dachte, tat sich unerwartet etwa im Boden auf. Eine der Metallplatten auf dem Boden in der Mitte der Arena schob sich nach oben, und zum Vorschein kam ein Käfig mit nur drei Gitterwänden, die vierte fehlte – ob absichtlich oder nicht, wusste ich nicht. Aber bei einer Sache war ich mir sicher, das musste der Ausgang sein.
„Du musst schon da rein gehen, um hier wieder raus zu kommen.“, sagte eine Stimme hinter mir. Dino, der mittlere Bruder, stand sicher hinter den Stahlgittern der Zuschauerräume, und beobachtete mich. „Nur keine Sorge, das war der einzige Zombie.“, sagt er als ich mich nicht rührte. Aber etwas an seiner Stimme war komisch. „Für heute jedenfalls.“, fügte er dann hinzu. Ah, das war es. Bin ich jetzt zu einem ihrer Zombiekämpfer geworden, auf deren Leben sie hier wetteten? Ich hatte das zwar mal in Erwägung gezogen, aber so hatte ich es mir ganz sicher nicht vorgestellt.
Da mir nichts anders übrig zu bleiben schien, stieg ich in den engen Käfig, der mich sogleich mit einem mechanischen Antrieb nach unten beförderte. Im Gegensatz zu unserem zu Hause, schien es diese Stadt nicht an Storm zu mangeln. Ich frage mich, wo sie den wohl herkriegen. Haben sie etwa ein altes Kraftwerk in der Nähe erobert und wieder in Gang gebracht? Oder haben sie sich selbst etwas zusammengebastelt aus alternativen Energiequellen, wie es vor der Apokalypse immer hieß? Windkraft, Solarenergie, Wasserkraft, oder eine Kombination aus allen dreien? Bisher hatte ich noch gar nicht daran gedacht jemanden danach zu fragen. Das sollte ich endlich mal tun. Das heißt, wenn ich überhaupt noch mal jemand begegne.
Der Käfig führte mich in ein dunkles und modrig riechendes Kellergeschoss, das nur spärlich von surrendem grünem Licht beleuchtet wurde. Wenn das der Eingang für die Kämpfer in die Arena war, sollte ihnen dieser Raum wohl noch zusätzlich Angst bereiten. Ich musste nämlich zugeben, dass das grüne Licht wirklich für die richtige Stimmung sorgte. Ansonsten schien der Raum aber leer zu sein. Nur eine schwer aussehende Stahltür, wie die, die am Eingang der Stadt vor den Brücken installiert waren, war dort. Der Raum war auch nicht sonderlich groß, sodass man viel hätte hinein stellen können. Wozu auch? Hier machten bestimmt viele Kämpfer ihre letzten Schritte als Menschen, bevor sie von ihren Gegners infiziert wurden, und vermutlich dann auf der Seite der Zombies kämpften – oder besser gesagt fraßen. Denn was anderes konnten sie ja nicht. Zombies kämpfen nicht. Sie kommen nur auf dich zu, geben sich vielleicht etwas Mühe dafür, und versengte ihre Zähne und Krallen in dein Fleisch.
„Ich muss schon sagen, du hast dich ganz gut gemacht.“, sagte Sireno plötzlich hinter mir. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sich außer mir noch jemand in diesen bedrückenden Raum befand. „Mal sehen wie du dich beim nächsten Mal anstellst.“ Er grinste höhnisch. Ich konnte es in dem dimmen Licht nicht genau sehen, aber das brauchte ich auch nicht. Es war deutlich aus seiner Stimme herauszuhören.
„Was sollte das?“, fragte ich trotzig. „Macht es dir etwa Spaß zuzusehen, wenn jemand bewusstlos und ohne Chance auf Gegenwehr von einem dieser Dinger verspeist wird? Und jetzt komm mir bloß nicht mir der Leier, ich sei nur ein wertloser Sklave. Das ist absolut krank. Du bist absolut krank. Und widerlich.“
Er grinste mich nur weiter höhnisch an. Ich wurde richtig wütend, obwohl ich eigentlich nichts anderes von ihm hätte erwarten dürfen, als das, was er tatsächlich tat. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, ging er auf mich zu, und an mir vorbei, an die Stahltür.
„Ich zeig dir dein neues zu Hause.“, sagte er schließlich und entriegelte die Tür, indem er auf einem Tastenfeld irgendwelche Tasten drückte, die dabei einen Ton von sich gaben. „Und versuch es gar nicht erst. Du kannst deine Gedanken zwar irgendwie vor mir verstecken, aber ich kann sie dafür blockieren, sodass sie in dir bleiben.“
Im ersten Moment wusste ich gar nicht worauf er anspielte. Aber dann merkte ich, dass meine Wut über ihn, mich dazu verleitet hat, zu versuchen auch ihn zu töten, wie ich es bei Declan und der nackten Zombiefrau getan habe. Und das an einem Tag – war es überhaupt noch derselbe Tag? Ich sammelte mich wieder. Irgendwann würde ich meine Chance bekommen und ihn zur Strecke bringen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er durch mich womöglich sogar das Zeitliche segnet. Und ich wette, er kommt dann in die Hölle. Die, gemessen daran, was hier auf der Erde vor sich ging, mit all den Zombies, und der durch die herrschende Anarchie tobenden grausamen Banden, die hier und da ihr Unwesen treiben, viel, viel schlimmer sein muss, als man es sich überhaupt noch vorstellen kann.
Sireno schob die Stahltür zur Seite an der Wand entlang, und zum Vorschein, kam ein etwas besser beleuchteter Raum. Zellentüren waren links und rechts aufgereiht, die in, wie ich vermutete, winzige Zellen führten. In der Mitte des Raumes waren tatsächlich Trainingsgeräte aufgestellt, wie ich es vom Trainingsraum zu Hause her kannte. Gewichte, Laufbänder, Rudergeräte, und ähnliches, die sogar in diesem Moment gerade benutzt wurden.
„Gentlemen, ich bringe euch Gesellschaft.“, verkündete Sireno den drei Männern, die sich mit lauten Geräuschen an den Trainingsgeräten zu schaffen machten. „Seid nett zu eurer neuen Kollegin.“, fügte Sireno hinzu. Wieder war sein höhnisches Grinsen zu hören. Nachdem er jeden von uns noch einmal genau betrachtet hatte, verließ er den Raum und ließ mich alleine mit den dreien.
Als ich etwas näher trat erkannte ich, dass einer der Drei überhaupt noch nicht als Mann gesehen werden konnte. Er war noch ein halbwüchsiger, von vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahren. Dafür war der Junge aber schon richtig muskulös. Vermutlich war es deswegen hier. Oder er wurde erst so muskulös, als er hier her gebracht wurde, um gegen Zombies zu kämpfen. Im Grunde war es auch egal, warum, er war es einfach. Seine noch sehr jung wirkenden Gesichtszüge, die sich aber langsam in die eines Mannes verwandelten, waren wohl das einzige, das auf sein wahres Alter schließen ließ. Wobei er jetzt auch nicht absonderlich hochgewachsen war. Eher Durchschnitt. Aber ich konnte mir gut vorstellen, dass er so einigen Zombies den Hinter versohlen und den Kopf verdrehen konnte.
Der zweite Mann, der, als ich mit Sireno eingetroffen war, aufgehört hatte, seine Gewichte zu stemmen, war fast dreimal so alt wie der Junge. Vielleicht ein paar Jahre jünger als Dad. Und anders als der Junge, hatte er ein richtig maskulines Gesicht. Ein kantiges Kinn, mit einigen Falten, und einen Erwachsenen Blick, den ich auf von Dad her kannte. Sein Oberkörper war frei, weshalb sich mir der Blick auf unzählige Narben bot. Es lag nahe, dass er sich die Narben nicht bei einem Zombiekampf zugezogen hatte, sonst wäre er ja wohl nicht mehr hier, so als Mensch. Vielmehr erschien es mir so, dass das Narben einer Peitsche war. Aber auch einige, von Schnittwunden. Die letzteren kannte ich zur Genüge. Mein Körper war auch hier und da von solchen Schnittwunden Narben versehen, da ich mich oft mal verletzten, wenn ich nicht gerade verletzt zu Hause eingesperrt wurde, und unterwegs war um für die Kolonie noch irgendwo etwas brauchbares zu sammeln. Da musste ich mich oft hier durch zwängen, und da hoch klettern, und blieb dabei nicht nur mit meinen Klamotten hängen, sondern auch mit meiner Haut, meinem Arm oder meinem Bein.
Der Dritte von ihnen, saß auf einem Gewichteheberaparat, und hatte auch sein Training unterbrochen. Während die Hautfarbe der anderen beiden weiß war, war seine braun. Wie die, der Medizinerin unter den Sklaven, die mit an meinem zweiten Tag in der Stadt noch einmal so ein schmerzstillendes Medikament für mein Bein verabreicht hat. Er schien mir derselben Abstammung zu sein wie sie. Vielleicht war er sogar ihr Sohn. Denn vom Alter her würde das bestimmt aufgehen. Wie sie, hat auch er diese dunklen Augen und noch dunklere Haare. Nur glänzten seine eher vom Schweiß, als vom einfallenden Licht. Er war mindestens so muskulös, wie die anderen beiden, soweit ich das durch sein ärmelloses Shirt sehen konnte. Doch er schien mir wendiger zu sein, als der Ältere. Aber nicht ganz so wendig, wie der jüngere. Dafür war er aber der größte von allen drein. Das konnte ich erkennen, als von der Trainigsbank aufstand und auf mich zutrat.
„Hey.“, begrüßte er mich. „Also Sireno will, dass du für ihn kämpfst, hm?“
„Sieht wohl so aus.“, sagte ich und behielt meine Distanz zu den drei Männern – zwei Männern und dem einen Jungen. Es hatte ganz den Anschein, als seien sie hier eingesperrt worden. Wer wusste also schon, wann ihnen das letzte Mal eine Frau begegnet war?
„Was hast du angestellt, dass er denkt, du könntest kämpfen?“, fragte der Älteste. Es wirkte zwar so, als denke er ich könne nicht kämpfen, weil ich von meiner Statur her so aussah, war aber offensichtlich nicht so gemeint. Ich beschloss ehrlich zu sein. Jeder, der bei meinem Kampf eben zugesehen hatte, wusste immerhin bereits, was ich bin. Und die würden es mittlerweile schon jedem erzählt haben, die es nicht mit eigenen Augen miterlebt haben.
„Ich hab jemanden getötet.“, sagte ich. Nur wusste ich immer noch nicht, wie lange das jetzt schon her war.
„Nur einen Zombie?“, fragte der Jüngste überrascht und skeptisch.
Zuerst wollte ich ja sagen, weil ich dachte er spielte auf meinen Kampf eben in der Arena an, aber dann erkannte ich, dass ich nicht die ganze Geschichte erzählt hatte. „Nein, einen Mann.“
„Aus der Stadt?“, fragte der Älteste wieder. „Oh, bitte sag mir du hast Larkin auf dem Gewissen.“ Ich kannte keinen Larkin, und ich war mir sicher, dass Declan seinen Namen nicht geändert hatte, als er hier her kam. Wozu auch?
„Nein.“, schüttelte ich den Kopf. „Einen Sklaven.“ Im Nachhinein erkannte ich, dass es ein Fehler war, das vor drei Sklaven zu erwähnen, die von ihren Besitzern gezwungen wurden zur Unterhaltung anderer gegen Zombies auf Leben und Infizierung bis Tod zu kämpfen. Da brauchte es nicht einmal, dass sich alle drei verkrampften und mir so zu verstehen gaben, dass sie bereit waren mich zu hassen und mir das Leben zu einer noch furchtbareren Hölle zu machen als es ohnehin schon der Fall war.
„Einen Sklaven?“, wiederholte der Inder. „Wen?“ Ich spürte seinen Hass und Zorn. Er war bereit den toten Sklaven zu rächen, egal wer es war. Aber ich stand zu dem, was ich getan hatte. Obwohl ich es lieber ungeschehen machen wollte. Doch nur deshalb, weil ich dann womöglich noch meine Tarnung zu meinem Schutz hatte, und die Mission noch wie geplant verlaufen konnte.
„Sein Name war Declan. Ich kannte ihn von früher.“, sagte ich. Und als ich den Namen aussprach entspannten sie sich alle drei wieder. „Ihr kennt ihn wohl so gut wie ich.“
„Also, ich weiß nicht, als was du ihn kennst – oder kanntest, sollte ich wohl besser sagen, aber hier war er nicht gerade beliebt, um es höflich auszudrücken.“, erklärte mir der Älteste. „Ich bin übrigens Ben.“, fügte er hinzu.
„Ivy.“, stellte ich mich vor.
„Declan hat immer versucht einen von uns zu verraten, um sich bei seinem Besitzer einzuschleimen.“, sagte der Jüngste. „Und das macht man einfach nicht. Nicht Mal, wenn es wirklich einen Grund dafür gibt.“
„Ich schätze, du hast uns allen hier einen Gefallen damit getan.“, sagte der Inder, kam näher auf mich zu, und streckte mir die Hand entgegen. „Ich bin VJ. Und der kleine unhöfliche Klotz da drüben ist Travis.“
Der Junge sah ihn grinsend an, und wandte sich wieder seinem Lauftraining zu, das er unterbrochen hatte. Auch Ben machte sich wieder an die Arbeit. Er legte zusätzliche Gewichte auf, um sie dann stemmen zu können.
„Ach komm schon.“, sagte Travis außer Puste zu ihm. „Nur weil jetzt ´ne Frau anwesend ist, musst du doch nicht gleich so angeben, alter Mann.“
„Sei du mal lieber still, solange du noch immer ganz grün hinter den Ohren bist.“, sagte Ben scherzhaft. „Außerdem glaube ich nicht, dass so ein junges Ding Interesse an so einen alten Sack hat, wie ich es einer bin.“ Als er das sagte, zwinkerte er mir zu, und legte sich auf die Bank unter den Gewichten.
Etwas peinlich berührt, weil es die Wahrheit war, schob ich ein Lächeln auf meine Lippen.
„Wie hast du ihn denn getötet?“, fragte mich VJ, ohne über die Scherze der anderen auch nur zu grinsen. Es klang fast so, als wolle er sich Tipps von mir holen. Aber leider würden ihm meine Methoden nicht weiter bringen, denn ich konnte deutlich spüren, dass er kein Telepath war.
„Das ist kompliziert.“, sagte ich nur. Und das war es auch. Ich wusste nicht, wie viel er über Telepathen wusste.
„Wie kompliziert kann es schon sein?“, fragte Ben unter Anstrengung seiner Muskeln. „Messer rein, Messer raus, und er ist tot.“
„Schnürsenkel aus dem Schuh, um seinen Hals damit, abwarten und er ist tot.“, warf Travis schnell atmend ein.
„Oh, und als Frau: aufs Dach locken, runterschubsen und er ist tot.“, sagte Ben lachend.
„Oder, eine Waffe von der Wache genommen, auf ihn Zielen, abdrücken und er ist tot.“, sagte Travis.
„Dann wäre sie bestimmt auch schon längst tot.“, erwiderte VJ. „Aber, kommen wir der Sache schon näher?“, fragte er an mich gewandt. Alle drei sahen mich jetzt an. Ben hatte seine Gewichte wieder abgestellt. Travis lief aber weiter auf der Stelle über das Laufband.
„Nein, nichts dergleichen.“, sagte ich.
„Ach komm schon, dann musst du es uns sagen.“, forderte mich Ben auf. „Wir kommen hier nicht so oft raus, wie wir gerne wollen, deshalb sind wir ganz versessen auf Klatsch und Tratsch.“ Dass eine Tötungsart unter Klatsch und Tratsch fällt, würde ich nicht unbedingt sagen.
„Ich, äh, hab ihn zerplatzen lassen.“, gab ich schließlich zu.
„Mit Sprengstoff?“, fragte Travis erstaunt, wie die andern beiden auch waren, und stolperte dabei rücklings vom Laufband, weil er abrupt stehen geblieben war.
„Äh, nein.“, sagte ich. „Ich bin … ein Telepath.“ Noch, im Vergleich zu vorher, weiter erstaunte Gesichter starrten mich an.
„Im ernst jetzt?“, fragte VJ. Ich nickte nur. „Und wieso bist du dann hier, und noch nicht längst geflohen?“ Genau darauf wollte ich nicht antworten. Es war zu gefährlich für die ohnehin schon in sich zusammen bröckelnde Mission, ihm die Wahrheit zu sagen, dass ich nämlich hier bin, um die Sklaven von ihrem Elend in dieser Stadt zu befreien. Also versuchte ich ihn mit etwas weniger abzuspeisen, das sogar eine gute Erklärung dafür ablieferte, dass ich hier gelandet war, und noch immer hier verweilte.
„Als Sireno die Tür öffnete“, ich zeigte dabei auf die schwere Stahltür hinter mir, durch die wir gekommen waren, und er alleine wieder verschwunden war, „hab ich versucht ihn so zu töten, wie ich es mit Declan getan hatte. Aber es hat nicht geklappt. Irgendwie scheint er mich blockieren zu können.“ In Wahrheit verwirrte mich das nicht so sehr, wie ich es Ben, Travis und VJ vormachte. Ich wusste, dass unterschiedlich Telepathen, unterschiedliche Fähigkeiten haben konnten – auch wenn ich zuvor nur Telepathen kannte, die aus meiner Familie stammten, und vielleicht noch Sully, bei dem ich mir nicht sicher war. Es beunruhigte mich auch nicht sonderlich. Das war eben so. Und ich kann nichts anderes dagegen unternehmen, als mir einen neuen Plan zu überlegen.
„Also kannst du gar nichts gegen sie unternehmen?“, fragte VJ.
„Im Augenblick sieht es wohl ganz danach aus.“, sagte ich.
Enttäuscht machten sich die drei wieder an ihr Training. Ich sah mich derweil etwas um. Wie ich vermutet hatte, waren die Zellen, die an beiden Seiten des Raumes aufgereiht waren, wirklich klein. Gerade genug für eine durchgelegene Matratze, die offenbar nur mit Heu oder Stroh gefüllt war. Mehr Platz gab es nicht. VJ hatte mich eine Weile beobachtet, bis er schließlich einen kleinen Rundgang mit mir nachholte. Rundgang, traf es eigentlich gar nicht. Immerhin gab es nur diesen einen Raum, der klar in Zellen und Trainingsraum eingeteilt war. Hinten in einer Ecke gab es eine richtige Toilette und eine Dusche, um Krankheiten vorzubeugen. Er erklärte mir, dass sie nicht die ganze Zeit hier unten eingesperrt waren, nur solange, wie ihre Besitzer meinten, sie müssen trainieren, um nicht von Zombies verspeist zu werden, wenn sie in die Arena traten. Denn immerhin verdiente ihre Besitzer ihr Geld mit ihnen. Sie lebten von Wetten, die auf ihre Kämpfer abgeschlossen werden. Essen bekamen sie immer von ihren Besitzern, was oft besseres Essen war, als die anderen Sklaven bekamen. Wenn sie raus durften, dürfen sie sich innerhalb des Stadtkerns frei bewegen, und brauchen auch nicht zu arbeiten, immerhin musste sie regelmäßig ihr Leben aufs Spiel setzen. Aber die letzten Stahltüren, die zu den Brücken führen, dürfen sie nicht passieren. Wir würden erst morgen wieder raus, meinte VJ. Da brauchen wir auch nicht zu trainiere. Wobei er nicht genau weiß, ob Sireno das auch so handhabt, wie die anderen Besitzer. VJ erzählte mir, er gehöre der Medizinerin, die mich an meinem ersten Tag hier behandelt hatte, und ihrem Mann. Er war wirklich der Sohn der Sklavenmedizinerin, wie sich herausstellte. Travis hatte einst einem Pädophilen gehört, den er vor drei Jahren getötet hatte. Dessen Bruder hatte ihn übernommen, und seine Chance erkannt, durch den Jungen reich zu werden. Ben gehörte einer alten Frau, die ziemlich gerne um sich schlägt, was man an seinen Narben erkennen konnte. Als er einmal die Hand gegen sie erhoben hatte, wurde er von den umherstehenden überwältigt und endete schließlich hier in der Zombie-Kampf-Arena.


20


Die Matratze war kaum als Matratze wahrzunehmen, so hart, stichig und durchgelegen war sie. Ich wollte gar nicht wissen, was für ein Bulle vor mir hier gelegen haben muss. Zum Teil auch deswegen, weil er eben gerade nicht mehr da ist. Bestimmt ist er bei seinem letzten Zombiekampf getötet worden. Oder noch schlimmer, er war jetzt einer von den Untoten, gegen die ich jetzt antreten musste. Mittelgroße Zombies ohne Waffen zu erledigen, geht ja noch. Aber vor einem Zehntner schweren Zombie, der mich, wenn sich schon alleine auf mich draufsaß, zerquetschen würde, hatte ich dann doch ein wenig Angst. Aber darüber wollte ich gar nicht nachdenken.
Eigentlich sollte ich die Stille hier unten, fernab von Sireno und seinen Brüdern nutzen und Dad kontaktieren. Doch ich hatte Angst – mehr noch als vor dem riesen Zombie, der womöglich auf mich lauern konnte – dass er wütend auf mich ist. Ich hatte regelrecht darum gebettelt mit auf diese Mission zu dürfen, nur um ihm zu beweisen, dass ich nicht immer ungestüm handle. Und was hab ich bewiesen? Genau das. Was war es denn, wenn nicht ungestüm, als ich Declan ohne zu überlegen getötet hatte. Ich hatte es ja nicht mal vor. Die ganze Zeit, in der ich hier versucht hatte ihm aus dem Weg zu gehen, hatte ich nie an mein Versprechen gedacht, das ich Panda gegeben hatte, als sie starb. Und jetzt war ich hier rein geraten, wusste nicht, wie ich hier wieder rauskomme sollte, und hatte Angst mich meinem Vater zu stellen. Wobei ich das wirklich tun sollte. Nicht, dass er hier gleich mit der Kavallerie einfiel. Aber Dad hatte ein Gespür für aussichtslose Situationen, die er noch wenden konnte. Und soweit ich das sehen, war noch nichts verloren, solange man nicht den wahren Grund für mein Auftauchen und wo ich eigentlich herkam herausfand. Es konnte sich noch alles zum Guten wenden. Auch wenn ich im Augenblick noch nicht ersehen konnte wie.
Der Morgen hier verlief nicht ganz so, wie als normaler Sklave. Es war zum Beispiel weit nach Sonnenaufgang, wie ich meiner Inneren Uhr entnehmen konnte, die erst wieder richtig funktionierte, als ich den untergehenden Sonnenstand gestern in der Arena gesehen hatte, als wir aufgeweckt wurden. Wir bekamen Frühstück, das sich wiederum nicht von dem der anderen Sklaven unterschied, und die Stahltür wurde offen gelassen, sodass wir nach dem Frühstück an die frische Luft treten konnten. Obwohl ich mich mittlerweile an den modrigen Geruch hier unten gewöhnt hatte, fiel er mir doch noch etwas unangenehm auf.
Wenn wir wollten, konnten wir duschen – sogar einmal täglich, dafür aber nur mit kaltem Wasser. Ich hatte ja nichts dagegen. Oft hatte ich nichts anderes zu Hause getan. Außerdem half es dabei richtig wach zu werden, da ich die Nacht über nicht besonders gut hatte schlafen können. Weil sich die Dusche im selben Raum befand, hatten die Jungs versprochen nicht zu gucken, wenn ich mich auszog und darunter stand. Aber das ließ ich nicht mit mir machen. Ich wartete, bis die drei nach dem Frühstück nach draußen gegangen waren. Es war weniger das kalte Wasser, dass auf meine Haut prasselte, und so gut tat, sondern eher die Freude darüber sich endlich wieder zu waschen. Als einer der anderen Sklaven hatte ich nicht die Gelegenheit dazu mich jemals richtig zu duschen. Außerdem bestand die einzige Gelegenheit gestern, nachdem sich die Eingeweide und das Blut der Zombiefrau, die ich habe zerplatzen lassen, über mich ergossen hatte, mich in einem Waschbecken zu waschen. Man kann sich vorstellen, wie wenig gründlich ich da vorgehen konnte. Meine Kleidung von gestern musste ich zudem auch noch die ganze Nacht anbehalten. Obwohl sie immer noch ganz fleckig war. Vom Geruch wollte ich lieber gar nicht erst anfangen. Mit dem Frühstück ist auch ein Satz neuer Kleider für mich gekommen, mit freundlichen Grüßen von Sireno, hatte der Sklave, das konnte ich ihm ansehen dass er einer war, gesagt.
„Das ist doch wohl ein Scherz.“, fluchte ich vor mir hin, als ich die Kleidung nach meiner Dusche näher in Augenschein nahm. Gut, es war Sommer, und noch nicht annähernd so heiß, wie es bald sein würde, aber musste es denn unbedingt das sein? Was versprach er sich davon? Wollte er damit die Wetten höher treiben? Oder mich einfach zusätzlich lächerlich machen? Diesem Mann ist wirklich grausam und sadistisch.
Aber mir blieb nichts anderes übrig, wenn ich nicht nackt, oder in faulig stinkenden Klamotten, die mich eventuell sogar noch immer infizieren konnten, herumlaufen wollte. Also zog ich seufzend die extrem kurzen Shorts, die schwarzen Militär Stiefel – was beides ja nicht so schlimm war – an. Und dann hob ich das geradezu durchsichtige Shirt vor mir hoch. Es war weiß und man würde mich darunter vollkommen nackt sehen, wenn ich es trug. Ich schämte mich nicht für meinen Körper, ich war sogar sehr zufrieden damit – auch wenn ich mir vielleicht etwas größere Brüste wünschen würde. Aber so herumzulaufen, vor etlichen anderen Menschen, von denen einige nur den Hauch eines Grundes suchten um eine Frau zu vergewaltigen, das konnte ich nicht. Also überlegte ich mir, was ich tun sollte. Und es dauerte auch nicht lange, bis mir etwas einfiel. Es stimmte schon, was man immer über mich als Kind gesagt hatte. Ich war schon sehr kreativ. Ich riss einen streifen des Stoffes ab, der die Matratze aus Stroh, wie ich feststellte, zusammenhielt, und wickelte den Streifen dann so oft es ging um meinen Oberkörper und band es fest so gut es ging. Damit hatte ich mir ein solides Oberteil geschaffen, auch wenn es nur meine Brüste bedeckte. Zudem hielt es sie auch in Form, da es doch unangenehm werden konnte, wenn sie halterlos herumwackelten, wie bei der Zombiefrau gestern, wenn man rennt. Sirenos durchsichtiges Oberteil zog ich darüber und verließ das Untergeschoss der Arena.
Ich hatte vor Sammy an seinem Stand zu besuchen, der jetzt meinetwegen wieder ganz alleine dort arbeiten musste. Danach musste ich mich unbedingt mit Jodie besprechen. Ich hoffe, es klappt, und ich kann mit ihr währende ihrer Arbeit unter vier Augen sprechen, denn nachts durfte ich die Arena nicht verlassen. Doch sollte es zu gefährlich sein belauscht zu werden, konnte ich es bestimmt riskieren, denke ich, nachts telepathisch mit ihr Kontakt aufzunehmen. Weil sie nicht allzu weit entfernt war, anders als Dad, würde es mir nicht ganz so schwer fallen mit ihr zu kommunizieren. Trotzdem war mir das Gespräch von Angesicht zu Angesicht lieber. Denn obwohl ich damit aufgewachsen bin, und es auch hin und wieder aus freien Stücken benutzte, wenn auch eigentlich nur in Notfällen, waren mir diese ganzen telepathischen Gespräche unheimlich. Wobei ich nichts gegen das Gedankenlesen habe, wenn Dad mich nicht dafür bestrafen würde.
Zu meiner Überraschung fand ich Sammys Schwester Nancy bei ihm am Stand. Offenbar hatte Sireno mindestens einen von James Sklaven vom Hacken gelassen. Vielleicht sogar, weil er jetzt mich hatte, mit der er sich die Zeit mit sadistischen Spielchen vertreiben konnte.
„Ivy.“, reif Sammy, als er mich in der Menge auf sie zukommen sah. Er trat aus dem Stand hervor und umarmte mich zu meiner Überraschung. Ich hatte keine Ahnung, dass wir schon so gut befreundet waren. Aber es fühlte sich schön an mal wieder eine nette Geste entgegenzunehmen. Also schloss ich meine Arme auch um ihn, vorsichtig seinen wunden Rücken nicht noch mehr Schmerzen zu bereiten. Aufgeregt fragten sie mich, was überhaupt geschehen sei, weil so viele verschiedene Gerüchte darüber im Umlauf waren. Also erzählte ich ihnen eine von der Realität etwas abgeänderte Version. Zum Beispiel habe ich Declan im Affekt getötet – was ja noch der Wahrheit entspricht – weil er mir an die Wäsche wollte. Sammy hatte keine Ahnung, dass ich mich die Tage zuvor so komisch benahm, weil ich mich vor Declan verstecken wollte. Natürlich brauchte ich jetzt auch keinen Hehl mehr darum zu machen, dass ich ein Telepath bin. Immerhin hatte sich das schon herumgesprochen und es würde bestimmt schwer sein, dies aus den Köpfen der Leute zu holen. Vor allen Dingen, weil die drei Brüder schon darüber Bescheid wussten. Demnach war es egal, ob die anderen Bewohner der Stadt er erfuhren oder nicht. Also musste ich mir auch keine neue Tötungsweise ausdenken, die ich an Declan ausgeführt hatte. Natürlich war es eine erfreuliche Überraschung, dass ich ein Telepath bin. Doch die wenigen Hoffnungen, die sie sich dadurch zuließen zu hoffen, dass ihr Leben sich womöglich ein wenig ändern oder sogar verbessern würde, musste ich vorerst leider zerstören, weil sie das viel zu nahe an meinen eigentlichen Plan für den ich hier her gekommen war bringe würde. Ich wollte ja Sireno, Dino und Ira, nicht auf solche fatalen Gedanken bringen. Denn bisher denken sie noch immer, dass es purer Zufall war, dass Jodie und ich hier aufgetaucht sind. Also erzählte ich ihnen dasselbe, das ich gestern auch VJ, Ben und Travis erzählt habe, dass Sireno mich aus irgendeinem Grund blockieren kann. Aber sowohl Sammy, als auch Nancy waren froh, dass ich wohl auf bin. Das war selbstverständlich nur meinem Wert als Telepathen für Sireno zuzuschreiben. Deshalb machten sie sich auch sorgen. Immerhin hatte Sireno beschlossen, sich meinen Wert in Geldstücken auszahlen zu lassen, indem er mich in die Arena zum erheiternden Bekämpfen von Zombies zu schickt. Ich erzählte ihnen nicht von meinem Verdacht, dass er das gewiss nicht aus Geldgier tat. Meine Theorie war nur für Jodies Ohren bestimmt, die ich bald darauf besuchen ging.
Als ich mich durch den Markt hindurch arbeitete, erkannten mich viele Leute wieder und starrten mich an. Die einen riefen mir sogar zu, dass ich gestern toll gekämpft habe. Andere wiederum waren nicht so begeistern von mir. Hatten sie keine Angst, oder nicht genug Angst vor mir, starrten sie mich mit finsteren und verfluchenden Blicken an. Mir machte das eigentlich nichts aus. Die Sklaven waren allgemein begeistert von mir – bis auf die, die zu viel Angst davor hatten, dass ich womöglich genauso war oder sein werde wir Sireno, Dino und Ira. Aber spätestens, wenn wir sie befreien, sollte sich diese Angst langsam in Luft auflösen, während sie vertrauen zu unserer Kolonie und uns Telepathen fassten.
Nancy hatte mir erzählt, dass Jodie heute in einem der Gebäude im Inneren Kern der Stadt arbeitete. Ich hatte gar nicht bedacht, dass ich sie womöglich gar nicht hätte besuchen können, weil sie normalerweise außerhalb arbeiten musste. Ich durfte ja ab sofort nicht mehr den Kern der Stadt verlassen. Jodie war mit Pamela unterwegs auf Hausbesuche, bei den gesellschaftlich höher gestellten Kunden – also den Sklavenbesitzern – zu Anproben. Nancy hatte mir einige Orte genannt, von denen sie wusste, dass die beiden dorthin müssten. Ich spähte durch mehrere Fenster bevor ich sie fand, was merkwürdig für die Wachen ausgesehen haben muss. In meinem Rücken spürte ich zwei Wachen, die mich genau beobachteten. Aber ich drehte mich einfach nur um und wartete, damit ich ihnen keinen Grund lieferte mich irgendwie aufzugreifen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Jodie und Pamela aus der Wohnung der alten fülligen Frau – sie war nicht zu füllig, denn das wäre in der heutigen Zeit, in der sogar die brutalsten oft nicht genug zu essen hatten, was sie überhaupt dick werden lassen könnte, schon ein wahres Wunder, das der gesamten Ausrottung der Zombies gleichkäme – heraus kamen. Nach einer freudenvollen Begrüßung der beiden, meinte Pamela, dass sie auch alleine mit dem nächsten Kunden fertig werden würde, und Jodie sich ruhig ein wenig Zeit mit mir gönnen könne. Wir redeten kein Wort, als Jodie mich in die nordöstlichste Ecke der eingemauerten Stadt brachte. Dort gingen wir hinter das dortige Wohnhaus in eine Gasse, von der aus man uns weder sehen noch hören konnte. Dennoch musste Jodie achtgeben, dass sich niemand innerhalb des Hauses in Hörweite befand, damit uns auch ja niemand hörte.
„Das war total dumm, egoistisch, rücksichtslos, unvorsichtig, gedankenlos und gefährlich.“, fing Jodie an, als sie sicher war, dass wir ungestört sein würden.
Aber ich fiel ihr ins Wort. „Ich weiß“
„Dann sag mir doch mal, warum du es dann getan hast?“ Sie musste sich zusammenreißen nicht laut zu werden, weshalb sie in einem stetigen zischen sprach.
„Ich hab es versprochen.“, sagte ich nur. Für mich ergab das natürlich einen Sinn. Für sie wahrscheinlich nicht. Trotzdem ließ ich das erst einmal so zwischen uns stehen.
„Was hast du versprochen?“, fragte sie aufgebracht. „Etwas unsere Sache zu torpedieren?“
„Nein.“, jammerte ich fast wie ein kleines Kind, das sich ungehört fühlte. „Ich hab doch nicht irgendjemanden getötet. Er war da, vor vier Jahren, als ich das erste Mal mit euch unterwegs war. Er wusste wer ich war, und er wusste, was wir machen.“ Das war wohl der für die Mission logischste Grund. Dennoch musste ich mir eingestehen, dass das nicht der Grund war, der für mich letztendlich ausschlaggebend war. „Außerdem hatte ich es Panda versprochen.“
Jodie ging nicht auf Panda ein, was mir nur ganz recht war. Es tat immer noch weh über sie zu sprechen. „Er hat dich also erkannt?“
Ich nickte. „Und er wollte zu Sireno und seinen Brüdern gehen. Ich konnte nicht riskieren, dass er sie mit seinen Aussagen auf unsere Fährte brachte. Auch wenn die geringe Möglichkeit bestand, dass sie ihn für einen einfachen Lügner hielten. Sie hätten uns bestimmt genauer beobachtet.“
„Und was ist daran anders als jetzt?“, fragte Jodie mich herausfordernd. „Sie haben dich in eine Arena gesperrt, in denen du waffenlos Zombies ausgesetzt bist. Und sie wissen trotzdem, was du bist.“
„Aber dich verdächtigen sie nicht.“, sagte ich. „Obwohl sie Brüder sind und Telepathen, kamen sie bisher nicht auf den Gedanken, dass du auch ein Telepath sein könntest. Außerdem denken sie noch immer, dass die Geschichte, die du über unsere Herkunft verbreitet hast, stimmt.“
Jodie seufzte. „Ivy, John hat dich mir nur mitgegeben, weil ich versprochen hatte auf dich aufzupassen. Und mit deiner Aktion machst du es mir nicht gerade leicht dem nachzukommen.“
„Ich kann selbst auf mich aufpassen.“, sagte ich trotzig.
„Ja, davon konnte ich mich ja gestern überzeugen.“, sagte sie sarkastisch.
„Ich bin doch noch am Leben.“
„Und für wie lange noch?“, forderte sie mich eiskalt heraus.
Ich überlegte kurz, was ich ihr darauf entgegnen konnte. „Ich hab schon oft genug gegen Zombies gekämpft, um zu wissen wie ich mich verteidigen kann.“
„Da hattest du aber immer Waffen und warst nicht alleine.“, schmetterte sie mein Argument ab.
„Dafür kann ich mir mithilfe meiner Telepathie diese stinkenden Viecher vom Hals halten. Immerhin wissen sie ja schon was ich bin und was ich kann.“
Auch dieses Argument ließ sie nicht gelten. „Denk bloß nicht, dass dir das einen großen Vorteil bringt. Ich kenne Leute, wie diese Brüder zur Genüge. Die suchen einen Weg dich trotz deiner Stärken klein zu kriegen und zu zerstören. Und genau deshalb, darfst du niemals so offenlegen, was du kannst, wie du es gestern getan hast.“
„Aber sie wissen doch noch längst nicht alles.“, beharrte ich auf meiner Position. „Bisher konnten sie noch keinen meiner Gedanken lesen.“ Dabei verschwieg ich ihr natürlich, dass sie ein paar Bruchstücke mir doch schon haben entlocken können, und hoffte dabei, dass sie es in meinen Gedanken nicht lesen würde. Denn auch wenn ich Sireno, Dino und Ira aus meinen Gedanken schloss, so ließ ich doch zu, dass sowohl Jodie als auch Dad Zugriff darauf hatten.
„Ivy.“, sagte sie ermahnend.
„Nein, schon gut.“, sagte ich den Streit aufgebend. „Ich hab schon kapiert. Alles was ich mache ist falsch.“ Damit machte ich kehrt, stampfte aus der dunklen Gasse und ließ sie alleine zurück.
„Ivy!“, rief sie mir noch hinter her. Aber ich ignorierte sie.
Insgeheim wusste ich, dass sie Recht hatte. Vor allem mit dem Teil in dem sie sich Sorgen um mich machte. Ich hatte genug Geschichten von den Sklavenbefreiern gehört, um zu wissen was sie meinte. Sireno würde einen Weg finden, mir mein Leben hier so schwer wie möglich zu machen. Ich konnte dabei nur hoffen, dass er es nicht schaffen würde, bevor wir die Sklaven befreit haben und ich ihn endlich loswerden würde.
Dennoch hatte mich dieses Gespräch mich Jodie sehr wütend gemacht, obwohl ich wusste, dass sie nichts weiter als die Wahrheit gesagt hatte. Aber ich konnte mich einfach nicht des Gedankens erwehren, dass das Dads Worte waren, die da aus ihrem Mund kamen. Das ließ mich nur wieder an den Tag der Besprechung erinnern, an dem ich erfahren hatte, was er von mir dachte. Er wusste es nicht – na ja, jetzt vielleicht schon, wenn er gerade meine Gedanken liest – aber er hatte mich damit wirklich verletzt, auch wenn es damals nicht das war, was mich am traurigsten gemacht hatte. Mittlerweile lag die Sache anders. Pandas Tod war gerecht worden, und ich hatte endlich das Gefühl sie loslassen zu können. Da rutschte die Tatsache, dass Dad mir einfach nicht genug vertraute, in meiner Prioritätenliste weiter nach oben. Gefolgt von dem Gefühl, dass er im Grunde recht hatte. Ich hatte es wirklich irgendwie vermasselt, auch wenn die Mission noch nicht ganz gescheitert war. Eigentlich wusste ich gar nicht, was mir mehr wehtat, die Wahrheit oder das Misstrauen. Es war schwer zu sagen.
Zusammen mit meinen Gedanken, die von Selbstzweifeln geplagt waren, ging ich zurück zum modrigen Kellergeschoss der Zombie-Kampf-Arena. Hier draußen konnte mich auch nichts mehr aufheitern. Und die vielen Leute auf dem Markt, waren genau das, zu viel.
Sireno begegnete mir auf dem Weg durch eine der Gassen, die zum Markt führten, durch den ich musste um zurück zu gehen. Ich bemerkte ihn erst, als er mein Handgelenk ergriff und mich so zwang ihn anzusehen.
„Du beleidigst meinen Kleidergeschmack.“, sagte er arrogant vor sich hin witzelnd. „Willst du mich beleidigen?“
Eigentlich war ich nicht in der Stimmung ihm Paroli zu bieten, tat es aber doch irgendwie automatisch. „Ich tu mein bestes.“ Ich riss mich von ihm los und war erstaunt, dass er nicht wiederstand.


21


Der Mond war hell, obwohl er nur noch eine Sichel war. Vom Dach des Sklavenquartiergebäudes beobachtete ich, wie ein Zombie unten auf der Straße durch die Straße torkelte. Mitten in der Nacht war ich aufgewacht. Schon zuvor konnte ich nur schwer einschlafen. Das Gespräch zwischen Ivy und mir, das ungewollt in einen Streit ausartete, nagte an mir. John hatte mir versichert, dass ich das richtige gesagt hätte. Er hatte sich selbst die Schuld für diese Ausartung gegeben. Ivy hatte wohl doch erfahren, was er wirklich über sie dachte, oder wie ich den Eindruck hatte, was er über sie befürchtete. Jetzt ignorierte sie ihn, wie eigentlich schon seit wir hier angekommen waren. Vielleicht sogar weil Ivy darüber Bescheid wusste. Aber zu Hause hatte ich keinerlei Distanz zwischen ihnen bemerkt.
„Kannst du auch nicht schlafen?“, fragte mich eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und erkannte Willy, der die Tür zum Innern des Gebäudes hinter sich schloss.
„Nein.“, sagte ich. Eigentlich wollte ich alleine sein, aber ich konnte ihn ja schlecht wieder wegschicken. „Was hält dich wach?“, fragte ich aus lauter Höflichkeit.
„Der schlechte Geruch, der Hunger, die Angst um meine Mädchen.“, zählte er auf. „Such dir was aus.“ Willy war ein sehr fürsorgender Vater für Cameron und Olivia. „Was ist mir dir? Ivy?“
Ich nickte, wollte aber eigentlich nicht darüber reden.
„Hast du sie heute gesehen?“, fragte er. Wieder nickte ich nur. „Du wirkst nicht gerade glücklich darüber. Geht es ihr nicht gut?“
„Doch, es scheint ihr schon gut zu gehen.“, sagte ich. „Aber wir haben uns nur gestritten.“
Willy schwieg einen Moment. „Das kenne ich. Ich streite auch oft mit meinen Mädchen, wenn ich Angst um sie habe. Ich glaube viele Leute werden schnell etwas wütend, wenn man einen geliebten Menschen verlieren könnte.“ Nach einem weiteren Moment des Schweigens, sagte er, „Kann ich dich mal was fragen? Warum habt ihr verheimlicht, dass Ivy ein Telepath ist?“
Damit hatte er mich eiskalt erwischt. Schnell überlegte ich mir einen plausiblen Grund dafür. „Na ja.“, sagte ich um Zeit zu gewinnen. „Da wo wir herkommen, war Ivy als Telepath nicht so gern gesehen. Die Leute hatten Angst vor dem, was sie kann.“
Er schien das einen Augenblick abzuwägen. „Das kann ich verstehen. Um ehrlich zu sein, ist es mir auch nicht ganz geheuer. Und ich glaube, dass es vielen hier auch so geht.“
„Telepathen sind nicht allesamt so wie Sireno, Dino und Ira.“ Ich hatte noch nicht das zweifelhafte Vergnügen die drei persönlich zu treffen.
„Da hast du wahrscheinlich Recht. Aber das wird nicht so leicht aus den Köpfen der anderen zu streichen sein. Obwohl sie nicht die einzigen sind, die viele hier kennen.“
„Was meinst du damit?“, fragte ich stutzig geworden und interessiert.
„Chane und Arianna waren ganz anders. Und Ifram hält sich komplett raus.“, sagte er Gedankenverloren.
„Wer sind Chane und Arianna?“, fragte ich.
Aufgeschreckt sah er mich an. „Vergiss das am besten gleich wieder. Wenn einer der Drei herausfindet, dass ich dir davon erzählt habe, kriegen wir beide eine Menge Ärger.“
Ich hätte gar nicht davon anfangen sollen. Sollten sie herausfinden, dass ich über ihre beiden Geschwister gesprochen habe. Charlie hätte uns vor fünf Jahren eine Lehre sein sollen. Es hatte ohnehin keinen Sinn gehabt, was er damals unternahm. Die beiden sind tot, dachte er.
Ihm zuliebe bohrte ich nicht weiter nach. Wenn diese beiden ohnehin tot waren, konnten sie uns auch nicht weiterhelfen. Wobei es mich durchaus interessierte, was er mit: ihre beiden Geschwister meinte. Hatten die drei Brüder etwa noch einen Bruder und eine Schwester? Wie waren sie gestorben? Waren sie auch Telepathen? Vermutlich schon, sonst hätte Willy die beiden nicht erwähnt.
„Wer ist Ifram?“, fragte ich, da er nicht erwähnt hatte, dass er auch ihn nicht hätte erwähnen dürfen.
„Er ist der Onkel der drei.“, sagte Willy. „Ihr einziger noch lebender Verwandter.“ Ein Verwandter. War es möglich, dass auch er ein Telepath war? Aber seit ich hier bin, habe ich keinen weiteren Telepathen erkennen können. Ich fand es zu auffällig Willy danach zu fragen, wo dieser Ifram wohnte, deshalb ließ ich es. Wenn ich ihn nicht alleine aufspüren konnte, würde ich einfach jemand anderen Fragen. Pamela, zum Beispiel, sie ist schon so lange hier, sie muss ihn kennen.
Ich stand noch eine ganze Weile mit Willy auf dem Dach. Drei Zombies, die wir beobachtet haben, sind unten an uns vorbeigelaufen. Keiner von uns sagte etwas, dabei merkte ich, dass wir ziemlich dicht nebeneinander standen. Ich wusste nicht genau warum, aber irgendwie ließ mich das Schuld gegenüber Nick verspüren. Es war vollkommen lächerlich. Nick war zu Hause, in Sicherheit, und tat gerade sonst etwas – ich hoffe, er dachte gerade an mich. Außerdem fand ich Willy nicht einmal attraktiv. Aber vielleicht, und das musste ich mir eingestehen, lag es auch daran, dass ich näher an Willy heran getreten war. Denn, obwohl ich mich nicht so zu ihm hingezogen fühlte wie zu Nick – körperlich und sexuell – hatte Willy in meinen Augen etwas ganz anderes zu bieten. Er hatte zwei wundervolle Töchter, um die er sich rührend kümmerte. Das war das, was ich irgendwie doch attraktiv an ihm fand.
Doch fair war es nicht, musste ich zugeben. Ihm gegenüber nicht, und auch Nick gegenüber nicht. Denn, zu Hause zu bleiben, und nicht mehr auf Missionen zu müssen, war wirklich nicht der einzige Grund, warum ich mir ein Kind wünschte. Das war mir hier klar geworden. Zu Hause hatten wir auch Kinder. Ich konnte meinen Finger nicht auf den Grund legen, der mich das ausgerechnet hier erkennen ließ. Vielleicht, weil es hier so viel mehr Kinder gab – Sklaven und Nicht-Sklaven. Auch Schwangere gab es, anders als zu Hause, wo gerade niemand schwanger war. Ich wünschte mir auch ein kleines Leben, das in mir heranwuchs. Und diese Erkenntnis stimmte mich traurig. Denn ich glaube, dass Nick, nicht der Mann ist, der mir das geben konnte – oder wollte. Jetzt jedenfalls noch nicht. Das hatte er mir klar gemacht, bevor ich überhaupt an die Grenzen der Ruinenstadt ging, um diese Stadt heimlich auszukundschaften.

Lange Zeit war das einzige, was ich von Sireno gehört hatte, dass er mich bis auf weiteres nicht raus lassen wollte. Und das hatte er mir über einen Sklaven, der uns eingesperrten Kämpfern das Essen brachte, ausrichten lassen. VJ, Ben und Travis durften raus. Nur ich war hier, wer weiß wie viele Tage eingesperrt. VJ, mit dem ich mich besonders angefreundet hatte, meinte, es seien sechs Tage gewesen. Außerdem fügte er hinzu, dass er glaubte, dass Sireno mich womöglich rauslassen würde, wenn ich mich am Training beteiligte. Denn bisher hatte ich die meiste Zeit nur auf meiner Matratze verbracht. Nur ab und zu, wenn die anderen sich bereit machten zu schlafen – für mich die einzige Möglichkeit zu wissen, welche Zeit wir gerade hatte – stieg ich auf das Laufband, um mich ein wenig zu ermüden, damit ich schlafen konnte und mich nicht die ganze Nacht lang herum wälzte.
Doch ich glaubte nicht daran, dass Sireno mich wieder ans Tageslicht ließe, wenn ich etwas mehr Einsatz im Training zeigte. Es würde ihm doch ohnehin egal sein, wenn ich in der Arena von einem Zombie verschlungen werden würde. Er war bestimmt nicht darauf hinaus, an mir Geld zu verdienen. Er war der Typ Telepath, der sich einfach alles nehmen würde, was er brauchte, indem er andere soweit manipulierte, dass sie es ihm freiwillig übergaben. Wozu brauchte er dann noch mich um Geld zu verdienen? Vielmehr war ich für ihn ein Spielzeug. Ein Projekt um zu sehen, wie schnell er einen Telepathen zerstören konnte. Dieser sadistische Bastard schien damit sogar Erfolg zu haben. Mit der fehlenden Sonne und Frischluft wurde ich zunehmen aggressiver, was die drei Jungs, mit denen ich mir das Kellergeschossverließ unter der Arena teilte, unweigerlich abbekamen. Manchmal erwischte ich mich sogar dabei, dass ich den Anderen Kopfschmerzen bereitete. Im wahrsten Sinne des Wortes. Als Telepath konnte man abgesehen von Gedankenlesen so einiges anstellen. Mittlerweile hatte ich sogar aufgegeben mich zurückzuhalten eben das zu tun. Da ich Dad ignorierte, und es ihm schwer fallen dürfte mich aus so einer Entfernung zu bestrafen (wobei er mich soweit ich wusste mittels diesen Prinzips davor bewahrt hatte von der Zombiefrau vor ein paar Tagen verspeist zu werden, weil ich noch bewusstlos war – er hatte mich doch so aufgeweckt oder?), beobachtete ich immer mal wieder die Gedankengänge der drei Männer. Ich erwischte Travis mehr als nur einmal dabei, wie er sich mich nackt vorstellte. Er war eben schon in der Pubertät und konnte nichts dafür. Ben ignorierte solche Gedanken – obwohl auch er sie das ein ums andere Mal hatte. Aber größten Teils drehten sich seine Gedanken um eine Frau – seine Frau, wie ich vermutete. Ich glaube sie war tot. Doch so genau dachte Ben nicht darüber nach, sodass ich mir nicht sicher sein konnte. VJ, der sich nachts sogar ein- zweimal selbst angefasst hatte, als er mein nacktes Ich im Kopf hatte, machte sich sonst nur große Sorgen um seine Familie. Sein Vater war krank, seine Schwester wurde von Ira ins Auge gefasst, und bei seinem Bruder musste er befürchten, dass er deshalb etwas dummes tun würde. Seine Mutter vermisste er einfach. Er sah sie am seltensten, weil sie immer arbeiten musste, wenn er die Arena verlassen durfte. Nie hatte sie Zeit für ihn. Außerdem arbeitete sie nicht nur Tags über für ihre Besitzer, sondern auch nachts, wenn einer der Sklaven medizinische Hilfe brauchte. Sie schlug niemanden etwas ab.
Es war nicht fair, wie Dad immer sagte, dass ich die Privatsphäre, die sie mit ihren Gedanken hatten durchbrach, aber die einzige Chance nicht durchzudrehen. Es war alles andere als leicht. Ich war vollkommen für mich. Sogar von den Jungs zog ich mich langsam zurück. Anfangs hatten wir vier uns wunderbar verstanden. Kaum zu glauben, dass ich so eine Wandlung in nicht mehr als fünf Tagen durchgemacht hatte. Und als ich mir das durch den Kopf gehen ließ, erkannte ich, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Ganz eindeutig musste Sireno seine Finger da im Spiel haben. Er war in meinem Kopf, wo er, auch wenn ich mir immer noch totsicher war, dass er meine Gedanken und Erinnerungen nicht erreichte, viel Schaden anrichtete. Er ließ mich so fühlen, wie er wollte. Damit konnte er mich schneller brechen. Vermutlich lag dabei in seiner Absicht, dass er so auch bald Zugang zu meinen verborgenen Gedanken erhielt. Ich durfte mich nicht unterkriegen lassen. Ewig würde er damit auch nicht zubringen. Irgendwann musste er einsehen, dass er damit keine brauchbaren Ergebnisse erzielte, und würde sich etwas anderes einfallen lassen. Ich musste nur ausharren und durchhalten.
Ich verbrachte noch weitere vier Tage, bevor sich endlich wieder etwas in meinem Leben tat, und ich nicht länger durch die Gedanken anderer leben musste. Sireno ließ sich dazu herab mich persönlich einen Besuch abzustatten, während die Jungs gerade draußen waren und ihr eingeschränktes Leben versuchten zu genießen – was ihnen schwer fallen sollte, da sie ja immerhin noch Sklaven waren, auch wenn sie nicht so arbeiten mussten, wie die anderen.
„Ein lauschiges Plätzchen hast du dir hier eingerichtet.“, spöttelte er an meiner offen stehenden Zellentür. Ihm fiel meine kaputte Matratze auf. „Da kommt also dieser Stofffetzen her.“, stellte er fest.
Ich tat mein bestes ihn zu ignorieren. Denn am liebsten würde ich ihm irgendetwas Stumpfes soweit in seinen Körper rammen, bis es hinten wieder rauskommt. Doch nüchtern betrachtet standen meine Chancen, damit durchzukommen oder auch nur Erfolg zu haben, gleich null. So ungern ich es auch zugab, solange er mich, wie auch immer er das hinbekam, blockierte, war er mir überlegen. Ich konnte nichts gegen ihn ausrichten, soweit ich das ersehen konnte. Also blieb mir nichts anderes übrig, als mich zusammenzureißen und meine Aggressionen in simplen und unbefriedigenden Trotz umzuleiten. Es gab wirklich nichts Unbefriedigenderes im Leben, als das. Vor allen Dinge, wenn man es mit so einem widerlichen Kerl wie ihm zu tun hatte.
„Du kannst dich freuen“, sagte er gespielt erheiternd, „morgen darfst du wieder ans Tageslicht.“
Hoffnungsvoll blickte ich auf, nur um enttäuscht zu werden. Zufrieden nahm er meine Hoffnung wahr, und zerstörte sie wieder mit Genuss.
„Natürlich nur solange, wie der Kampf auch dauert.“, sagte er.
„Bastard.“, warf ich ihm an den Kopf, was er nur noch erfreuter entgegennahm.
„Du irrst dich. Meine Eltern wurden von einem Priester getraut, bevor sie mich bekamen. Wie sieht es mit deinen aus?“, fragte er spielerisch. Ich hasste seine Spielchen. Noch immer versuchte er etwas aus mir herauszubekommen, weil er es telepathisch einfach nicht schaffte. Ich hoffe, das nagt an ihm.
„Aus mir kriegst du nichts raus.“, sagte ich nur. „Kapier das endlich.“
„Weißt du, ich bin enttäuscht von dir.“, sagte er gespielt enttäuscht. Er war wirklich kein sehr überzeugender Schauspieler. „Eigentlich hatte ich gehofft, dass du es – wie sagtest du gerade so schön – kapierst.“ Wieder zog er seine adlig gebildete Nummer durch. Das tat er gerne. Damit ließ er die anderen immer wie dumme Tölpel dastehen – dachte er zumindest. Aber er war der einzige, dem das aufzufallen und zu bedeuten schien. „Bislang hatte ich es vermieden deine Schwester zu belangen, weil ich dachte, du wärst irgendwann, wenn wir uns besser kennen und uns aneinander gewöhnt hätten, auch etwas kooperativer. Doch vielleicht ist es an der Zeit das zu ändern.“
„Wenn du sie anfasst, bist du tot.“, fuhr ich ihn an und kauerte in einer Stellung, die bereit zum Sprung und anschließenden Kampf war.
„Sei doch ehrlich zu dir selbst, Ivy.“, sagte er. „Du kannst mir nichts anhaben.“
Er hatte Recht. Hier drinnen konnte ich nichts unternehmen. Ich konnte Jodie nicht vor ihm beschützen und auch die Sklaven nicht befreien. Es musste sich etwas ändern. Ich brauche einen Plan. Aber was für einen Plan? Was konnte ich tun? Wie würde ich hier wieder rauskommen? Wie lange konnte ich mir noch Zeit lassen um einen Plan zu entwickeln?
„Also vergiss nicht“, sagte Sireno, als er schon an der Tür war, „morgen musst du wieder kämpfen.“
Da schoss mir etwas durch den Kopf. Als hätte es mir jemand zugeflüstert. Aber es war nicht so, als hätte ich die Gedanken von Dad oder Jodie oder sonst irgendjemand plötzlich aufgefangen. Es war wie eine Erkenntnis, dich ich mir selbst zuflüsterte, obwohl ich sie zuvor noch gar nicht kannte.
Er ist nicht der Gentleman, der er vorgibt zu sein. Dieses Gehabe ist nur eine Ausrede dafür, dass er etwas nicht konnte. Und zwar nicht, weil er es moralisch gesehen einfach nicht fertigbrachte, sondern weil er aufgrund seinen begrenzten Fähigkeiten einfach nicht dazu in der Lage war. Er konnte Jodie nichts anhaben. Physisch gesehen zwar schon, aber damit sollte sie fertig werden, solange sie sich telepathisch wehren konnte. Denn irgendetwas in mir drinnen, sagte mir, dass sie beschützt wurde. Ich wusste nicht von wem. Von Dad vielleicht, oder von Tante Sarah – wobei es schon ein Wunder wäre, wenn sie mit ihren Gedanken von zu Hause wirklich bis hierher kommen würde. Schon Dad zu erreichen, musste für sie unmöglich sein. Immerhin waren wir eine Tagesreise von zu Hause entfernt, in der wir eine beträchtliche Strecke zurückgelegt hatten.
Erleichtert darüber, dass ich mir nicht allzu große Sorgen um Jodie machen brauchte, beschloss ich mich auch heute nicht ans Training heranzuwagen. Früher hatte ich nie daran gedacht, als ich ins Ödland zog und mir Zombies begegnet waren, die ich ausschalten musste, aber mit Telepathie gegen sie zu kämpfen, war das Beste, was man machen konnte, wenn man es denn konnte. Immerhin hatte man keine Munition, die dir ausgehen könnte, oder eine Waffe, die sich im falschen Moment Verhacken konnte, oder sonst irgendeinen Defekt erleiden könnte. Ich war nur noch auf mich und meine geistige Kraft angewiesen, die mir Sireno bisher noch nicht ganz hatte wegnehmen können. Nur bei ihm schien einfach nichts mehr zu funktionieren. Und darüber würde ich mir irgendwann mehr Gedanken machen müssen. Doch vorerst fühlte ich mich sicher für den Kampf morgen. Denn seit ich der bloßen Kraft meiner Gedanken einen Menschen und einen Zombie in weniger als vierundzwanzig Stunden getötet hatte, fühlte ich eine Art wachsende Stärke in mir. Wie ein Muskel, der stärker wurde, wenn man ihn trainierte, so fühlte sich diese neuausgebaute Fähigkeit an. Ich war nicht die erste, die schon jemanden so getötet hatte, das wusste ich aus Erinnerungen, die nicht meine waren. Mein Großvater hatte es getan. Dad hatte es nie ausprobiert. Vermutlich war es ihm zu eklig, was ich durchaus verstehen konnte, da man immerhin das Gefühl hatte im Leib des Zombies zu sein, wenn man seine Organe und Innereien langsam zum Anschwellen brachte, bis sie schließlich platzten.
Morgen sollte ich also keine Probleme haben. Selbst wenn Sireno mich einem halben Dutzend Zombies zu Fraß vorwerfen würde, war ich mir sicher, dass ich gesund daraus wieder hervor gehen würde. Wobei es mit so vielen ja bestimmt nicht einfach werden würde. Aber ich machte mir keine Sorgen, weshalb ich relativ ruhig in dieser Nacht schlafen konnte. Vor allen Dingen aber auch, weil ich wusste, dass ich morgen schon wieder ans Tageslicht konnte, worauf ich mich schon freute. Ich überlegte sogar, wenn die Sonne warm und hell am Himmel stand, meinen Sieg etwas hinaus zu zögern, nur um etwas mehr Sonne tanken zu können. Wer wusste denn schon, wie lange ich dann wieder eingesperrt bleiben würde?
Ganz so ruhig schlief ich aber dann doch nicht. Mitten in der Nach wachte ich auf. Aber nicht wegen Sorgen, die mich bis in eine Albtraum hinein verfolgten, sondern wegen Geräuschen, die ich hörte. Das Geräusch eines Mannes, der sich gerade selbst befriedigte. Einerseits war es peinlich das mitanzuhören und im selben Raum zu sein, auch wenn wir nur durch Zellentüren im selben Raum waren, da wir drei massive Wände um unsere Schlafplätze hatten. Andererseits regte es die Neugier in mir.
Lautlos erhob ich mich von ansonsten so geräuschvoller Matratze und kroch auf dem Boden zum Eingang meiner winzigen Zelle. Sofort erkannte ich, dass es VJ war, der nicht die Finger von sich lassen konnte. In letzter Zeit tat er es häufig, hatte ich das Gefühl. Greg, der immer wie ein Bruder für mich war, erzählte mir im Vertrauen, dass Masturbieren ihm bei der Stressbewältigung half. Wobei mir sein Leben nicht besonders stressreich vorkam. Den halben Tag lümmelte er sich beim Hüten des Viehs auf der Weide herum, und die andere Hälfte verbrachte er auch relativ entspannt beim Schlachten, Ausmisten, Scheren oder der Verarbeitung der tierischen Produkte – was er meistens auch noch alles Carla machen ließ, die vor einiger Zeit angefangen hatte in diesem Bereich unserer Kolonie hinein zu lernen. Ein fauler Hund, mein gefühlsmäßiger Bruder. Meistens tat er es dann wohl doch eher zum Vergnügen und schob seinen nicht vorhandenen Stress als Ausrede vor. VJ hingegen hatte echte und wirklich stressreiche Probleme. Auch wenn Ira das Interesse an seiner Schwester scheinbar von heute auf morgen verloren hatte – was ja eine hervorragende Neuigkeit war, da alle wussten, was Ira mit seinen Sklaven machte – seinem Vater schien es in den letzten Tagen immer schlechter ergangen zu sein, weil er sich nicht ausruhen durfte. VJ hatte sich auch von mir zurückgezogen, obwohl er doch immer an meiner Seite war, als ich so aggressiv und selbst so zurückgezogen war. Ich glaube um seinen Vater stand es schlimmer, als sie dachten. Ein Grund mehr uns mit der Befreiung zu beeilen, damit er sich bald ausruhen konnte und wieder auf die Beine kam. Doch dazu musste ich erst einmal hier raus kommen, wozu mir noch kein brauchbarer Plan eingefallen ist.
Das unterdrückte leise Stöhnen VJs wurde lauter. Es war nichts Vergleichbares zu dem hungrigen furchterregenden Stöhnen der Untoten, die überall herum irrten. Sein Stöhnen drückte einen ganz anderen Hunger aus. Derselbe Hunger, den ich in Rick spürte, wenn wir miteinander schliefen. Seit Tagen, musste ich bemerken, hatte ich nicht mehr an ihn gedacht. Doch jetzt fühlte ich wieder diese Sehnsucht in mir, die nach ihm schrie, seit ich von zu Hause weg bin. Merkwürdigerweise bemerkte ich, dass VJ sich in dieser Situation genauso anhörte wie Rick. Eigentlich hatte ich immer angenommen, dass es Ricks Stöhnen war, in das er all seine Erregung über mich und meinen Körper legte, das meine Erregung immer ins schier unermessliche anschwellen ließ. Doch nun, mit VJ in diesem Raum, der sich selbst befriedigte, war ich mir nicht mehr ganz so sicher.
Plötzlich fiel mir ein Leuchten von der anderen Seite des Raumes auf. Es war Licht, das von irgendwoher kam und sich in VJ Augen, die mich jetzt ganz deutlich ansahen, reflektierte. Obwohl es vielleicht besser gewesen wäre zurück zu meiner Matratze zu kriechen und zu versuchen weiter zu schlafen, blieb ich, wo ich war und beobachtete ganz offen, wie VJ immer noch unter seiner dünnen Decke zu Gange war. Auch er beobachtete mich weiter. Dabei konnte ich mir einfach nicht erwehren mir seine Gedanken anzusehen. Er dachte an mich dabei. In seinen Gedanken sah ich mich selbst, wie ich zu ihm rüber ging, mich auf ihn setzte und ihn küsste. Während meine Hand sich in seiner Hose verirrte, wickelte er den langen Stoffstreifen von meinen Brüsten und küsste mich dabei. Er ließ sich zurücksinken und ich folgte ihm. Dann drehte er uns beide, sodass ich auf dem Rücken lag und er über mir. Als er dann anfing meine – für mich viel zu kleinen – Brüste zu küssen, zog ich mich aus seinen Gedanken zurück und kroch ganz schnell auf meine Matratze. Ich musste an Rick denken.

„Glückwunsch zum Geburtstag.“, hörte ich Rick. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich an ihm vorbeigegangen war, als ich aus dem Wohngebäude kam, in dem Stella, Ava und Eve wohnten. Sie hatten mich gestern mitten in der Nach aus meinem Bett entführt und mich in Ava und Eves Wohnung gebracht, um dort zu viert in meinen Geburtstag hinein zu feiern. Wir hatten viel Spaß und es war spät – oder besser gesagt früh – als ich wieder nach Hause ging.
Ich war hundemüde, ließ mich aber auf ein Lächeln für Rick ein. „Danke.“, sagte ich. „Was machst du so früh schon auf den Beinen?“
„Ich hab mir den Sonnenaufgang angesehen.“, antwortete er lächelnd. Für so einen Romantiker, dass er sich den Sonnenaufgang ansah, hatte ich ihn nicht gehalten. Er streckte mir die Hand entgegen, eine Geste, die bedeutete, ich solle meine Hand in die seine legen. „Komm mit.“, sagte er.
„Wohin?“, fragte ich nur.
„Komm einfach.“, forderte er mich nochmals auf, nahm meine Hand und zog mich mit sich. „Vertrau mir. Ich werfe dich schon nicht in eine Horde Zombies.“
Mir blieb also nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, hatte er doch meine Hand und ich war zu müde sie ihm zu entreißen. Außerdem war meine Neugier geweckt worden. Wo wolle er mich wohl hinbringen? Die Antwort folgte auf dem Fuße. Lautlos und vorsichtig öffnete er die Tür zu der Wohnung, die er mit seinem Bruder und seinen Eltern bewohnte. Um niemanden zu wecken, weil es für die meisten noch verdammt früh am Morgen war, knipste er kein Licht an und führte mich durch das Halbdunkel des Raumes zu einer anderen Tür. Ricks Zimmer, vermutete ich. Noch nie war ich hier drinnen gewesen. Wozu auch? So gut waren wir dann auch wieder nicht befreundet, dass er mich oder ich ihn nach Hause eingeladen hätte, um dort zusammen herumzuhängen. Im Grunde beschränkte sich unsere Freundschaft auf unsere Ausflüge ins Ödland, wenn wir unterwegs waren um in verlassenen Häusern allerlei Braubares zu sammeln.
Er zog mich in den Raum, ließ mich frei und schloss vorsichtig die Tür hinter uns. Dann bedeutete er mir mit seinem Finger auf den Lippen, ich solle leise sein. Als hätte ich hier gleich herum geschrien, wo doch seine Familie noch tief und fest schlief, bemerkte ich sarkastisch in meinen Gedanken, sprach es aber nicht aus. Rick öffnete eine Tür seiner Schrankwand und eine Reihe von Schubladen kam hervor, von denen er die vierte von oben herauszog, und in ihr herum kramte, bis er ein Stoffknäul daraus hervorzog. Anstatt mir zu sagen, was das war, und wieso er mich mitgenommen hatte, winkte er mich weiter ihm zu folgen. Ein bisschen genervt, weil ich, wo ich doch so müde war, keine Lust auf irgendwelche blöden Spielchen hatte, aber trotzdem noch neugierig, weil er wegen des Stoffkäuls so gute Laune zu haben schien, folgte ich ihm. Wir verließen die Wohnung wieder lautlos, dann nahm er wieder meine Hand, ohne diesmal danach verlang zu haben und zog mich über den Innenhof seines Wohngebäudes. Früher war das mal ein Parkplatz für die Wohnungen, die darum umringt lagen. Doch heute spielten die Kinder hier oft nur noch Ball.
Bis in die dritte Etage des alten Parkhauses hatte mich Rick gezerrt, bevor er mich endlich losließ. Hier war eine Art Raum gebaut worden, wo wir alle Werkzeuge und auch Baumaterialien lagerten und aufbewahrten, damit sie Wettergeschützt waren. Das Parkhaus ging noch eine Etage höher, doch dort ging eigentlich so gut wie keiner hin, außer die Techniker oder Mechaniker. Denn dort oben befand sich unser improvisiertes Stromkraftwerk. Auf meine Fragen, wohin wir gingen und was wir taten, antwortete er nur, dass ich abwarten solle. Schließlich stellte Rick sich mit dem Stoffknäul vor mir auf und fummelte daran herum, um einer seiner Hände darunter zu schieben.
„Was ist das?“, fragte ich.
Dann zog er den Stoff, der sich als stinknormales Shirt entpuppte, weg, und zum Vorschein kam zu meinem Erstaunen eine Flasche. Sie war durchsichtig, mit schwarzweißen Etiketten beklebt, die mittlerweile sehr alt aussahen. Es befand sich noch Inhalt in der Flasche, die eindeutig Alkohol enthielt.
„Spinnst du!“, schrie ich ihn leise an, weil der Großteil der Kolonie noch schlief, und auch niemand mitbekommen sollte, was sich Rick geleistet hat. „Du weißt genau, dass Alkohol außerhalb der Bar verboten ist! Wo hast du das Zeug her?“, zischte ich ihn an. Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr ganz so müde.
„Woher wohl?“, sagte er unbeeindruckt von meinem Ausbruch. „Von unserer letzten Tour natürlich.“
„Was glaubst du wohl was passiert, wenn uns damit jemand erwischt!“ Es war weniger eine Frage, als ein weiterer Vorwurf.
„Reg dich ab.“, versuchte er mich zu beruhigen. „Dein Vater wird dich schon nicht an deinem Geburtstag aus der Kolonie schmeißen.“ Denn das war die Strafe, für ein schweres Vergehen hier. Unerlaubter Alkohol wurde in der Regel eigentlich mit einem Freifahrtschein in unser kleines Gefängnis geahndet. Das wussten wir beide genauso gut wie jeder andere hier auch.
Trotzdem sagte ich, „Mich vielleicht nicht.“, und verschränkte dabei die Arme vor meinen Torso.
Rick verstand sofort was ich meinte und zwinkerte mir zu, während er sagte, „Ich vertraue darauf, dass du ein gutes Wort für mich bei ihm einlegst.“
„Setzt du da nicht ein bisschen viel Vertrauen in mich?“, fragte ich sarkastisch.
„Ach komm schon. Es ist ja nicht so als würden wir das jeden Tag machen, oder vor oder sogar während einem Ausflug.“ Er hatte allen Ernstes vor das Zeug mit mir zu trinken. „Jetzt wo du endlich alt genug zum Trinken bist.“
„Wieso ausgerechnet ich?“, fragte ich willkürlich, weil ich ernsthaft darüber nachdachte diese Flasche mit ihm zu leeren, und Zeit schinden wollte, es mir wieder auszureden.
„Du hast Geburtstag.“, zuckte er mit den Achseln, als sei dies eine ganz logische Schlussfolgerung daraus. Dann hielt er mir die Flasche entgegen und fügte hinzu, „Und das ist dein Geschenk.“
Ein bisschen gerührt war ich ja schon. Dennoch änderte das nichts daran, dass es einfach falsch war. Damit verstießen wir gegen die einfachen Regeln, die schon mein Großvater aufgestellt hatte, als er noch am Leben war und das Sagen über die Gemeinde hatte, die er aufgebaut und zusammengeführt hatte.
„Du musst mir doch nichts schenken.“, sagte ich ein bisschen verlegen.
„Das macht man doch so unter Freunden.“, meinte er ganz selbstverständlich.
„Ich hab dir zu deinem fünfundzwanzigsten nichts geschenkt.“, bemerkte ich gedankenlos.
„Schon gut, du bist mein Freund, aber ich nicht dein Freund, hab verstanden.“, scherzte er, woraufhin ich lachen musste.
„Du weißt wie ich das meine.“, sagte ich dann.
„Also, stoßen wir jetzt auf deinen Geburtstag an, oder nicht?“, fragte er, und führte uns auf das eigentliche Thema zurück.
Ich überlegte kurz. „Besser nicht.“, entschied ich mich schließlich. „Ich zwing dich nicht ihn in die Bar zu bringen, aber sei vorsichtig wenn du ihn trinkst.“ Dann machte ich mich auf den Weg zurück nach Hause, um endlich schlafen zu können.
„Dann willst du dein zweites Geschenk auf nicht?“, rief er mir hinterher. „Na ja, dann halt nicht. Meine Mum wird sich auch darüber freuen. Das heißt, wenn sie der Name Ivy, der darauf eingraviert ist, nicht stört.“ Und damit hatte er mich.
„Zweites Geschenk?“, fragte ich.
„Ja, ja. Ihr Frauen, wenn es Geschenke gibt, hm.“, scherzte er, während er aus seiner Hosentasche etwas glänzendes fischte.
Ich starrte auf die goldene kleine Scheibe, die an einer Goldkette hing, die Rick mir entgegenhielt. Als sie sich an der Kette herumdrehte, blitzten auf der einen Seite drei eingeritzte Buchstaben auf, die meinen Namen ergaben. Ich war regelrecht sprachlos, dass er mir tatsächlich so etwas schenkte. Woher hatte er diese Kette nur?
Und als könne er meine Gedanken lesen, erklärte er es mir. „Die Kette und das Gold, das ich für das Medaillon eingeschmolzen habe, hab ich bei einem unserer Beutezüge aus einem Schmuckgeschäft mitgenommen.“
„Soll das heißen, du hast das alles selbst gemacht?“, fragte ich staunend.
„Ja.“, sagte er wirklich bescheiden. „Für meine Mum wollte ich auch was zum Geburtstag machen, und musste dafür erst mal ein bisschen herumprobieren. Dabei ist das dann entstanden. Und, hey, man wird ja nicht alle Tage zwanzig.“ Jeder freute sich auf seinen zwanzigsten Geburtstag, weil man dann endlich in die Bar und etwas trinken durfte. Zuvor mussten einem die Erzählungen der anderen reichen, die davon berichteten, wie viel Spaß sie doch letzte Nacht gehabt haben, als sie in der Bar zusammen saßen und einfach nur Karten spielten. Kartenspielen war für alle jüngeren eigentlich etwas ganz banales, weshalb sie es kaum erwarten konnten, endlich unter Einfluss von Alkohol Kartenspielen konnten, weil das offenbar noch besser sein solle.
„Soll ich es dir ummachen?“, fragte er dann. Ich nickte und nahm ihm die Flasche ab, sodass er hinter mich treten konnte um mir die bezaubernde Kette umzulegen. Ich betrachtete die kleine Scheibe aus purem Gold, die kaum größer als mein Daumen war. Er hatte sie poliert, weshalb ich mich sogar darin spiegelte.
„Noch nie hat mir jemand so etwas Schönes geschenkt.“, sagte ich, als er wieder vor mir stand und mich mit seinem Geschenk um den Hals in Augenschein nahm. „Danke.“
„Wenn du mir unbedingt danken willst, kannst du doch ein bisschen mit mir zusammen trinken.“, schlug er vor.
Trunken von der Schönheit seines Geschenks, überlegte ich nicht lange, öffnete die Flasche und nahm einen Schluck, den ich gleich wieder ausspuckte. Daraufhin musste Rick lauthals lachen. „Das Zeug ist ja widerlich. Wieso trinkt ihr das denn alle?“
„Du musst schon mehr nehmen, als einen Schluck, um den Zauber von Alkohol zu spüren.“, sagte er und nahm mir die Flasche ab um selbst zu trinken. Dabei verzog er das Gesicht. „Außerdem solltest du es runterschlucken.“
Zusammen mit der Flasche saßen wir uns an den Rand des Parkhauses, der in das Ödland hinaus zeigte, geschützt vor ungewollten Blicken von dem Raum, in dem Baumaterial und Werkzeug ruhten. Wir redeten nicht viel, und ich hatte hauptsächlich Augen für den hübschen Goldschmuck, der an meinem Hals baumelte, weshalb ich nicht mehr genau wusste, wie wir plötzlich in die horizontale Lage geraten waren und uns küssten. Aber ich weiß noch immer, wie es sich beim ersten Mal mit Rick angefühlt hat, und wie er geschmeckt hatte. Sein Mund schmeckte nach dem Whiskey, oder was wir da auch immer getrunken hatten, aber das machte mir nichts aus. In dem Moment war ich so erregt, dass ich ihn nur immer weiter in mich aufsaugen wollte, seinen Geschmack vermischt mit dem Alkohol – dessen Flasche übrigens irgendwann vor der Mauer gefunden wurde, als einige Zombieleichen davor weggeschafft werden mussten um sie zu verbrennen, weil sie uns runtergefallen war. Ärger bekam aber niemand deswegen. Stattdessen tat Dad so, als sei nichts gewesen.
Hinter dem konstruierten Raum hatte niemand gesehen, wie Rick sich langsam aber zielstrebig bei mir vorarbeitete. Erst glitt sein große, starke Hand von meinem Nacken bis runter an meinen Oberschenkel – aufmerksam nicht einen Zentimeter meines Körpers auszulassen. Dann wanderte seine Hand wieder aufwärts und stellte sicher, dass er dabei unter mein Shirt rutschte. Nachdem er sich anfangs noch auf meine nackte Hüfte und meinen Rücken beschränkt hatte, während er mich hart und fordernd küsste, spürte ich seine Hand, wie sie sich langsam an meine Brust herantastete.
Da hielt ich ihn auf. „Nein.“, sagte ich mit vor Erregung dicker Stimme. Es fiel mir schwer ihn aufzuhalten, weil ich doch so gerne wollte, dass er weiter machte. Aber ich wollte nicht, dass er meine Brüste anfasste oder sah. „Hör auf.“
„Was ist los?“, fragte er mit einer genauso vor Verlangen bebender Stimme. „Ich dachte du willst es auch.“ Dann versuchte er mich wieder zu küssen und ich ließ es auch zu, aber als seine Hand wieder zu nah an meine Brust geriet, stoppte ich ihn abermals.
„Rick, bitte.“, sagte ich.
„Was ist denn los?“, fragte er diesmal ernsthafter interessiert, weil er wohl erkannte, dass er so nicht weiterkam. Ich wich ihm aber nur aus, indem ich mein Gesicht von ihm wegdrehte. Zu mehr war ich nicht in der Lage, weil er meinen Körper genau so hielt, wie er ihn haben wollte. „Ivy.“, ermahnte er mich und drehte mein Gesicht mit sanften Finger zu sich, sodass er mir ins Gesicht sehen konnte.
„Meine Brüste…“, sagte ich nur.
Er überlegte kurz den Sinn dahinter, erkannte ihn aber nicht. „Was ist mit deinen Brüsten?“
„Sie sind zu klein.“, rückte ich mit der Sprache raus.
Er lachte kurz darüber, sodass ich zunächst annahm, er lachte mich aus, was die ganze Sache nur verschlimmerte. Doch dann sagte er, „Deine Brüste sind doch nicht zu klein. Du bist wunderschön und dein Köper ist perfekt, wie er ist.“ Er küsste mich wieder. Ein einzelner süßer Kuss, der zwar weniger leidenschaftlich wirkte, aber mit genauso inbrünstigem Verlangen glühte, wie zuvor. Dann sahen wir uns für einen Moment nur an und er schob mein Shirt über meinen Bauch, küsste mich dort, über meinen Busen, küsste mich auch dort, und dann zog er es mir über den Kopf und ich war oben ohne, beschienen von der gerade erst aufgegangen Sonne, in seinen Armen, unter seinen Lippen und seiner Zunge, die jeden Quadratzentimeter meiner Brüste küssten und ableckten.
Bald auch zog ich sein Shirt aus und unser beider Hosen folgten. Sein Penis, steif vor Erregung, prangte gegen mein Bein. Und ich selbst fühlte das Verlangen ihn in mir zu spüren, wie Rick ihn rein und wieder raus gleiten lässt und wir uns unseren heißen Atem entgegen stöhnen, während sich in uns ein Feuerwerk auftut, das sich soweit aufbäumt, bis es schließlich explodiert und sich unsere Leidenschaft über uns ergießt.


22


Als der enge Käfig sich vom dem dunklen und modrig riechenden Raum unterhalb des Arenabodens in die Höhe erhob, hatte ich schon beim ersten Lichtstrahl, der durch den ersten Schlitz brach, entschieden, dass ich den Sieg ein wenig herauszögern würde, wie ich es gestern überlegt hatte. Die Sonne brannte vom Himmel herunter, was die Zombies ohnehin langsamer machte. Der Tag war schön, und er Kampf war die einzige Möglichkeit die ich hatte, um ihn genießen, so schwer es mir auch fallen würde, mit eine stinkenden Untoten im Nacken, der mir ans Leder will. Aber es war besser als gar nichts. Ich brauchte einfach ein bisschen Sonne, schon allein um meinen Gemütszustand aufzuwerten. Sogar die Luft roch nach Sonne, als ich einen tiefen Atemzug davon in meine Nase einsog und meine Lungen damit füllte.
Der sandige Boden war trocken und rissig. Lange hatte es nicht mehr geregnet, fiel mir auf, als ich eigentlich darauf aus war, die vier weiteren Käfige, die noch im Boden versunken blieben und sich jederzeit erheben können um meine Zombiegegner auf mich loszulassen, unter dem sowohl positiven als auch negativen Getöse der blutrünstigen Zuschauer, zu beobachten. Noch tat sich nichts, weshalb ich die Gesichter der Zuschauer nach Sireno oder zumindest einem seiner Brüder absuchte. Ich fand ihn schließlich an derselben Stelle, wie beim letzten Mal. Zu seiner Linken und Rechten hatten sich seine beiden Brüder aufgestellt. Alle drei sahen sie mich an, obwohl sie miteinander zu reden schienen. Leider konnte ich wegen des nicht verstummenden Gejubels der Zuschauer nicht hören, was sie untereinander zu sagen hatten so kurz vor meiner, wie sie sicherlich hofften, Hinrichtung. Als ich versuchte sie telepathisch zu belauschen, wie ich es gerne zu Hause tat und dafür oft genug bestraft wurde, konnte ich nichts hören. Es war merkwürdig. So etwas hatte ich noch nicht erlebt. Ihre Gedanken waren einfach blank. So wie meine jetzt, wo sie wissen was ich bin, sein mussten. Doch irgendwie war es bei ihnen doch anders. Ihre Gedanken waren nicht völlig blank. Es war so, als ob ich einen stetigen Peipton hören würde, würde ich ihre Gedanken wirklich mit meinen Ohren hören können. Das machte mich ziemlich perplex. Nicht die Tatsache, dass ich nichts von ihnen empfing, sondern einfach nur dieser gefühlte Piepton, der nicht da sein sollte. Deshalb ließ ich es schließlich bleiben, bevor ich noch mit Kopfschmerzen gegen Zombies kämpfen musste. Denn Kopfschmerzen, waren für einen Telepathen tausendmal schlimmer, als für einen Nicht-Telepathen.
Dann tat sich etwas im Boden. Das Vibrieren spürte ich sobald ich das leichte, kaum merkliche Kopfnicken von Sireno bemerkt hatte, was wohl ein Zeichen für irgendjemanden gewesen sein musste. Keine Sekunde später setzten auch die Geräusche ein, die ich nur hören konnte, weil die Zuschauer in Schweigen verfielen. Es klang mechanisch. Als würde sich ganz in der Nähe ein großes altes und teils verrostetes Zahnrad in Bewegung setzen. Die Bodenplatten begannen sich alle vier langsam zu erheben, und ließen die Ansätze der Gitterstäbe aus dem Boden in Erscheinung treten. Als die Gitterstäbe immer weiter wuchsen und sich in die Länge zogen, ohne es wirklich zu tun, aber so wirkte es nun mal, konnte ich die ersten Zombies schon erkennen. Es waren vier Stück, einer in jedem Käfig.
Der, der vor mir aus dem Boden auftauchte, und ich ihn somit zuerst erblickte, war einst ein Mann gewesen. Auf seinem Kopf prangte eine Halbglatze, die aber nicht natürlicherweise zustande gekommen war. Denn dort klaffte ein Loch in seinem Schädel und statt dort Haare zu haben, quillt etwas Hirnmasse daraus hervor. Als er sich mich witternd zu mir mit seinem hässlichen Gesicht drehte, spielte er verrückt, und wollte sogleich durch die Gitterstäbe langen, ohne zu ermessen, dass er aus dieser Entfernung ja gar nicht an mich rankam. Eine seiner Augen floppte schon aus seiner Augenhöhle heraus, sodass nicht mehr viel fehlte, bis es endlich herausfiel. Zum Zombie wurde dieses Geschöpf wohl durch eine Bauchwunde. Denn dort war sein einst weißes Hemd blutgetränkt und zerfetzt. Ich schätze, die Zombies, die ihn dort angeknabbert hatten, machte es nichts aus, einige Hemdfetzen mit zu verspeisen, als sie ihn aufrissen. Unappetitlich hing sein Darm, oder zumindest ein Teil davon an ihm herunter. Das war mit Sicherheit nicht das einzige Organ in seinem verfault schleimigen Köper, das fehlte oder zerrissen war.
Der zweite Zombie, der sich rechts von mir befand, war splitterfasernackt. Auf seinem gesamten Oberkörper prangten Bemalungen, die dieser Tattoos sein mussten, die vor der Apokalypse so beliebt waren. Ich hatte auch eines – na ja, eigentlich zwei – die jeder Telepath in meiner Familie hatte, wenn auch unsere viel primitiver gemacht waren als die damals. Es waren zwei Buchstaben. Ein S, für Sklaven, als eine Art Solidaritätsbekundung für unsere Vorfahren, die aus dem Bunker krochen und sogleich versklavt worden waren. Viele unserer Familienmitglieder starben damals. Das zweite war ein simples T, das dafür stand, was wir waren, nämlich Telepathen, besondere Telepathen, unnatürliche Telepathen.
Der nackte, tätowierte Zombie schien mich gar nicht wahrzunehmen. Er hatte nur Augen für die Zuschauer hinter den Sicherheitsgitterstäben, die ihm am nächsten waren. Da konnte ich erkennen, dass er wohl wegen seines fehlenden Penis zum Zombie geworden war. Er schien von einem Zombie abgebissen worden zu sein – womöglich beim letzten Liebesspiel?
Der dritte Zombie, zu meiner Linken, war eine Frau. Sie hatte lange rote Haare, die einst wunderschön gewesen sein mussten, wenn sie in der Sonne glänzten, jetzt aber büschelweise fehlten. Sie hatte eine dreckigen und zerfetzten Rock an, der ihr schon fast unter die Hüfte gerutscht war. Es wunderte mich, dass sie ihn noch nicht verloren hatte. Das einzige Oberteil aber, das ihr noch geblieben war, war ein BH, der wegen ihrer Bisswunde an der Kehle vollkommen vollgesogen mit eingetrocknetem Blut war. Ein länglicher Gegenstand ragte ihr aus dem Bauch, als sei sie während ihrer Jahre als Zombie irgendwo gegen gelaufen, sich damit aufgespießt und war irgendwie wieder freigekommen, zusammen mit einem Überbleibsel. Wie der erste Zombie ließ auch sie die Zuschauer links liegen und wollte auf mich zu kommen, was ihr die Gitterstäbe aber noch verwehrten. Irgendwie war das merkwürdig. Warum sollten diese beiden Beute ignorieren, die doch viel näher an ihnen dran war? Bei der Frau konnte ich es ja noch verstehen. Sie hatte mich von Anfang an im Blickfeld. Aber der Mann, der erste, hatte sich erst umdrehen müssen. Irgendwas war hier faul. Und damit meine ich jetzt nicht die verfaulten und verwesten Körper der vier Zombies. Wovon, der vierte, wie ich jetzt bemerkte als ich mich zu ihm umdrehte, weil er hinter mir war und ich nun mal keine Augen im Hinterkopf hatte, ein Kind war.
Es war ein Junge, der genau in Pablos Alter gewesen sein musste, als er durch den Biss eines infizierten Zombies, der sich an seinem Unterarm, am Handgelenk befand, selbst infiziert hatte. Es zerriss mir das Herz, als ich ihn in seiner blutverschmierten Latzhose aus Jeans ansah. Er hatte nur noch einen einzelnen Schuh an seinen Füßen. Den anderen hatte er wohl beim Kampf um sein Leben eingebüßt. Bestimmt hatte ihn sein Vater oder seine Mutter gebissen, als er glaubte, er sei bei ihnen in Sicherheit, als das Chaos der Apokalypse ausgebrochen war. Oder von seiner Lehrerin, als er gerade in der Schule einen neuen Buchstaben des Alphabets lernte zu schreiben. Oder er wurde beim Spielen von einem Freund infiziert. Alles schreckliche Szenarien, die mich jetzt ablenkten, was nicht gut sein konnte.
Das erkannte ich in dem Augenblick, in dem mir mein Kopf an meinen Haaren nach hinten gerissen wurde. Zunächst schrie ich vor Überraschung auf, woraus kurz darauf Schmerz wurde und schließlich Schock, als ich erkannte, wie ein mit fletschenden Zähnen versehenes Zombiemaul über mir auftat, als ich auf den Boden landete. Bevor jedoch der Zombie, der Mann mit dem herausquellenden Hirn, seine Zähne in mein Fleisch versänken konnte, rollte ich mich zur Seite, auch wenn es hieß, dass er mir mit seinem nicht locker werdenden Griff einige Haare aufriss. Dieser Schmerz war nun wirklich ein Kinkerlitzchen im Gegensatz zu der Zombiefrau mit den roten Haaren, die jetzt auf mich zu stürzte. Mir fiel auf, dass sie sich wesentlich kontrollierter und geschmeidiger bewegte, als es für einen ihres Gleich üblich war. So zum Beispiel sprang sie über den Zombiemann der ein Büschel Haare von mir in seiner Hand hielt, und zu Boden gestürzt war, als ich mich von ihm losgerissen hatte. Es blieb mir keine Zeit mich um die Zombiefrau in Ruhe zu kümmern, weil auch der Junge in der Latzhose auf mich zu trottete. Daher konnte ich nichts weiter tun, als erst einmal aus dem Weg zu huschen. Doch die Frau und das Kind folgten mir im Laufschritt. Hinter ihnen her, der Zombiemann mit meinen Haaren, der sich aufgerappelt hatte. Wenigstens der tätowierte Eunuch kümmerte sich nicht um mich. Er hatte nur Augen für die Zuschauer hinter den Gittern, durch die er langte, um einen von ihnen zu packen zu kriegen. Doch die Zuschauer drängten sich dicht an die hintere Wand, weit weg von seiner Reichweite.
Ich sah keine andere Möglichkeit, als die Zombies zerplatzen zu lassen, um sie mir vom Hals zu halten. Um ihnen das Genick zu brechen, würde mir keine Zeit bleiben, da sie zu dritt auf mich losgingen, und dann mindestens einer mich packen konnte. Es wäre einfacher, würden sie sich mehr verteilen, aber dafür war ich wohl zu appetitlich.
Wieder flüchtete ich vor ihren Krallen und Zähnen auf die andere Seite der Arena. Währenddessen suchte ich mir einen von ihnen aus, den Zombie, der mir meine Haare ausgerissen hatte. Ein wenig Rache loderte in mir, als ich mich mit meinen Gedanken in sein Innerstes begab. Ich hatte recht, die meisten seiner Organe, hatte er eingebüßt, als er von einem oder mehreren Zombies verspeist wurde, die ihn dann zu ihres Gleichen machten, einer verfaulten alten Bestie, die nur von einem unstillbaren Hunger gequält wurde, und nichts weiter empfinden konnte. Ich zögerte keinen Moment und ließ seine übrigen Innereien aufquellen, bis sie zerbarsten. Mit seinen Überresten saute er die anderen beiden Zombies ein. Als diese beiden mir schließlich wieder zu nahe kamen, wich ich ihnen aus, nur um dem tätowierten Eunuch in die Arme zu laufen.
Die Frau und der Junge waren zu nah, ich hatte keine Zeit mehr, wenn ich nicht als stinkender Untoter enden wollte. Doch der Griff des Eunuchen ließ nicht locker. Er versuchte mich zu seinem offenstehenden Maul zu zerren, das wirklich abstoßend und ekelerregend roch. Noch schlimmer, als ein Zombie an sich. Es bedurfte all meiner Kraft meinen Körper unversehrt zu behalten, also versuchte ich genau daraus meinen Nutzen zu ziehen, indem ich ihn um mich herum schleuderte. Er landete direkt auf dem Jungen, und beide fielen zu Boden. Schnell eilte ich in sichere Entfernung, aber die Zombiefrau war dicht hinter mir. An der andere Seite angekommen, konnte ich mich gerade noch rechtzeitig zu ihr umdrehen, um mit ihr zu rangeln. Ich beobachtete aus den Augenwinkeln, wie die beiden anderen Zombies noch immer darum Kämpften aufzustehen, als ich die Frau unter mir auf den Boden warf. Mit meinen Beinen pinnte ich ihre Arme fest und packte ihren Kopf, den ich mit all meiner Kraft um sich selbst drehte, bis ich das Knacksen hörte, dass mir verriet, dass ich ihr das Genick gebrochen hatte, sodass sie erst einmal außer Gefecht gesetzt war. Ich hatte mal gehört, dass es leichter war einem Zombie das Genick zu brechen als einem Menschen, weil der Zombie durch die Verwesung viel morscher ist als der Mensch. Aber es würde nicht allzu lange dauern, bis sie sich wieder rühren konnte, wenn auch nur mit ihrem Kopf, der zwar noch an ihrem Körper hing, aber nur noch mit seinem Maul herum schnappen konnte, weil die Nervenstränge, die zu ihren Gliedmaßen waren, und obwohl sie tot waren, durch diesen Virus, der die Menschen zu so etwas werden ließ, sie irgendwie noch funktionstüchtig machte, durchtrennt waren.
Der Eunuch griff mich als nächstes an, als ich noch auf der Frau saß. Doch weil ich ihn gehört hatte, wie er schlurfend auf mich zu lief, konnte ich mich noch rechtzeitig umdrehen, ihn packen und auch auf den Boden drücken. Mit meinem rechten Bein stieß ich den Jungen, der hinter dem Eunuchen aufgetaucht war, rücklings auch wieder zu Boden. Ich beeilte mich dem Eunuchen auch sein Genick zu brechen und zog mich wieder in eine andere Ecke der Arena zurück, bevor der Junge wieder aufstehen konnte.
Einen kurzen Blick warf ich auf Sireno und seine Brüder. Dino und Ira sahen sauer und genervt aus, was mich vermuten ließ, dass sie gegen mich gewettet hatten und den Kampf für mich schon als gewonnen ansahen. Aber Sireno war in Konzentration versunken und starrte auf den Zombiejungen, der auf mich zukam. Als er seinen Brüdern aber dann etwas zu zischte, zog mich das so in einen Bann, dass ich nichts dagegen tun konnte, als der Zombiejunge mich ansprang. Zusammen landeten wir ihm Dreck, in der denkbar ungünstigsten Position für mich: er über mir. Obwohl er ein so kleiner Junge war, entgegnete er mir eine ungeheure Kraft, die schon fast eine Art Markenzeichen für einige Zombies war. Ich drückte ihn mit aller Kraft von mir weg, damit er mich nicht beißen konnte. Dabei versuchte ich mich wieder so zu konzentrieren, dass ich ihn wie den ersten zerplatzen lassen konnte. Aber es funktionierte nicht. Ich konnte zwar die nötige Konzentration aufbringen, aber es tat sich einfach nichts in dem Körper des kleinen Kerls.
Ich versuchte ihn von mir weg zu stoßen, ihn zur Seite hin abzuschütteln, aber es half nichts. Seine Finger krallten sich so tief in meine Arme, dass er nicht von mir abfallen wollte. Schließlich schaffte ich aber doch noch ihn wenigstens auf den Rücken zu rollen, sodass ich über ihm war. Doch immer noch nicht ließ er mich los. Ich konnte einfach nicht von ihm los kommen. Selbst dann nicht, als ich seine Brust mit meinem gestreckten Arm zu Boden stemmte, während meine andere Hand versuchte seinen Griff zu lockern. Es bereitete mir nur Schmerzen, als ich seine Finger von meinem Arm aufhebeln wollte. Dabei musste ich aufpassen, dass er mir nicht in meine Haut einriss, sodass infiziertes Blut oder andere infizierte Flüssigkeiten in mich eindrangen.
Plötzlich nahm ich ein aufbäumen seines Torsos wahr, und ich schloss instinktiv meine Augen, weil ich genau wusste, was das zu bedeuten hatte. Ich versuchte nicht zu atmen, hoffte meine Haare bedeckten meine Ohren, und hielt meinen Mund geschlossen, damit nichts von dem, was sich jetzt von dem kleinen Zombiejungen über mich ergoss ins Innere meine Körpers gelangen konnte, als er zerplatzte.
Als ich die Augen wieder öffnete, starrte ich genau auf seinen blutigen und fauligen Augapfel, der in einer roten, schleimigen Pampe gespickt mit Knochen lag. Ich stand auf und wankte zurück, bis ich einen der Käfige, die während des Kampfes nicht wieder im Boden verschwunden waren, prallte. Dort übergab ich mich erst einmal, bevor ich mich mit dem Rücken zum Gitter festkrallte und schließlich daran herunterrutschte, bis ich auf dem Boden saß, immer das Bild des Augapfels vor meinem inneren Auge.
Ich blickte mich um und fand Sireno, der seine Brüder zusammenstauchte, die ihn ebenfalls anfauchten. Sie stritten. Mit einem wohligeren Gefühl hoffte ich, dass sie wegen meines Sieges stritten. Denn auch, wenn ich mir den Tod des Zombiejungen nicht erklären konnte – denn ich war es nicht, der ihn zerplatzen ließ, da es zuvor nämlich nicht geklappt hatte, hatte ich es bleiben lassen – hatte ich gewonnen. Und mein Preis war, mein gesundes Leben – obwohl mir im Augenblick nur übel war.
Sireno, Dino und Ira schoben und drängten sich gewaltsam durch die Menge der Zuschauer und verschwanden. Ich hingegen kroch zurück zu dem Käfig, der mich in die Arena gebracht hatte, setzte mich dort auf den Boden und wartete, bis ich nach unten befördert werde. Was ich jetzt brauchte, ist eine kalte Dusche.

Wütend stieß ich Ira vor mir her, der einen nach den anderen aus unserem Weg schubste, damit wir aus dieser verdammten Zuschauertribüne herauskamen. Dino war dicht hinter mir. Hätten sich diese beiden Idioten nur ein bisschen mehr Mühe gegeben, wäre es nicht soweit gekommen. Ich wusste genau, noch ehe die beiden sich damit entschuldigten, dass sie versagt hatten, dass Chane oder sogar Arianna etwas damit zu tun hatten. Immerhin sollte es ihr nicht möglich gewesen sein, da sie gleich von Ira und Dino blockiert wurde, während ich den verdammten kleinen Jungen lenkte, damit er ihr an die Gurgel gehen konnte. Ihre Gedanken konnten ihren Kopf also nicht verlassen haben, um etwas auszurichten. Wer sonst, wenn nicht diese beiden Verräter sollten Schuld daran haben?
Wobei Ira und Dino nicht ganz unschuldig daran waren. Immerhin hatten sie auch die Möglichkeit sie zu infizieren. Aber erst hat es Dino verbockt, der seinen Zombie hat von ihr zerplatzen lassen, dann Ira, der seiner Zombiefrau, die er kontrolliert hatte, von ihr hat das Genick brechen lassen, und Dino mit dem Nackten nochmal das Gleiche passiert ist. Danach waren die beiden Zombies selbst für uns nutzlos, weil auch wir sie dann nicht mehr bewegen konnten. Ich bin umgeben von inkompetenten Schwachmahten.
Alle drei gingen wir zurück nach Hause. Aber dort gingen wir nicht wie gewohnt nach oben, wo sich unser Wohnbereich befand, sondern direkt runter in den Keller, in dem in der hintersten Ecke eine Tür war, die man nur mit einem Zahlencode aufbekam, den nur Dino, Ira und ich kannten. Ich tippten die vier Zahlen auf das Tastenpanel ein und drückte auf Enter. Die Tür entriegelte sich geräuschvoll und ich öffnete sie. Zum Vorschein kam eine Treppe, die sehr weit hinab führte. Ich wusste nicht genau wie weit, aber ich vermutete mindestens drei Etagen, wenn nicht sogar mehr. Schnellen Schrittes eilten wir die Stufen hinab. Das Treppenhaus war von einem klinischen weiß-blauen Licht beschienen, dass keine Makel im Verborgenen hielten. Überall zeigte es die kleinen Risse auf, die nach alle den Jahren, in denen diese Treppe nun schon existierte. Ich war der erste, der unten ankam, Ira und Dino dicht hinter mir. Keine von uns sagte ein Wort, wir wussten alle drei, was jetzt geschehen musste. Sogar Dino schien mit Ira und mir darüber einzukommen. Denn sonst war er, was diese Angelegenheit immer ein wenig zimperlich. Er schien zwar zu verstehen, dass Chane und Arianna für unsere Arbeit gefährlich werden konnten, hegte aber immer einen Groll dagegen, dass wir sie einsperrten wie Tiere. Ich tat es weiß Gott nicht gern, sie waren immerhin unsere Geschwister, mit denen wir glücklich aufgewachsen waren, aber es war nötig. Zwar ist Blut dicker als Wasser, aber unsere Arbeit war wichtiger und sogar an einem Scheidepunkt angelangt. Da konnten wir uns weder Fehler noch Störungen leisten.
Wir kamen an eine weitere Tür, als wir den langen Gang, der sich schätzungsweise – so genau haben wir es nie herausfinden können – unterirdisch unter unserem gesamten Hauptmarkt zog und darüber hinaus, vielleicht sogar bis außerhalb unseres sicheren Stadtkerns. Die Tür wurde durch einen weiteren Zahlencode gesichert, den ich ungeduldig in die Tasten haute und dann die Tür aufschlug. Wir traten in den Raum, in dem ein Kühlschrank stand, eine Couch, ein Schreibtisch und einige mit Akten gefüllte Aktenschränke. Auf der anderen Seite des Raumes war noch eine Tür. Wir waren jetzt schon ganz nah bei ihnen. Diese Tür war nicht verschlossen, also betätigte ich eine ganz normale Klinke um sie zu öffnen. Der kleine Gang dahinter war stockfinster. Ich spürte die Angst der beiden, als das grelle Licht plötzlich in die Dunkelheit einbrach. Zwar hatten sie Schmerzen durch das blendende Licht, weil ihre Augen nur die Dunkelheit kannten, aber ihre Angst war größer. Besonders die von Chane, der sich hauptsächlich um Arianna sorgte. Was anderes ist ihm ja nicht mehr geblieben.
Da es bestimmt nicht Ariannas Idee war, wandte ich mich zuerst an Chane, und bäumte mich vor seiner Zelle auf. Seit Monaten hatte er dieses rasselnde Atmen, dass zusammen mit seiner gekrümmten Haltung, wie er sich in den Schatten zurückgezogen hatte, irgendwie schon fast furchteinflößend war.
„Du hast verdammt noch mal kein Recht dich in unsere Angelegenheiten zu mischen!“, schrie ich ihn furios an. „Reicht es dir denn noch nicht, wo du hier bist?! Was sollen wir denn noch alles machen, bis du dich endlich mal zurückhältst!“
Ira war an meine Seite getreten. Er klapperte mit einem Klappmesser an die Gitterstäbe der Zelle unseres dritten Bruders – Ira ist eigentlich der vierte, weil Chane zwei Jahre älter ist als er. Hungrig starrte er das Häufchen Elend an, das einst unser Bruder war. Diesem irren Teufel machte es auch noch Spaß seinem älteren Bruder körperliche Schmerzen zu bereiten. Insgeheim fragte ich mich, ob er sich auch gegen mich so wenden würde, wenn ich in dieser Zelle festsäße. Doch weil ich die klare Antwort kannte, ließ ich diesen Gedanken wieder verfallen. Ich würde nie in so einer Zelle enden. Das war nicht mein Schicksal.
„Chane.“, rief Ira ihn in einem Singsang. „Chanie, Chanie, Chane. Komm her und rede mit uns.“ Nichts tat sich. Chane blieb da, wo er war – soweit wie möglich weg von den Gitterstäben. „Ich glaube er ist immer noch sauer auf uns. Er straft uns mit Schweigen.“, grinste Ira vor sich hin. „Lass mich zu ihm rein.“, forderte er auf einmal unverhohlen und gierig, als wäre er einer dieser widerlichen Zombies, die einen Menschen fressen wollen.
Ich überlegte, welchen Erfolg wir damit erlangen würden, wenn Ira ein wenig an Chane herumschnitt, wie ein Metzger an einem Schwein. Chane konnte unglaublich stur sein, der einzige Grund, warum er sich noch nicht selbst umgebracht hatte, um dieser Hölle zu entkommen. Es war unwahrscheinlich so etwas bei ihm zu erreichen. Sein Leben war ihm ohnehin nicht mehr viel wert. Aber es gab eines, das es war.
„Geh zu Arianna.“, sagte ich eiskalt. Ich staunte selbst darüber, wie kalt ich sein konnte. „Mal sehen was er dann macht.“
Das schien Ira eine genauso gute Lösung zu sein. Er grinste zwar nicht mehr so sadistisch wie bei dem Gedanken sich weiter an Chane vergreifen zu können, zuckte aber gleichgültig mit den Schultern, und ging ohne Widerworte zur Zelle nebenan, wo Arianna ihr Dasein fristete.
Plötzlich warf sich Chane gegen seine Gitterstäbe und drückte seine vernarbten Hände um meinen Hals. „Du dreckiger Bastard rührst sie nicht an!“, schrie er in einer Ohrenbetäubenden Lautstärke, die mir in den Ohren ringen würde, wenn mir nicht gerade die Luft wegbleibe. „Sie ist deine Schwester verdammt! Du solltest sie beschützen! Dino, steh da nicht so rum!“
Dino gehorchte ihm schweigend, aber nicht so, wie er es sich vermutlich vorgestellt hatte. Während Ira die Zellentür aufschloss, jagte Dino Chane einige Volt mit einem Teaser durch den Körper. Mich erreichte davon auch etwas, weil der menschliche Körper nun mal Strom leitete. Hustend stürzte ich zu Boden. Chane zitterte auf der anderen Seite der Gitterwand nur vor sich hin.
„Ihr verdammten Schweine!“, brachte er aus zusammengeknirschten Zähnen hervor.
Als ich mich wieder aufrichtete boxte ich Dino, der Chane beobachtete, in die Nieren. „Was sollte der Scheiß!“, schrie ich ihn an.
„Argh! Verdammt was soll das?“, fragte er aufgebracht und schmerzverzehrt. „Ich hab dir gerade verdammt noch mal das Leben gerettet. Und das ist der Dank dafür? Ein Hieb in die Nieren?“
„Au! Du verdammte Schlampe!“, schrie Ira aus der Nebenzelle, gefolgt von einer lauthallenden Ohrfeige und Ariannas Aufschrei. „Das Miststück hat mich gebissen!“
„Geschieht ihm Recht.“, lachte Dino vor sich hin. „Irrer Bastard.“
„Lasst sie in Ruhe.“, brachte Chane hervor. „Sie hatte nichts damit zu tun. Sie kann ja nicht mal einen Zombie zum Platzen bringen. Sie hat keine Ahnung wie das funktioniert.“, flehte er vor sich hin, sich immer noch auf den Boden krümmend.
„Du hast dem Miststück doch sonst immer alles beigebracht.“, meinte Ira. Ich konnte ihn durch die Dunkelheit, in der Ariannas Zelle lag nicht sehen, aber ich war mir sicher, dass er auf ihr saß und ihr sein Klappmesser an die Kehle oder ans Gesicht hielt.
„Ich war es.“, gestand er.
„Gib dir keine Mühe.“, sagte ich. „Das wissen wir schon längst. Aber was mich interessiert ist, warum du so einen Scheiß immer wieder abziehst, wenn du doch genau weißt, was dann auf dich zukommt.“
„Ich hab es für Arianna getan.“, sagte er mit einem verrückten Grinsen auf den Lippen. Er wirkte wirklich so, als hätte er den Verstand verloren.
„Für sie?“, lachte Ira. „Das ist ja wohl nicht dein Ernst.“ Dann hörten wir einen erstickten Schrei von Arianna. Es klang nicht so, als wäre ihr der Mund zugehalten worden, sondern als wäre der Schmerz, den sie verspürte einfach so gewaltig und überwältigend gewesen, dass sie keinen vernünftigen Schmerzensschrei mehr hinbekam. Ira hatte unserer kleinen Schwester sein Messer in ihr Bein gerammt.
Ich schloss Chanes Zelle auf und ging hinein, wohlwissend, dass Dino mich nicht aufhielt, obwohl es zu gefährlich war. Hart packte ich Chane am Genick und seinen Lumpen, die er trug, und zerrte ihn an das Gitter, das an Ariannas Zelle grenzte. Sein Gesicht drückte ich soweit es ging durch die Gitterstäbe.
„Hörst du jetzt endlich mit deinem Scheiß auf?!“, fragte ich ihn aufgebracht. Es gefiel mir auch nicht, dass sich der Raum mit dem Eisengeruch von Blut, ausgerechnet Ariannas Blut füllte.
Chane blieb stur und stöhnte nur unter dem Druck, den ich auf ihn ausübte.
„Wenn du nicht bald mit diese sinnlosen Aktionen aufhörst, die du, wie du sagst, für sie machst“, schrie ich ihn an, „wird sie nicht mehr erleben, was du damit bezweckst. Also?“
„Tut ihr bitte nicht mehr weh.“, flehte er unter Tränen. Ich hatte was ich wollte. Für eine Weile, solange diese seelischen Narben, die wir ihnen zugefügt hatten, noch frisch waren, hatten wir erst einmal Ruhe vor ihnen.
Ich ließ Chane los, verließ die Zelle schubste Dino aus dem Weg und schloss sie wieder ab. Dann zog ich Ira mit seinem Klappmesser von Arianna runter und warf ihn raus. Schweigend holte ich das medizinische Material, dass wir hier unten in seinem Koffer aufbewahrten, während Dino Ira nach draußen folgte. Arianna wich vor mir zurück, als ich mich vor sie nieder kniete, aber ich hielt ihr Bein fest, sodass ich die Wunde versorgen konnte. Sie spuckte mir ins Gesicht und ich zuckte zurück. Ließ es aber über mich ergehen, und verband ihre blutende Wunde mit einem starken Druckverband, damit sie nicht verblutete. Dann ging ich raus, aber noch nicht aus dem unterirdischen Komplex, denn mir ist eine Idee für das widerliche Miststück Ivy gekommen.


23


Noch einmal stellte ich sicher, dass keiner drei Jungs zu mir herüber blinzelte, als ich mich nach der Dusche abtrocknete. Sie waren hier unten, während ich kämpfen musste. Nachdem ich von der Arena, reichlich spät, wieder nach unten gefahren wurde, konnte ich einfach nicht länger warten. Ich musste die widerlichen Überreste des Zombiejungen, der unverhofft zerplatzt ist, von mir runterwaschen. Da konnte ich einfach nicht mehr warten, dass sie unser doch sehr beschränktes zu Hause verließen, was sie heute ohnehin nicht mehr durften. Als ich mich zum Duschen ausgezogen hatte, hatte ich gesehen, wie VJ mich beobachtete. Er tat ganz schnell so, als sei nichts gewesen, als er bemerkte, dass ich ihn sah.
Meine Kleidung musste ich unter der Dusche säubern, da ich nicht erwarten konnte, dass mir Sireno noch mal einen Satz Kleider zukommen ließ. Er wirkte wütend, als er die Zuschauerränge der Arena verlassen hatte. Und bestimmt war es auch besser so. Wahrscheinlich hätte er mir noch etwas wesentlich freizügigeres geschickt. Den Großteil bekam ich sauber, aber man sah, dass die Klamotten Flecken hatten. Vor allem dem weißen, durchsichtigen Oberteil sah man es an. Aber solange nichts mehr darauf war, das mich womöglich doch noch infizieren konnte, war mir das egal.
Danach ließ ich mich auf meine Matratze fallen und schlief bald darauf ein. Die Übelkeit, würde bis zum nächsten Tag schon wieder vergangen sein. Denn solange hatte ich vor zu schlafen, obwohl es erst später Nachmittag war.
Ich wusste zwar nicht, was Sireno damit bezwecken wollte, aber er holte mich am nächsten Tag gegen Mittag persönlich ab. Heute schien er wieder einmal hervorragende Laune zu haben, was für mich eigentlich nichts Gutes heißen konnte. Stillschweigend trottete ich neben ihm her, als er über den Markt flanierte. Hier und da bediente er sich von den Ständen – natürlich ohne zu bezahlen – und führte mich schließlich in das Gebäude, in dem er ganz oben wohnte. Ich sollte mich auf die Couch setzen, auf der er mich so unangenehm angefasst hatte. Tat es aber nicht. Ich setzte mich auf den mit Holz Ornamenten verzierten Stuhl, der an seinem Schreibtisch stand, während er den Raum noch einmal mit dem Gemüse und Fleisch verließ, dass er auf dem Markt mitgenommen hatte. Solange er weg war fühlte ich mich sicher genug mich etwas umzusehen. Alle Bücher in den Regalen, und gestapelt auf und neben dem Schreibtisch, enthielten irgendein wissenschaftliches Kauderwelsch, aus dem ich nicht schlau werden konnte. Die Akten, auf seinem Schreibtisch, schienen aus dem Aktenschrank zu stammen, der neben dem Tisch aufgestellt war. Doch dort hinein zu sehen, war mir zu gefährlich. Immerhin konnte er jeden Moment wieder kommen. Stattdessen beäugte ich die Akten auf dem Tisch. Ich öffnete die Klappe aus festerem Papier und starrte sogleich einem Zombie entgegen. Ich war geschockt. Es war nur ein Foto, aber wenn man Fotos nicht gewöhnt war, so wie ich, konnte einem so ein Anblick schon etwas aus der Fassung bringen. Über dem Foto prangte eine Nummer in dicken roten Buchstaben. 42.
„Hat man dir nicht beigebracht, die Sachen anderer nicht ungefragt anzusehen?“, warf Sireno mir vor, anstatt wirklich zu fragen, griff von hinten über mich, klappte die Akte wieder zu, sammelte alle übrigen auf und stopfte sie zurück in den Aktenschrank.
„Selber schuld.“, sagte ich achselzuckend und vollkommen gleichgültig darüber, wie er reagieren würde.
„Ach, bevor du fragst“, sagte er und setzte sich mit einem Drink, von dem ich nicht wusste, wo er auf einmal aufgetaucht war, auf die Couch, „nein, ich hab dich nicht hergeholt um dich zu vergewaltigen. Ihr Sklavenschlampen könnt vielleicht meinen Bruder reizen, aber mich nur wirklich nicht. Außer vielleicht zur Weißglut.“
Es war mir ein wenig peinlich, als er das sagte. Gut, ich hatte mich geirrt – zu meinem Glück, wie ich bemerken musste – aber gab es ihm wirklich so viel, dass er ständig darauf herumreiten musste. Denn das durchsichtige Oberteil, durch das man meinen Busen hätte gesehen, wenn ich nicht ein Stofffetzen meiner Matratze darum gewickelt hätte, hatte er mir wohl mit Sicherheit nur deshalb ausgesucht. Er machte sich über mich lustig. Und das, obwohl er mich zugleich auch noch anderweitig demütigen und zerstören wollte. Doch vermutlich brauchte er das, weil er mit dem Zerstören bisher nicht besonders erfolgreich war.
„Geh von meinem Schreibtisch weg.“, befahl er mir.
Wieso hörte ich nur auf ihn, fragte ich mich, als ich mich so weit weg wie möglich von ihm auf die Couch setzte.
„Und?“, fragte ich schließlich, als er nichts weiter zu wollen schien, als seinen Drink zu genießen, „Was soll ich nun hier?“
„Wir werden zusammen essen.“, sagte er beschlossen.
„Was?“ Ich dachte ich hörte nicht ganz recht. Wieso wollte er mit mir zusammen essen? Will er mich vergiften? Oder was?
„Oh nein, wo bleiben nur meine Manieren. Meine Mutter würde sich im Grab umdrehen.“, sagte er und schien es sogar ernst zu meinen. Er erhob sich von der Couch und stellte seinen Drink auf den Kaffeetisch davor ab. „Möchtest du einen Drink?“
Geschockt und überrascht starrte ich ihn schweigend an. Was wollte er damit bezwecken? Sicher nichts Gutes. „Denkst du ich würde etwas trinken, das du zubereitet hast?“
„Gut, bitte.“, sagte er und ließ sich wieder auf die Couch fallen. „Dann mach dir deinen Drink eben selber. Auch wenn das nicht ganz den Gepflogenheiten entspricht, von da wo ich herkomme.“ Sagt derjenige, der Sklaven unterhält, bemerkte ich sarkastisch in meinen Gedanken.
Ich sah zu dem Getränketisch hinüber. Darauf waren Gläser in den unterschiedlichsten Formen und alle sahen aus, als wären sie Kristalle. Dahinter waren kunstvoll geschwungene Karaffen, mit verschiedenen alkoholischen Getränken darin, die sie hier irgendwo ganz bestimmt selber brauten, wie wir zu Hause. Doch bestimmt war da auch Gift untergemischt, dass ich trinken und mich töten sollte. Aber so einfach würde ich es ihm nicht machen. Er musste sich schon etwas mehr anstrengen, um mich zu erledigen. Ich fragte mich ohnehin, warum er mich nicht einfach erschoss. Immerhin war ich nicht kugelsicher, wie es einige spezielle Westen gab, von denen wir auch ein paar zu Hause hatten. Vielleicht hatte er doch noch etwas anderes mit mir vor? Aber wenn ja, was?
„Na, los.“, forderte er mich auf. „Die sind nicht vergiftet oder so was. Immerhin stammt meiner auch aus eine der Flaschen.“ Was ich natürlich nicht hatte beobachten können.
„Ich will nichts.“, sagte ich. „Und von deinem Essen will ich auch nichts. Das kannst du dir meinetwegen in den Arsch schieben.“
„Weißt du, ich überlege ernsthaft, ob ich dich nicht gleich Ira schenken sollte.“, bemerkte er beiläufig, „Er steht ja auf solche widerspenstigen Dinger, wie dich.“ Das kümmerte mich gar nicht. Mit Ira würde ich schon irgendwie fertig werden, selbst wenn er mir zu nahe kam. Aber Sireno hatte irgendetwas an sich, was mich daran hinderte. Vielleicht war er telepathisch ein ernstzunehmender er Gegner als sein Bruder? Ich weiß es nicht. Und eigentlich will ich es auch nicht herausfinden, da das bedeuten würde, dass er mich noch einmla so anfasste.
„Möchtest du vielleicht zu Ira? Fragen wir mal so.“, sagte er nach kurzen Überlegungen.
„Ira kann ich leichter durchschauen.“, bemerkte ich gedankenlos. Aber es war die Wahrheit. Die Sadisten kann man einfach durchschauen, wenn man nicht gerade nach dem Grund forschte, was sie so hat werden lassen. Während so jemand wie Sireno… Ich weiß eigentlich gar nicht was er ist. Einfach zur sadistisch scheint er mir nicht zu sein. Da war noch irgendetwas anderes hinter seiner Fassade.
„Es schmeichelt mir ja regelrecht, dass du uns so siehst.“, lachte er. „Erzähl doch mal, wie siehst du Ira?“, wollte er wissen.
„Er ist ein pädophiler, vergewaltigender Sadist.“, sagte ich unverblümt und gerade heraus.
Wieder musste Sireno lachen. „Da hast du wohl den Nagel auf den Kopf getroffen. Wie siehst du Dino?“, fragte er neugierig geworden.
„Keine Ahnung. Ich weiß zu wenig über ihn.“ Wie kam ich dazu mich plötzlich richtig mit ihm zu unterhalten? Was stimmt denn nur nicht mit mir? Aber vielleicht erfahre ich so etwas mehr über Sireno und seine Brüder.
„Tja, er ist auch, wie ich, kein so offenes Buch, wie Ira.“, sagte er und schwieg für einen Moment, in Gedanken verloren. „Selbst für mich ist es nicht ganz einfach ihn einzuschätzen. Aber ich würde sagen, er tut das, was ihm gerade in den Kram passt, und kennt auch nur sich selbst gegenüber Loyalität.“
„Dann glaubst du, er fällt dir irgendwann in den Rücken?“, fragte ich.
Da sah Sireno mich lange Zeit an. „Nicht für dich. Also vergiss die Idee gleich wieder, die dir wahrscheinlich gerade in den Sinn kommt.“ Eigentlich hatte ich wirklich nicht gedacht, dass ich mich mit Dino verbinden könnte. Aber jetzt, wo er es sagt, wäre es eine Überlegung wert. Doch erst für später. Zuerst hatte ich noch etwas anderes in Erfahrung zu bringen.
„Und du?“, fragte ich. „Was bist du für ein Mensch? Was treibt dich dazu an, all diese Dinge zu tun?“
„Du meinst Sklaven halten?“, fragte er. „Weil ich es kann. Oder meinst du, warum ich dich immer wieder in die Arena schicke?“
„Um mich zu töten.“, sagte ich. „Oder etwa nicht? Was für einen anderen Grund könnte es haben als den?“
„Das wirst du selbst herausfinden müssen.“, sagte er. „Und das wird schon noch früh genug der Fall sein.“ Sein Grinsen dabei gefiel mir ganz und gar nicht. Bestimmt hatte er schon die nächsten Zombies ausgesucht, die mir die Hucke vollhauen sollen. Wann er mich wohl wieder in die Zombie-Kampf-Arena schickten wird?
Unser Gespräch endete damit. Und ein weiteres brachten wir auch nicht zustande, als wir beim Essen saßen, das natürlich, wie hätte es auch anders sein können, von einem Sklaven zubereitet und serviert worden war. Er gab sich nicht sonderlich viel Mühe ein Tischgespräch in Gang zu bringen, und ich dachte nach, als ich mit der silbernen Gabel in dem Rindersteak herumstocherte, ohne vorzuhaben es tatsächlich zu essen, obwohl es sehr gut aussah. Was könnte er möglicherweise mit mir vorhaben? Er schien mich wirklich nicht dringend töten zu wollen, obwohl er wohl nicht gerade um mich trauern würde, würde ich doch das zeitliche segnen. Auch wenn er sicher nicht als verloren gegangener Mensch um mich trauern würde, würde er nicht mal als verloren gegangener Sklave um mich trauern – wie viel eine kalter und herzloser Sklavenbesitzer auch schon um einen verlorenen Sklaven trauern konnte, was nicht viel sein konnte, außer wenn er die gratis Arbeitskraft, die er dargeboten hatte, in Betracht zog. Da wird einfach ein anderer zum Sklaven degradiert, um ihn zu ersetzen. Aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was er mit mir vorhaben könnte. Bisher hatte er mich einmal bewusstlos einem Zombie vor die Füße geworfen, und ich war mir sicher gewesen, mit der Intention mich doch zu töten. Und ein anderes Mal hatte er mich zusammen mit vier merkwürdigen Zombies eingesperrt, die sich von den normalen Zombies, die ich bisher gesehen hatte irgendwie unterschieden haben. Sie haben sich so normal – für Menschen normal – bewegt. Wie kam das? Experimentiert er etwa mit Zombies? Das würde zumindest die Akte mit dem Zombiefoto darin erklären. N-Corp hatte zu seiner Zeit auch solche Akten geführt. Einige hielt Dad sogar bei uns zu Hause unter Verschluss. Dave hatte sie ihm lange vor meiner Geburt gegeben. Aber ein paarmal hatte ich einen Blick darauf werfen dürfen, als Dad mir alles über N-Corp erklärt hatte. Damals war ich gerade mal vier Jahre alt, und erfuhr Dinge, die eine vierjährige nicht erfahren sollte. Doch in mancher Hinsicht sind alle Telepathen etwas früher reif, als Nicht-Telepathen.

Nach einer schlaflosen Nacht, die ich damit zugebracht hatte diesen Ifram zu suchen, fand ich ihn endlich. Natürlich hätte ich mich auch durchfragen können. So viel Aufmerksamkeit hätte ich damit nun wirklich nicht auf mich gezogen. Aber ich wollte mich letztendlich zuerst selbst davon überzeugen, ob er ein Telepath ist oder nicht. Und tatsächlich, da war er, ein Telepath. Seine Begabung war so schwach ausgeprägt, dass weder ich noch Ivy ihn als das wahrnahmen, was er ist. Es ist wie bei Sully. Wenn er wirklich ein Telepath ist, würden wir ihn auch nicht als solcher wahrnehmen, obwohl wir, wenn wir ihn genau beobachten, den Verdacht hegen würden.
Am darauffolgenden Abend, nach dem wie immer spärlich ausfallenden Abendessen, schlich ich mich, mit dem Vorwand, mein Besitzer wolle mich noch einmal sehen, zurück in die Stadt, um Ifram einen Besuch abzustatten. Er wohnte in dem nordwestlichen Haus der Stadt, hinter dem Ich meinen Streit mit Ivy führte, den ich gar nicht beabsichtigt hatte. Hätte ich das nur gewusst…
Nachts war es innerhalb der Stadt wesentlich weniger los, als am Tage. Glücklicherweise begegnete mir niemand auf der Straße, sodass ich niemanden weiter vormachen musste zu James zu gehen. An der Tür von Iframs zu Hause klopfte ich leise, aber dennoch laut genug, dass man es drinnen hören würde, wenn man nicht gerade schon tief und fest schlief. Es dauerte eine Weile bis sich die Tür schließlich öffnete, ich war schon drauf und dran noch einmal lauter zu klopfen.
„Was willst du so spät noch?“, fragte eine garstige dunkle Männerstimme, hinter der spaltbreit geöffneten Tür.
„Ich will zu Ifram. Ich hab ein paar Fragen.“, sagte ich mit gedämpfter Stimme.
„Hör zu, ich weiß nicht was ihr Sklaven unter euch über mich redet, aber ich kann nun wirklich nicht jeden kaufen.“, sagte er und war schon dabei die Tür zu schließen. War das Ifram?
In letzter Sekunde schob ich meinen Fuß in die übriggebliebene Öffnung der Tür. „Ich hab keine Ahnung wovon du redest. Ich hab nur ein paar Fragen zur Stadt und zu Sireno und seinen Brüdern. Man hat mir gesagt, dass du mir diese Fragen vielleicht beantworten kannst.“
Daraufhin öffnete er die Tür weiter, sodass ich den ganzen Mann zur Stimme in Augenschein nehmen konnte, während er mich ebenfalls begutachtete. Ifram hatte dunkles, volles Haar gesprenkelt mit grauen Strähnen. Sein von Falten zerfurchtes Gesicht ließ mich sein Alter auf etwa sechzig Jahre tippen. Schließlich winkte er mich ins Haus und sah sich auf der Straße um, bevor er die Tür hinter mir schloss. Dann führte er mich in ein Wohnzimmer, in dem eine Couch vor einem Kamin aufgestellt war, auf der wir beide Platz nahmen.
„Du bist die Schwester von Sirenos neuer Sklavin, hab ich recht?“, fragte er.
„Ja.“, log ich ohne mit der Wimper zu zucken. Es machte ja ohnehin keinen Unterschied, ob er nun wusste, dass sie nur die Tochter meines Bruder war, oder meine Schwester, wie ich an unserem ersten Tag hier behauptet hatte.
„Ich nehme an, dass du hoffst sie irgendwie zu befreien, bevor sie noch von einem Zombie infiziert wird. Auch wenn ich nicht sehe, wie du das mit ein bisschen Hintergrundwissen anstellen willst, werde ich versuchen deine Fragen so gut ich kann zu beantworten. Aber sei gewarnt, zu viel kann ich dir nicht verraten, weil sie sonst noch auf dich und dann auch auf mich aufmerksam werden. Und ich spiele ohnehin schon ein riskantes Spiel.“
„Was für ein riskantes Spiel?“, wollte ich wissen.
„Ich versuche die Sklaven aufzukaufen, die am ärmsten dran sind. Na ja, bisher scheint es ihnen noch nichts auszumachen.“, meinte er. Ich nahm an, dass er seine Sklaven gut behandelte, sonst würde er wohl kaum befürchten, er könne den drei Brüdern unangenehm auffallen. „Also, was willst du wissen?“, fragte er.
„Wie kam diese Stadt zustande?“, fragte ich.
„Ah.“, hauchte er, stand auf und legte ein Holzscheitel in die Glut im Kamin. „Das ist schon lange her. Unsere Stadt existiert schon, abgeschirmt von den Untoten außerhalb der Mauern, die damals gebaut wurden, seit wenigen Jahren nach Ausbruch der Apokalypse. Damals taten sich vier Männer und eine Frau zusammen, und hatten die Idee mit den Brücken über den Dächern der Ruinenstadt. Sie versiegelten die untersten Etagen der Gebäude, die sie besetzten, und richteten sich nach und nach einen Ort ein, an dem man ein relativ normales und sicheres Leben aufbauen konnte. Mit den Jahren nahmen sie umherziehende Wandere auf und die Stadt vergrößerte sich zu dem, was sie heute ist.“
„Und die Sklaven?“, fragte ich. „Gab es die schon von Anfang an?“
Er schwieg für einen Moment. „Nein. Würde Casey heute noch leben, würde er dem ein Ende setzen.“
„Wer ist Casey?“, fragte ich. Aus irgendeinem Grund, konnte ich seine Gedanken nicht lesen. Ich konnte gerade mal sagen, dass er ein Telepath ist, das war auch schon alles.
Daraufhin sah er mich an und schwieg weiter. Er überlegt, ob er mir diese Frage gefahren los für ihn beantworten konnte, das war in seinen Augen zu sehen. „Er ist einer unser Vorfahren und Gründer der Stadt. Ich, äh, kann dir nicht viel über ihn sagen, nur dass er das alles“ er schwenkte mit seinem Arm über die Stadt hinter den Wänden dieses Raumes, „niemals billigen würde.“ Er log. Aber das, glaube ich, war jetzt auch nicht weiter wichtig, weshalb ich auch nicht weiter nachhakte. Und um das auch von seiner Seite aus zu verhindern, sprach er weiter. „Die Sklaven kamen vor etwa siebzig Jahren. Wie du also siehst, bin sind die meisten heute, damit aufgewachsen, entweder ein Sklave oder ein Besitzer zu sein. Aber erst vor wenigen Jahren ist dieses System völlig aus dem Ufer geraten.“
„Wie?“, fragte ich. „Was ist passiert?“
„Sireno ist passiert.“, sagte er. „Ich schätze, da deine Schwester selber einer ist, weißt du so einiges über Telepathen.“ Ich nickte zustimmend. „Sireno ist der mit Abstand begabteste Telepath, den ich je erlebt habe. Und das ist besonders gefährlich in der Kombination mit seinem Geisteszustand.“
„Seinem Geisteszustand?“, wiederholte ich. „Er ist verrückt? Ich dacht er sei nur irgendwie kaltherzig und sogar sadistisch.“
„Hm.“, überlegte Ifram. „Verrückt ist vielleicht etwas zu weit gegriffen. Aber er ist auf jeden Fall nicht ganz normal in seinem Oberstübchen. Und das sage ich als sein Onkel. Er war nicht immer so. Als er noch ganz klein war, war er ein glückliches Kind, das am liebsten mit seinen Geschwistern gespielt hat. Oft hat er Ira, der schon von Geburt an irgendwie böse zu sein schien, bestraft, wenn dieser sich etwas Ungebührliches geleistet hatte. Die fünf hatten ein so enges Verhältnis, dass ihre Eltern gar nicht mehr zu zählen schienen. Aber das kam nur so, weil, und das wissen wirklich nicht viele, Sireno seinen Geschwistern gegenüber einen Vaterersatz spielen wollte, sodass sein Vater Zeit für seine Arbeit hatte. Doch mit dem Tod meine jüngeren Bruders, der Vater der fünf, geriet einfach alles aus den Fugen. Schon zuvor wirkten die Kinder zurückgezogen, als hätten sie geahnt, was geschehen würde.“ Ifram verfiel in ein tiefes Schweigen. Er befand sich jetzt irgendwo in der Vergangenheit, fing sich durch meine Anwesenheit aber bald wieder. „Ihre Mutter erhängte sich nach dem Tod meines Bruders, und Sireno übernahm seine Arbeit, obwohl er erst sechzehn Jahre alt war. Und anders als sein Vater, kümmerte er sich auch weiter um seine Geschwister. Doch da war er schon verändert und richtete eigentlich nicht viel Gutes an. Ira, der kleine Teufel, konnte tun und lassen was er wollte. Er lief durch die Gegend und ließ seine kranken Fantasien bei den Sklaven freien Lauf, was sich je älter er wurde teilweise wieder gelegt hatte. Heute zählen zu seinen einzigen Opfern seine Sklaven. Ich schätze Sireno hat ihm verboten die Sklaven, die ihm nicht selbst gehörten, anzufassen. Dino hielt sich aus allem raus. Er lebte sein eigenes Leben und verschloss die Augen vor dem, was zwischen den anderen Geschwistern vor sich ging. Denn Chane und Arianna hatten, als sie älter wurden, die Nase voll von unserem Sklavensystem. Sie strebten an die Sklaven in Freiheit zu entlassen, sodass absolut jeder Bürger unserer Stadt gleichgestellt sein würde. Aber das war Sireno nicht recht. Ira schlug sich aus freien Stücken auf seine Seite und Dino hatte er irgendwie eingelullt gehabt. Gemeinsam überwältigten sie Chane und Arianna, die damals erst zehn Jahre alt war, und sperrten sie weg.“
„Dann leben sie noch?“, fragte ich. „Es heißt nämlich unter den Sklaven, sie seien tot.“
„Ich würde eher sagen, sie atmen noch. Denn leben kann man das nicht nennen. So oft wurden sie von ihren eigenen Brüdern misshandelt, dass sie schon lange gebrochen sind.“
„Und du konntest rein gar nichts dagegen unternehmen?“ Es war kein Vorwurf, nur eine einfache Frage, die durch mein Staunen über das gehörte, aus mir herausfloss. Ich hatte Mitgefühl mit Chane und Arianna. Sie waren so jung, wurden von ihren Brüdern eingesperrt und misshandelt, weil sie versuchten das richtige zu tun.
„Alleine komme ich gegen die drei Brüder nicht an. Hätte ich eine Möglichkeit auf ein positives Ende gesehen, hätte ich mich damals auf Chanes und Ariannas Seite geschlagen. Doch das habe ich nicht. Sireno ist einfach zu stark. Und alle drei, sind sie zu skrupellos. Sie nehmen keine Rücksicht auf Verluste. Wir hätten das getan. Also versuchte ich mich da raus zu halten, damit sich jemand um die Sklaven kümmern konnte, während Chane und Arianna ihr Dasein fristen.“
„Und das war´s dann?“, fragte ich, diesmal eher vorwurfsvoll. „Was soll denn deiner Meinung nach geschehen? Sollen die Sklaven für immer dieses Leben führen? Was soll aus ihnen werden, wenn du nicht mehr auf sie aufpassen kannst?“
„Ich weiß es nicht.“, sagte er, meinen Vorwurf erkennend. Ich hatte das Gefühl, dass er sich diesen Vorwurf auch selber machte. „Ich weiß es einfach nicht. Wenn du eine Idee hast, lass sie mich doch wissen.“


24


Heute wird ein guter Tag, sagte ich mir selbst, im selben Augenblick da ich die Augen öffnete. Ich fühlte mich noch etwas schlaftrunken, weshalb ich noch ein wenig im Bett liegen blieb. Jetzt schon war es zu warm, sodass ich mit der Decke zur Seite geschlagen geschlafen hatte. Sie Sonne zwang sich ihren Weg durch das offene Fenster und wanderte mit steter Bewegung am Fußboden entlang, je höher sie stieg. Heute würde ich Ivy eine Lektion erteilen, davon war ich überzeugt. Es reichte mir nicht mehr, sie einfach nur zu infizieren, damit ich die Auswirkungen an ihr beobachten konnte. Zweimal hatte sie mich schon bloßgestellt, sodass sie nicht nur von den Sklaven bejubelt wurde, sondern auch von einigen der anderen Bewohner der Stadt. Dem musste ich ein Riegel vorsetzen, ehe sich dieser Virus noch auf die andere Hälfte der Bewohner ausbreitet. Und dieser Riegel wird heute kommen. Heute bringe ich ihr bei, was es heißt zu verlieren. Dann konnte ich sehen, was ich als nächstes mit ihr mache. Entweder, ich lasse sie noch ein wenig weiter verlieren, oder ich führe meine Studie endlich fort.
Ich stand auf. Insgeheim, musste ich schon zugeben, war ich froh, dass sie so unverhofft in die Stadt platzte, sodass ich nicht Chane oder Arianna dafür benutzen musste – oder auch Dino oder Ira. Sie sollten immerhin noch so lange leben, bis sie den Wert und das Ergebnis meiner Arbeit mit eigenen Augen erkennen können. Und Ifram war kein besonders gutes Versuchsobjekt. Dazu war er telepathisch zu unterentwickelt. Ganz anders Ivy. Sie ist durchaus begabt. Aber natürlich kann sie mir nicht das Wasser reichen. Obwohl ich zu gern gewusst hätte, wie sie es geschafft hat, mir diese Kopfschmerzen einzupflanzen, als ich ihr die Betäubungsspritze geben wollte. Diese Fähigkeit hätte sich nämlich bestimmt noch als ganz nützlich erwiesen. Aber so essentiell dann doch nicht.
Dennoch konnte ich mich dem Gefühl nicht erwehren, dass sie das gesamte Ausmaß ihres Potentials vor mir verbarg. Bei dem Essen gestern, das lediglich der Beobachtung dienen sollte, gab mir Aufschluss darüber, dass sie eine enorme Anstrengung aufrechterhielt, um ihr Können vor mir zu verbergen. Wie stark konnte sie womöglich noch sein? Vielleicht fast so stark wie ich? Denn stärker als ich, konnte sie ja nun nicht sein, sonst hätte sie bisher ein leichtes Spiel gehabt, mich aus dem Weg zu räumen, und frei zu sein. Diese Frau gibt mir wirklich Rätsel auf.
Aber nichtsdestotrotz werde ich heute eine Lektion erteilen, die sie so schnell nicht vergessen wird. Und wer weiß, vielleicht lässt sie auch ihre Deckung ein wenig fallen, sodass ich hinter ihre Fassade blicken kann. Denn eines war klar, wenn sie abgelenkt genug ist, fällt es ihr schwer sich so zu konzentrieren, wie sie es wohl nötig hat, um mich im Dunkeln zu lassen.

Mit einem unguten Gefühl wachte ich auf. Vielleicht war es mein schlechtes Gewissen darüber, dass ich dem Rindersteak gestern nicht lange habe standhalten können, und es doch noch gierig versreist habe, obwohl ich es eigentlich nicht anrühren wollte. Oder es war die ungeklärte Frage, was Sireno eigentlich mit mir vorhatte. Es beunruhigte mich doch sehr, diese Ungewissheit. Und Dad auch, den ich spüren konnte. Er war sehr unruhig, was er mich – absichtlich oder auch nicht – spüren ließ.
Davon lenkte mich VJ etwas ab. Ben und Travis sind irgendwo draußen unterwegs und genießen die Sonne, die vermutlich draußen schien, während VJ bei mir geblieben ist, weil Sireno mich nicht raus ließ. Obwohl ich mich ihm gegenüber unwohl fühlen sollte, weil ich ihn in einigen prekären Situationen beobachtet habe, tat es aber nicht.
„Vermisst du dein zu Hause?“, fragte er mich. Wir saßen beide auf meiner Matratze, an die Wand gelehnt.
„Ja.“, antwortete ich. Bisher konnte ich es vermeiden in meiner Rolle zu sein. Aber jetzt erforderte es die Situation, dass ich mir ein Leben zusammenreimte, das ich glücklicherweise nie gelebt hatte. Da half es, dass ich mein wirkliches zu Hause wirklich ein wenig vermisste.
„Erzähl mir ein bisschen davon.“, sagte er gedankenverloren. „Wie war es in einem Bunker aufzuwachsen?“
Ich benutzte die Erinnerungen, die mir mein Großvater und seine Vorfahren quasi vererbt hatten, und vermischte sie damit, wie ich mich in so einem Leben gefühlt hätte. „Es war ganz in Ordnung, besonders im Vergleich zu dem Leben hier. Aber ich hab mich immer gefragt, was da draußen war. Denn alles was wir darüber wussten, kannten wir nur aus den Geschichten derjenigen, die noch vor der Apokalypse draußen gelebt hatten und schon lange gestorben waren, und Büchern. Ich wollte es immer mit eigenen Augen sehen.“ Ich legte eine Pause ein, um nicht zu verraten, dass es nicht meine Erinnerungen waren, und ich keine wirklichen und echten Gefühle damit verband. „Doch im Nachhinein wünschte ich, wir hätten die Bunkertür nie geöffnet.“, sagte ich schwermütig.
„Was ist passiert?“, fragte er meine Geschichte glaubend. VJ gegenüber hatte ich nicht so ein schlechtes Gewissen, wie ich es Sammy gegenüber hatte.
Ich überlegte kurz, tat aber so, als würde ich den Albtraum meiner Vergangenheit noch einmal Revue passieren lassen, und seufzte. „Wir waren erst seit ein paar Stunden wieder an der Erdoberfläche, als uns die Zombies angriffen.“
„Ihr wusstet über die Zombies nicht Bescheid, oder?“, fragte er mich.
„Doch. Aber nur aus den Geschichten.“, erzählte ich. „Die ersten Bewohner des Bunkers, also unsere Vorfahren, hatten eine Satellitenanlage, die ihnen in den ersten Tagen das Chaos des Ausbruchs zeigte. Sie fiel aber bald aus, sodass sie das gesamte Ausmaß nicht erkannten. Wir wussten nicht, was dort draußen war, ob es noch gesunde Menschen gab, die nicht in den Bunkern lebten, oder wie es in der übrigen Welt aussieht.“
„Und was habt ihr den ganzen Tag im Bunker gemacht?“, wollte er wissen.
„Irgendwie die Zeit herumgebracht, schätze ich.“, sagte er. „Die Erwachsenen haben gearbeitet, die Kinder sind zur Schule gegangen. Abends saß man zusammen und hat getrunken, geredet oder getanzt.“ Ich tat so, als erinnerte ich mich an eine glückliche Zeit.
„Und mit wem hast du getanzt?“, fragte er flirtend. „Ich meine, hattest du jemanden? Du weißt schon.“
„Nein.“, sagte ich, bevor mir überhaupt klar war, was er da eigentlich fragte. Das fiel nicht mehr in meine Rolle, das betraf mein reales Leben. Ich mochte VJ sehr, weshalb ich ihm jetzt eigentlich nichts erzählen wollte, was nicht stimmte – na ja, zumindest nicht was mein Liebesleben anging. Denn die Wahrheit ist, es gab da jemanden, und es gibt ihn sogar immer noch. Immerhin war es ja nur eine Geschichte zur Tarnung, dass wir aus einem Bunker kamen, der von Zombies angegriffen wurde, bis niemand außer Jodie und mir übrig geblieben sind.
Doch bevor ich mir etwas überlegen konnte, wie ich da wieder raus kam, fühlte ich VJs Hand auf meinem, wegen der extrem kurzen Shorts, nackten Oberschenkel. Eigentlich hatte ich vor seine Hand mit meiner wegzulegen, ließ sie aber dann doch auf seiner liegen. Ich beobachtete unsere Hände, als er seine umdrehte und meine festhielt. Was tat ich hier eigentlich? Bevor ich von zu Hause weg bin, habe ich Rick gesagt, dass ich ihn besser kennenlernen wollte, sodass ich herausfinden konnte, ob ich ihn lieben kann oder nicht. Und das wollte ich auf wirklich. Aber jetzt…
Ich befreite meine Hand von VJs und wollte von ihm wegrücken, aber da hatte er es schon irgendwie geschafft mein Gesicht zu sich zu drehen und seine Lippen auf meine zu pressen. Im ersten Moment erstarrte ich unter dieser Berührung unserer Lippen. Doch als er nicht aufhören wollte mich zu küssen, erweichte mich das so sehr, dass ich seinen Kuss sogar erwiderte. Als ich ihn sogar mit Zunge küsste, spürte ich seine Hand an meiner Hüfte, wie sie mich langsam zu sich zu drehen versuchte. Wir rutschten an der Wand runter, sodass VJ bald auf mir lag. Er roch anders als Rick, was womöglich daran lag, dass wir hier keine Seife zum Duschen hatten, nur kaltes Wasser.
Es passierte nichts weiter, weil Ben und Travis zurückkamen. Doch um ehrlich zu sein wusste ich nicht, was passiert wäre, wenn VJ und ich alleine geblieben wären. Ich war mir nicht mal sicher, ob etwas passiert wäre, denn je länger er mich küsste, und ich ihn zurückküsste, desto mehr musste ich dabei an Rick denken. Es war ihm gegenüber nicht fair. Wo ich ihm doch ein Versprechen gegeben habe, dass ich eigentlich einzuhalten beabsichtigte. Doch sollte ich mich deshalb dazu zwingen mich für Rick aufzusparen, während ich hier war? Tat ich das überhaupt bewusst? Wollte ich VJ überhaupt so, wie er mich wollte? Ich wusste es nicht. Und im Augenblick konnte ich mir auch keine Gedanken darüber machen, denn Ben und Travis hatten etwas zu berichten.
„Sie schicken alle in die Arena.“, verkündete Travis aufgeregt. „Alle, sogar die Sklaven.“
„Warum?“, fragte VJ. Wir hatten uns wieder so hingesetzt, als wir sie kommen hörten, wie wir saßen, bevor wir uns küssten.
„Na, ich würde sagen, sie schicken einen von uns in die Arena.“, meinte Ben. „Travis und mir haben sie gesagt, wir sollen hier unten warten.“
Es war eine ungewohnte Situation für uns alle. Für mich selbstverständlich, weil ich noch nicht so lange dabei war. Für die anderen drei, weil es ungewöhnlich war, dass alle, sogar die Sklaven in die Arena zum Zusehen geschickt wurden. Denn normalerweise war es ihnen nicht gestattet für einen Kampf ihre Arbeit niederzulegen, berichtete mir VJ. Nicht mal, wenn das eigene Familienmitglied kämpfen musste.
Ungeduldig und unsicher warteten wir darauf mehr zu erfahren, jeder auf seine Weise. Travis wirkte nervös und konnte nicht stillsitzen, weshalb er immer auf seinem Platz, wo er doch saß, herumwackelte. Ben erging es ähnlich, nur dass dieser im Raum auf und ab ging. Und VJ verzog sich in seine Zelle um alleine zu sein. Seit ich hier war, hatte es für die drei noch keinen Kampf gegeben, und ich sah das erste Mal, wie sie damit umgingen. Obwohl sie es unterschiedlich zeigten, waren doch alle sehr nervös. Ich schätze niemanden gefällt es in die Arena geschubst zu werden, wo man sich gegen einen oder mehreren Untoten behaupten muss, damit man nicht selbst zu einem von ihnen wird.
Schließlich war es soweit, wir sollten erfahren, wer kämpfen musste, und warum auch die Sklaven zusehen sollten. Eigentlich hätte ich Sireno erwartet, aber es war sein Bruder Ira, der sich zu uns bemühte.
„Ivy.“, sagte er nur, den Raum nicht betretend. Und damit war alles gesagt. Ich musste schon wieder kämpfen. Den anderen entglitt ein beruhigtes Durchatmen, was ich ihnen nicht verübeln konnte. Ich als Telepath brauchte weniger Angst zu haben infiziert zu werden, als sie, immerhin standen mir eine ganze Reihe mehr Mittel zur Verteidigung zur Verfügung, als ihnen. Doch ich bemerkte gerne, dass sie mir auch sorgenvolle Blicke zuwarfen, besonders VJ. Aber es half nichts, ich musste gehen. Also folgte ich Ira durch die Tür in den Raum, wo ich den Käfig besteigen sollte, der mich nach oben in die Arena bringen würde.
Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass die Sonne scheinen würde, wie sie es in den letzten Tagen immer getan hatte. Aber selbst das würde irgendwann zu Ende gehen. Dicke und fast schwarze Wolken zogen sich durch das Stück Himmel, dass ich durch das fehlende Dach des Gebäudes sehen konnte. In weiter Ferne hörte ich das Grollen von Donner und ab und zu blitzten die Wolken auf. Fast, als würde das Wetter etwas Unheilvolles ankündigen. Ich hoffte, das war nur ein Hirngespinst von mir, und verwarf diesen Gedanken sofort. Welcher Zombie, den mir Sireno schon entgegenstellen konnte, sollte mich besiegen können. So vielen, war ich bisher begegnet, und genauso viele habe ich endgültig getötet, bevor sie mich mit ihrem stinkenden Virus infizieren konnten. Und heute würde es nicht anders sein. Vermutlich würde ich schon wieder unten auf meiner muffligen und unbequemen mit Stroh gefüllten Matratze sitzen, bevor überhaupt der erste Regentropfen fiel.
Bevor sich im Boden etwas tat, und die vier übrigen Käfige empor wuchsen, sah ich mich um, ob ich nicht Jodie finden würde. Immerhin müsste sie doch hier sein, wenn sie sogar die Sklaven in die Arena schickten. Sie tauchte zwischen der Menge gerade da auf, wo ich gerade meinen Blick hinhielt, zusammen mit Sammy, seinen Schwestern und Willy, der sich mit ihnen das Zimmer teilte. Aber dessen Kinder waren nicht da. Wo ich mich genau umsah, waren überhaupt keine Kinder da, bei keinem meiner Kämpfe. Es gab wohl doch etwas, dass man den Kindern hier vorenthielt. Sogar den ach so privilegierten Kindern der Sklavenbesitzer.
Dann musste ich doch dem Boden meine Aufmerksamkeit schenken, denn die Käfige erhoben sich aus dem Boden. Sofort überprüfte ich, wie viele Zombies es diesmal sein sollten, gegen die ich kämpfen musste. Und zu meiner Überraschung musste ich erkennen, dass der erste Käfig leer war, genau, wie der zweite und dritte. Nur ein Käfig war besetzt und der Zombie in seinem Inneren war nicht besonders von gewaltiger Statur, wie man vielleicht annehmen konnte, wenn man bedenkt, dass Sireno mich letztes Mal gegen vier hat gleichzeitig antreten lassen. Trotzdem durfte ich ihn nicht unterschätzen. Das haben schon so viele getan, die jetzt entweder als Untoter durch die Welt wandelten, oder schon tot waren.
Aus der Ferne also betrachtete ich den Zombie genau. Wie die Zombies beim letzten Mal, wirkte dieser auch nicht ganz normal für Zombieverhältnisse. Er schien bei der Aussicht auf eine Beute – ob Zuschauer oder ich – auszuflippen. Irgendwie wirkte er kontrolliert, was auch seine Atmung wiedergab. Zombies mussten eigentlich nicht mehr atmen, immerhin brauchte ein ohnehin schon totes Gehirn keinen Sauerstoff mehr. Aber sie taten es trotzdem. Vielleicht, um die Beute zu wittern, denn ihr Geruchssinn schien noch intakt zu sein. Doch so ruhig wie dieser war kein Zombie – jedenfalls ist mir noch keiner untergekommen, der sich so selbstdiszipliniert benahm. War er vielleicht beim Militär oder ähnliches gewesen, bevor er zum Untoten wurde? Denn manchmal ist es so, dass ein Zombie sich fest eingeprägte Rituale oder Charakterzüge beibehalten, wenn sie schon gar nichts Menschliches mehr in sich trugen.
Ganz ruhig und als wüsste er genau, was er tat, trat er aus dem Käfig heraus. Die letzten Zombies hatten nur glück, dass sie aus ihren Käfigen gestolpert waren, damit sie mich jagen konnten. Aber wieder war das bei diesem anders. Auch seine Kleidung war anders. Er trug Jeans und ein Sweatshirt, was ja nicht weiter auffällig war, besonders weil er barfuß war, wie vieler seiner Artgenossen. Aber als er sich langsam zu mir umdrehte konnte ich keinerlei eingetrocknetes Blut erkennen. Seine Kleidung war ja noch nicht einmal schmutzig oder irgendwo zerrissen. Es fast so, als hätte er sich gerade erst etwas Frisches angezogen, sodass ich für einen kurzen Augenblick schon dachte, dass er vielleicht gar kein Zombie war, und ich mich geirrt hatte. War er ein normaler und gesunder Mensch? Nein, denn jetzt konnte ich in seine Augen sehen, und sie waren tot. Die Augen eines Menschen waren klar und glänzend, die eines Zombies milchig und trüb. So waren seine. Die Farbe, die seine Iris einst hatte, konnte man nicht mehr erkennen, weil sie trüb und fast weiß war. Zwar konnte ich das aus dieser Entfernung nicht genau sagen, aber ich war mir auch so sicher. Und näher ran gehen wollte ich nun wirklich nicht. Das war ein Zombie. Kein normaler, aber dafür ein wesentlich gruseligerer.
Dann fiel mir das höhnische Grinsen von Sireno auf, das ich bisher so nur von seinem Bruder Ira kannte, der es mir noch einmal zeigte, als ich den Käfig stieg, der mich in die Arena fuhr. Sireno hatte es sich wirklich zur Aufgabe gemacht, mir für jeden Kampf einen etwas furchteinflößenderen Gegner auszusuchen. Und er machte seine Sache wirklich gut, das muss man ihm lassen.
Dann, plötzlich, ich hatte es kaum bemerkt, sprintete der Zombie, der nicht wirkte wie ein Zombie, auf mich zu. Er war irsinnig schnell, fast so schnell wie ein gesunder Mensch, sodass ich nur um Haaresbreite seinem Griff entkam, indem ich zur Seite hechtete, mich abrollte, und sogleich wieder aufstand und in die entgegengesetzte Richtung rannte. Der Zombie knallte mit voller Wucht gegen die Gitterstäbe, die ihn von den Zuschauern trennte. Er nahm kaum Notiz von ihnen, als hätte er nur Augen für mich … wie die vier beim letzten Mal – bis auf eine kleine Ausnahme am Anfang. Sie hatten auch nur versucht mich zu ergreifen, obwohl sie mit ihren verfaulten Gehirnen überhaupt nicht erkennen hätten können, dass ich auch die einzige Beute war, die sie tatsächlich erwischen konnten. Und für Zufall halte ich das nun nicht mehr. Jetzt nicht mehr. Zuvor hatte ich schon das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, aber jetzt war ich mir hundertprozentig sicher, dass hier was faul war.
Und das ist noch so eine Sache. Dieser Zombie, der jetzt wieder auf mich zu sprintete, stank bei weitem nicht so übel, wie seine Artgenossen. Ihm schlich schon der Geruch der Verwesung nach, aber nicht so krass, wie bei anderen, was beinahe schon eine willkommene Abwechslung war, wäre er nicht weniger leicht zu durchschauen, als die anderen.
Wieder hechtete ich aus dem Weg und zog mich zurück, was mein Plan war, bis ich eine Gelegenheit sah, ihn auszuschalten. Doch schon bei meinem dritten Versuch klappte es nicht mehr. Plötzlich blieb er in sicherer Entfernung stehen und kam langsam auf mich zu. In passender Nähe täuschte er sogar rechts an, sodass ich ihm natürlich in die Arme lief, als ich links ausweichen wollte. Aber ich schaffte es noch mich ihm zu entreißen, bevor er mir sein Maul zu nahe brachte. Wie ein Raubtier schlich er dann auf mich zu und wartete darauf, dass ich einen Fehler machte. Das Dumme dabei war nur, dass das ausgerechnet auch meine Taktik war. Irgendwie musste ich hinter ihn gelangen, um nicht Gefahr zu laufen gebissen zu werden. Denn hätte Ira mir zuvor nicht ausdrücklich gesagt, dass ich gar nicht erst zu versuchen brauchte meinen Gegner zerplatzen zu lassen, hätte ich auch schon längst das versucht. Ich hatte keinen Grund ihm nicht zu glauben, dass sie mich dieses Mal auch wieder so blockieren würden, wie bei meinem letzten Kampf. Also musste ich die altbewährte Genick-brechen-Methode verwenden, um ans Ziel zu kommen. Doch das stellte sich durchaus schwieriger dar, als gedacht.
Dann kam mir eine Idee, die sich aber erst realisieren ließ, wenn ich etwas herausgefunden habe. Und dazu würde ich ein paar Sekunden Ruhe und Konzentration brauchen, die ich nicht haben würde, solange ich diesem merkwürdigen Zombie schutzlos ausgesetzt war. Nach kurzer Überlegung kam ich zu dem Schluss, dass ich diesen benötigten Schutz auf einem der Käfigdächer finden würde, wenn ich irgendwie dort hochklettern konnte. Denn so merkwürdig dieser Zombie auch war, konnte er mich unmöglich erreichen, wenn ich auf einer, wenn auch sehr kleinen, Plattform war, die mindestens zwei Meter über den Boden ragte. Und wenn ich nicht an den Gitterstäben hinauf klettern konnte, würde er es mit Bestimmtheit auch nicht können.
Langsam brachte ich einen der Käfige zwischen den Zombie und mich, sodass ich ihn nur noch durch die Gitter sehen konnte, und er mich auch. Ich versuchte herauszufinden, ob er etwas plante, wenn er dazu überhaupt in der Lage war, und urteilte, dass er weiterhin nur abwartete, obwohl ich mittlerweile unkontrollierte Zuckungen an ihm wahrnahm, die ihn immer für den Bruchteil einer Sekunde von mir ablenkten. Sie schienen in regelmäßigen Abständen aufzutreten, sodass ich sie mir zu Nutze machen konnte. Bei der nächsten Zuckung brach ich in einem vollen Sprint aus um auf die verkürzte andere Seite der Arena zu gelangen. Ich spürte das Streifen seiner Finger, als er etwas verspätet versuchte mich zu greifen. Aber das nahm mir nicht den nötigen Schwung, den ich brauchte um auf die Mauer, die etwas mehr als einen Meter aus dem Boden ragte, bevor sie zu Gitterstäben wurde, zu springen, mich dort abzustoßen und mich in der Luft um hundertachtzig Grad zu drehen, sodass ich gegen den dort liegenden Käfig sprang. In Windeseile, bevor der Zombie zu mir geeilt kam um mich möglichst noch zu fassen zu kriegen, bevor ich aus seiner Reichweite war, zog ich mich auf das Dach des Käfigs und stand dort auf, gerade als es anfing zu regnen.
Für einen Moment beobachtete ich den Zombie auf dem Bode, unter tosenden Gejubel der Zuschauermenge, die ich zu ignorieren versuchte. Immer noch wie ein Raubtier schritt er am Boden um den Käfig auf und ab, ohne mich aus seinen milchigen Augen zu lassen. Als ich mir sicher war, dass er nicht doch irgendwie hier hinauf gelangen konnte, weil er es auch gar nicht versuchte, suchte ich Sireno in der Menge. Ich fand ihn an seinem üblichen Platz in der zweiten Etage der Tribüne, seine Brüder wie zu seiner Linke und Rechten aufgeteilt. Alle drei sahen sie konzentriert aus, aber nicht so konzentriert, dass sie nicht merkten, dass ich sie anstarrte. Irgendwie musste ich ihre Konzentration stören, nur für einen Augenblick, sodass sie mich nicht mehr blockieren konnten, und ich den Zombie zerplatzen lassen konnte. Sollte das nicht hinhauen, blieb mir nichts anderes übrig als überraschend von hier oben auf ihn zu springen und ihm dann das Genick zu brechen, wobei meine Chancen das zu schaffen, nicht sehr gut standen.
Ich sammelte unter dem prasselnden Regen all meine Konzentration, behielt den Zombie am Boden aber immer noch im Auge, und drang in die Gedanken einer der Leute ein, die um Sireno und seine Brüder standen und den Kampf beobachteten. Es war ein kräftiger Mann, der eindeutig ein gewaltiges Sümmchen gegen mich gesetzt hatte, wie ich aus seinen Gedanken entnahm. Ich konzentrierte mich auf meine eigene Wut auf Sireno und ließ den Mann daran teilhaben. An seinem Blick, der jetzt immer mal wieder auf Sireno blitzte, sah ich, dass es wirkte. So langsam stieg in ihm meine Wut, die zu seiner eigenen wurde. Ich schurrte sie immer weiter und ließ sie auflodern wie einen Waldbrand in einer Dürreperiode. Dann pflanzte ich ihm eine Idee in den Kopf, dass es keine schlechte Idee wäre, die Wut, die er verspürte, an Sireno auszulassen. Dadurch erhoffte ich mir ein kleines Chaos und Handgemenge, das die Brüder mich für einen Moment vergessen ließ, denn ich bezweifelte ernsthaft, dass sie sich so weitgehend konzentrieren konnten, dass sie so etwas nicht aus der Ruhe brachte.
Aber mein Plan schlug fehl. Dino bemerkte den kräftigen Mann, als dieser gerade zum Schlag auf Sirenos Hinterkopf ausholen wollte, und kümmerte sich um ihn. Die anderen beiden achteten weiter nur auf mich. Und es sollte noch schlimmer kommen. Etwas in Sirenos Gesichtsausdruck, das ihn noch zufriedener aussehen ließ als ohnehin schon, veranlasste mich, mich sofort umzudrehen, nur um noch mitkriegen zu können, wie plötzlich der Zombie von der Wand her auf mich zuflog, mich packte, und mich, während wir die mindestens zwei Meter zu Boden fielen, in die Stelle zwischen meiner Schulter und meinem Hals biss.


25


… und sie biss.
Ich hatte versucht sie zu warnen. Ich habe ihren Namen gerufen, sie angeschrien, sich umzudrehen und versucht ihre Aufmerksamkeit mit Steinen, die ich auf den Boden fand und auf sie warf, auf mich zu ziehen, aber sie hatte gar nicht reagiert. Erst als es zu spät war, hatte sie sich zu ihrem Verderben hingedreht. Was war nur in sie gefahren? Warum hatte sie nicht aufgepasst? Wie war es möglich, dass sie sich von einem Zombie hat beißen lassen?
Ich schrie immer weiter und versuchte, dumm wie ein Zombie, durch die Gitterstäbe zu gelangen, um zu ihr zu kommen, obwohl es aussichtslos war. Ich konnte nicht zu ihr. Selbst wenn, was hätte ich gemacht? Es war zu spät. Einmal gebissen, und du wirst zu einem von ihnen, wenn niemand vorher mit dir erbarmen hat, und dich erschießt. Was hätte ich zu ihr gesagt? Es wird alles wieder gut? Das war eine Lüge und das wusste sie. Es hätte die Situation für sie nur verschlimmert, wenn ich ihr so etwas auch noch gesagt hätte.
Bald konnte ich vor lauter Tränen, die mir aus den Augen quollen, gar nichts mehr erkennen. Am ganzen Leib zitternd, fragte ich mich, was Ivy jetzt wohl empfand. Angst, Wut, Schmerzen, Trauer, und das alles in um vielfaches verstärkter Form. Grauen, Hass, Qualen und Unglück, dass sie nie wieder verlassen würde. Immer noch schrie ich nach ihr, als mich jemand zu Boden zog und mich dort fest im Arm hielt. Dass Ivy selbst nicht schrie, machte die Sache noch viel schlimmer. War sie überhaupt noch am Leben?
„Es tut mir Leid.“, flüsterte ich unter meinen Schluchzern immer wieder vor mich hin, als Willy mich fest im Arm hielt und versuchte mich zu beruhigen. „Es tut mir so leid. Ich habe versagt, John.“

… und sie biss.
Starr vor Schreck blieb ich auf meinem Stuhl an dem großen Tisch sitzen, als mir das bewusst wurde. Ivy wurde gebissen. Sie wurde tatsächlich von einem Zombie gebissen. Das konnte nicht wahr sein. Aber ich war Zeuge davon gewesen, durch ihre eigenen Gedanken, während Brad, Marty, Doris (die vor zwei Tagen wieder Ava, Todd und Kyle abgelöst hatten) und Rick (der sich geweigert hatte sich ablösen zu lassen, weshalb Sully nicht gekommen ist) um den Tisch herum versammelt, darauf warteten, dass ich ihnen mitteilte, was gerade vor sich ging. Ivy hatte einen guten Plan, um sich der Blockade der drei Brüder, die ich mir noch nicht so ganz erklären konnte, zu entziehen. Und hätte sie nur eine Minute mehr gehabt, würde sie jetzt nicht im Schlamm dieser schrecklichen Arena liegen, und an ihrem Hals von einer Bisswunde bluten, die ihr ein Zombie, wenn auch ein sehr merkwürdiger Zombie, zugefügt hatte. Sie hätte es bestimmt geschafft, also warum musste es schief gehen? Heißt es nicht immer, das Gute siegt. Ivy ist doch durch und durch das Gute. Wieso wurde sie dann infiziert? Erst verlor ich so meinen besten Freund, und dann auch noch meine einzige Tochter, die auch noch ausgerechnet von mir dorthin geschickt wurde. Ich hätte an ihrer Stelle gehen sollen…
Ich werde dorthin gehen, beschloss ich, als ich schon im selben Augenblick aufstand und mein Stuhl mit einem lauten Krach rücklings zu Boden fiel. Und wenn ich erst einmal dort angekommen bin, werde ich jeden töten, der mir in die Quere kommt. Jeden, bis auf diesen Sireno und seine Brüder. Die werde ich mir langsam vorknöpfen, bis sie sich wünschen niemals in diese Welt hineingeboren zu sein, und zwar heftiger, als zuvor wegen der Zombies.
„John!“, rief Brad, als ich gerade dabei war den Raum zu verlassen. „Was ist passiert?“, fragte er eindringlich. Er spürte, dass etwas nicht stimmte, dass etwas gewaltig schief gegangen war. Genau wie Rick, der seit er hier ist ein nervliches Wrack war, aus lauter Sorge über Ivy.
„Ist Ivy verletzt?“, fragte er kleinlaut und hektisch. Er fürchtete schlimmeres, womit er auch Recht hatte.
Ich ignorierte beide und eilte zu unserer improvisierten Waffenkammer, die wir in einem Badezimmer eingerichtet hatten. Obwohl es mir ein Vergnügen sein wird, jeden einzelnen der Stadtbewohner mit meinen Gedanken zu töten, war ich nicht verrückt genug zu glauben, dass ich vollkommen ohne Waffen auskommen würde. Deshalb griff ich mir alles, was ich tragen konnte. Ein Pistolengurt, mit zwei Halftern, die ich mir um die Hüfte schlang; Pistolenhalfter, die ich unter den Achseln tragen konnte – alle natürlich mit Pistolen besetzt; zwei Maschinengewehre, die ich mir um die Schuler legen konnte; ein Klappmesser, ein Jagdmesser und eine Machete, falls mir die Munition ausgehen sollte, die ich natürlich reichlich einsteckte.
„John!“, schrie mich Brad an, der mir mit den anderen gefolgt war. „Ich weiß nicht was passiert ist, aber das ist verrückt! Was hast du mit den ganzen Waffen vor, huh? Willst du das als Einmannarmee einfallen und die ganze Mission gefährden? Die bringen dich um!“
„Sollen sie doch.“, sagte ich eiskalt. „Aber bevor es dazu kommt, nehme ich so viele mit mir, wie nur irgend möglich.“ Ich kramte die richtigen Magazine für meine Waffen zusammen und stopfte sie in einen Rucksack.
„John, das ist – das ist verrückt!“, schrie er mich weiter an. „Denk doch an Rae und Ivy und-“
Da unterbrach ich ihn. „Das tu ich doch!“, schrie ich ihn fassungslos an. „Ich denke dabei nur an Ivy!“
Brad berührte meinen Arm und zwang mich ihn anzusehen. „Was ist passiert?“, fragte er vollkommen ruhig aber eindringlich.
„Sie wurde gebissen.“, sagte ich ihm genau so ruhig ins Gesicht. Und in diesem Moment fühlte ich mich einfach so nackt, dass ich nicht mehr konnte. Ich hörte auf Magazine zu suchen und sie in den Rucksack zu stopfen, den ich jetzt aus lauter Kraftlosigkeit fallen ließ. Eines der Gewehre rutschte mir an seinem Gut am Arm herunter und baumelte an meiner Seite, als ich anfing über den Verlust meine Tochter zu weinen. Das letzte Mal, als ich so geweint hatte, wurde Sam gebissen. Nicht einmal als mein Vater starb hatte ich geweint, nur ein paar Tränen hatte ihren Weg aus meinen Augen gefunden, weil ich für seine beiden Töchter und seiner zweiten Frau stark sein wollte. Beide Male hatte mich niemand weinen sehen, nicht einmal Rae. Aber jetzt war es mir egal, dass mich gleich vier Menschen so beobachten konnten. Ich konnte einfach nicht mehr, weshalb ich auch nicht widerstand, als Brad mich packte und tröstend umarmte.
Einen Moment fing ich mich wieder und riss mich los. Ich fädelte mir das Gewehr wieder auf die Schulter, nahm den Rucksack mit den Magazinen und wich den anderen auf meinem Weg nach draußen aus.
„John!“, rief er mir wieder hinterher, als er mir hinterher Dackelte. „Du kannst nicht gehen!“
„Doch, das kann ich. Das muss ich.“, schrie ich ihn wieder ins Gesicht an. Er musste es doch verstehen. Immerhin hatte er zwei Töchter. „Was würdest du tun, wenn es eine deiner Töchter wäre?!“
Plötzlich spürte ich einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf, der mich KO auf die Matte schickte. Ich fiel an Ort und Stelle um, ohne zu schwanken. Aber bewusstlos wurde ich erst einige Moment später.
„Klasse, Marty.“, sagte Brad über mich gebeugt.
„Tut mir Leid.“, verfielt Marty sofort in die Defensive. „Ich war in Panik.“
„Nein, wirklich. Gut gemacht.“, versicherte Brad ihm und nahm mir die Waffen ab, während ich nur noch ein weißes Licht sah, dass mich in die Dunkelheit der Bewusstlosigkeit hinabstieß.

„…Er hat sie gebissen.“, sagte Sarah ausdruckslos, nachdem ich sie solange geschüttelt hatte, bis Javier mich von ihr wegzog. Pablo hatte sie aufgeregt zu mir gebracht, weil seine Mutter die ganze Zeit etwas von einem neuen Kampf gefaselt hatte, den Ivy gegen ein Monster bestreiten musste. Sie hatte berichtet, was sie aus all der Entfernung von Ivys Gedanken während des Kampfes mitbekam, bis sie bei Ivy Ausführung ihres Plans zur Wiedererlangung ihrer Fähigkeiten gegen den Zombie ins Stocken geriet. Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte, als Sarah diesen glasigen Ausdruck bekam.
„Was?“, fragte ich um doch noch sicher zu gehen, dass ich mich verhört hatte. Es konnte nicht stimmen, dass das Monster sie gebissen hat. Sie von ihrer erhöhrten Platform zu Boden schubsen ja, aber nicht beißen, das nun wirklich nicht, nicht meine Tochter. Bestimmt hatte sie ihn mit dem Schwung den sie bei ihrem gemeinsamen Sturz mitnahm von sich runterrollen können. Er hatte sie unmöglich beißen können.
„Er hat sie gebissen.“, wieder holte Sarah. Ich war schon drauf und dran sie anzugreifen, weil sie solche Lügen über meine Tochter verbreitete, aber dann sah ich ihre Tränen, und etwas wusste in mir, dass es keine Lüge war, die sie da erzählte.
„Du meinst so richtig…?“, fragte Stella, Ivys Beste Freundin, die mit uns und einigen anderen zusammen stand und Sarahs Berichten lauschte, ohne die Frage zu Ende zu stellen.
Sarah antwortete nicht, was schon Antwort genug war, für uns alle. Stella schlug die Hände vor den Mund, als ihr ein Wimmern entwich. Chad, ihr Freund nahm sie sofort in den Arm. Jeder brachte irgendwie seinen Schock über das gehörte zum Ausdruck. Die einen fragten noch einmal nach, die anderen sagten immer wieder vor sich hin, dass das nicht wahr sein könne, und es wurde geweint. Pablo umarmte tröstend die Hüfte seiner Mutter, weil er noch nicht viel weiter hinaufreichte. Javier hielt mich fest. Marnie spürte ich hinter mir, wie sie mir irgendetwas zuflüsterte, was ich nicht verstand, aber womöglich irgendetwas tröstendes sein musste. Und ich, ich tat gar nichts. Stillschweigend ließ ich das Trösten an mir herunterfließen. Ich konnte nichts fühlen. Keine Angst, keine Trauer, nicht einmal Wut. Mein Herz war gebrochen, und würde, da war ich mir sicher, nie wieder davon erholen können. Fühlte sich so etwa ein Zombie? Vollkommen leer und gefühllos? War ich jetzt einer von diesen Untoten, vor denen wir so viel Angst hatten, und von denen einer meine geliebte und einzige Tochter auf den Gewissen hatte – wenn er so etwas überhaupt noch in seinem unmenschlichen wider die Natur strebenden Zustand besaß? Jedenfalls war ich nun innerlich tot.

… und er sie biss.
Ich musste mich schon sehr zusammenreißen, mir nicht selbst auf die Schulter zu klopfen. Alles hatte wunderbar geklappt. Ich lenkte Alpha in die richtige Richtung, während Ira Ivy blockierte, sodass es nicht zu schnell vorüber sein würde, und Alpha eine Chance hatte sie in die Finger zu bekommen, und Dino Ira dabei unter die Arme griff. Natürlich musste Dino diesmal nicht so eingreifen, dass er nicht den Störungsversuch hatte verhindern können, den Ivy so dilettantisch durchführte, bevor Alpha sie zu Boden stieß. Ich war stolz auf unsere Kreation, und dass sie mir solch einen wertvollen Dienst erweisen konnte, denn sonst gab sie mir nicht besonders viel Aufschluss über den Virus der Menschen zu Zombies machte. Jedenfalls nichts, was Vater nicht schon herausgefunden und dokumentiert hatte.
Doch nun gab es mir schon ein exorbitant, pervers gutes Gefühl, Ivy zu sehen, wie dort unten im Schlamm lag und sich nicht mal traute nach der Bisswunde zu tasten. Der Regen, der jetzt mit dicken und großen Tropfen auf sie ein preschte, verdünnte das austretende Blut aus der Wunde zu vielen kleinen Rinnsalen, die unaufhaltsam zu Boden flossen.
Alpha kreiste um sie, wie ein Raubtier um sein noch lebendes Opfer. Eigentlich dachte ich, wir hätten es mit ihm hinter uns gehabt, dass er unaufhörlich seinem Trieb zu fressen frönte. Aber es hatte mich doch einige Kraft gekostet ihn dazu zu bringe wieder von ihr abzulassen, und das ohne, dass er ihr auch noch einen ganzen Fetzen Fleisch ausriss. Eine einfache Bisswunde für den Anfang, weiter nichts wollte ich. Aber nein, das garstige Biest war kaum zu bändigen. Jetzt war es auch noch wütend auf mich. Es erstaunte mich immer wieder, dass er doch zu wissen schien, von wem er gerade gelenkt wurde. Vielleicht konnte er mir doch noch neue Ergebnisse und Erkenntnisse für meine Arbeit liefern. Ich musste nur irgendwie herausfinden, in wieweit sein Intellekt reicht, was sich schwieriger gestaltete als zunächst gedacht. Bei ihm schaffte ich es einfach nicht durch seinen Hunger durchzubrechen, wie bei den normalen Zombies. Aber das minderte meine Zufriedenheit mit ihm im Augenblick überhaupt nicht. Er hat wirklich gute Arbeit geleistet – mal abgesehen von seiner gelegentlichen Widerspenstigkeit, die er manchmal an den Tag legte. Nichtsdestotrotz war heute ein wirklich guter Tag.

Meine Schluchzer schüttelten meinen ganzen Körper vollkommen unkontrolliert durch. Ich war noch am Leben, das ist mir in den letzten Sekunden klar geworden. Aber für wie lange noch? Würde mein Leben zu Ende sein, wenn ich erst einmal einer von ihnen bin? Vermutlich nicht, aber auf jeden Fall das Leben, das ich haben wollte und mir so viel bedeutete. Mir blieben nur noch wenige Stunden, bis ich an dem Fieber sterben würde, das jetzt langsam in mir ansteigen wird, und wieder auferstand. Und obwohl mir das bewusst war, schaffte ich es einfach nicht die Bisswunde anzufassen. Ich traute mich einfach nicht danach zu tasten, denn das würde die Sache nur umso realer machen. So bestand wenigstens noch die Möglichkeit, dass ich träumte, wie ich es schon so oft getan habe. Aber der Regen fühlte sich so echt an, und die Schreie nach meinem Namen, die von Jodie kommen müssten auch, wie das Gefühl der wütenden Trauer von Dad in mir, die nur nach eines lechzte, nach blutiger Rache. Der Regen und die Schreie nach mir, waren eigentlich nicht viel anders als in den Alpträumen, die jeder von uns mal hat. Aber das letztere, das Gefühl von Dads Schwur der Rache, war neu. In meinen Träumen hatte es so etwas bisher noch nicht gegeben. Jedenfalls nicht so, dass ich mir dieser Rache selbst wünschte.
Und ohne weiter zu überlegen, denn dann hätte ich die Chance gehabt doch wieder einzulenken, stellte ich mich meinen Ängsten, um mir dieser Rache selbst zu holen. Zuerst führte ich meine Hand genau an die schmerzende Stelle in der die Zähne des Ungeheuers eingetreten waren. Es fehlte kein Stück Fleisch, wie ich es vermutet hatte. Er hatte nichts abgebissen, wie es die Zombies normalerweise immer taten. Ich spürte lediglich das warme Blut, vermischt mit dem kalten Regen, die ausgefransten und eingestanzten Zahnabdrücke meines Peinigers, und den pulsierenden Schmerz. Ich bildete mir ein zu spüren, wie mein infiziertes Blut zum Herzen hinfließt, das es dann an alle noch so versteckten Winkel meines Körpers weitergab, und mich so langsam zum Untoten werden ließ.
Dann richtete ich mich unter Rückenschmerzen auf, bis ich schließlich wieder auf beiden Beinen stand. Viele der Zuschauer gaben Laute der Überraschung von sich. Die Bestie schlich wie ein Raubtier um mich herum und beobachtete jedes Muskelzucken meines Körpers. Ich starrte zurück, warf aber ab und zu einen Blick zu Sireno nach oben. Was sollte meine Unachtsamkeit mich denn jetzt noch kosten? Das wichtigste, mein Leben, hatte ich ohnehin schon verspielt. Ich hatte nichts mehr zu verlieren. Also konnte ich genauso gut auf das Vieh zugehen, es packen und so versuchen es letztendlich doch noch zu töten, bevor ich starb.
Und genau das tat ich jetzt. Ungestüm, wie Dad mich genannt hatte, schritt ich auf das Wesen zu, das aus der Nähe betrachtet genauso menschlich aussah, wie aus der Ferne – wenn man die Augen außer Betracht lässt – bereit alles zu tun, solange er nur als Toter daraus hervorgehet, koste es was es wolle. Als er schließlich auf mich zustürmte, tat ich es ihm gleich. Ich bekam in an den Armen zu packen, verlor aber den Halt, als er mit unvorhergesehener Wucht zog, sodass ich mit eine harten Aufprall zu Boden stürzte. Den Bruchteil einer Sekunde später fühlte ich ihn auch schon auf meinem Rücken. Ich konnte gar nichts anderes mehr tun, als zu zulassen, dass er mich noch einmal Biss, diesmal ins rechte Schulterblatt. Und diesmal schrie ich auf, als seine Zähne sich in meine Haut und mein Fleisch darunter stießen. Dann war er auch schon von mir runtergesprungen und schlich wieder vor mir her, wartete wie eine Katze darauf, dass ich wieder aufstand.
Ich tat ihm diesen Gefallen. Einen Treffer wollte ich mich auch erkämpfen. Nur, dass er von meinem Treffer nicht wieder aufstehen würde. Doch kaum da ich wieder stand, rannte er auf mich zu, rutschte näher an mich heran, sodass er seine Zähen in mein Bein versinken konnte. Wieder riss er mir kein Fleisch heraus. Er schien das alles nur aus der Freude an der Jagd zu tun. Doch diesmal tat ich ihm nicht den Gefallen und ging wieder zu Boden, ich blieb stehen, wenn auch mit schwankenden Beinen. Das Atmen fiel mir Zusehens schwerer, aber das konnte noch nicht an meiner Infektion liegen, eher an meiner blinden Wut darüber, dass er besser war als ich, obwohl er ein stinkender verwesender Zombie war, und ich doch eigentlich der überlegenerer Mensch. Es war demütigend.
Als ich ihn diesmal durch den Matsch klatschen hörte, wartete ich ab, bis er nah genug sein würde, dann drehte ich mich um und deichselte es so, dass mir direkt in den Schwitzkasten lief. Wieder stürzten wir zu Boden und rangelten im Schlamm, bis ich seine Zähne schließlich da spürte, wo meine Niere sitzen musste. Er hatte seinen Kopf soweit wenden können, dass er seine Zähne wieder in mir vergraben konnte. Ich schrie auf, ließ locker und er war wieder Frei, sodass er mich jetzt an meinem Bauch biss. Und diesmal riss er mir sogar etwas Fleisch heraus. Es war nicht fiel, aber der Schmerz hatte mich beinahe ohnmächtig gemacht.
Unbekümmert, dass es bedeuten würde, dass er gewonnen hatte, schrie ich Sireno zu, „Hör auf! Hör bitte auf!“ Ich flehte ihn an, „Mach dass er aufhört!“ Immer und immer wieder. Das Biest biss mich noch zweimal – an meiner Wade und meinem Unterarm – bevor er nicht mehr in mein Blickfeld trat. Regungslos lag ich im Regen auf dem Matschigen Boden, fror, schmerzte, und spürte wie eine Menge warmes Blut über meinen Unterarm floss. Er musste meine Pulsadern erwischt haben. Ich zerrte das durchsichtige, vom Schlamm nicht mehr ganz so weiße Oberteil über meinen Kopf und presste es auf die Wunde. Zu mehr war ich nicht mehr in der Lage. Doch dann fiel mir ein, dass es ohnehin schon egal war. Wenn ich nicht verblutete, würde ich am Fieber sterben. Egal welches Todesszenario schließlich die Oberhand gewann, ich würde zum Zombie werden.
Nichtsdestotrotz lauschte ich, wie die Zuschauer hinaus getrieben wurden. So musste wenigstens niemand meine Verwandlung in ein unmenschliches Monstrum mitansehen. Auch die Käfige wurden wieder in den Boden eingelassen. Ich hoffte zusammen mit dem Biest, damit es mich auch ja endlich in Ruhe lässt.

Irgendwann, ich wartete mit geschlossenen Augen auf die Verwandlung und den Tod, hörte der Regen links von mir plötzlich auf, während er rechts von mir unaufhörlich weiter auf den glitschigen Boden prasselte. Weil das nicht sein konnte, öffnete ich die Augen, um mich selbst davon zu überzeugen. Ich erkannte Sireno, der mit einem dieser Regenschirme über mir stand. Sein Ausdruck gab nichts her. War er zufrieden mit sich selbst, dass er es geschafft hatte, dass ich ihn anflehte aufzuhören? Vermutlich, aber er zeigte es nicht. Er war ernst, wenn auch nicht hundertprozentig nur ernst. Etwas funkelte in seinen Augen, und das war nicht das Licht, dass von der Zuschauertribüne herausschien.
„Du wirst dich nicht verwandeln.“, teilte er mir mit. „Alpha ist nicht ansteckend. Auch wenn ich dachte, dass seine Widerspenstige Phase vor zwei Jahren endlich aufgehört hatte.“
„Was?“, fragte ich. Nichts was er da redete machte für mich einen Sinn.
„Die wird nicht entgangen sein, dass Alpha, der Zombie der dich so zugerichtet hat, kein normaler Zombie ist. Wir haben an ihm herumexperimentiert, sodass seine Ansteckungsgefahr, wenn er jemanden beißt, gleich null geworden ist. Meinen Brüdern und mir, hat er auch etliche Narben verpasst.“ Er bückte sich und zog eines seiner Hosenbeine hoch. Ich musste mich schon sehr nah heran wagen, um den vernarbten Bissabdruck an seiner Wade erkennen zu können. „Das ist nur ein von vielen. Aber das worum du dir sorgen machen solltest sind keine Narben, sondern deine beiden schlimmsten Wunden, an deinem Arm und deinem Bauch. Eigentlich hatte ich ihm verboten Fleisch herauszureißen, aber was soll man tun.“, plauderte er vollkommen unbeteiligt vor sich hin.
Ich fand irgendwo in meinem Körper ein letztes Fitzelchen Energie und verwendete diese mich aufzusetzen. Mein Rücken und jede einzelne meiner Bisswunden schmerzte bei dem Kraftaufwand. „Ich werde nicht sterben?“, fragte ich völlig dämlich, fast schon glücklich.
„Höchstens an zu enormen Blutverlust.“, sagte er beiläufig, wohlwollend, dass ich das wusste, damit ich nicht zu glücklich würde. Konnte ich ihm glauben? Würde ich ein normaler und gesunder Mensch bleiben? Oder war das nur wieder eines seiner Spielchen? Aber würde er sich dann noch hier runtertrauen, wenn es nicht wahr wäre? Es sind bestimmt schon ein paar Stunden vergangen, nach meiner ersten Bisswunde. Und Fieber hatte auch noch nicht eingesetzt, es sei denn, der kalte Regen, der immer noch anhielt, hatte meinen Körper soweit heruntergekühlt, dass ich davon gar nichts mehr wahrnahm.
Dann brannte mir plötzlich eine Frage auf der Seele. Hatte er nicht gesagt, sie hätten an ihm herumexperimentiert? Wer ist wir? Was hieß herumexperimentiert? Was hatte die Akte von dem Zombie auf seinem Schreibtisch zu bedeuten? Hatte er den Zombie nicht gerade Alpha genannt? Und warum schien er ausschließlich medizinisch-wissenschaftliche Bücher in seinem Zimmer zu besitzen? Ich starrte ihm in die Augen. „Arbeitest du für N-Corp?“
„N-Corp? Ob ich für die arbeite?“, fragte er überrascht. „Niemals würde ich für die arbeiten. Außerdem gibt’s die schon seit über zweihundert Jahren nicht mehr. Das weiß doch mittlerweile jeder.“ Konnte ich ihm glauben. Er schien es ernsthaft vehement abzustreiten, wie es jeder tun würde, der bei Verstand war und ein Gewissen sein eigen nennen konnte. Oder jeder, der nicht wollte dass man ihm auf die Schliche kam.
„Du hast doch selbst gesagt, dass du an diesem Ding herumexperimentiert hast. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich kenne das nur von N-Corp.“
„Wir forschen nur um mehr über die Zombies herauszufinden. Wir haben sonst nichts mit diesen Schweinen zu tun.“ Das sagte er mit Leidenschaft, mit echter Leidenschaft. „Denn um den Feind zu besiegen, muss man erst einmal mehr darüber herausfinden.“
Als ich ihn das sagen hörte, stockte mir der Atem. Dieselben Worte hatte ich nicht vor allzu langer Zeit zu Jodie gesagt, als wir eines Nachts berieten, was wir herausgefunden hatten. Wusste er davon? Hatte er uns womöglich damals belauscht? Nein, unmöglich, sonst wäre einige anders gelaufen. Nachdem ich Declan getötet hatte, waren die drei Brüder überrascht, dass ich ein Telepath war. Vorher hatte sie es sicher nicht gewusst oder auch nur geahnt.
Um meine Verwirrung zu verbergen, fragte ich, „Wer ist denn dann wir?“
„Meine Familie, von der keiner willentlich für N-Corp gearbeitet hat.“, keifte er mich angegriffen an.
„Was heißt willentlich?“, wollte ich wissen. Aber eine Antwort bekam ich nicht darauf. Er schrie mich nur an, dass mich das nichts anginge, und stampfte davon. Ich blieb noch einen Moment im Regen und Matsch so sitzen und versuchte aus dem Schlau zu werden, das er mir mitgeteilt hatte. Seine Familie studierte die Zombies, mit dem Ziel sie vielleicht irgendwann ausrotten zu können, für wer weiß schon wie lange. Und offenbar war jemand aus seiner Familie, noch vor der Apokalypse, dazu gezwungen worden, mit ihnen oder für sie zu arbeiten – oder war vielleicht ein Versuchsobjekt, wie Caya aus meiner Familie, und auch Patrick, Ginger und Ethan. Wir hatten wohl doch mehr gemeinsam als nur das Talent zur Telepathie. Doch warum wurden wir dann so normal, wie man in einer Welt voller Zombies, Tod und Gewalt sein konnte, und er und seine Brüder drehten so völlig ab? War es die womöglich krankhafte Forschung, die sie in den Wahnsinn trieb? Ich denke da nur an so Geschichten, wie Dr. Jekyll & Mr. Hyde oder Frankenstein – meines Erachtens wurden die Wissenschaftler darin beide verrückt durch ihre Forschungen. Und anders war es bei den Wissenschaftlern wohl auch nicht zu erklären, die für N-Corp gearbeitet haben und dieses Virus ins Leben gerufen haben.
Irgendwann gab ich dann vollkommen erschöpft und durchgefroren auf und machte mich auf den Weg nach unten. Doch bevor ich den Käfig erreichte, der mich nach unten bringen würde, bemerkte ich im Lichtschein der Tribüne all die Bisswunden. Vor allem die Wunde an meinem Bauch erregte meine Aufmerksamkeit. Es fehlte nicht viel, aber es klaffte ein Loch dort, wo die Bestie mir Fleisch aus meinem Körper entrissen hatte. Ich weiß nicht wie oder wann, aber ich war wohl doch irgendwie so geistesgegenwärtig gewesen, und hatte einen Teil meine Oberteils auf die blutende Wunde gedrückt, sodass die Blutung nicht mehr ganz so stark war. Die Kälte war nicht das einzige, das mich dermaßen durchschüttelte, sodass ich kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Ich fühlte mich besiegt. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich mich so am Boden liegend gefühlt. Klar hatte ich schon das ein ums andere Mal verloren, aber nur bei Spielen, nie bei so etwas ernsthaften, bei dem ich mein Leben hätte verlieren können. Nur meinem Glück war es zuzuschreiben, dass ich noch lebte, und es noch ein wenig weiter tun würde.
Plötzlich hörte ich die Käfige, mit denen immer die Zombies in die Arena geholt wurden, wie sie aus dem Boden heraus wuchsen, nachdem Sireno mit ihnen hinab gefahren ist. Nackte Panik in mir auflodernd, dass das ich ihn soweit verärgert hatte, dass er mir das Monster noch mal schickte, um mich diesmal bei lebendigen Leib zu verspeisen, flüchtete ich so schnell wir nur irgend möglich in den Käfig, der mich nach unten bringen sollte, in der Hoffnung, dass er es tat, bevor das Biest mich erreicht hatte. Aber nein, es waren mehr als eine dunkle Gestalt, die sich genauso kontrolliert auf mich zu eilten, wie die Bestie. Ich schrie und schlug um mich, bis ich eines der Biester spürte, als ich es mit meinem Bein aus meinem Käfig stieß
„Ivy!“, schrie eines von ihnen, ein männliches. Sie können sprechen, und sie kennen meinen Namen! „Scheiße, ich bin es, VJ!“
„VJ?“, fragte jemand. Ich glaube das war sogar ich. Aber ich hörte mich anders an. Irgendwie klein.


26


Seit wir aus der Arena hinaus getrieben wurden, hatte ich nicht mit dem Weinen aufhören können. Willy hatte Schwierigkeiten mich zurück in unser Quartier zu bringen, weil ich so hysterisch war, dass ich ihn immer wieder von mir weggeschlagen hatte. Jetzt bin ich in ein stetiges und abwesendes wimmern verfallen, in dem ich zwischendurch immer wieder um Verzeihung bat, bei Ivy, bei John, bei Rae, sogar bei Dad, dass er seine Enkeltochter viel zu früh bei sich haben würde. Ich hatte John versprochen auf sie aufzupassen und hatte kläglich versagt. Meine Nichte war dem Tode geweiht und ich konnte nicht einmal bei ihr sein, sie ließen mich einfach nicht zu ihr, egal was ich tat. Willy ließ mich nicht aus seinen Armen und ich schätze unter normalen Umständen, hätte ich mich sogar geborgen gefühlt. Aber wie konnte ich jetzt nur an so etwas denken, wo doch Ivy so gut wie tot war.
„Jodie, sieh mich an.“, sagte jemand anderes als Willy und rüttelte an mir. „Jodie!“ An jemand anderes gewandt sagte er, „Na los, erzähl ihr, was du mir erzählt hast.“ War das Sammy, der da redete? Warum zum Teufel wirkte er so glücklich? Ich dachte er war mit Ivy befreundet.
„Ira hat gesagt, dass der Zombie kein normaler Zombie war.“, sagte eine weiblich Stimme. Wer war das? Imani?
„Und!?“, trieb Sammy sie weiter an.
„Und dass er deshalb nicht ansteckend ist.“, sagte Iman unbeholfen. Aber es reichte um meine Aufmerksamkeit zu erlangen.
„Hast du das gehört?“, fragte mich Sammy. „Sie wird nicht zum Zombie!“
Daraufhin, ohne auch nur zu fragen, ob das auch wahr sei, riss ich mich von Willy los und lief zu den Treppen um nach oben zu laufen. „Ich will alleine sein.“, sagte ich hastig und war weg. Aber ich hörte noch, wie Willy zu den anderen sagte, sie sollte mich für einen Moment in Ruhe lassen, wofür ich ihm sehr dankbar war, denn für das, was ich jetzt vorhatte, musste ich alleine sein. Zuerst wollte ich mich bei Ivy, ohne sie zu besuchen, vergewissern, ob das wahr war. Dann musste ich mit John sprechen, um sicher zu gehen, dass er das auch wusste, denn er hatte bestimmt beobachtet, wie Ivy gebissen wurde. Und letztendlich musste ich mir überlegen, was als nächstes zu tun war. Denn eines ist sicher, viel länger sollten wir hier keinesfalls mehr bleiben. Es musste etwas geschehen und zwar bald, auch wenn wir vielleicht noch nicht alles wussten, was wir wissen mussten, es musste reichen. Diese Mission hatte nämlich nicht zum Ziel hundertdreißig Sklaven und mich nach Hause zu bringen, sondern hundertdreißig Sklaven, mich und Ivy – und natürlich die, die von zu Hause kamen um mit uns zu kämpfen.
Im Dunkeln der Nacht, der Mond war nun ein Neumond, weshalb die Nacht noch viel dunkler war, stellte ich mich auf das Dach des Sklavenquartiergebäudes und versuchte zu Ivy durchzudringen. Bald stellte ich fest, dass der einzige Grund, warum sie so schwer zugänglich war, der war, dass sie einfach nur erschöpft war und sich besiegt fühlte. Obwohl sie wusste, dass sie nicht zum Zombie werden würde, konnte sie sich des Gedanken nicht erwehren, dass sie eine gewaltige Niederlage einstecken musste. Ich konnte von hier aus nicht viel ausrichten, damit sie sich besser fühlte. Außerdem wurde sich bereits um sie gekümmert. Unter den anderen Zombiekämpfern, mit denen sie sich ihr Quartier teilen musste, hatte sie offenbar Freunde gefunden, die versuchten sie wieder aufzubauen, auch wenn es im Augenblick aussichtslos schien. Daher kümmerte ich mich erst einmal darum, dass ihr Vater nicht die Nerven verlor und aus lauter Trauer und Wut die Stadt im Alleingang stürmte. Dazu musste ich mich stärker konzentrieren, weil er weiterweg war, als Ivy. Zuerst machte ich mir Sorgen, weil ich nicht gleich zu ihm durchdrang. Aber dann erkannte ich, dass es daran lag, dass er bewusstlos war. Doch er kam bald wieder zu sich, sodass ich mit ihm kommunizieren konnte.
John, rief ich ihn in Gedanken. Hör mir zu. In ihm kochte schon wieder die Wut auf diese Stadt auf, die ich unbedingt löschen musste, bevor der Funke übersprang. Sie wird nicht zum Zombie. Sie ist nicht infiziert. Ich versuchte so viel Nachdruck in diese Wahrheit zu legen, wie ich konnte, damit er mir glaubte.
Was soll das heißen, meinte er, sie wurde doch gebissen, ich hab es doch mitansehen müssen.
Das war kein normaler Zombie, erklärte ich ihm, er ist nicht ansteckend. Darin legte ich die Wahrheit, die ich aus Ivys Gedanken entnehmen konnte. Ich fühlte, wie er mir dadurch erst glauben konnte und sich langsam beruhigte. Die Wahrheit weckte seine Neugier auf diesen Zombie, aber vor allem Erleichterung, dass er seine Tochter nicht verlor. Auch denselben Tatendrang, den ich verspürte, konnte ich in ihm aufsteigen fühlen. Er wusste auch, dass bald etwas geschehen musste, und wir damit zurechtkommen mussten, was wir bisher herausgefunden hatten.
Aber noch hatten wir keinen Plan, also machte es keinen Sinn hier draußen herumzustehen, wo mich ein Besitzer leicht könnte beobachten. Vor allen Dingen jetzt konnte ich es mir nicht leisten die Aufmerksamkeit der Brüder auf mich zu lenken, besonders da ich schon so viel Glück hatte und sie mich bisher in Ruhe gelassen hatten. Und mein Glück sollte ich jetzt nicht herausfordern. Als ich mich also umdrehte, um zurück in das Zimmer zu gehen, das ich mir mit fünf weiteren Personen teilte, erschrak ich zunächst einmal. Willy stand hinter mir. Wie lange schon? Hatte er etwas mitgekriegt? Hatte er einen Verdacht?
„Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.“, sagte er schließlich, als wir uns beide schweigend ansahen. „Ist alles soweit in Ordnung? Ich meine, jetzt wo du weißt, dass deine Schwester noch nicht sterben muss.“
Ich hatte keine Ahnung, was er gesehen hatte. Denn manchmal, wenn ich telepathisch kommunizierte und mich dabei alleine und unbeobachtet fühlte, hatte ich die Angewohnheit herum zu gestikulieren, als würde ich mit jemanden von Angesicht zu Angesicht sprechen. Hatte er mich dabei beobachtet? Hatte ich es überhaupt getan? Oft bekam ich das gar nicht mehr mit.
„Ja.“, sagte ich. „Alles soweit in Ordnung. Ich bin nur so erleichtert. Damit musste ich erst mal fertig werden.“ Ich bemühte mich besonders emotional erleichtert zu wirken. Doch die Befürchtung, dass er etwas gesehen hatte, das ihn oder sonst jemanden auf meine Fährte brachte, war immer noch da, denn er sah mich immer noch so an. Also versuchte ich mein Bestes, sodass er nicht weiter darüber nachdachte. „Danke übrigens, dass du für mich da warst, als ich dich brauchte.“
„Keine Ursache.“, sagte er und mir wurde klar, warum er mich so ansah. In seinen Gedanken, die ich ganz automatisch zu lesen begann, schwirrte der Vorwurf gegen sich selbst, dass er es genossen hatte mich im Arm zu halten, obwohl ich so aufgelöst war. Hinter diesen Vorwurf verbarg sich aber noch mehr, Gedanken, die er in den letzten Tagen, seit ich hier angekommen bin und wir uns besser kennengelernt hatten, entwickelt hatte. Ich sah Bilder von mir vor meinem geistigen Auge, in denen er mich viel schöner sah, als ich überhaupt war. Und unter diesen Bildern waren auch seine Vorstellungen von mir, wie ich nackt aussah, von uns beiden, wie wir Arm in Arm lagen und uns küssten – mal zärtlich und mal leidenschaftlich.
Getrieben von diesen Bildern und Gedanken bewegte ich mich auf ihn zu, als wäre er ein Planet mit einem starken Gravitationsfeld. Ich legte meine Hände auf seine Brust und trat immer näher, bis unsere Körper sich berührten. Eine Hand legte er an meine Hüfte, mit der anderen strich er mir eine Strähne aus dem Gesicht. „Vielen Dank.“, sagte ich noch einmal, bevor unsere Lippen sich berührten. Es war ein warmer und nie endend wollender Kuss und schlagartig war es mir egal, dass er nicht der attraktivste Mann war, den ich kannte, oder dass ich eigentlich einen Freund hatte, der zu Hause auf mich wartete, ich wollte Willy einfach nur spüren, weil er so fürsorglich ist. Er ist der Mann, den ich will, den ich mir als Vater meines Kindes vorstellen konnte.
Bei diesem einen Kuss blieb es nicht. Alles um uns vergessend gaben wir uns unserer Leidenschaft füreinander hin. Er berührte mich an Stellen, die mich erzittern ließen, und sobald er zur nächsten Stelle voranschritt, vermisste ich ihn dort, wo ich ihn nicht mehr spürte. Ich legte mich vollkommen in seinen warmen Körper, der zwar nicht ganz frisch roch (meiner ja auch nicht), aber unwiderstehlich für mich war, weshalb ich am liebsten mehr wollte, als nur das bisschen Küssen. Es war mir in dem Moment einfach nicht genug. Ich wollte Willy überall an meinem Körper spüren, wirklich überall.
„Ich wünschte, wir könnten irgendwo alleine sein.“, hauchte ich, als er meinen Hals küsste.
„Wenn du das wirklich willst, können wir das auch.“, sagte er mit erregter Stimme. Denselben Zustand spürte ich schon in seiner Hose.
„Wo?“, fragte ich gierig.
Er küsste mich noch einmal leidenschaftlich, sagte, „Komm mit, ich zeigs dir.“, nahm meine Hand und führte mich über ein Brücke in Richtung Stadt. Wir überquerten nur diese eine Brücke und gingen eine alte Feuerleiter hinunter, die nicht mehr so ganz stabil aussah. Aber ich vertraute Willy und folgte ihm ohne zu zögern, als er voraus ging. Er führte mich in ein verfallen wirkendes altes Wohnhaus, das noch verfallener wirkte als das Quartier der Sklaven, weil hier niemand wohnte.
„Die ersten drei Etagen sind vollkommen versiegelt, und es wird regelmäßig kontrolliert, also sind wir hier sicher vor Zombies.“, erklärte er mir und öffnete eine Doppelschwingtür. Zum Vorschein kam ein Raum, der nicht ganz so heruntergekommen wirkte, wie der Rest, den ich hier gesehen hatte. Ein großes Doppelbett mit vergilbten Lacken stand in der Mitte des Raumes. „Der einzige Luxus, den wir vor ihnen verbergen konnten.“, sagte Willy und schloss die Tür hinter uns. Dann war er hinter mir und ich spürte seinen heißen, fordernden Atem in meinem Nacken, und seine Hände, die an meinen Armen auf und ab strichen. „Also, was sagst du?“
Als Antwort drehte ich mich zu ihm um, schlang meine Arme um seinen Nacken und küsste ihn. Dieser Kuss in diesem Zimmer ließ mich alles um uns herum vergessen, der Ort, an den wir hier lebten, die Schuldgefühle, die ich meinem Freund zu Hause eigentlich haben sollte, nichts davon war mehr real, als wir uns hastig gegenseitig auszogen, uns aufs Bett warfen und unsere schwitzenden Körper in einem verlangenden Rhythmus ineinander vereinten. Diese Nacht war besser, als jede, die ich mit Nick zusammen verbracht hatte.

Irgendwie musste ich meinen Sieg über das garstige Miststück feiern. Alkohol allein in meinem Zimmer zu trinken, erschien mir einfach zu wenig. Ich tat es gern, gar keine Frage, aber heute Nacht brauchte ich Gesellschaft, weibliche Gesellschaft. Finden würde ich diese am ehesten, wenn ich in eine der Bar in der Stadt ging. Ohne angeben zu wollen, musste ich sagen, dass es wohl nicht lange dauern würde, bis ich mit einer Frau an meinem Arm nach Hause ging. Denn obwohl ich mich nur selten in der Öffentlichkeit blicken ließ, hatten die Frauen der Stadt ein Faible für mich. Vermutlich standen sie auf die Macht, die ich innehatte.
In der dritten Etage im Nebengebäude befand sich meine Lieblingsbar, eigentlich die einzige, die ich in der Stadt wirklich besuchte. Dort kaufte ich auch immer meinen Alkohol für zu Hause. Doch heute wollte ich nur eine Frau für zu Hause. Der dichte Alkoholgeruch stieg mir schon in der Eingangstür in die Nase. Und sofort fiel mein Blick auf einen Tisch in der dunklen Spelunke, an dem sich nur Frauen tummelten. Mich brauchte es nicht zu interessieren, ob sie Single waren oder nicht. Vor ihren möglichen Männern hatte ich nichts zu befürchten. Diese Idioten sollten eher froh sein, dass ich ihren Schlampen zeige, wie richtiger Sex funktioniert.
Bevor ich mich zu den Frauen an den Tisch begab, ging ich erst einmal an den Tresen und orderte eine Runde Getränke für die Frauen. Ein bisschen Charme musste ich schon einsetzen, denn sich einfach zu nehmen, was man wollte, indem man ihre Gedanken manipuliert, machte einfach keinen Spaß – jedenfalls auf Dauer nicht. Also ließ ich die Drinks die erste Vorarbeit machen und beobachtete sie von der Bar aus. Der Barkeeper brachte den Frauen die Drinks und verriet ihnen, dass sie von mir waren. Sofort fingen sie an zu kichern und mir zuzuprosten. Erst, nachdem sie ausgetrunken hatte, gesellte ich mich zu ihnen an den Tisch.
„Ladies, ist hier noch Platz für einen Mann in eurer Mitte?“, fragte ich und brachte sie wieder zum Kichern. Anscheinend hatten sie schon einige Drinks gekippt, bevor ich hier aufgekreuzt war.
„Für dich doch immer, Sireno.“, lachte eine Blonde und zog mich zu sich runter, auf einen freien Platz auf ihrer Bank.
„Das war heute ein imposanter Kampf.“, schwärmte eine Rothaarige. Rina, war glaube ich ihr Name. Die anderen stimmten ihr zu.
„Oh bitte, Ladies, für heute hab ich genug davon.“, sagte ich so charmant wie möglich. „Wollen wir nicht das Thema wechseln?“
„Schlag uns doch was vor, Sireno.“, sagte die zu meiner Rechten in allerbester Flirtlaune. Sofort spürte ich ihre Hand auf meinem Bein, wie sie darüber auf und ab strich, sich aber nicht ganz traute weiter zu gehen.
„Wie wäre es, wenn du uns verrätst, was du den lieben langen Tag so machst, wenn man dich nirgendwo in der Stadt antrifft?“, schlug die Blonde vor.
„Ich arbeite viel.“, sagte ich. Unter dem Tisch nahm ich die Hand der Frau zu meiner Rechte, und führte sie langsam an meinem Oberschenkel hinauf, bis ich sie schließlich in meinen Schritt legte. Das ermutigte sie fordernd ihre Hand über meinen in meiner Hose eingepackten Penis zu streichen und ihn zu packen.
„Und an was arbeitest du?“, fragte eine mit heller Haut und Sommersprossen ihm Gesicht, und leerte ihr Gals. Das Gespräch ging in die falsche Richtung und die Hand in meinem Schritt machte mich ungeduldig wieder zurück in mein Zimmer zu kommen. Deshalb beschloss ich gleich auf den Punkt zu kommen.
„Hat nicht, die ein oder andere von euch Lust, mich nach Hause zu begleiten?“, fragte ich in die Runde. Wegen meiner direkten Art kicherten die Frauen wieder. Auf mindestens eine von ihnen war ich jetzt besonders scharf. Und zwar die, die ihre Hand in meinem Schritt hatte, und mittlerweile versuchte in meine Hose zu gelangen, ohne dass die anderen es bemerkten. Trotzdem würde ich zu einer zweiten Frau, die uns begleiten würde, nicht nein sagen. „Also, wie sieht´s aus?“ Sie waren allesamt scharf auf mich, das konnte ich deutlich spüren. Jede von ihnen war zu einem bestimmten Grad erregt und gewillt mit mir mit zu kommen. Aber einige von ihnen hatten Prinzipien, an denen sie festhalten wollten.
Zum Beispiel sagte die Rothaarige, als klar wurde, dass ich nicht abgeneigt war mehr als eine Frau mit in mein Bett zu nehmen, „Vergiss es. Wenn ich nicht dir Hauptrolle spiele, spiele ich lieber gleich gar nicht mit.“, und verschwand an einen anderen Tisch.
Eine andere hatte offenbar einen Mann. Sie hätte ihn ohne mit der Wimper zu zucken mit mir hintergangen, aber er war in der Nähe gewesen und ließ ihr gar keine Chance mit mir zu gehen. Stattdessen verließen sie die Spelunke streitend.
So hatte sich das Feld der Auserwählten auf nur noch zwei reduziert, die beide scharf darauf waren sich einen Wettkampf darin zu liefern, welche mich am besten befriedigen konnte. Also ging ich mit der Blonden und derjenigen, die ihre Hand nicht von mir lassen konnte, nach Hause, je eine von ihnen an je einem Arm. Dabei machte ich keinen Hehl daraus, dass ich bereits eine Erektion hatte. Niemand würde es wagen mich auch nur schief anzusehen, weshalb ich mir hier in der Stadt auch so gut wie alles erlauben konnte. Auch, musste ich deshalb nicht mal meine Tür abschließen, weil hier jeder klug genug war, um zu wissen, dass er des Lebens nicht mehr froh würde, wenn er meine Räumlichkeiten unbefugt betrat – selbst die Sklaven. Und weil ich die Tür nicht abschließen musste, war es uns drein ein Leichtes in mein Zimmer zu gelange, während ich die Blonde vor mir herschob, als ich ihr meine Zunge in den Hals steckte, und die andere von hinten ihre Hände in meine Hose geschoben hatte, um mein mächtiges Ding noch weiter anschwellen zu lassen und mit meinen Eiern zu fummeln. Ich drehte mich zu ihr um, um auch sie zu küssen, als die Blonde ungeduldig mein Hemd aufknöpfte und meine Brust betatschte, leckte und küsste.
Am Bett angekommen standen beide Frauen zwischen mir und meinem Bett. Ich zog der Blonden ihr Kleid aus – machte es dabei sogar ein wenig kaputt – und sie stülpte das Oberteil der anderen über ihren Kopf, der ich mich dann zuwandte. Die Blonde schubste ich auf das Bett und ihre großen Brüste wackelten bei dem Aufprall auf die weiche Matratze, währen ich die anderen umdrehte, sodass ich meine Hüfte an ihren Arsch pressen konnte und sie meinen hartgewordenen Schwanz spürte. Ich beugte sie so weit nach unten, dass ich die feuchten Lippen der Blonden wieder erreichen konnte, und schob zur Abwechslung mal meine Hand in ihre Hose. Zwischen ihrem lustvollen Stöhnen, die ich ihr entlockte, als ich meine Finger mit ihrer Klitoris spielen ließ, leckte sie die Brüste der Blonden, die mit einer Hand meinen Kopf zu sich runter zog und mit der anderen den Kopf der anderen in ihren Busen presste.
Bald schon lagen wir alle drei komplett entkleidet auf meinem Bett. Die beiden Frauen küssten und berührten mich überall, wo die jeweils andere es gerade zuließ, weil sie eine andere Stelle meines Körpers probierte. Manchmal zwang ich sie, sich gegenseitig zu küssen oder zu berühren, bevor sie wieder an mich Hand anlegen durften. Unser aller Lust stieg in dieser Nacht auf ihren Höhepunkt, sodass wir irgendwann erschöpft und vollauf befriedigt einschliefen.
Doch lange hielt ich es nicht im Bett aus, weil ich einen unruhigen Schlaf hatte. Obwohl ich wirklich zu meiner Zufriedenheit sexuell befriedigt war, war ich doch in einer anderen Weise unzufrieden, oder rastlos. Nachdem ich eine Weile, alleine im Dunkeln an meinem Schreibtisch sitzend, darüber nachgedacht hatte, wurde mir bewusst, dass der Sieg über Ivy noch nicht genug für mich war. Ich wollte mehr. Zwar hatte ich gesehen, als sie nach dem Kampf von den Sklaven nach unten gebracht wurde, wie sehr ich sie zerstört hatte, aber es war noch nicht genug. Ich könnte sie noch viel mehr demütigen. Und als ich auch auf die Idee kam, wie ich das anstellen konnte, spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.
„Hier bist du.“, sagte eine der Frauen, die ich in meinem Bett schlafen gelassen hatte, und beugte sich zu mir runter, sodass sie mich von oben herab auf meine Lippen küssen konnte. „Ich dachte du hättest uns einfach alleine gelassen. Was machst du hier so einsam?“
„Nachdenken.“, sagte ich Wortkarg.
„Du siehst gestresst aus, Sireno.“, sagte sie und kam mit ihrem nackten Körper um mich herum. Es war die Blonde, mit den großen Brüsten. „Lass mich dir helfen, dich ein wenig zu entspannen.“ Obwohl ich sie jetzt nicht mehr wollte, ließ ich sie doch machen. Die Frau setzte sich auf meinen Schoß und griff mir an den Schwanz. Ich war auch immer noch nackt, da ich keinen besonderen Grund darin gesehen hatte mich in meinem eigenen zu Hause anzuziehen. Während sie mir meinen Penis rieb, küsste sie meinen Hals hinauf zu meinen Mund und ich spürte ihre harten Nippel gegen meine Brust streichen und das Gewicht ihrer Brüste dahinter. Sie gab Laute von sich, die mich jetzt so gar nicht mehr anmachten, wie vor ein paar Stunden noch. Ich fühlte gar nichts, als sie sich alle Mühe gab die Leidenschaft und das Verlangen wieder in mir zu wecken. „Lass deine Sorgen los, Sireno, und lass dich hierauf ein.“, sagte sie, als sie merkte, dass ich einfach keine Erektion unter ihrem nackten Körper bekam.
Schließlich hatte ich genug von dieser Fars. Ich wollte nichts mehr von ihr, sie war verbraucht. Um sie davon abzuhalten mich weiter mit ihrer lästigen Zunge zu belästigen wandte ich mein Gesicht von ihr ab und unterbrach den Kuss.
„Was soll das?“, fragte sie wütend geworden. „Was zum Teufel ist los mit dir?“
„Nichts.“, sagte ich. „Hol deine Sachen und verschwinde von hier.“, forderte ich sie auf und zwang sie von mir runter zu gehen.
Die Blonde stolperte ein paar Schritte rückwärts und sah verwirrt und wütend zugleich aus. Als sie ihre Verwirrung über meinen Stimmungsumschwung überwunden hatte, warf sie mir an den Kopf, „Du verdammter, impotenter Vollidiot!“, sammelte ihre Sachen zusammen und verließ meine Räumlichkeiten. Erst auf dem Flur zog sie sich aufgebracht wieder an.
„Endlich ist das Miststück weg.“, sagte die andere, die vom Ausbruch der Blonden aufgewacht ist. „Konnte sowieso nicht verstehen, warum du ausgerechnet die mitnehmen musstest. Keiner könnte dir verübeln, dass du bei der keinen Hochgekriegt hast.“, versicherte sie mir. Als sie zu mir durch den Raum ging, verspürte ich, dass meine Lust auf sie noch nicht verflogen war. Wenigstens für eine Nummer war sie noch gut.

Die meiste Zeit über – ich wusste nicht genau, wie viel Zeit – verbrachte ich schlafend, sodass ich mich nicht mehr so schlecht fühlen musste, weil ich so versagt hatte. Doch manchmal ging es nicht anders und ich wachte aus meinem sinnlosen Schlaf auf. Dann sah ich, dass VJ an meiner Matratze über mich wachte. Manchmal traf ich auch auf seine Mutter Pavati, die nach meinem Zustand sah. Von dem Blutverlust hatte ich mich schnell erholt, sagte sie, aber die psychischen Probleme, die meine Niederlage mit sich getragen hatten, blieben hartnäckig bestehen, sodass ich depressive auf meiner Matratze liegen blieb. VJ gab sich alle Mühe mich zum Essen und zum Trinken zu bringen, damit ich nicht dehydrierte oder verhungerte, nachdem ich mich körperlich erholt hatte.
Obwohl ich mich nicht aufraffen konnte, fühlte ich mich wohl, wenn VJ neben mir saß und über mein Haar strich. Irgendwann, als ich einen panischen Albtraum hatte, legte er sich sogar hinter mich, hielt mich fest und flüsterte mir irgendetwas Beruhigendes zu, dessen Sinn ich nicht so ganz wahrnehmen konnte. Aber die Geste allein reichte schon aus, dass ich mich ein wenig besser fühlte.
Von Bens lautem Schnarchen, das von irgendwo aus der Ferne des Raumes an mein Ohr drang, wachte ich in irgendeiner Nacht dann richtig auf, sodass ich in den nächsten Minuten nicht mehr wegnicken konnte. VJ lag noch immer hinter mir und ich spürte seinen ruhigen und steten Atem, als er seine Brust hob und sank. Ich spürte gern seinen heißen Atem in meinem Nacken.
Irgendwann in dieser Nacht arrangierte er dann seinen Halt um mich neu. Seine Atmung veränderte sich, sodass ich sagen konnte, dass er jetzt auch wach war. Bevor ich mich dazu entschließen konnte mich ihm gegenüber schlafend zu stellen, um Fragen nach meinem Befinden zu entgehen, drehte ich mich leise, um die anderen nicht zu wecken, zu ihm um. Ein bezauberndes und unwiderstehliches Lächeln setzte er auf, als er bemerkte, dass ich wach war, und diesmal nicht von einem Albtraum gebeutelt.
„Wie geht´s dir?“, fragte er mich flüsternd. Ich antwortete ihm ohne Worte, indem ich mich stärker an seinen warmen Körper kuschelte. Im Augenblick ging es mir zwar ganz gut, aber das konnte auch nur daran liegen, dass ich mich in seiner Nähe so geborgen fühlte. Ein Gefühl, dass ich das letzte Mal in Ricks Armen fühlte, in meiner letzten Nach zu Hause. VJ gab mir einen Kuss auf mein Haar und ich fühlte mich schuldig. Ich wusste nicht einmal genau weshalb, nur dass es so war, auch nicht wem gegenüber. Wahrscheinlich aber beiden gegenüber, Rick und VJ. Ich vermisste Rick und seine Zärtlichkeit. Und hier holte ich sie mir nun vom nächst Besten, VJ, den ich aber auch sehr mochte. Dennoch war es keinem von beiden gegenüber fair, und ich schwöre, sobald ich mich besser fühle, und Gelegenheit hatte mit beiden zu sprechen, kläre ich die Situation auf. Aber im Augenblick erlaubte ich mir noch die Nähe zu VJ zu genießen und Rick zu vermissen. Das änderte sich selbst dann nicht, als VJ meinen Gesicht zu sich anhob um mich anzusehen, und mich dann küsste.


27


Meine Benommenheit änderte sich schlagartig in Tatendrang, als Sireno mich nach wenigen Tagen wieder besuchte und ankündigte, ich solle am nächsten Vollmond erneut kämpfen, gegen dieselbe Bestie, wie beim letzten Mal. Obwohl dieser Kampf in weniger als zehn Tagen stattfinden würde, und ich beim letzten Mal so richtig fertig gemacht wurde, hatte ich keine Angst, denn ich erkannte, dass das der perfekte Zeitpunkt sein wird, um die ganze Sache ein für alle Mal zu beenden. Kaum daran gedacht, entwickelte sich in meinem Kopf, wie ein Spinnennetz, bereits ein grober Plan, den ich Dad vorschlagen werde. Eine glückliche Fügung war es dabei, dass Sireno diesmal die Sklaven nicht zusehen lassen würde, weil die Arena einfach zu wenig Platz dafür bot. Und weil es dann Nach sein würde, während die gesamte Stadt mir beim Kämpfen zusah, würden die Sklaven in ihrem Quartier sitzen – bereit zur Abholung durch unsere Leute. In meinen Augen war das der perfekte Plan, um so wenig Leben wie möglich zu verlieren, denn die Stadtbewohner waren dann bis auf ein paar wenige in der Arena eingeschlossen – dafür würde ich schon sorgen.
Ich wartete auf die Ruhe der folgenden Nacht, wenn die Jungs – VJ wieder auf seiner eigenen Matratze – eingeschlafen sind, um Dad zum ersten Mal, seit ich hier bin, zu kontaktieren, um ihn von meinen Plan zu unterrichten. Er selbst war auch noch wach, was mir die Sache erleichterte. Ich spürte in seinen trüben und müden Gedanken, dass er lange nicht mehr richtig geschlafen hatte.
Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben jemals wieder mit dir sprechen zu können, meinte er, als er meine Anwesenheit in seinen Gedanken bemerkte, wie geht es dir.
Gut, antwortete ich.
Wirklich, wollte er wissen.
Ja, versicherte ich ihm, jetzt schon, ich hab einen guten Plan, der die Sache hier endlich beendet; in weniger als zehn Tagen soll ich noch mal gegen die Bestie kämpfen. Und bevor er darauf etwas erwidern konnte, entgegnete ich ihm mit einer Selbstsicherheit, die ich seit Tagen nicht mehr verspürt hatte, dass ich das Ding besiegen könne und auch weiß wie. Er war nicht besonders zufrieden damit, aber er hörte mich weiter an. Während ich kämpfe und die Stadtbewohner dabei ablenke, kann Jodie euch mit den Sklaven in die Stadt holen; Ihr könnt die Sklaven, die nicht kampffähig sind in Sicherheit schaffen, unsere Leute kümmern sich leise um die wenigen Stadtbewohner, die nicht beim Kampf zusehen, und ich halte die übrigen in der Arena fest, bis ihr fertig seid und euch auch um sie kümmern könnt.
Das klingt irgendwie simpel, warf er mir tatsächlich vor, zu simpel, wenn du mich fragst; hast du das auch alles gut durchdacht; Was wenn die drei Brüder uns auf die Schliche kommen, während wir ihre Stadt auseinander nehmen; Was macht dich so sicher, dass sie dann nicht einfach jeden tot umfallen lassen, der in ihrer Nähe ist?
So etwas können die gar nicht, versicherte ich ihm.
Das lassen sie dich vielleicht nur denken, meinte er.
Nein, erwiderte ich, da bin ich mir sicher; Sireno war daran interessiert deine Bestrafungsmethode von mir zu lernen; Denkst du er hätte das gesagt, wenn er so etwas Ähnliches beherrschen würde?
Ja, gab er ganz simpel von sich, er will dich vielleicht nur in eine Falle locken.
Na schön, gab ich genau so simpel von mir, wenn du eine bessere Idee hast, dann lass sie hören. Damit hatte ich ihn, denn ich wusste genau, dass er selbst noch keinen Plan hatte, und mein Plan war ohnehin der bessere, auch wenn Dad nicht einsehen wollte, dass ich über die Brüder genug wusste.
Ivy, so hab ich das doch gar nicht gemeint, erwiderte er.
Aber so kam es rüber, meinte ich.
Hör zu, fing er an, als unser Anführer, habe ich die Verantwortung für viele Leben zu Hause, die ihres aufs Spiel setzen, um das von anderen zu retten, die in derselben Situation sind, wie sie einst; Und das tun sie nur, weil sie denken, sie können sich auf mich verlassen; Und um ihr Vertrauen nicht zu missbrauchen, muss ich alle Eventualitäten in Betracht ziehen, um einen Plan zu verfolgen, der für uns alle sicher ist; Verstehst du das? Ich muss darauf vertrauen können, dass sie geschützt vor den drei Telepathen ihre Arbeit machen können, zu der sie sich freiwillig gemeldet haben.
Dann vertrau mir, forderte ich ihn auf, ich weiß, dass sie niemanden mit ihren Gedanken töten können; Und Telekinese können sie sowieso nicht.
Er zögerte. Und während er das tat, fiel mir das Gespräch zwischen ihm und Jodie ein, das ich zu Hause mit nicht-telepathischen Mitteln belauscht hatte, in dem er ihr anvertraute, dass er mir nicht vertraute. Es war wie ein Schlag in die Magengrube, der mich zu Boden gebracht hätte, würde ich nicht hier auf meiner Matratze liegen, während ich mit ihm kommunizierte. Dad merkte, was sein Zögern bei mir ausgelöst hatte und suchte nach einer Lösung, um mich zu beruhigen oder sich bei mir zu entschuldigen. Aber wieso sollte er sich für etwas entschuldigen, das er nun mal über mich dachte? So ganz unschuldig daran, dass er so über mich denken musste, war ich bestimmt auch nicht.
Das stimmt nicht, Ivy, meinte er schließlich, natürlich vertraue ich dir; Aber in solchen Angelegenheiten bist du noch so unerfahren; das ist nicht deine Schuld, wenn überhaupt, habe ich daran Schuld; Aber anstatt dir Erfahrungen darin zu erteilen, indem ich dich in solche gefährlichen Situationen hineinstoße, konnte ich nicht über mich bringen, ich will doch, dass du in Sicherheit bist;
Aber mit Jodie hast du es gemacht, erinnerte ich ihn.
Du kannst Jodie nicht mit dir vergleichen, meinte er, ihr seid zwei verschiedene Menschen, mit unterschiedlichen Talenten; Deine Stärke zum Beispiel ist es eine Gruppe zum Sammeln ins Ödland zu bringen, und jeden einzelnen wohlbehaltend wieder nach Hause zu bringen, mit dem Wagen voller brauchbarer Gegenstände und Materialien; Du hast ein Händchen dafür, während Jodie mir in unseren Missionen eben besser zuarbeiten kann; Sie selbst braucht noch eine Weile, bis sie selbst ein Team leiten kann und gleichzeitig Sklaven befreien, wenn sie das überhaupt noch will.
Was meinst du damit, wollte ich wissen.
Nichts weiter, antwortete er und tat es damit ab. Irgendetwas wusste oder verheimlichte er sogar. Und obwohl ich gerne wissen würde, was es war, erschien es mir nicht wichtig genug, jetzt weiter danach nach zu hacken. Denn irgendwie musste ich in jetzt von meinem Plan überzeugen, denn ich war mir sicher, dass er funktionieren kann.
Er kann durchaus funktionieren, meinte Dad überraschend, und ich weiß auch schon wie. Jetzt war ich mir sicher, dass er während unserer Kommunikation auch meine Gedanken las. Normalerweise war das ja nicht nötig. Denn eigentlich kommunizierten wir nur durch die Gedanken, die wir teilen wollten. Wir ließen den jeweils anderen nur wissen, was wir ihn wissen lassen wollten – ganz genau so, als würden wir normal miteinander sprechen, nur telepathisch mit unausgesprochenen aber real gedachten Worten.
Und wie, wollte ich wissen, da er nicht von alleine mit der Sprache herausrücken wollte.
Sarah wird sich einfach um die drei Telepathen kümmern, verkündete Dad, während du sie, wie du geplant hast ablenkst.
Sarah, wiederholte ich, du willst sie mitnehmen? Weil Sarah, meine Tante und Dads Schwester, so zurückgezogen in sich selbst lebte, war sie für uns nur sehr schwer einzuschätzen, weshalb wir bei ihr immer vorsichtig waren. Das lag vor allem an dem enormen Potential ihrer telepathischen Fähigkeiten. Doch weil sie so begabt war, war sie zugleich auch extrem gefährlich. In der Vergangenheit kam es schon hin und wieder mal vor, dass sie damit sogar unsere Gemeinde gefährdet hat. Denn wenn Emotionen, wie Trauer, Wut oder Angst, in ihr überkochten, hatte sie selbst keine Kontrolle mehr über sich und es kommt im weniger schlimmsten Fall zu einer heftigen Kopfschmerzepidemie in der Gemeinde. Im schlimmsten Fall, so wurde insgeheim von Dad vermutet, würde sie uns alle umbringen – unabsichtlich natürlich, aber sie würde dazu in der Lage sein. Schon als Baby, als sie, Dad und Großvater noch selbst Sklaven waren, hatte sie den Sklavenhalter getötet, der am Tod von Großmutter Schuld hatte. Damals hatte sie sozusagen das Zerplatzen von Lebewesen und Untoten erfunden. Bist du sicher?
Ja, antwortete er.
Also machen wir es dann so, wollte ich noch einmal genau wissen.
Ja, antwortete er wieder.
Und du bist sicher, dass du das nicht nur aus Schuldgefühl mir gegenüber tust, wollte ich wissen.
Ich tue das, meinte er, weil du dir einen guten Plan überlegt hast, dessen große Lücke wir gemeinsam stopfen konnten.
Zufrieden legte ich mich nach dieser Kommunikation schlafen, nachdem Dad mir noch mitgeteilt hatte, dass er die nächsten Tage außer Reichweite sein werde, weil er nach Hause fuhr, um den Sturm vorzubereiten, und er es noch übernehmen würde Jodie alles mitzuteilen.

Der Morgen brach, nach einer viel zu kurzen Nacht, an, aber ich musste aufstehen, denn ich konnte mir nicht erlauben viel Zeit zu verlieren. Beim Frühstück verkündete ich Ava, Todd, Kyle und Brad und Rick (die beide wieder nicht nach Hause fahren wollten; Rick wegen Ivy nicht, und Brad wegen mir nicht; er machte sich Sorgen um mich), dass wir heute noch nach Hause aufbrechen werden, um dort den Sturm auf die Sklavenhalterstadt vorzubereiten. Nachdem ich beschlossen hatte Sarah dieses Mal miteinzubinden, war ich von Ivys Plan durchaus überzeugt, da sie eher dazu in der Lage sein würde, all die Stadtbewohner in dieser Arena festzuhalten, als Ivy alleine.
„Sollte nicht jemand hier bleiben, um die Feuerwache sicher zu halten?“, fragte Rick als erstes.
„Du kommst auch mit nach Hause, Rick. Es kommt hier ohnehin niemand ohne schweres Gerät rein.“ Dafür hatte er selbst gesorgt, als er die Zeit hier verbrachte. Jedes Fenster dieses Gebäudes hatten wir in Zusammenarbeit mit schweren Gittern verriegelt, sodass wir hier eine sichere Zuflucht für die Verwundeten hatten, die mit uns in der Stadt kämpften. Der einzige Eingang, wenn nicht gerade jemand hier drinnen wartete, war immer noch eines der Fenster an der Feuerleiter am hinteren Teil des Gebäudes, welches wir aber mit einem Schloss gesichert hatten, sodass nicht jeder dort eindringen konnte.
„Aber…“, wollte er anfangen, aber ich unterbrach ihn schon.
„Wenn du sofort wissen willst, wenn Ivy etwas zustößt, was in den nächsten Tagen ohnehin nicht der Fall sein wird, wäre doch klüger dich an mich zu halten.“, erklärte ich ihm. Natürlich unterließ ich dabei solche Informationen wie diesen Jungen, den sie in der Arena kennengelernt hatte und sehr zu mögen schien. Das mussten sie schon unter sich ausmachen. Ich für meinen Teil mische mich in solchen Angelegenheiten nicht mehr ein. „Also, packen wir alles zusammen, was wir brauchen, und verschwinden von hier.“, trieb ich die Truppe nach dem Frühstück an.
Unzufrieden bereitete Rick den Wagen für unsere Fahrt vor, während wir anderen den verderblichen Proviant, den die letzte Schicht, die angekommen war, mitgebracht hatte, in den Wagen luden, zusammen mit unseren persönlichen Sachen. Dann räumten wir, unter Kyles Aufsicht, das ganze medizinische Material, das wir hier angesammelt hatten, in das Badezimmer, das wir zur Waffenkammer umfunktioniert hatten, damit wir die Sachen alle zusammen dort drinnen sicher verbarrikadieren konnten, für den Fall, dass es doch jemand schaffen sollte das Schloss an dem vergitterten Fenster, durch das man in das Innere des Gebäudes gelangen konnte, kommen sollte. So hatten wir wenigstens noch eine Chance unsere Zuflucht zurück zu erobern, ohne dass uns unsere eigene Munition um die Ohren geschossen wird.
Es war schon dunkel, als wir zu Hause ankamen, wo wir von zwei Wachen am Tor schon frühzeitig entdeckt wurden. Seit wir die Gemeinde verlassen haben warteten immer zwei Wachen, während jeder Schicht, auf dem Tor und hielten Ausschau nach uns. Das hatten wir uns so überlegt, für den Fall, dass wir entdeckt wurden, vor Verfolgern flüchten mussten und sie, ohne dass uns etwas übrig geblieben wäre, hier her führten. Durch den dann geschlagenen Alarm, denen wir ihnen natürlich erst signalisieren müssten, wüsste jeder in der Gemeinde, was zu tun war. Die Kinderbetreuer hätten die Kinder in den alten Untergrundbahntunnel gebracht und sie so in Sicherheit geführt, während der Rest unsere Verfolger bekämpft und unsere Heimat verteidigt hätten. Aber das war bisher glücklicherweise noch nie der Fall gewesen.
Nachdem wir durch das Tor gefahren sind, fuhren wir direkt in die dritte Etage des alten Parkhauses, wo der Wagen am nächsten Tag inspiziert werden würde. Von einigen Bewohnern unserer Gemeinde, denen unsere Ankunft nicht entgangen war, waren wir bis hier rauf verfolgt worden. Darunter auch Rae, die sogleich aus der Menge hervortrat und mir in die Arme fiel. Die anderen wurden auch von Freunden und Familie willkommen geheißen.
Nach einer innigen und intimen Umarmung sah ich mir meine Frau erst einmal an. Solange hatte ich sie nicht mehr gesehen oder im Arm gehabt, sodass mir ihr müdes Gesicht sofort auffiel. Auch einige tiefere Sorgenfalten hatte sie mehr an der Stirn. Sie sorgte sich sehr um Ivy und auch um Jodie. Aber in ein paar Tagen würde das vorüber sein. Bald waren sie, wie wir alle und einige viele mehr, wieder zu Hause.
„Bist du sicher, dass sie noch durchhält?“, fragte Rae mich mit sorgenvoller Stimme, als wir unseren Plan für den anstehenden Sturm auf die Sklavenhalterstadt grob offengelegt hatten.
„Sie weiß, was sie tut, und sie macht ihre Sache wirklich gut.“, versicherte ich ihr. „Bald hast du sie wieder zu Hause.“ Und bei diesem Gedanken sah ich ein Lächeln in ihrem Gesicht.
Ich sah sie ausgesprochen gerne lächeln. Aber seit einiger Zeit tat sie das nicht mehr so häufig. Nur noch das hohle Lächeln, sah ich an ihr, dass sie hatte, seit ich ihre Gedanken und Erinnerungen manipuliert hatte. Es war falsch. Ein falsches Lächeln – was sie natürlich nicht wusste oder auch nur ahnte – und es war falsch sie manipuliert zu haben. Aber ich hatte es für nötig gehalten und als meine einzige Chance angesehen, um Ivy mit auf die Mission zu schicken. Zeitweilig hatte ich es hin und wieder bereut, doch das legte sich endgültig, als ich mir Ivys Plan durch den Kopf gingen ließ. Trotzdem bereute ich noch eine andere Sache, dass ich mich nämlich dazu gezwungen sah, Rae zu manipulieren. Ich hatte keinerlei Hoffnung, dass sie mir das jemals verzeihen wird, wenn ich es ihr, wie ich mir geschworen hatte, nach Beendigung der Mission beichten werde. Daher genoss ich die Zeit, die ich noch mit meiner Frau hatte, solange ich konnte.
Für heute zogen wir, das heißt Brad, Ava, Kyle, Rick und ich, uns erst einmal zurück, um uns von der langen Fahrt zu erholen. Am nächsten Morgen werde ich mit einigen Leuten den genauen Plan mit Hilfe der Erinnerungen von Jodie und Ivy von der Stadt, erarbeiten. Einige würde ich zu Teamleader ernennen müssen, damit jeder zu jedem Zeitpunkt wusste, was zu tun war, und ich nicht jeden einzeln anleiten musste, da ich mich mit um die drei Telepathen (der vierte, Ifram, schien ja kein Problem für unser Vorhaben darzustellen; und die beiden, die irgendwo gefangengehalten werden auch nicht) kümmern musste.
Doch darüber brauchte ich mir erst morgen Gedanken zu machen. Heute wollte ich einen ruhigen Abend mit meiner Frau verbringen. Sie kochte heute sogar für mich, was sie eigentlich nur zu besonderen Anlässen tat. Ich schätze noch war für sie meine Rückkehr nach mehreren Tagen, in denen sie mich nicht gesehen hatte, ein besonderer Anlass. Als ich Rae dabei beobachtete, wie sie das Essen zubereitete, konnte ich nicht aufhören darüber nachzudenken, was wohl danach werden würde, wenn ich ihr die Wahrheit gesagt hatte. Bestimmt würde sie mich anschreien, vielleicht sogar weinen, und mich mit Sicherheit verlassen. Vielleicht sollte ich Lisa bitten auch eine Wohnung für mich vorzubereiten, da Rae dann bestimmt nicht mehr mit mir zusammenleben wollen würde. Hm… ich würde es ihr nicht einmal verübeln.
„Du siehst so traurig aus.“, sagte Rae. Sie hatte einen Stuhl zu mir herangezogen, ohne dass ich es bemerkt hatte, und sah mich sorgenvoll an. „Ist etwas passiert? Du würdest mir doch sagen, wenn etwas mit Ivy ist?“
„Natürlich.“, antwortete ich auf ihre letzte Frage, war mir aber nicht sicher, dass ich dabei aufrichtig zu ihr war. „Und, nein, es ist nichts passiert.“ Ich quälte mir ein Lächeln raus. „Ich war nur in Gedanken.“, versicherte ich ihr und strich ihr Haar aus ihrem Gesicht. Mit einem genießenden Lächeln legte sie ihren Kopf in meine Hand, wie eine Katze, die sich nach Zärtlichkeit sehnte, welche wir auch schon eine ganze Weile nicht mehr zusammen genießen konnten. Ich beugte mich zu Rae vor, zog sie näher an mich heran und küsste sie lange. In dieser Position verblieben wir für einen Moment. Das könnte womöglich das letzte Mal sein, dass Rae so etwas zwischen uns zulassen würde. War es richtig noch weiter zu gehen? Na ja, bisher bin ich schon so weit gegangen, dass ich das auch noch fertig brachte. „Wie wäre es, wenn wir den Nachtisch zur Vorspeise machen?“, fragte ich flirtend und legte meine Hand auf ihren Oberschenkel, die ich dann immer weiter nach oben gleiten ließ.
Rae kicherte – wie lange hatte ich sie schon nicht mehr kichern hören. „Dann gib mir aber hinterher nicht die Schuld, wenn das Essen verkocht ist.“, sagte sie und verließ ihren Stuhl um sich auf meinen Schoß zu setzen. Wir küssten uns lange und hungrig aufeinander. Es war kaum zu fassen, dass ich sie nach über zwanzig Jahren immer noch so sehr wollte, wie in unserer ersten Nacht. Ihr unwiderstehlicher und natürlicher Geruch trieben mich immer noch besonders dann in den Wahnsinn, wenn wir unter Leuten waren, und ich sie nicht so anfassen konnte, wie ich gerne wollte. Doch jetzt waren wir alleine und mir war bewusst, dass es womöglich das letzte Mal sein konnte, weshalb ich es auch genauso angehen würde.
„Ich liebe dich, Rae.“, hauchte ich zwischen unseren Küssen, mit geschlossenen Augen, ihren Lippen entgegen. Jetzt würde sie es noch glauben, aber später zweifelt sie bestimmt an meiner Aufrichtigkeit.
„Ich liebe dich auch, John.“, sagte sie mit einem Lächeln. Ich konnte wirklich nicht genug davon kriegen. Wenn ich nur darüber nachdachte, dass sie das womöglich irgendwann zu jemand anderen sagen würde, vielleicht sogar einem der Sklaven, für deren Befreiung ich sie manipuliert und damit meine Beziehung zu ihr zum Scheitern verurteilt hatte, brachte es mich schon um und meine Verlangen nach ihrer Nähe heute Nacht wurde stärker und fordernder.


28


Alleine saß ich im dunklen und schwachen Schein einer einzelnen Lampe am Esstisch in unserer Wohnung, mit einer Flasche Schnaps aus der Bar, obwohl gerade ich wissen sollte, dass er außerhalb der Bar verboten war – und in der Vorbereitungszeit einer Befreiung auch da. Dennoch hatte ich bereits die halbe Flasche meinen Schlund hinuntergegossen. Es war mir egal, dass es verboten war, und die offizielle Bestrafung für dieses Vergehen den Rauswurf aus der Kolonie bedeutete. Wobei ich nicht mehr darauf bauen konnte, dass Jodie mich davor bewahren würde, indem sie mit ihrem Bruder sprach, nachdem ich ihr erst einmal gebeichtet habe, was ich getan habe. Und wenn ich es nicht tun würde, würde mir John das abnehmen, hatte er gesagt. Aber er würde ihr nur von dem einen Mal berichten können. Ich müsste ihr schon von mehreren Nächten beichten, die ich mit Lulu verbracht hatte, seit Jodie aufgebrochen war. Obwohl ich es besser wusste, konnte ich meine Finger einfach nicht von dieser Frau lassen. Und dabei lag es noch nicht einmal daran, dass sie so unwiderstehlich schön war, denn da konnte Lulu Jodie nicht das Wasser reichen. Es lag wohl eher daran, dass sie einfach da war und nichts weiter als Sex von mir wollte.
Seufzend erhob ich die Flasche erneut an meinen Mund und nahm ein paar weitere Schlucke zu mir. Ich musste mir nämlich eingestehen, dass das so in etwa das war, was ich von Jodie wollte – nur mit einer festen Beziehung. Aber Jodie wollte mehr als ich, was ich ihr, glaube ich, einfach nicht geben kann. Ich will noch keine Kinder, ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt mal Kinder wollte. Im Augenblick kam ich mir selbst noch ein wenig kindisch vor, noch lange nicht reif genug um selbst Kinder zu haben. Noch einen Schluck nahm ich. Wenn sie wieder zu Hause ist, werde ich es ihr sagen müssen, schätze ich, auch wenn sie es womöglich selbst schon weiß, musste sie es von mir hören, das war ich ihr doch wenigstens schuldig. Wobei sich dieses Thema auch völlig erübrigen wird, sobald ich ihr von meinen regelmäßigen Seitensprüngen gebeichtet habe.
Irgendwann knipste ich das dünne Licht der Lampe aus und torkelte etwas betrunken durch die Wohnung – unsere gemeinsame Wohnung. Vermutlich würde Jodie wieder zurück zu ihrem Bruder und seiner Familie ziehen, wenn wir uns trennen. Sie hatte sie vor einem Jahr verlassen, um sich diese Wohnung mit dem Mann zu teilen, den sie liebte – und der sich als widerliches Arschloch entpuppte, sobald es mal schwierig wurde.
Dann klopfte es an der Tür. Es war sehr leise, sodass ich es vermutlich nicht gehört hätte, wäre ich nicht zufällig in der Nähe an einem Fenster gestanden. Ich stellte die Flasche auf das Fensterbrett und drapierte den Vorhang ein wenig darüber, damit sie einem nicht gleich ins Auge fiel. So ganz schien es mir doch nicht egal zu sein, dass man mich mit Schnaps außerhalb der Bar und zu so einem Zeitpunkt erwischte. Ich öffnete die Tür nur einen Spaltbreit, um meinem nächtlichen Besucher nicht gleich meine Alkoholfahne entgegen zu hauchen. Für einen Augenblick hatte ich fast angenommen, dass es John höchstpersönlich war, der mich noch einmal daran erinnern wollte, was ich Jodie zu sagen hatte, sobald die Mission vorüber war. Seit er mich damals mit Lulu entdeckt hatte, sind wir beide uns aus dem Weg gegangen. Vermutlich, damit sie aus unserem distanzierte Verhalten nichts schließen konnte.
Es war Lulu vor der Tür. Sie kam beinahe jede zweite Nacht in letzter Zeit zu mir, um mich mit ein wenig Geflirte zwischen Tür und Angel in die richtige Stimmung zu bringen und sie rein zu lassen. Nur selten habe ich sie abgewimmelt. Und auch nur dann, wenn ich Besuch von Freunden hatte. Sonst bin ich immer wieder schwach geworden.
„Es ist spät.“, sagte sie und drehte eine Haarsträhne um ihren Finger, wie sie es immer bei mir schaffte. „Willst du mich gar nicht rein bitten?“
„Nein.“, sagte ich und schwang die Tür zu, um zu meiner Flasche zurück zu kehren. Aber die Tür fiel wegen meines zu sanften Schubses nicht ins Schloss, denn Lulu hatte sie aufgefangen und trat in die Wohnung ein.
„Du trinkst?“, fragte sie überrascht hinter mir und schloss leise wieder die Wohnungstür. „Ohne mich?“, fragte sie lächelnd und verlangte mit einer Handgeste die Flasche, die ich ihr verweigerte. „Ach komm schon. Teil doch was du hast.“
Und vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen sagte ich, „Lulu, ich hab eine Freundin.“, und begab mich zur Couch um dort niederzulassen.
„Ja, fragt sich nur wie lange noch.“, murmelte sie vor sich hin. Aber ich konnte es dennoch, benommen vom Alkohol, hören.
„Was?!“, fragte ich aufgebracht, bevor ich mich auf die Couch niederließ.
„Nick, sie ist ein Telepath.“, erklärte sie mir. „Wenn sie es nicht schon längst weiß, wird sie es sicher bald in deinen oder meinen Gedanken lesen.“
„So etwas tut Jodie nicht.“, verteidigte ich meine noch-Freundin. „Sie liest keine Gedanken, wenn es kein Notfall ist.“
„Ja, natürlich.“, rollte Lulu mit den Augen. „Aber selbst wenn, woher willst du wissen, dass sie eure Beziehungskrise nicht auch irgendwann als Notfall interpretiert.“
„Das ist absoluter Schwachsinn!“, schrie ich sie an.
„Hey, ich sag nur, wie es ist.“, entgegnete sie mir, auch aufgebracht geworden.
„Ach ja? Wenn es das ist was du denkst, solltest du jetzt vielleicht besser gehen.“, forderte ich sie mit dem ausgestreckten Arm zur Tür weisend auf.
„Ich weiß gar nicht, was du hast.“, sagte sie und ging zur Tür. „Würdest du sie lieben, hättest du wohl kaum mit mir geschlafen – ganze achtzehn Mal an der Zahl.“ Damit verließ sie die Wohnung und ich schlug ihr die Tür hinterher zu.

Mum war bereits bei Morgengrauen außer Haus gegangen. Sie hatte heute ihre Wachschicht mit Rae getauscht, damit sie ausschlafen konnte und noch etwas Zeit mit ihren Mann verbringen konnte, bevor er die Besprechung einleitete. Für Rae musste es eine sehr schwere Zeit sein, wenn fast die Hälfte ihrer Familie, darunter Mann und Tochter, seit Anfang der Jahreszeit nicht mehr zu Hause waren. Vor allen Dingen, weil es ihr von Anfang an nicht gefiel, dass ihre Tochter sich unter die Sklaven mischte. Doch irgendwie hatten John oder Ivy es geschafft, ihr die Wichtigkeit dieses Umstandes klar zu machen, sodass sie es ertrug. Trotzdem waren alle um sie herum besonders vorsichtig, was sie sagten, weil wir alle befürchteten, dass sie jeden Moment hatte ausflippen können, sich eines der Fahrzeuge schnappen würde, und in die Stadt im Alleingang einfiel. Das hatte sich besonders verschlimmert, als wir alle kurzzeitig dachten, dass Ivy wohl zum Zombie werden würde. Aber Pablo, so jung er auch sein mochte, hatte sich in dieser Situation erst um seine Mutter und dann um seine Tante gekümmert. Manchmal erstaunt es mich schon sehr, wie erwachsen er wirkte, obwohl er sich oft auch mal seinem Alter entsprechend benahm.
Dad suchte krampfhaft nach einem Buch für seinen Unterricht, während ich gemütlich frühstückte. Nur weil er so laut herumstöberte bin ich nach meinem langen gestrigen Tag überhaupt schon so früh auf. Manchmal konnte er richtig rücksichtslos sein, wenn er eines seiner Bücher suchte oder las.
„Bist du sicher, dass du es nicht gesehen hast?“, fragte er mich abermals diesen Morgen, als er abermals das Bücherregal nach dem richtigen Titel durchsah.
„Zum hundertsten Mal jetzt, nein!“, sagte ich genervt mit dem Mund voller getoasteten Brot belegt mit süßen Himbeerbrei. „Wieso nimmst du nicht einfach ein anderes?“
„Weil ich den Kindern das versprochen hab, deshalb.“, motzte er. Wer war hier noch gleich wessen Kind? „AHA!“, verkündete er dann plötzlich. „Gefunden!“
Augenrollend biss spülte ich das Brot mit einem Glas verdünnter Milch runter und biss noch mal ab. Anders als Milch oder Saft, hatten wir Wasser reichlich. Deshalb verdünnten wir die Getränke damit, damit jeder in der Gemeinde genug davon bekam, und wir noch genügend auf Lager hatten, falls eine Obsternte mal mager ausfallen sollte, oder mit der Milch, die unsere wenigen Kühe gaben, etwas nicht stimmte, weil sie womöglich krank waren oder ähnliches. Ich fragte mich ernsthaft, wie wir unsere Lebensmittel – wobei sie für uns eigentlich ganz gut reichten, sodass wir immer etwas einlagern konnten – mit so vielen Neuankömmlingen teilen sollten. Mir blieb nichts anderes übrig als zu hoffen, dass wir in dieser Stadt noch ordentlich absahnen können, damit wir in Zukunft keine Engpässe erleiden mussten, wie wir oft genug mit den Eiern haben, denn die waren hier wirklich Mangelware, nur die, die sich früh genug welche sicherten, konnten sie dann auch zum Frühstücken oder Backen genießen.
„Tu mir einen Gefallen, Kyle.“, sagte Dad, während er seine Tasche packte. „Achte ein wenig auf deinen Bruder.“
Ich schluckte erst einmal runter, was ich noch gar nicht richtig gekaut hatte. „Du meinst auf meinen fünfundzwanzigjährigen, erwachsenen Bruder, der älter ist als ich? Meinst du den?“
„Kyle, bitte.“, ermahnte er mich. „Du hast doch wohl gemerkt, dass es ihm in letzter Zeit nicht so gut geht. Also tu einfach, worum ich dich gebeten habe. Oder ist das zu viel verlangt?“
„Nein, schon gut.“, rollte ich mit den Augen. „Ich spiele den Babysitter für den alten Sack.“
„Dankeschön.“, sagte Dad völlig undankbar. „Und unterlass bitte diese Sprache.“
Verblüfft sah ich ihm noch hinterher, als er schon längst zur Tür raus ist. Sollte er nicht langsam aufgeben mich erziehen zu wollen? Immerhin bin ich erwachsen. Da spreche ich doch, wie ich will – ob so oft hochgestochen wie Dad, oder ordinär, wie er es sagen würde, wie viele, viele andere hier auch. Meiner Meinung nach ist die hohe Kunst der Sprache mit der Zivilisation untergegangen. Dad war da anderer Meinung. Er versuchte sein Bestes sie wieder aufleben zu lassen, indem er sie den Kindern in seiner Klasse beibrachte, und die meisten hier in der Kolonie auch noch belehrte. Wäre er nicht der Mann von Mum, hätte er wohl von einigen hier, für seine Verbesserungen und ewigen Diskussionen über den Verfall unsere Sprache und Ausdrucksweise, ein paar aufs Maul gekriegt. Aber Dad hatte Glück, dass er mit einer Frau zusammen ist, die sich nichts gefallen lässt, auch nicht, wenn man ihrem Mann verdreschen will. Sie genoss noch dazu großen Respekt der anderen, nicht zuletzt, weil sie sich quasi den Posten der rechten Hand von John, der unser Anführer ist, mit Brad teilte.
Nachdem ich fertig gefrühstückt und mein Geschirr sauber gemacht und aufgeräumt hatte, überlegte ich, ob ich Rick wecken sollte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Denn was sollte es bringen. Wenn er schlief, konnte er sich wenigstens nicht mies fühlen. Es sei denn, er hat Albträume. Er war zwar schon früher hin und wieder so miesgelaunt gewesen, aber seit Anfang dieses Jahres wurde es stetig immer schlimmer. Irgendwie hatte ich von Anfang an das richtige Gefühl, dass es dabei um eine Frau ging. Nur hatte ich nie vermutet, dass es sich dabei um Ivy handelte, jedenfalls hatte ich nie etwas dergleichen bemerkt. Wann das wohl angefangen hat? Vermutlich irgendwann da, als Rick aufgehört hat mit den anderen Frauen in seinem Alter heftig zu flirten und auch ab und zu mal rumzumachen. Wann war das ungefähr? Ich glaube im letzten Herbst. Erst hatte Rick nur aufgehört Frauen mit nach Hause zu nehmen, zu meinem Glück, denn mir kam immer das zweifelhafte Vergnügen entgegen, ihn und seine Bettgespielin zuhören zu müssen, weil unsere Zimmer Wand an Wand lagen. Irgendwann, glaube ich, ihn dabei beobachtet zu haben, wie er irgendwo herum stand und mit einer Frau – ich glaube sogar es war Ashley, die schon immer im Zwist mit Ivy lag – rummachte, aber nicht bei der Sache war, weil er immer woanders hingesehen hatte. Hatte er da etwa versucht Ivy eifersüchtig zu machen?
Es klopfte an der Tür. Als ich aufmachte stand dort Connie, die ich rein bat. Sie war Ricks erste Freundin und nachdem sie irgendwann Schluss gemacht hatten, waren sie immer noch befreundet geblieben. Wenn jemand wusste, wann das mit Rick und Ivy angefangen hatte, dann war sie das. Denn Rick war nicht der Typ, der mit seinen männlichen Freunden, Lenny und Judd, über seine Gefühle sprach. Wobei er ihnen gegenüber vielleicht mal erwähnt hatte, dass er Ivy flachgelegt hat – wenn es zwischen den beiden schon so weit gekommen ist, was ich ja nicht weiß, denn mit mir redet er ja auch nicht.
„Ich wollte mal nach Rick sehen.“, meinte sie, als ich die Tür hinter ihr schloss. „Gestern hat er sich nach eurer Ankunft ja ganz schön schnell verzogen. Ist alles okay mit ihm?“
„Es war ein langer Tag.“, sagte ich und um unser Gespräch in die richtige Spur zu lenken, fügte ich hinzu, „Außerdem war er irgendwie sauer, dass er mit nach Hause musste.“
Das erregte Connies Aufmerksamkeit und machte sie stutzig. „Wieso?“, fragte sie. „Hat es ihm in dieser Feuerwache denn so gut gefallen, oder was?“
„Nein, das nicht.“, klärte ich auf, während ich ihr etwas zu trinken brachte. „Er wollte nur nicht so weit von dieser Stadt weg, weil er sich um Ivy sorgt.“ Ich beobachtete ihre Reaktion ganz genau, aber darin war nichts Wissendes zu erkennen. Deshalb fragte ich sie direkt. „Hast du gewusst, dass zwischen den beiden was läuft?“
„Zwischen wem? Rick und Ivy?“ Connie war genauso überrascht, als ich, als ich es gehört hatte. Ich bestätigte mit einem Kopfnicken. „Im Ernst? Seit wann?“
„Das hab ich mich auch schon gefragt.“, sagte ich. „Und ich vermute schon seit letztem Herbst.“
„Herbst? Was, so lange schon? Wieso hab ich nichts gemerkt? Wieso hat er nichts gesagt? Bist du dir sicher?“
„Klar bin ich mir sicher.“, sagte ich. „Zwei Tage bevor sie die Kolonie verlassen hat, ist er in der Bar damit rausgerückt. Aber sie scheinen schon Probleme zu haben. Was wohl der Grund dafür ist, dass er in letzter Zeit so häufig mies gelaunt ist.“, plapperte ich weiter.
„Und Ich dachte wir wären Freunde.“, fragte Connie schockiert. „wieso erfahr ich erst jetzt davon?“
„Weil es niemanden etwas angeht.“, hörten wir plötzlich Rick, als er verschlafen aus seinem Zimmer kam. „Außerdem waren wir nie richtig zusammen.“ Er schlurfte mit hängenden Schultern in die Küche und Connie und ich lauschten, ob er uns noch etwas mehr verraten würde. Aber er tat es nicht. Stattdessen setzte er sich mit einem Glas Saft auf die Couch und starrte zum Fenster hinaus.
„Wenn ihr nicht zusammen wart, was war dann da sonst zwischen euch?“, fragte Connie.
„Wenn du es genau wissen willst, wir hatten Sex.“, sagte er mürrisch. „Und zwar mehr als nur einmal.“
„Und, wann hat das denn angefangen?“, fragte ich neugierig, woraufhin Rick sich zu mir umdrehte und mich unvermittelt und vorwurfsvoll anstarrte. Genau, wie Connie. „Was denn? Darf etwa nur sie Fragen stellen?“
Rick drehte sich wieder nach vorne und seufzte. „An ihrem letzten Geburtstag.“ Also hatte ich Recht, dachte ich. Ivy hat im Herbst Geburtstag.
„Und wann hast du dich in sie verliebt?“, fragte Connie plötzlich. Wie kam sie auf diese Frage? Hab ich was verpasst? Hatte sie das in seiner Stimme gehört, oder was? Frauen sind ja bekanntlich besser so etwas wahrzunehmen.
„Ich schätze, schon irgendwann davor.“

Ich lag auf ihrem Bett in ihrem dunklen Zimmer, als ich durch den Türspalt das Licht angehen sah. Sie warf ihre Schlüssel achtlos mit lautem klirren auf dem Esstisch in ihrem Wohnzimmer und ging zum Kühlschrank um sich etwas Saft in ein Glas einzugießen, dass sie mit einem Zug austrank. Seufzend setzte sie ihren Weg fort, in Richtung Schlafzimmer, wo ich auf sie wartete, und zog dabei ihr Kleid aus. Nackt bis auf den Slip stand sie in der Tür, als sie bemerkte, nachdem sie das Licht auch hier angeknipst hatte, dass ich auf ihrem Bett lag.
„Was zum Teufel machst du denn hier?“, fragte sie aufgeregt, die Arme um ihren Busen geschlungen, damit ich nicht sah, was ich ohnehin schon vor drei Nächten geküsst und geleckt hatte.
„Ich hatte das Gefühl, dass ich mich bei dir wegen letztens entschuldigen muss.“, log ich und erhob mich von ihrem Bett. Schweigend und geschockt beobachtete sie jeden meiner Schritte, die ich auf sie zu machte, bis sich unsere Körper schließlich berührten. Gebannt ließ sie mich ihren Hals küssen und ich fühlte, dass ihr Puls anstieg. Sie war jetzt schon wieder so scharf auf mich, wie vor drei Nächten, als wir uns zu dritt zusammen mit Rina vergnügt hatten. Ihren Namen wusste ich immer noch nicht. Aber er war mir auch egal. Immerhin spielte ich hier nur ein Spiel. „Ich hatte wirklich viel Stress, weil ich vor einem Problem in der Arbeit stehe, das ich einfach nicht lösen kann.“
Langsam zog ich ihre Arme von ihren großen Brüsten und legte meine eigenen Hände darauf. Sie legte ihre Arme um mich uns küsste mich erregt. Als Wiege sie nur so viel wie eine Feder – was sie übrigens nicht tat – hob ich sie hoch, schlang ihre Beine um meine Hüfte und schaffte uns beide rüber zum Bett, wo ich mich auf sie warf. Ungeduldig zerrte sie wieder an meinem Hemd und riss ein paar Knöpfe ab, als sie meine Brust darunter freilegte. Als sie sich meines Hemdes entledigt hatte, fummelte sie noch ungeduldiger an meiner Hose herum, weil sie fühlen und sehen konnte, dass ich bereits die Andeutung einer Erektion hatte. Immer wieder strich sie mir gierig in den Schritt und kicherte dabei fast wahnsinnig. Als ich sie mir vornahm, probierten wir gleich mehrere Stellungen aus, bis sie irgendwann neben mir einschlief. Diese Frau war wirklich eine Geduldsprobe.
Ich wartete mehrere Stunden darauf, dass sie wieder aufwachte. Das blöde Stück redete irgendwelchen Müll, von dem sie dachte, dass es mich interessierte, bevor ich sie auf das Thema lenkte, das mich wirklich interessierte.
„Und an was arbeitest du so wichtiges, das dir Kopfzerbrechen bereitet?“, fragte sie, während sie meine nackte Brust mit ihrer Hand betätschelte.
„Ich forsche.“, sagte ich um sie weiter zu ködern.
„Und was erforschst du? Neue Medikamente, mit Laborratten und allem Drum und Dran?“
„Nicht ganz.“, sagte ich. Normalerweise verrate ich das natürlich nicht. Aber sie würde ja ohnehin nicht mehr lange leben. So, wie jeder, dem ich es erzählte. Auch Ivy. „Meine Laborratten sind Zombies.“
„Ieek, ist ja eklig.“, gab sie von sich. „Und was machst du mit denen?“
„Ich erforsche ihr Verhalten, ihre DNS und das, was sie zu dem werden lassen, was sie sind.“, erklärte ich dem Genie neben mir, wobei ich nicht die Hoffnung hatte, das sie das verstand, was ich von mir gab.
„Was ist denn DMS?“, fragte sie völlig verblödet.
„DNS.“, korrigierte ich sie. „Das ist das, woraus Menschen, Tiere, Pflanzen und auch diese Monster gemacht sind.“
„Ach so.“, sagte sie. Ich hatte nicht wirklich das Gefühl, dass sie mir folgen konnte. „Und? Weißt du schon, was die Zombies zu Zombies werden lässt? Oder ist das das Problem von dem du gesprochen hast?“
„Irgendwas lässt die DNS der Menschen mutieren, sodass sie Untote werden. Aber was genau, weiß ich noch nicht.“ Ich schwieg für einen Moment. „Vielleicht kannst du mir ja dabei helfen.“
„Ich?“, fragte sie überrascht. „Ich hab doch gar keine Ahnung von dieser DNS und dem ganzen Wissenschaftszeug.“ Damit hatte sie ausnahmsweise Recht.
„Ach was, ich bin mir sicher, dass ich eine Aufgabe für dich finde, bei der du hilfreich sein kannst.“
„Ach, und was?“
„Komm mit, dann zeig ich es dir.“

Über den Video Bildschirm im Kontrollraum beobachtete ich Alpha. Die Kamera in der Ecke an der Decke seines „Zimmers“ musste ich vergittern und dazu noch das rotleuchtende Lämpchen, das an der Kamera aufleuchtete abdecken, weil es ihn richtig verrückt gemacht hatte. Hin und wieder hatte das kaum wahrnehmbare Surren der Überwachungskamera denselben Effekt. Daher auch das Gitter, damit er die Kamera nicht wegschlagen konnte. Im Augenblick starrte er zur Kamera hoch, was er immer tat, nachdem er gefressen hat. Weil er vor ein paar Tagen an Ivy herumknabbern durfte, ohne auf mich zu hören, gab ich ihm das kleinste Ferkel, das ich in den Ställen finden konnte. Ich hatte es ihm in den Raum geworfen und er fing es aus der Luft auf. Während das kleine rosa Ding noch quiekte, riss er es mit Händen und Zähnen auf und fraß es. Sein Gesicht war noch immer verschmiert von Blut. Auch die Kleidung, die ich ihm vor dem Kampf mit Ivy angezogen hatte, hatte er eingesaut. Bisher hatte ich nicht die Geduld aufgebracht sie ihm wieder auszuziehen. Irgendwann würde er es schon selbst erledigen, wenn sie ihn störten.
„Da tut sich was.“, sagte Dino, der mit mir im Kontrollraum saß. Er hatte die blonde Frau, die ich hier runter gebracht hatte, beobachtet, die sich jetzt vor Schmerzen krümmte.
Sie hatte Angst bekommen, als ich ihr die versteckte Tür in meinem Keller zeigte, schritt aber weiter hinter mir her, als ich sie an ihrer Hand weiter in die verlassene geheime Forschungsstation führte, die sich hier unten befand, und wir besetzt hatten. Vermutlich gehörte diese Station einst N-Corp, aber sie war schon lange vor der Apokalypse oder auch kurz danach verlassen worden, weshalb sich das nicht so genau sagen lässt. Aus den Akten, die hier von Casey, einem der Gründer der Stadt und mein Vorfahr, entdeckt wurden, ließen darauf schließen, dass hier an Medikament herumexperimentiert wurden – von N-Corp oder einer Konkurrenzfirma. Daraus war aber nicht zu ersehen, dass diese Forschungen, die hier unten betrieben wurden, etwas mit der Apokalypse selbst zu tun hatten.
„Wie sehen ihre Werte aus?“, fragte ich und beobachtete, wie die Frau ihren Körper mit schmerzender Anspannung hob und wieder senkte und wieder hob und so weiter.
„Soweit ich das sagen kann, so wie bei Alpha damals.“, sagte Dino. Keiner von uns war dabei gewesen, als Alpha aus einem Stadtbewohner erschaffen wurde. Ich muss damals erst fünf Jahre alt gewesen sein und Dino demnach drei. Unser Vater und dessen ältester Bruder haben dem Bewohner damals eine aus Zombieschleim gewonnene und verändernd behandelte Form des DNS mutierenden Virus injiziert, sodass er ein – wie soll man es anders beschreiben – klügerer und etwas menschenähnlicherer Zombie geworden ist. Klüger, im Vergleich zu anderen Zombies, denn an so kam er noch nicht einmal an die Intelligenz des dümmsten Menschen auf Erden heran. Immer noch leitete ihn der Trieb zu fressen, wobei er aber bessere Kontrolle über seine Gliedmaßen und Muskeln hatte, als ein normaler Zombie. Außerdem ist er nicht ansteckend, sodass man von ihm gebissen werden konnte, ohne selbst zu so einem Wesen zu werden.
Bevor sie überhaupt wusste, wie ihr geschah, hatte ich sie auf eine Liege gelegt – sie hatte gedacht, ich würde es ihr hier unten gleich noch mal besorgen – und sie mit sehr stabilen Ledergurte festgeschnallt – nicht mal da hat sie gemerkt, wie der Hase läuft. Als dann Dino in den Raum kam, wurde sie stutzig. Mit einer Spritze hatte ich ihr den dunkelroten, fast schwarzen Stoff injiziert. Und seitdem saßen Dino und ich hier und beobachtete sie über einen zweiten Überwachungsbildschirm. Erst einmal tat sich gar nichts, außer dass sie hilflos um Hilfe schrie und uns aufs derbste Beschimpfte, bis sie schließlich das normale hohe Fieber bekam, wie bei jeder normalen Zombieinfektion auch. Der Virus wurde durch ihr aufgeregt pochendes Herz in die tiefsten Spitzen ihrer Adern gepumpt. Es schien zu merken, dass sie ein Fremder Stoff im Körper befand, dem es schutzlos ausgeliefert war, und ihm nichts anderes übrig blieb, als es weiter durch die Adern zu jagen und damit den ganzen Körper zu infizieren.
Der Unterschied zwischen unserer Form des Virus und der normalen Form, besteht lediglich darin – abgesehen vom Resultat des Zombies – dass unsere Form offenbar höllisch wehtat, während die normale Form ein lautloser Killer war. Der normale Virus tötete nicht, sondern das Fieber, das er im Körper des Infizierten hervorruft, er ließ den dann Toten nur wieder auferstehen. Wie genau das funktioniert, wissen wir allerdings auch noch nicht. Aber danach haben wir auch noch gar nicht geforscht. Denn seit mindestens zwei Generationen stecken wir darin fest, herauszufinden, was es ist, dass einen Menschen zum Untoten werden ließ. Denn im Blut oder Speichel konnten wir bisher zwar eine Ungewöhnlichkeit feststellen, aber nicht, wodurch sie hervorgerufen wird oder wurde. Einfacher würde sich unsere Forschung gestalten, wenn wir dabei gewesen wären, als dieser Virus ausbrach. Denn wirklich viel wussten wir nicht darüber. Unser Vorfahr Casey, auf dessen Erinnerungen sich unser Wissen berief, war damals selbst noch ein halbes Kind und verstand nicht so ganz, was da eigentlich vor sich ging. Vielleicht wüssten wir näheres, wäre er nicht erst nach der Apokalypse von den Übrigbleibseln dieser N-Corp Schweine zu einem Telepathen gemacht worden.
„Ich glaube Alpha ist beleidigt.“, meinte Dino, als wir die Frau eine Weile schweigend dabei beobachtet haben, wie sie sich hier hin und dort hin krümmte, um ihre Schmerzen nur irgendwie zu lindern.
Ich sah wieder auf Alphas Überwachungsbildschirm. Er starrte immer noch die Kamera an und hatte sich, seit ich ihn das letzte Mal angesehen habe, nicht mehr bewegt. „Denkst du wirklich, er hat Gefühle?“
„Ehrlich gesagt bezweifle ich es.“, meinte Dino. „Aber du musst schon zugeben, wenn man ihn so ansieht könnte man wirklich meinen, er sei beleidigt. Meinst du nicht?“
Ich studierte Alphas Gesicht genau, zoomte die Kamera sogar näher heran. Nach einigen verstrichenen Momenten, die ich damit zubrachte ihn anzusehen, musste ich meinem Bruder Recht geben. Irgendwie konnte man wirklich denken, er sei beleidigt.

Weil ich mir sorgen machte, dass das Experiment schief ging, beschloss ich persönlich nach ihr zu sehen. Vor einer Stunde hatte die Frau angefangen sich ständig zu kratzen. Blutige Striemen überall an ihrem Körper. Haut unter ihren Fingernägeln, die eingerissen waren. In den Studien, die wir über Alpha hatten gab es keine Vermerke, die uns auf so etwas vorbereitet hätten. Daher musste ich mich davon überzeugen, dass das Experiment noch nicht verloren war. Vielleicht passiert das auch nur bei Frauen. Denn Alpha war ein Mann. Wir wussten nicht, ob es da einen Unterschied für die neu entwickelte Form des Virus gab.
Vorsichtig öffnete ich die Tür zu ihrem Zimmer. Ich wusste nicht, ob es gefährlich sein würde, wenn ich plötzlich bei ihr auftauchte. Als ich sie noch über den Überwachungsbildschirm beobachtet hatte, stand sie in einer Ecke des Raumes und zog sich mit ihren Fingernägeln sie Haut ab, sodass sogar keine Blutrinnsale an ihrem Körper herunter flossen. Sie schien mir eigentlich ganz ruhig, wenn auch etwas ängstlich. Also öffnete ich die Türe lieber langsam und behutsam und linste erst einmal hinein, indem ich den Kopf durch den ersten Türspalt, den ich auftat, schob.
Sie schien mich zu bemerken. Im ersten Moment hatte sie nur an sich herunter gestarrt, dann wendete sie mir ihren Kopf blitzartig zu. Mit leerem Gesichtsausdruck starrte sie mich eine Weile an. Doch als ich ganz eintrat schien sie wieder das Interesse an mir zu verlieren und kümmerte sich wieder ganz um sich selbst. Ich trat näher. So nah, dass ich ihr Kinn in meine Hand nahm und sie wieder zu mir drehen konnte, um ihre Augen genauer sehen zu können. Sie wirkten matt, waren aber noch nicht milchig, wie bei Alpha oder normalen Zombies. Die Verwandlung war also noch nicht ganz abgeschlossen. Allerdings wusste ich immer noch nicht, ob das eine gute Nachricht war, oder nicht. Ich wollte die letzten drei Tage nicht umsonst hier unten zugebracht haben. Es sollte sich schon gelohnt haben.
Bald hatte sie genug davon, dass ich ihr immer noch ins Gesicht starrte, und sie riss sich von mir los. Empfand sie womöglich Wut oder Hass? Klatschend ließ sie etwas in der Mitte des Raumes zu Boden fallen, als sie in die andere Ecke wechselte. Es war blutig und fleischig. Zunächst konnte ich mir gar nicht vorstellen, was das war. Aber dann drehte sie sich wieder zu mir um. Ihre Hand steckte in ihrem Bauch und wühlte darin herum. Blut floss ihr in Strömen über die Beine und bildete schnell eine riesige Lache zu ihren Füßen. Gedankenversunken – falls sie zu so etwas überhaupt im Stande war – führte sie ihre bluttriefende Hand an ihren Mund und kaute dann auf etwas herum – auf sich selbst. Das wiederum schien normal zu sein, Alpha hat bei seiner Verwandlung dasselbe getan. Er hatte angefangen sich selbst zu essen, als der unbändige Hunger nach Menschenfleisch von ihm Besitz ergriff, er aber noch immer lebte und sich selbst als lebende, menschliche Beute sah.
Offenbar schien ich mir also keine Sorgen mehr um sie zu machen. Die Kratzer waren wohl nur Versuche den eigenen Körper zu öffnen, damit sie an ihr eigenes warmes Fleisch herankam. Also nahm ich das Stück Fleisch, das sie auf dem Boden zurückgelassen hatte, und verließ den Raum wieder. Die Mühe mir vorher Handschuhe anzuziehen machte ich mir gar nicht erst. Ansteckend war sie ja ohnehin nicht, selbst wenn ich irgendeine Wunde an mir haben sollte, durch die das infizierte Blut in mich gelangen konnte.
Mit dem blutigen Fleischstück in meiner Hand begab ich mich sofort in eines der Labors und bereitete es dort zur Einlagerung vor, sodass ich noch länger damit arbeiten konnte. Doch zuvor entnahm ich mir noch eine Probe von dem unerwartet großen Stück, um es gleich unter die Lupe zu nehmen. Nachdem die größte Probe sicher verstaut war, legte ich das kleinere Stück, das in etwa so groß wie eine Fingerkuppe war, auf ein Glasplättchen des Mikroskops und betrachtete es dadurch. Immer weiter vergrößerte ich die Probe und erkannte schließlich, was sich im Blut abspielte. Es wirkte aggressiv, was schwer zu erklären war. Es war einfach der erste Eindruck, den ich davon bekam, als ich es näher betrachtete. Meine Beobachtungen notierte ich gewissenhaft und korrigierte die Studienberichte über Alpha, indem ich eine Haftnotiz hinzufügte, worauf ich nach auffälligen Kratzverhalten fragte, dass unmittelbar vor dem Selbstfraß eintrat. In der Akte der Frau, die ab sofort Beta heißen sollte, schrieb ich gleich rein. Immerhin hatte ich es an ihr beobachtet. Außerdem stellte ich eine Frage, ob dies womöglich nur bei weiblichen Objekten auftritt, weil doch bei Alpha nichts dergleichen vermerkt worden war. Es wäre eine Nebenstudie wert, um das herauszufinden, überlegte ich. Vielleicht würde mich das sogar in meinen gesamten Forschungen weiter bringen, wenn ich wüsste, dass es in dieser Beziehung einen Unterschied zwischen Mann und Frau gab.
Als ich so darüber nachdachte fiel mein Blick auf die Probe von Beta und ich musste mich plötzlich fragen, wie Menschenfleisch eigentlich schmeckte. Konnte man es mit Wild, Rind, Schwein oder Geflügel vergleichen? Würde ein normaler Mensch, also ein nicht-Zombie, es als delikat empfinden können – mal abgesehen von der moralischen Frage, die sich einen Menschen stellte, ob es richtig sei oder nicht, jemanden seiner Art zu verspeisen oder auch nur zu probieren. Ich nahm die Probe in meine Finger, betrachtete sie aus der Nähe und drückte drauf. Dann roch ich daran. Es roch nach Blut. Vielleicht schmeckte es ja sogar danach, nach Blut – oder vielmehr dem unverkennbaren Eisengeschmack, den es auf der Zunge hervorrief.
Ohne viel weiter darüber nachzudenken, steckte ich meine Finger mitsamt der Probe in meinen Mund und ließ sie darin, als ich meine Finger wieder herausnahm. Mit meiner Zunge ertastete ich zunächst das Fleischstück und drückte es gegen meinen Gaumen. Es schmeckte wirklich nach Eisen – jedenfalls war das der dominanteste Geschmack, den ich jetzt in meinem Mundraum verspürte. War es womöglich bei einem normalen Menschen anders? Schließlich schob ich das Menschenfleischstück zwischen meine Zähne und kaute darauf herum. Das war schon merkwürdig.


29


Morgen früh, bei Sonnenaufgang ging es los, wir nehmen die Tagesfahrt zur Feuerwache in der Ruinenstadt, in der sich die Sklavenhalterstadt befand, in Kauf. Dort werden wir dann noch einen Tag abwarten, bis in die nächste Nachte nach unserer Ankunft, und die Tage der Sklaverei würden dann gezählt sein. John hatte uns allen erklärt, wie wir vorgehen würden. Ivy würde in dieser Nacht einen Kampf gegen einen merkwürdigen Zombie zu bestreiten haben, bei dem ihr aber Sarah, die John einschleusen will, insgeheim zur Hand gehen wird, weil das derselbe Zombie sein wird, wegen dem wir schon alle dachten, er habe Ivy infiziert, als er sie mehrmals gebissen hatte. Doch aus irgendeinem Grund war er nicht ansteckend, was schon sehr merkwürdig war. Welcher Zombie ist denn nicht ansteckend? Das sind sie doch alle, oder etwa nicht?
Während Ivy also die ganze Stadt, die keine Sklaven waren und bei diesem Spektakel wohl nicht fehlen wollten, ablenkt, schleichen wir uns mithilfe von Jodie und einigen Sklaven, die sie kurz vorher einweiht in die Stadt über diese eigenartigen Drahtseile, von denen John meinte, dass es der einzige Ein- und Ausgang sei. Einige von uns waren nur dazu da die Sklaven, die nicht kampffähig waren, sodass sie uns helfen könnten zu verhindern, dass ihre ehemaligen Besitzer uns folgen können, aus der Stadt in Sicherheit zu führen. Darunter fielen zum Beispiel Kinder, Alte, Schwache und Kranke. Außerdem zwangen wir niemanden zu kämpfen, also konnte im Grunde so gut wie jeder in Sicherheit verschwinden. Aber oft machten unsere Sklavenbefreier die Erfahrung, dass die Sklaven, auch wenn sie gerade erst ihre Freiheit zurückerlangt haben, mitkämpfen wollen. Die meisten taten das wohl nur aus Rache für die Unterdrückung, Demütigung und die Schmerzen, die sie all die Jahre erdulden mussten.
Ich gehören nicht zu denjenigen, die den befreiten Sklaven nur helfen die Stadt sicher hinter sich zu lassen. Weil ich mir den Job der Jäger und Sammler ausgesucht habe und deshalb zuvor auch zwei Jahre bei der Wache zugebracht habe, gelte ich als Kampferfahren und wurde für den eigentlichen Sturm der Stadt eingeteilt, obwohl ich eigentlich zu den jüngsten zählte, die mit durften oder sollten. Ich glaube ich bin sogar der jüngste, nur Juan ist ein paar Monate älter, und sonst war noch niemand sechzehn, was das erforderliche Mindestalter für das Verlassen der Mauern unserer Kolonie war. So jemand, der von der öffentlichen Küche oder den Kraftwerken zu Hause kommt, werden die Sklaven eingeteilt. In der Feuerwache kümmern sie sich dann mit einer warmen Mahlzeit, Erste-Hilfe, wenn jemand verletzt sein sollte, bis die Mediziner nachkommen, und etwas Seelsorge um sie. Aber meistens herrschte in so einer Situation oft heitere Stimmung, weil man so langsam begriff, dass man frei war.
In erster Linie Gefangene nehmen, nicht töten, so lautete der Befehl. Nur wenn unser eigenes Leben bedroht sein sollte, durften wir unser Gegenüber töten. Denn eigentlich wollte John das Schicksal jedes einzelnen Stadtbewohners selbst ermessen, indem er ihre Gedanken auf ihre Verbrechen erforscht. Bei den drei telepathischen Brüdern, da waren sich alle in unserer Gemeinde sicher, würde John nicht lange fackeln und sie eigenhändig töten. Aber er gab es nie zu. Immer betont er, dass er sich ihre Gedanken erst ansehen wird, wenn sie ihn lassen, denn nachdem was er von Ivy weiß, machen sie gern ein Geheimnis aus ihren Gedanken. Außerdem ließ er uns immer wieder wissen, dass es bestimmt nicht so einfach werden wird, sie überhaupt in die Finger zu bekommen, weil sie sehr gefährlich sind, weshalb sich ihnen auch niemand von uns nähern darf. Die drei sollten wir ganz John, Jodie und Ivy überlassen, während Sarah ein Auge auf uns Nicht-Telepathen hat, damit die Brüder uns nichts anhaben können.
Einerseits war ich freudig aufgeregt auf diese Mission. Auf so ein Leben mit Action und Kampf war ich vorbereitet, seit ich weiß, dass ich zu den Jägern und Sammlern wollte. Aber bisher hatte ich davon noch nicht viel mitbekommen. Seit ich sechzehn und wirklich dabei bin, hatte ich nur eine Gelegenheit auf einen Ausflug nach draußen. Und bei diesem Ausflug wurde Ivy schwer verletzt und durfte lange Zeit nicht wieder raus. Eine Regel besagt nämlich, dass ein Team die Mauern nicht inkomplett verlassen darf. Nun war Ivy sogar nicht nur irgendwer im Team, sondern unser Teamleiter, obwohl sie abgesehen von mir die jüngste war. Aber weil sie eben ein Telepath ist, hatte sie ganz andere Qualitäten, die sogar den Erfahrungsschatz von Cooper oder Chris in den Schatten stellten. Wäre jemand andere verletzt gewesen, hätten die übrigen mit Ivy die Kolonie verlassen dürfen. Das heißt, wenn Ivy ihren Vater dazu überreden hätte können, was immer nur dann war, wenn wir irgendwas dringend brauchten.
Andererseits passte mir diese Mission im Augenblick gar nicht in den Kram. Jetzt, wo ich eine Freundin habe. Weil ich schon lange keine Eltern mehr habe, ist sie der erste Mensch seit langem, von dem ich richtige Liebe und nicht nur einfach Freundschaft erfuhr. Sie sorgte sich um mich. Besonders wo sie weiß, dass ich mich in den nächsten Tagen in unmittelbarer Gefahr befinden werde. Ich persönlich machte mir ja darum keine großen Gedanken – vielleicht, weil ich weiß, dass mir das nur Angst machen würde. Das einzige, das ich bedauere ist, dass ich Penny die nächsten Tage nicht sehen werde und ich weiß, dass sie sich schreckliche Sorgen um mich machen wird. Ich werde sie sehr vermissen. Aber ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss – auch wenn ich in vieler Augen vielleicht noch kein richtiger Mann bin. Trotzdem fühle ich mich irgendwie dazu verpflichtet mit den anderen zu kämpfen um die dortigen Sklaven sicher zu befreien.
„Ich bin froh, dass du nicht mit darfst.“, sagte ich zu Penny, als wir den Tag zusammen auf der Couch in meiner Wohnung ausklingen ließen. Schon seit einigen Tagen, seit John und die anderen zurückgekehrt waren, spürte ich zwischen uns diese Schwere, die vor allem von Penny ausging. Sie würde mich am liebsten gar nicht gehen lassen, wie auch ihre Mutter. Ihr Vater blieb hier, weil er sich um den Strom für die Kolonie kümmern musste. Ihm fiel es auch schwer seine Frau gehen zu lassen.
„Ach ja?“, fragte sie trotzig und kuschelte sich nur weiter unter meinem Arm ein.
„Ja. Es ist einfach zu gefährlich für dich.“, sagte ich und bemerkte erst, als es zu spät war meinen Fehler.
„Für mich soll es zu gefährlich sein? Was ist mit dir? Du bist nicht viel älter als ich.“
„Das hat damit doch nichts zu tun.“, erwiderte ich. „Ich hab schon viel länger Erfahrung mit einer Waffe.“
„Ja, einem Scharfschützengewehr, mit dem du auf leicht schwankende Ziele in etlichen Metern Entfernung gezielt hast.“
„Das ist nicht die einzige Waffe, okay?“ Fangen wir jetzt an zu streiten? „Ich hab auch viel mit anderen Waffen trainier, in verschiedenen Situationen.“
„Ja, mit Leuten, die nicht ernsthaft darauf aus waren, dich wirklich zu verletzen. Die in dieser Stadt wollen dich sogar töten.“
„Ich weiß wie es ist eine wandelnde Zielscheibe zu sein. Ich war schon mal draußen im Ödland, falls du das vergessen hast!“
„Ja, einmal! Und wir wissen ja alle, wie das ausgegangen ist.“
Erbost darüber, dass sie das zur Sprache brachte befreite ich mich von ihrer Umarmung auf der Couch und sprang auf. Niemand hatte es je erwähnt, ganz besonders Ivy nicht. Aber es war meine Schuld gewesen, dass sie angeschossen wurde. Ich war unvorsichtig gewesen, weshalb die Bande damals erst auf uns aufmerksam geworden ist. Das hätte man womöglich noch dem zuschreiben können, dass das mein erster Tag draußen war. Aber dass ich dann noch viel unvorsichtiger gehandelt hatte, um meinen vorherigen Fehler wieder auszubügeln, das war einfach nur dumm.
Wir waren bestimmt eine Stunde unter Beschuss, kauerten in einem verfallenen Gebäude und versuchten einfach nur die Stellung zu halten, bis den anderen die Munition ausgehen würde, als mir die Granaten einfielen, die wir von einer längst verrotteten Straßensperre des Militärs hatten. Sie befanden sich im Wagen, der noch unentdeckt von unseren Angreifern auf der anderen Seite des Blocks stand. Wir waren ausgeschwärmt um Brauchbares zu finden, als sie uns wegen mir überraschten. Jedenfalls schlich ich mich an der Seitenwand des Gebäudes entlang, um die Granaten zu holen, was uns unsere Angreifer bestimmt vom Hals halten würde. Ivy kam mir nach, weil es zu gefährlich war, und sie niemals jemanden zurücklassen würde, den sie nicht vorher versuchte lebendig zu erretten. Als ich ihr meinen Plan erklärte fand sie ihn gar nicht so dumm. Aber dann fand uns einer der Angreifer und nahm uns unter Beschuss, wo wir überhaupt keine Deckung hatten. Wir retteten uns in einer Nische des Gebäudes und konnten nur darauf warten, dass der Schütze, der immer noch auf uns hielt, immer näher und näher kam.
Für einen Moment wurde sie ganz still unter dem lauten Geschoss, dem wir ausgesetzt waren. Dann sagte sie mir ich solle so schnell ich konnte zum Wagen laufen und die Granaten holen, sie würde mir Rückendeckung geben. Also tat ich was sie mir auftrug und rannte los ohne mich um zu sehen. Erst als ich mit den Granaten aus dem Wagen kam war mir aufgefallen, dass ich gar kein Feuerschutz von ihr hören konnte, aber auch keine Schüsse unseres Angreifers waren mehr zu hören. Dann sah ich warum. Irgendwie hatte sie ihn mit ihren Fähigkeiten zerplatzen lassen, sodass nur noch Blut- und Fleischüberreste zurückblieben, ganz in ihrer Nähe. Als Ivy mich dann schnell weiter zu den anderen schickte um ihnen die Granaten zu bringen, dachte ich zunächst sie war von der Anstrengung, die diese Aktion für sie bedeutet haben musste nur zu erschöpft um aufzustehen. Wobei es mir dann schon komisch vorkam, dass sie mir sagte, wir sollten danach alle schnell zurückkommen.
Bevor sie unseren Angreifer zerplatzen ließ, hatte er sie mit einer seiner Kugeln erwischt. Und das Blut, von dem sich nur so triefte, war nicht nur seines. Erst nachdem wir den Rest der Bande mit den Granaten erledigt hatten und zu ihr zurückgekehrt waren, rückte sie mit der Sprache, dass sie getroffen war, heraus. Kyle hatte damals nicht die Möglichkeit gehabt die Kugel, die noch in ihr steckte zu entfernen, weshalb wir so schnell wie möglich nach Hause fuhren.
„Es tut mir leid.“, sagte Penny reumütig, traute sich aber nicht mir näher als ein paar Schritte zu kommen. „Es ist nur… Als würde es nicht reichen, dass meine Mutter mit muss, da muss auch noch mein Freund mit.“
Daraufhin drehte ich mich zu ihr um. Das Grinsen in meinem Gesicht bemerkte ich erst später, aber ich fühlte sofort, wie sich Ärger, Scham und Selbstvorwürfe einfach so verflüchtigten.
„Was ist?“, fragte Penny verdutzt, als sie mein grinsendes Gesicht wahrnahm.
„Du hast mich gerade zum ersten Mal deinen Freund genannt.“, verkündete ich.
Kurz musste sie auch aufgrinsen. „Halt die Klappe.“, sagte sie mir, warf sich in meine Arme und küsste mich.
„Ich pass auf deine Mum auf.“, sagte ich, als ich den wundervollen Kuss zwischen uns abbrechen musste um Luft zu holen.
„Und wer passt auf dich auf?“, fragte sie bedrückt. „Weißt du, niemand zwingt dich da mit zu gehen. Das ist doch alles eine freiwillige Sache.“
„Ich weiß.“
„Und warum gehst du dann trotzdem?“
„Ich war noch sehr klein, als meine Eltern gestorben sind, weshalb ich nicht viel von ihnen weiß. Aber eines weiß ich genau, dass sie es nämlich gehasst haben Sklaven zu sein. Und, dass sie so ein Leben niemals auch nur einer Menschenseele wünschen würden. Deshalb haben sie sich aktiv dieser Kolonie angeschlossen, während andere nur weit weg wollten. Und deshalb muss ich auch genau das tun. Ich fühl mich dadurch irgendwie wie ihr Sohn.“ Penny wischte mir mit ihren Daumen Tränen von den Wangen. Ihre eigenen ließ sie einfach rollen. „Und was deine Frage angeht, wer auf mich aufpasst. Ivy. Sie hat nämlich total ein Auge auf mich geworfen. Da musst du dich demnächst ziemlich ins Zeug legen, wenn du mit ihr Konkurrieren willst.“, fügte ich scherzhaft hinzu.
Natürlich stimmte das überhaupt nicht. Und wir wussten es beide. Aber gerade deshalb heiterte es uns beide ein wenig auf. Tatsächlich geht mittlerweile das Gerücht um, dass Ivy irgendwas mit Rick hat. Und so im Nachhinein konnte ich das gut nachvollziehen. Die beiden waren oft zusammen anzutreffen, weshalb es mich wunderte, dass dieses Gerücht erst jetzt die Gerüchteküche verlassen hat.

Lange Zeit beobachteten wir ihn, als er wieder einmal an Sams Grab saß. Gott allein weiß, was er unserem gefallenen Freund alles erzählt. Wir wussten es besser, als ihn dabei zu stören. Paul und ich machten es uns unter einem der Bäume bequem und warteten darauf, dass John endlich aufstand. Eigentlich hatten wir schon angefangen zu hoffen, dass er es womöglich endlich überwunden hat. Aber hier saß er nur wieder an Sams Grab und betrauerte ihn abermals. Bei jedem anderen hätten wir ein Machtwort sprechen können – oder uns getraut – aber nicht bei John. Nicht, weil er so stur war – was er sicherlich war – sondern weil er uns manchmal, wie allen anderen auch, etwas Angst machte. Obwohl wir ihn schon lange kannten, ihm vertrauten und er unser Freund war, konnten wir nicht ausschließen, dass er irgendwann austicken würde. Emotional geschädigte Telepathen waren das gefährlichste, was es gab. Ich würde glatt sagen, gefährlicher als jede Zombiehorde, mit der du es zu tun bekommen könntest.
„Er verfällt wieder in diese Depression, oder?“, fragte Paul, brauchte aber keine Antwort darauf. Er war bereits davon überzeugt. Wie auch ich. Nie habe ich einen Menschen gesehen, der so lange nach dem Tod eines Freundes, und mochte er ein noch so enger Freund sein, noch immer so an ihm hing, als wäre er das Leben selbst. Über zwanzig Jahre war es jetzt schon her und er konnte noch immer nicht loslassen. „Wir müssen doch irgendwas tun. So kann das mit ihm nicht weiter gehen. Wir haben schon viel zu lange zugesehen, wie es ihn innerlich auffrisst.“
„Die einzigen, die was für ihn tun können, sind Jodie und Ivy. Und bisher hielten sie es wohl noch nicht für nötig einzugreifen.“, sagte ich.
„Die beiden sind doch noch Kinder.“, meinte Paul. „Sie sehen zu ihm auf und ignorieren deshalb, dass er sich noch immer wegen Sams Tod so grämt. Sie werden nie was unternehmen, wenn man sie nicht dazu zwingt.“
„Du willst also zwei Telepathen zu etwas zwingen?“, fragte ich, nur halb ernst gemeint. Wir beide wussten, dass Jodie und Ivy niemals jemanden wehtun würden, wenn sie es verhindern können. Außerdem müsste man sie nicht zwingen, sondern sie lediglich dazu überreden John irgendwie zu helfen, indem man ihn manipuliert oder so etwas in der Art. Ich weiß ja nicht, was die beiden Mädchen sonst noch im Repertoire haben.
„Du weißt was ich meine.“, sagte Paul, meinen Scherz verstehend.
„Ich aber nicht.“, sagte John, der aus heiterem Himmel vor uns aufgetaucht war. Dabei hätte ich schwören können, ihn vor einer Sekunde noch am Grab gesehen zu haben. Wie war er so schnell hier her gelangt? Wir saßen doch einige hundert Meter hinter ihm. „Ihr wollt also meine Schwester und meine Tochter dazu nötigen meine Gefühle zu manipulieren, obwohl ich mir alle Mühe gegeben habe ihnen beizubringen, dass man das nicht tut?“
Er mochte uns zwar belauscht haben, aber bestimmt nicht auf die normale, nicht-telepathische Art. Denn ich war mir sicher, dass niemand von uns etwas Derartiges in den Mund genommen hat. Gedacht, ja, aber nicht ausgesprochen.
„Hast du ihnen auch nicht eigentlich beigebracht, dass es unrecht ist, die Gedanken anderer zu lesen?“, fragte ich vorwurfsvoll.
John schmunzelte und setzte sich zu uns unter die gewaltige, grüne Krone des Apfelbaumes, unter dem wir saßen und den Schatten genossen, den er uns spendete. „Wie soll ich sonst herausfinden, was die Männer, die sich meine engsten Freunde schimpfen, hinter meinem Rücken über mich tuscheln?“
„Wir tuscheln nicht.“, sagte Paul. „Wir machen uns nur sorgen.“
„Dann will ich eure Sorgen mal zerstreuen.“, sagte John. „Mir geht es gut – und das sag ich nicht einfach so. Ich habe beschlossen Sam endlich loszulassen. Aber das heißt nicht, dass ich ihn nicht ab und zu besuche.“
„Und warum kann ich dir nicht glauben?“, fragte ich. Unter seiner aufgesetzten guten Laune war deutlich noch Trauer zu erkennen.
„Sorgst du dich um Ivy und Jodie?“, fragte Paul. Und dafür könnte ich ihn Ohrfeigen. Damit liefert er John doch nur eine Ausrede. Er war noch nicht über Sam hinweg und es würde ihm auch nicht helfen, wenn wir das glaubten.
„Du hast Recht, Brad.“, sagte John. „Ich bin über Sam nicht hinweg. Das werde ich nie sein. Nehmt es mir nicht übel, aber er war der beste Freund, den ich je hatte. Und dieser Platz wir für immer seiner sein. Aber ich bin über seinen Tod hinweg. In meinen Gedanken und Träumen hab ich ihn immer wieder gehört, wie er mir damals sagte, kurz bevor er nicht mehr Sam war, dass es nicht meine Schuld sei. Und vielleicht war es nur der Umstand, dass ich eine so gewaltige Mission vor mir hatte, die meine ganze Aufmerksamkeit brauchte, dass ich ihm endlich Glauben schenken konnte, aber so ist es letztendlich. Zwar sehe ich mich noch immer nicht komplett Schuldfrei, aber ich war wohl nicht alleine Schuld. Wir waren beide nachlässig – ich zwar mehr als er, aber wir beide haben in dem Moment nicht richtig aufgepasst. Es ging einfach zu schnell, so wie es oft so ist.“
„Außerdem hast du versucht ihm doch noch das Leben zu retten.“, sagte Paul. John hat nie über Sams Tod oder dessen Umstände geredet. Aber irgendwann machten die Tatsachen doch die Runde, weil Jodie alt genug wurde um Johns Erinnerungen daran zu sehen. Und weil sie damals doch noch sehr jung war, brauchte sie natürlich jemanden, mit dem sie darüber reden konnte, um es zu verarbeiten, da die Szenen bestimmt nichts für Kinderaugen waren.
„Ein kläglicher Versuch, bei dem ich kläglich gescheitert bin.“, sagte John voller Selbstironie.
„Was ich dich schon immer mal fragen wollte…“, fing Paul an, wurde aber von John unterbrochen.
„Ja, ich glaube wirklich, dass es möglich gewesen wäre das infizierte Blut aus seinem Körper zu holen, bevor der Virus alles angreift.“, erklärte er. „Aber ich war zu spät. Ich hatte keine Zeit mehr alles ausfindig zu machen und es rauszuholen. Der Virus war schon zu weit in ihn eingedrungen.“
Obwohl ich spürte, dass mehr zu seiner Traurigkeit beitrug, musste ich das Thema wechseln. Es gab noch einiges zu besprechen, bevor wir morgen früh bei Sonnenaufgang aufbrachen.
„Javier hat mich gebeten…“, fing ich an, wurde aber auch von John unterbrochen. Seiner Tochter und seiner jüngsten Schwester gegenüber benahm er sich wirklich wie ein Heuchler. Ihnen verbat er Gedanken zu lesen, aber er ließ es sich nicht nehmen. Wobei das Zeit sparte, musste ich zugeben.
„Ich sage dir dasselbe, das ich auch Javier gesagt habe.“, sagte John. „Sarah kommt mit. Sie ist wichtig für den Plan. Und darfst ihm auch gerne noch einmal ausrichten, dass ich meine Schwester nicht unnötig gefährden werde.“
„Du betonst selbst immer wieder, dass niemand gezwungen wird zu kämpfen. Aber Sarah…“
„Sarah wird nicht gezwungen.“, beharrte John darauf. „Ihr mögt sie vielleicht alle unterschätzen, und denken, dass sie nicht für sich selbst denken kann, aber da irrt ihr euch. Oft genug hat sie mich gebeten auf eine der Missionen mitkommen zu dürfen, und immer wieder ließ ich sie zu Hause. Es wurde einfacher, als Pablo geboren wurde. Aber der kann sich mittlerweile auch selbst versorgen, obwohl er noch so jung ist.“
„Du denkst es ging ihr darum?“, fragte ich. „Sie ließ sich so einfach von dir überreden, nur weil sie sich um ein Kleinkind kümmern musste? Denkst du nicht, dass aus emotionalen Gründen zu Hause geblieben ist? Oder einfach, weil sie doch zu viel Angst hatte, um mitzukommen?“
„So funktionier sie nicht, Brad.“, erwiderte John. „Sarah reagiert nicht normal emotional wie du, ich, Paul oder sonst irgendwer hier. Bei ihr weiß man nie so richtig woran man ist. Sie kennt das Gefühl der Liebe nicht. Bei ihr ist es eher eine Zugehörigkeit, die sie selbst rational sieht.“
„Das ergibt doch gar keinen Sinn.“, meinte Paul.
„Du sagst also Sarah liebt ihre Familie nicht?“, fragte ich.
„Doch. Aber auf ihre ganz eigenen Weise.“, erklärte John nur dürftig. „Es ist schwer zu erklären. Familienbande ist für sie alles. Dabei sieht sie ganz von Sympathie oder Antipathie ab.“
„Und wie erklärst du dir dann, warum sie mit Javier zusammen ein Kind hat und sie seit fast zwanzig Jahren zusammen sind?“, fragte ich.
„Weil er der einzige war, der das nötige Durchhaltevermögen hatte, zu ihr durchzudringen.“, erklärte John. „Er hat sich unaufhörlich Mühe gegeben und sich mit ihr beschäftig. Ihre Reaktionen auf seine Aktionen haben ihn schließlich dazu verleitet sich in sie zu verlieben. Und er nahm dasselbe auch bei ihr an. Für sie war er aber nichts weiter, als eine Gelegenheit eine Familienbande zu knüpfen, indem sie irgendwann ein Kind bekommen.“
Daraufhin musste ich humorlos lachen. Ich konnte nicht glauben, was er uns da erzählte. Das war doch schwachsinnig. „Das kann doch nicht dein Ernst sein, oder? Sie hat ihn doch nicht zwanzig Jahre lang benutzt, nur um ein Kind zu kriegen. Wenn dem nämlich so wäre, warum ließ sie ihn dann nicht fallen, als Pablo unterwegs war?“
„Ich habe nicht behauptet, dass sie ihn benutzt hat. Sie sah ihn nur als willkommene Gelegenheit etwas zu bekommen, was sie wollte. Und glaubt bloß nicht, dass Pablo das Produkt einer kalkulierten Manipulation war. Anfangs ließ sich Sarah nur aus diesem Grund auf Javier ein. Aber mit der Zeit gewöhnte sie sich an ihn, was bei ihr als Liebe gleichkäme. Und schließlich – auch noch bevor Pablo da war oder auch nur unterwegs – sah sie Javier auch als Teil unserer Familie. Sarahs Gedankenkonstrukte sind oft verwirrend und machen für einen Außenstehenden keinen absehbaren Sinn, nicht mal für mich. Aber für sie funktionier es. Und für Javier auch, obwohl ich ihm das alles auch schon mal versucht habe zu erklären. Für ihn macht es keinen Unterschied. Er liebt sie und ist davon überzeugt, obwohl ich ihm das Gegenteil gesagt hatte, dass sie ihn auch liebt – auch wenn Sarah selbst zu glauben scheint, dass sie Liebe nicht kennt. Das waren seine Worte. Und meine Worte sind, dass sie mitkommt, egal was irgendwer sagt oder behauptet.“
„Behauptet?“, fragte Paul.
„Denkst du, ich weiß nicht, was die anderen über mich reden?“, sagte John. „Erst hielten sie mich für emotional instabil und verrückt, und jetzt halten sie mich für eine Art Diktator, vor dem man Angst haben müsste, und der seine Schwestern und seine Tochter in Gefahr bringt. Glaubt mir, ich weiß was ich tue. Wäre ich nicht absolut sicher, dass Sarah uns wirklich helfen kann, würde ich sie nicht mitnehmen. Und dasselbe galt und gilt immer noch für Jodie und Ivy. Ihr solltet wirklich langsam wissen, dass meine Stärke im Kalkulieren liegt. Das ist bei den meisten Telepathen der Fall. Warum glaubt ihr, dass Sully andauernd beim Kartenspielen gewinnt?“
„Jetzt fängst du damit schon wieder an.“, rollte ich mit den Augen. „Heißt es nicht immer, dass ein Telepath Gedanken lesen können muss, um als Telepath zu gelten?“
„Nicht zwingend.“, meinte John. „Aber Sully kann das durchaus. Auch wenn er nur ansatzweise die Richtung der Gedanken ersehen kann. Das gehört auch schon zum Gedanken lesen. Wisst ihr, es gibt weit mehr Telepathen, als man denkt. Nur die Begabung der meisten reicht nicht aus um überhaupt wahrgenommen zu werden – von sich selbst oder von einem anderen Telepathen.“
„Also bleibt es dabei? Sarah kommt mit?“, fragte ich.
„Ja.“, antwortete John ganz simpel.
„Weißt du, manchmal kann ich wirklich verstehen, dass sie dich oft als Diktator ansehen.“, rutschte es mir raus.
„Brad!“, ermahnte mich Paul.
„Nein, lass ihn ausreden.“, sagte John.
„Na ja, in deine Entscheidungen lässt du dir nie reinreden.“, erklärte ich. „Außer wenn es um das Gefängnis geht, dann berätst du dich mit Norah. Und wenn dich dann doch mal um entscheidest, ist das nur der Verdienst von Jodie oder auch mal von Ivy. Niemand sonst hat hier etwas zu sagen – außer vielleicht Norah und ich, in deiner Abwesenheit. Aber…“
„Aber…?“, trieb mich John an weiter zu reden.
„Aber, dann denke ich daran, was am Ende dabei rauskommt. Und immer scheinen deine Entscheidungen alles zum Guten gewendet zu haben, auch wenn es anfangs nicht zu ersehen ist, wie es sich noch zum Guten wenden kann. Also schätze ich, tun wir gut daran dir weiterhin zu folgen.“
Nach einer kurzen Pause gefüllt mit nichts als Schweigen, sagte John, „Es bedeutet mir viel, dass du so denkst. Ich weiß nämlich oft nicht, ob mein Auftreten so gut ist, wie das meines Vaters war. Besonders, weil mich viele als Diktator ansehen.“
„Das würden sie nicht, wenn sie mal die Augen aufmachen und nachdenken würden.“, sagte Paul.
Nach einer weiteren Pause sagte ich, „Da gibt es noch etwas, dass ich mit dir besprechen wollte. Und zwar Rick…“, wieder wurde ich unterbrochen.
„Rick geht es nicht besonders gut, das weiß ich.“, sagte John. „Aber das liegt nur daran, dass er sich um Ivy sorgt. Wenn es übermorgen darauf ankommt einen kühlen Kopf zu bewahren, um die Mission erfolgreich abzuschließen, bin ich mir sicher, dass er das ohne große Probleme hinbekommt. Und sollte er morgen immer noch so niedergeschlagen und nervös sein, werde ich mir überlegen, ob ich nicht etwas dagegen unternehme. Zufrieden? Denk daran, dass du immer im Nachhinein meine Entscheidungen gut heißt.“
Auf seinen Scherz ging ich nicht ein. War aber zufrieden, dass er sich notfalls um Rick kümmern würde, damit seinetwegen niemand leiden müsse. „Und Nick…“, wieder wurde ich unterbrochen. Nick war auch so ein Wackelkandidat, der Probleme verursachen konnte, weil seine Freundin seit Tagen nun schon in dieser Stadt ist und das Leben eines Sklaven lebte.
„Was meinst du?“, fragte John. Seine Stimmung änderte sich schlagartig von scherzhaft aufgelegt zu wütend. „Machst du dir sorgen, dass Nick wegen seiner verbotenen Trinkerei Probleme macht, oder weil er meine Schwester betrogen hat?“
„Nick hat sie betrogen? Wann das denn?“, fragte Paul entsetzt.
„Ein paar Tage, bevor sie aufgebrochen ist hat es angefangen. Und es blieb nicht bei dem einen Mal. Obwohl ich ihn nach dem ersten Mal, bei dem ich ihn erwischt hatte, ausdrücklich gewarnt habe.“
„Weiß sie davon?“, fragte ich, denn aufgefallen ist mir auf unserer ersten Fahrt zur Sklavenhalterstadt nichts.
„Nein. Aber ich hab ihm gesagt, dass wenn er es ihr nach der Mission nicht sagt, werde ich das übernehmen.“


30


An mir war es nun einige der Sklaven in unseren Plan einzuweihen, damit sie unsere Leute unbemerkt in die Stadt hoch holten. Schon seit Tagen überlegte ich, wem ich diese Aufgabe zutrauen konnte. Natürlich würden die meisten hier besessen darauf sein zu helfen, wenn sie dachten, dass wir eine Chance gegen die Sklavenhalten stünden. Und ich schätze das würden sie so einschätzen, wenn ich ihnen erzählte, dass wir zwar in der Unterzahl waren, aber gut bewaffnet waren, sich außerdem noch vier Telepathen statt nur drei wie auf der Gegenseite auf unserer Seite befanden. Und noch dazu würden die meisten der Stadtbewohner ohnehin in der Arena eingesperrt sein. So waren wir in gewisser Weise doch in der Überzahl, besonders wenn sich einige der Sklaven noch mit uns zusammen taten.
Das Problem bestand darin, dass ich die möglichen Helfer, die ich brauchte um unsere Leute in die Stadt einzulassen, ein paar Stunden vor dem eigentlichen Angriff einweihen musste. So bestand also die Möglichkeit, dass die drei Brüder womöglich etwas erfahren könnten. Demnach durften meine Helfer möglichst nicht an den Plan denken, bevor ich ihnen nicht das Zeichen gab, dass wir loslegen. Denn aufsteigende Freude bei einem Sklaven konnte die Aufmerksamkeit ganz schnell auf uns ziehen. Und das konnten wir ja nun gar nicht gebrauchen.
Zwei Stunden bevor der Kampf, mit dem Ivy die Stadtbewohner in der Arena ablenken sollte, begann, wurden die Sklaven in ihre Quartiere geschickt. Doch vorher sollten sie ihre Arbeitsmaterialien aufräumen, wie sie es jeden Abend bei Sonnenuntergang taten – manche sogar erst weit danach. Das war die perfekte Gelegenheit meine Auserwählten einzuweihen. Bei jedem einzelnen von ihnen war ich mir sicher, nicht auf taube Ohren zu stoßen, wenn ich ihnen von unseren Plan erzählte. Ich hatte mir nicht viel Zeit gelassen um sie zu beobachten, aber in der kurzen Zeit wurde ich von ihren Gedanken überzeugt, dass sie so ziemlich alles tun würden um eine Chance hier raus zu bekommen. Also spielte ich ein wenig mit ihrem freien Willen und ließ sie hinter dem Strom der Sklaven, die in ihre Quartiere gingen, hinter her schludern, sodass wir die letzten waren, die außer Sichtweite der Wachen auf dem Dach unseres Wohngebäudes standen, damit ich mit ihnen reden konnte.
Willy war einer von ihnen. Ich war mir ehrlich gesagt etwas unsicher, was er dazu sagen würde. Immerhin hatte er zwei Töchter, auf die er Acht geben musste. Aber genau wegen seiner Töchter wollte er die Freiheit. Doch wie viel wollte er dafür aufs Spiel setzen? Genug um mir zu helfen? Versprechen konnte ich ihm ja, dass seine Töchter in weniger als zwei Stunden auf dem Weg in die Freiheit waren. Und das ohne, dass sie durch diese Armbänder aufgehalten wurden. Denn das gehörte auch zu meinen Aufgaben. Ich sollte herausfinden, wie man diese Armbänder los macht oder zumindest deaktiviert. Ich hielt es für klüger das letztere von beiden zu forcieren. Und ich habe es geschafft. Meines war schon seit Tagen inaktiv – genau wie Ivys, weil ich es ihr mit meinen Gedanken gezeigt hatte. Mit dem bisschen Telekinese zu dem ich fähig war, hatte ich mir zunächst das Innenleben angesehen um zu verstehen, wie es überhaupt funktionierte. Dabei erkannte ich, dass darin eine Flüssigkeit, ein Medikament war, dass bei Eintritt in die Blutlaufbahn zur Bewusstlosigkeit führt. Mit einer Nadel wird das Medikament unter die Haut in den Blutkreislauf transportiert. Also hielt ich es für das Beste telekinetisch das winzige Behältnis der Dosis, die einen Menschen mehrere Stunden außer Gefecht setzen konnte zum Zerbrechen zu bringen, damit die Flüssigkeit auslaufen konnte. Natürlich half ich dabei nach, sodass ja kein Tropfen mehr übrig blieb. Uns konnten sie nun nicht mehr ausknocken. Uns, und viele andere auch nicht mehr. Bei Sklaven in meiner Nähe hatte ich schon angefangen die Armbänder zu deaktivieren, sodass ich später, wenn wir kämpfen müssen, nicht in Stress gerate.
Neben Willy sah ich in den Brüdern Flynn und Ian eine große Hilfe. Beide waren sie Kämpfer, die sich sogar dann für andere einsetzen, wenn sie eine harte und brutale Strafe von ihren Besitzern zu erwarten hatten. Außerdem waren sie zwei der wenigen, die immer mal wieder einen Fluchtversuch unternahmen, und nicht nur am Anfang, wenn sie gerade frisch hier her gekommen sind. Aber seit Ian nun Vater einer kleinen Tochter ist, mussten sie sich zurückhalten. Denn eine Flucht mit einem neugeborenen Baby gestaltete sich noch viel schwieriger als ohne. Und wenn sie wieder geschnappt würden, wie es bisher immer der Fall gewesen war, hätte Ian zu befürchten seine Tochter zu verlieren. Mit dem Leben eines Neugeborenen, das nichts weiter konnte als essen, schlafen und pupsen, ging man leichtfertiger um, als mit dem Leben einer aktiven Arbeitskraft, die die erwachsenen Sklaven darboten. Auch Flynn musste sich wegen seiner Nichte zurückhalten, da ihr dann die gleiche Strafe blühte, wenn man ihn erwischte. Und Flynn würde nichts tun, was seine geliebte Nichte in Gefahr bringen würde.
Außerdem betraute ich noch Isaac und Eli mit der Aufgabe mir zu helfen. Sie waren auch Brüder, aber doppelt so alt wie Flynn, Ian, oder auch ich. Unter den Sklaven galten sie als etwas merkwürdig, wohingegen die Sklavenhalter sie für vollkommen für verrückt hielten. Isaac und Eli waren Juden und lebten dies auch so gut sie es bewerkstelligen können aus. In der heutigen Zeit gab es nicht mehr viele Religionsangehörige, denn sie haben sich in zwei Kategorien aufgeteilt. Die einen glaubten nicht mehr an Gott, weil sie einfach schon zu viel Leid, Tod und Grauen gesehen haben. Welcher Gott tut schon so etwas? Selbst wenn sie glaubten, dass es überhaupt einen Gott gab, haben sie das Vertrauen in ihn verloren und ihn fallen lassen. Die andere Gruppe wurde zu religiösen Faschisten. Südöstlich unserer Kolonie, weit weg, gab es eine Gemeinde, die strenggläubig nach der Bibel lebte. Aus irgendwelchen Trümmern einer Kirche oder Kathedrale haben sie ein vergilbtes Exemplar geborgen und bauten nun ihr ganzes Leben um dieses Buch. Die meiste Zeit über beteten sie zu Gott, damit er sie aus dieser Hölle auf Erden möge befreien. Frauen, die ungebunden an einen Mann, ein Kind bekommen waren verachtet und wurden oft sogar mitsamt Kind in das Ödland geworfen, wo sie früher oder später von Zombies angegriffen und getötet werden. In dieser Gemeinde lief so einiges schief, weshalb wir uns so weit wie möglich von ihnen fernhielten. Einmal, ich war noch viel jünger als jetzt, haben wir versucht Vernunft in die Leute einzubläuen, es hat aber nichts gebracht. Sie wollten so leben, sogar die Familien, die eine Tochter verloren hatten, weil diese unverheiratet schwanger geworden ist.
Wie dem auch sei, Isaac und Eli waren keine Faschisten. Sie waren relativ normal, soweit ich das beurteilen kann. Das einzige was einem an den beiden missfallen könnte war, dass sie ständig von Gott redeten und wie sie auf ihren Messias warteten, der sie bestimmt irgendwann aus der Sklaverei holen wird und sie vor den Zombies beschützt. Erst von den beiden hatte ich gelernt, dass Jesus nicht der Messias der Juden war – nicht dass ich mir viel aus Religion mache. Wenn es einmal einen Gott gegeben hat, haben die Menschen ihn bereits getötet. Das musste einfach so sein, sonst könnte sie ja wohl nicht die Toten zu einer Art Leben wieder erwecken. Das ist meine Meinung, oder auch Glaube.
Jeden den ich ausgesucht habe, trieb etwas besonders an nicht an den Plan zu denken, damit er funktionieren würde. Wie es bei Willy die Sicherheit seiner zwei Mädchen war, war es bei Flynn und Ian die Sicherheit für Ians Tochter und dessen Mutter. Isaac und Eli wurden durch ihren Glauben bestärkt, der zum Glück nicht so weit ging, dass sie dachten, sie müssen nur auf ihren Messias warten, damit er sie einfach in ihre Freiheit entließ. Nein, sie glaubten, dass ihr Messias, auch wenn sie ihm nicht begegnen – sie glauben nämlich nicht, dass ich das bin, oder John – einfach durch sie handelt. Und bei den Schwestern Beatrix und Blair – es war ein absoluter Zufall, dass ich hauptsächlich Geschwister ausgewählt hatte – war es der Hass auf diese Stadt und dem, was ihnen angetan wurde. Ich konnte sogar darauf bauen, dass sie hinterher, wenn alle unsere Leute hier waren, mit uns kämpfen würden. Doch dann müsste ich aufpassen, dass sie niemanden töten, da wir darauf aus waren, erst einmal nur Gefangene zu machen. Vielleicht könnte ich ihnen versprechen nach Johns Urteil ein paar Hinrichtungen, die es ohne Zweifel geben wird, zu vollziehen.
Als ich die sieben auf dem Dach einweihte, waren sie anfangs überrascht, dass sich hier jemand einschleusen würde, der aus Freiheit stammte, um anderen Sklaven zu helfen. Aber so war es nun einmal. Nicht überall ist das Gute im Menschen erloschen. Es gab immer irgendwo noch einen Funken Hoffnung. Man musste nur lange genug ausharren um auf diesen Funken zu stoßen, wenn man ihn sich nicht selbst erzeugen konnte. Als nächstes musste ich ihnen versichern, dass wir eine reelle Chance hatten tatsächlich zu gewinnen. Dabei erzählte ich von den zwei Telepathen, die schon auf den Weg hier her waren, und ich enthüllte ihnen, dass nicht nur Ivy ein Telepath war, sondern ich auch. Das überzeugte Isaac, Eli, Beatrix und Blair vollkommen. Nur Willy, Ian und Flynn zögerten noch, die einzigen, die jemanden zu verlieren hatten. Wobei ich Flynn ansah, dass er fast so weit war, dass er einwilligte zu helfen. Die andern beiden riss ich mit, als ich ihnen versicherte, dass ihre Familien in Sicherheit gebracht würden, bevor der Richtige Kampf überhaupt begann. Es half auch, dass ich ihnen zeigen konnte, dass es mir möglich war die Armbänder zu deaktivieren. Ich hatte für den Fall einer nötigen Vorführung die Armbänder der Sieben noch nicht manipuliert, sodass ich es ihnen am eigenen Leib zeigen konnte. Einem nach den anderen lief das flüssige Medikament das Handgelenk hinunter, nachdem ich die innere Kapsel, die es unter Verschluss hielt sabotierte.
Nach meiner Vorführung willigten alle begeistert ein. Nur Willy wirkte etwas unsicher, was ich durch und durch verstehen konnte. Seine beiden Mädchen hatten immerhin nur noch ihn, ihre Mutter war schon lange tot. Aber ich schaffte es ihm Mut zu geben, mit einem einzigen Blick. Sofort schien es ihm besser zu gehen. Und irgendwo in mir drinnen gab es die versteckte Hoffnung, dass es mit seinen Gefühlen für mich zu tun hatte. Seit wir vor einigen Tagen miteinander geschlafen haben, hatten wir kaum Zeit füreinander. Ich hatte viel mit meinen Vorbereitungen für heute zu tun, und er wollte es doch lieber langsam angehen lassen, wegen seiner Töchter, von denen er nicht wusste, wie sie auf eine neue Frau in seinem Leben reagieren würden. Ich musste zugeben, dass es besser so war. Immerhin hatte ich einen Freund zu Hause – den ich heute Nacht sogar wieder begegnen würde und ich wusste noch nicht, wie ich dann reagieren sollte. Erst muss ich die Sache mit Nick klären, bevor ich bei Willy weiter gehen konnte. Es war keinem von beiden fair gegenüber. Natürlich musste ich das wenigstens solange aufschieben, bis wir wieder zu Hause in Sicherheit waren. Aber es war schon mal gut, dass ich mich entschieden habe, was ich überhaupt wollte, nämlich Willy. Sogar seine Mädchen mochte ich sehr gerne, und ich glaube, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte, auch wenn sie vielleicht anders reagieren werden, wenn sie das von mir und ihrem Vater hören, wie Willy meinte.
Ich schickte meine sieben Auserwählten zurück in ihre Quartiere. Dort sollten sie warten, bis sie meine Stimme in ihren Gedanken hören. Dann sollten sie mich auf dem Dach treffen, wo wir unsere Leute dann von beiden Brücken, jeweils zwei Personen auf einmal nach oben holen werden. Sobald etwa die Hälfte von uns oben war, würden wir die ersten, die wir nicht bei den Kämpfen dabei haben wollten aus der Stadt, wo sie von einigen unserer Leute in die alte Feuerwache zwei Stunden von hier gebracht werden. Darunter fielen die Kinder natürlich und die, die zu schwach waren um zu kämpfen. Und weil wir niemanden zwangen zu kämpfen, durfte jeder sonst auch gehen, der wollte, niemand würde es ihnen übel nehmen, da wir wissen, was sie alles durchgemacht haben mussten.
Auch ich verzog mich in mein Zimmer. Dort versetzte ich mich in tiefe Konzentration, um einerseits Johns Schritte zu verfolgen, der nicht mehr lange brauchte, bis er mit unseren Leuten hier war, und um Ivy zu beobachten, die sich langsam für ihren Kampf bereit machte. Ivy war fest entschlossen den eigenartigen Zombie zu töten, damit sie Sireno Wut auf sich zog, sodass er nicht aufpassen würde, was in seiner Stadt geschieht. Sie rechnete sogar damit, dass Sireno womöglich selbst auch in den Ring steigen würde, wenn sie erst einmal seinen Zombie getötet hatte. Denn nicht nur ihr war klar, dass er seinen Zombie heute Nacht nicht zurückhalten würde, so wie er es beim letzten Mal getan hat. Die Geduld, die er für dieses Spiel aufbrachte, neigte sich sehr bald dem Ende zu.

Ich spürte, wie Ivy in den Käfig gerufen wurde, der sie aus dem Untergeschoss hoch in diese Arena bringen sollte. Zur selben Zeit, als Ivys Käfig in die Höhe manövriert wurde, wurde auch ich in die Höhe manövriert. Mit einem Fuß steckte ich in den Schlaufe eines Drahtseils und hielt mich mit beiden Händen daran fest, als ich durch einen Mechanismus auf die Brücke, die zwei Dächer von Gebäuden miteinander verband, gezogen wurde. Norah, Brad und Sarah wurden an den anderen drei Drahtseilen hochgezogen. Oben angekommen drückte ich Jodie erst einmal. Nach der langen Zeit, die wir uns nicht mehr richtig gesehen hatten, fühlte es sich wundervoll an die jüngste meiner beiden Schwestern wieder sicher im Arm zu halten. Für die fünf Männer und zwei Frauen, die ihr halfen die Mechanismen zu bedienen um uns in die Stadt zu holen, hatte ich nicht mehr als ein kurzes Kopfnicken zur Begrüßung übrig – wir hatten es eilig. Ivy hatte sich schon still in ihren Käfig gelegt und wartete darauf, dass auch der Zombie in den Ring kam.
Sie verfolgte ihren Plan und wir mussten unseren verfolgen.
Jodie zeigte mir mit ihren Gedanken noch einmal den Weg durch die Stadt und zur Arena, was gar nicht nötig war. Ein Telepath vergisst nicht ohne Fremdeinwirkung. Nur ein anderer Telepath kann einen Telepathen etwas vergessen machen, indem er seine Erinnerungen manipuliert.
Ich nahm Sarah an die Hand, damit wir zügig an unser Ziel kamen und ich sie nicht unterwegs verlor. Norah und Brad gingen hinter uns her. Zuerst hatte ich überlegt, ob die beiden uns nicht den Weg frei machen sollten, hab mich aber dann doch anders entschieden. Ihre Waffen machen zu viel Krach, was nur zu viel ungewollte Aufmerksamkeit auf uns ziehen würde. Außerdem war es sicherer, wenn ich das telepathisch erledigen würde und mögliche Wachen einfach ausknocke. Die beiden mussten sie dann nur noch entwaffnen und fesseln, während ich mich mit Sarah schon um den nächsten kümmere.
Als wir an die erste Stahltür kamen, die der Eingang zur Stadt war, bot sich allerdings schon das erste Problem. Aus irgendeinen Grund war die Wache, die die Tür bewachte bereits bewusstlos, aber nicht, bevor sie nicht die Tür geöffnet hatte. Es dauerte eine Sekunde, bis ich realisierte, dass es Sarah war, die mir zuvorgekommen ist. In ihrem Blick konnte ich sogar erkennen, dass sie sich bereits auch schon um die zweite Wache am unteren Posten gekümmert hatte. All die Jahre hatte ich befürchtet, dass sie nicht für solche Missionen geschaffen war, weil sie sich manchmal selbst nicht unter Kontrolle hat. Aber heute musste ich erkennen, dass das genaue Gegenteil der Fall war. Wie Jodie und ich, war auch Sarah durch und durch das Kind unseres Vaters. Wir alle schienen wie geboren für diese Art von Leben zu sein, in dem wir durch die Gegend zogen und einen Sklaven nach dem anderen befreiten, auch wenn wir uns insgeheim ein ruhiges Leben ohne Zombies, Tod und Leid wünschten.
Vorsichtig schob ich die untere Stahltür auf. Die Nacht war bereits über uns hereingebrochen und Ivy würde jeden Augenblick ihren untoten Rivalen in der Arena begrüßen. Sie war sich sicher, jetzt wo sie wusste worauf sie sich einstellen musste, was sie erwarten würde, würde sie mit ihm fertig werden. Aber ich war mir da nicht so sicher. Dieser Zombie war etwas noch abnormaleres als die Zombies ohnehin schon waren. Zum einen, weil er sich viel mehr wie ein Mensch bewegt. Und zum anderen schein er logisch denken zu können. Trotzdem konnte man ihn nicht als Menschen bezeichnen. Nur als böse. Und deshalb muss ich Sarah so schnellst wie möglich in Position bringen, damit sie nicht nur unsere Leute vor den drei telepathischen Brüdern bewahrt, sondern auch ein Auge auf Ivy hat. Auch wenn Sarahs Fähigkeiten sich in mancher Hinsicht zu beschränken scheinen, in ihrem sozialen Leben zum Beispiel, so konnte ihr niemand das Wasser reichen, wenn es darum ging ihre Fähigkeiten einzusetzen – selbst sie selbst nicht, was sie oft auch so gefährlich machte. Aber für heute Nach hatte ich ein gutes Gefühl. Die einzigen die ihr annähernd gefühlsmäßig etwas bedeuten sind zu Hause in Sicherheit geblieben. Somit kann sie nichts insoweit erschüttern, dass sie außer Kontrolle geraten könnte.
Die Straße war leer. Aber nicht für lange. Eine mobile Wache spazierte gerade durch eine Seitengasse zwischen zwei Häusern und befand sich auf direktem Weg zu uns. Wir mussten uns also beeilen. Glücklicherweise war es nur ein Katzensprung bis zur Arena, in der sich der Großteil der Stadtbewohner eingefunden hat. Unser Ziel war jedoch etwas weiter, das Nebengebäude. Von dort aus wollten wir Sarah auf das Dach der Arena bringen, wo sie die perfekte Position für ihre Aufgabe innehaben würde. Mit Sarah an meiner Hand huschten wir durch die halbdunkle Stadt, deren fast makellosen Straßen von Laternen erleuchtet wurden. Hätte ich diese Informationen nicht schon vorher aus Jodies Gedanken erhalten, wäre ich wohl für einen Moment stehengeblieben und hätte gestaunt. Woher bekamen sie nur genügend Strom um die Stadt so erleuchten zu können? Bevor ich nach unserer Mission wieder nach Hause fahre, muss ich mich hier zuerst mal richtig umsehen, ob wir uns von dieser Stadt nicht etwas abschauen können.
Norah und Brad folgten uns leise. Beinahe hätte die näherkommende Wache sie gesehen. Aber als der einsame Wachmann, der ohnehin nicht sonderlich wachsam war, um die Ecke bog, waren sie schon sicher in unserer Straße, die zu unserem Ziel führte. Niemand sonst begegnete uns, bis wir das Nebengebäude der Arena, aus der Gejohle und Pfiffe hervortönten. Hat der Kampf schon begonnen? Nein. Ivy war noch immer alleine in der Arena. Und sie lag noch immer in ihrem Käfig, sich nicht rührend. Diesen Teil ihres Plans hielt ich für etwas überzogen. Aber sie hatte gute Arbeit geleistet, und hatte sich eine Belohnung verdient. Außerdem konnte es diesen Sireno nur weiter von unseren Taten in seiner Stadt ablenken, wenn sie ihn vor all den anderen so vorführt, wie sie es vorhat. Er wird rasen vor Wut. Und deshalb war es auch so wichtig, dass Sarah ein Auge auf Ivy hat.
Das Haus, das wir jetzt betraten, war nicht leer. In der zweiten Etage spielten drei Kinder. In der vierten schnarchte ein alter Mann vor sich hin. Weil ich keinen von ihnen verletzen wollte, mussten wir uns so vorsichtig und unbemerkt wie möglich an ihnen vorbei schleichen. An dem Mann kommen wir sicher ganz leicht vorbei, die Kinder bereiteten mir Sorgen. Sie verließen immer wieder ungestüm ihre Wohnungen, rannten über den Flur und liefen in die nächste Wohnung. Sie spielten fangen. Es wird nicht einfach unbemerkt an ihnen vorbei zu kommen.
„Was ist?“, fragte mich Brad, als ich mit Sarah auf der halben Treppe stehen blieb. Ich drückte uns beide an die Wand und bedeutete Brad und Norah es mir gleich zu tun.
Vielleicht würden die Kinder einen Moment in einer der Wohnungen bleiben, sodass wir schnell über den Flur und auf die nächste Treppe huschen können. Aber nein, sie liefen zu wild umher, als dass ich grünes Licht geben könnte.
Dann, plötzlich, hörte ich drei dumpfe Aufschläge und fühlte die leichte Vibration des Bodens unter meinen Füßen. Ich war mir erst sicher, als ich nach ihren Gedanken suchte. Die Kinder wachten verwirrt auf. Alle drei waren sie unerklärlicherweise zu Boden gesackt. Unerklärlich für die drei – Sarah. Sie meinte es gut, und die Kinder waren bis auf einen schmerzenden Kopf oder blaue Flecken unversehrt, aber das konnte ich ihr nicht so einfach durchgehen lassen. Doch darum musste ich mich später kümmern, wenn alles vorbei war. Jetzt galt es erst einmal Sarah aufs Dach zu schaffen, damit Ivy und unseren Leuten nichts passiert. Wir huschten schleunigst die nächste Treppe hinauf, als die Kinder sich noch immer verdattert von ihrem plötzlichen Sturz fragend gegenseitig anstarrten. An dem Mann kamen wir ohne Probleme vorbei, er schnarchte gemütlich weiter vor sich hin. Und schließlich schafften wir es an die Tür, die uns zum Dach führen würde, wäre sie nicht verschlossen. Also konzentrierte ich mich. Es war nicht das erste Mal, dass ich mit meinen telekinetischen Fähigkeiten ein Türschloss knackte, und eigentlich konnte ich es auch ohne, nur mit Werkzeug, aber diesmal tat ich es so. Auch wenn es anstrengend und leicht ermüdend war, so ging es doch schneller als mit Werkzeug. Und mir lief allmählich die Zeit davon, denn just in diesem Moment wurde in der Arena der Käfig mit dem Zombie hochgefahren. Ich konnte Ivy nicht noch einmal ohne Hilfe gegen dieses Ding antreten lassen, nicht wenn ich so nah bei ihr war, und nicht, nachdem er sie das letzte Mal beinahe zerstört hatte.

Meine nervliche Anspannung war jetzt bestimmt auch von Sireno zu spüren, als die Geräusche eines zweiten hervorkommenden Käfigs aus dem Boden der Arena ertönten. Aber das war noch zu wenig. Ich ließ meinen Körper zusammenzucken und verkrampfen und spielte meine Angst so hoch, wie ich nur konnte. Ich wollte Sireno einen Schockmoment verpassen. Vom Angsthasen zur eiskalten Zombiekillerin, die ihn auch noch herausfordert. Oft habe ich mir vorgestellt, wie sein Gesicht wohl aussehen wird, wenn ich ihm sein totes Experiment vor die Füße werfe. Ich bin froh, dass ein Telepath nichts vergisst, denn seinen Gesichtsausdruck möchte ich bestimmt nie wieder vergessen. Das wird einmalig. Aber jetzt musste ich meine Vorfreude noch runterspielen, damit er mir abkauft, dass ich starr vor Angst bin.
Ich schob mich immer weiter in den engen Käfig, als der andere Käfig, der den Zombie in den Ring brachte, zum Stillstand kam. Ein leises Wimmern – aber immer noch vernehmbar, durch die gespannt jubelnde Menge des Publikums – lies ich von mir aufsteigen. Komm schon, du Missgeburt, dachte ich, komm und hol mich. Ich will endlich anfangen.
Aber nichts tat sich. Der Zombie blieb in seinem Käfig, genau wie ich. Was war los? Hatte Sireno mich etwa durchschaut und wartet nun, bis ich meine Scharade aufgebe, bevor er das Ding auf mich hetzt? Nein, nichts unternehmen, ermahnte ich mich selbst. Erst mal abwarten was er tut. Angstrengt lauschte ich, ob ich etwas von Sireno wahrnehmen konnte. Aber nichts, er sagt nichts und bewegt sich nicht. Sogar in seine Gedanken versuchte ich einzudringen – natürlich vergeblich, er blockiert mich noch immer.
Dann dachte ich, Sarah! Sie steht zusammen mit Norah auf dem Dach und wacht wohl über mich, während Dad und Brad sich über das Nebengebäude zurück auf die Straßen der Stadt schlich. Etwas stimmte aber nicht. Sarah tat gar nichts, das spürte ich. Sie stand nur dort oben herum und machte irgendwas mit ihren Gedanken, das ich nicht verfolgen konnte. Versuchte sie in Sirenos Gedankenwelt einzudringen? Schafft sie es womöglich sogar? Versucht sie Dad und Brad zu decken? Weiß Sireno, dass sie hier sind? Nein, es ist etwas anderes. Aber was?
„Töte sie.“, sagte Sireno gerade so laut, dass man ihn in der Stille, die das schweigende Publikum erzeugte, hören konnte. „Aber langsam.“ Er hat nur nachgedacht, was er mit mir anstellen soll! Natürlich musste ja so etwas dabei heraus kommen. Selbstverständlich wusste ich schon zuvor, dass ich nicht sonderlich hoch im Kurs bei Sireno stand. Ich rechnete es sogar in meinen Plan mit ein, dass er das Biest auf mich hetzte. Anders würde es nicht funktionieren – oder auch nur Sinn ergeben. Sireno ist äußerst berechenbar, wenn man erst einmal genug seiner Geheimnisse kannte.
Ich beobachtete die Schritte, die das untote Monster auf mich zu machte. Wie beim letzten Mal, langsam, berechnend und kontrolliert. Er schien es wirklich zu genießen, wie ein richtiges Raubtier, das auf der Jagd nach etwas schwächeren ist. Als er in mein Blickfeld trat, sah er mir sogar direkt in die Augen. Nein, es war sicher keine Einbildung. Seine milchig-glänzenden Augen kreuzten genau meine. Er suchte meinen Blickkontakt. Damit machte er mir nun wirklich Angst und es kostete mich alles mich nicht zu rühren. Am Käfigeingang lehnte er sich mit seinen langen Armen an beiden Seiten an und starrte zu mir runter auf den Boden. Die Zuschauermenge war genauso gebannt wie ich. Eine Stecknadel könnte man jetzt auf den sandigen Boden fallen hören. Dann ließ er sich genüsslich zu mir runter gleiten, bis er auf Händen und Knien war. Immer näher kroch er an mich heran, bis sein Gesicht ganz nah an meinem war. Ich konnte mich in seinen Augen spiegeln sehen und erkannte dabei, wie weit meine eigenen Augen in Horror aufgerissen waren. Ich traute mich nicht atmen, als er seinen Kopf auf meinen Körper hernieder senkte. Er beschnüffelte mich. Seine Nase striche ganz leicht über meine Haut, die sofort vor ihm zurückzuckte. Schließlich harrte er an meinem Bauch aus.
Bis dahin hatte ich nicht gemerkt, wie fest ich doch meine Finger um die mich umgebenen Gitterstäbe geschlungen hatte. Doch jetzt ließ ich ruckartig los. Angst und Adrenalin schossen mir durch den Körper und schienen meine Arme ganz von selbst zu bewegen, ohne dass mein Gehirn, das unter Schock stand, auch nur den Befehl dazu geben konnte. Meine Hände schnellten blitzartig an den Kopf des ungewöhnlichen Zombies gerade, als er sein Maul aufmachte, um seine Zähne in mich zu vergraben. Er konnte nichts weiter tun, als es über sich zu ergehen lassen. Ich drehte ihm den Kopf um hundertachtzig Grad, bis ein Knacken zu hören war. Erst dann fasste ich wieder den Mut Sauerstoff in meine Lungen zu ziehen und auch wieder auszuatmen. Als sich in der Zuschauermenge und bei Sireno noch immer nichts tat, stemmte ich meine Knie gegen die Schultern des Zombies und zog an seinem Kopf. Es kostete mich einige Mühe die beiden Teile voneinander zu trennen, und es ging auch nicht ohne telekinetisch etwas nachzuhelfen, aber schließlich schaffte ich es den Kopf vom Körper zu trennen.
Das Gemurmel fing an, als ich samt Zombiekopf unter dem Rest des Monsters aus meinen Käfig hervor kletterte. Den Kopf hatte ich bei seinen ungepflegten Haaren gepackt, damit ich ja nicht zu viel davon anfassen musste als unbedingt nötig, um meinen Standpunkt klar zu machen. Ohne Sireno lange suchen zu müssen, weil ich ihn schon zuvor gefunden hatte, fand ich sein erstarrtes Gesicht in der Menge. Er konnte nicht glauben, was ich gerade getan habe. Wahrscheinlich war diese Monster so etwas wie ein Kind für ihn. Immerhin hat er es erschaffen. Und weil man ein Kind nicht von seinem Vater fern halten sollte, warf ich den Kopf des Monsters zu ihm hoch. Er prallte am Gitter ab und stürzte wieder zu Boden.
„Und?“, fragte ich ihn herausfordernd. „Hast du noch mehr davon auf Lager? Der hier war ja keine große Herausforderung.“ Vielleicht schaffe ich es sogar, dass Sireno selbst zu mir in den Ring steigt. Damit sollte ihm mit Sicherheit entgehen, was außerhalb der Mauern dieser Arena in seiner Stadt vor sich ging. Auch seine Brüder Ira und Dino sollten davon abgelenkt sein. Nur erwartet mich ein Problem, wenn sie plötzlich beschließen sollten, dass alle drei auf einmal gegen mich kämpfen wollten. Dann, musste ich mir eingestehen, hatte ich sicherlich nicht den Hauch einer Chance. Mit einem würde ich fertig werden. Bei zweien wäre es eine haarige und knappe Sache. Aber bei dreien, konnte ich mir schon gleich mein Grab schaufeln.
Aber Sarah war ja noch auf dem Dach! Hatte Dad sie deshalb dort raufgestellt? Hatte er es vorhergesehen?
Da hörte ich, wie alle andern auch, den ersten Schuss der Nacht. Und ich war mir sicher, dass es nicht der letzte sein würde. Jetzt fing meine Aufgabe an so richtig schwierig zu werden. Wie sollte ich nur alle hier drinnen festhalten?


31


Etwa ein Dutzend Leute schlichen außerhalb der Arena oder ihrem zu Hause durch die Stadt. Es dauerte nicht lange, bis wir einen nach den anderen aufgespürt und lautlos außer Gefecht gesetzt haben. Immer ein Team, bestehend aus zwei Personen schickte ich los um eine Person zu fangen. Den Rest schickte ich in die Häuser um die Leute dort gefangen zu nehmen. Ich war besonders stolz darauf, dass wir alle so lautlos in unserem Plan voranschritten.
Doch dann ging etwas schief, in einem der Häuser. Südöstlich innerhalb der Stadtmauern war mehr los als in jedem anderen Haus. Dort waren nicht einfach nur Kinder oder zu alte Leute, die keinen Nerv für eine nächtliche Kampfshow hatten. Dort waren hauptsächlich halbwüchisge, die aber nicht die Kinder der Sklavenhalter waren. Sie sahen zwar etwas besser aus als die anderen Sklaven, aber waren dennoch als solche zu erkennen, in ihrer ausgemergelten Erscheinung.
Es war keiner der Halbwüchsigen, der auf uns schoss, sondern ein Mann, der vielleicht nur ein paar wenige Jahre älter war als ich selbst. Schon durch das Fenster eines der oberen Geschosse schoss er, als er uns unbekannte, die wir für ihn waren, durch die Stadt schlichen und Gefangene in den mittleren Kern der Stadt brachten, den sie Hauptmarkt nannten. Der Mann traf Paul an der Schulter. Es war zum Glück nur ein Streifschuss, aber das hinderte Eric nicht daran das Feuer sofort zu erwidern. Und genau damit brach das Chaos aus.
Ich schickte vier Leute in das Haus um die Kinder erst einmal gefangen zu nehmen, damit sie uns nicht in die Quere kommen. Ich war bestimmt kein Monster, das unschuldige Kinder einfach tötet, schon gar nicht, wenn diese Kinder ganz offensichtlich selbst auch Sklaven waren. Aber sie würden weder uns noch sich selbst einen Gefallen tun, wenn sie panisch durch die Stadt rennen und uns womöglich auch noch vor den Lauf unserer Waffen laufen. Deshalb mussten sie sicher aus dem Weg geschafft werden, bis alles vorbei ist, und wir sie dann in vollkommene Sicherheit bringen können – falls sie uns dann noch vertrauen.
Instinktiv überprüfte ich die Arena. Man hatte den kurzen Schusswechsel gehört und Panik brach in der Arena aus. Die ersten, die dem Ausgang der Arena am nächsten waren, stürmten schon zur Tür hinaus um nach dem Rechten zu sehen. Und da erkennen sie Menschen, die sie zuvor noch nie gesehen hatten, zusammen mit ihren Sklaven, die alle bewaffnet waren. Sarah unternahm zuerst gar nichts. Irgendwas hatte sie abgelenkt und gebannt – war es vielleicht doch keine gute Idee sie mitzunehmen? Kaum hatte ich diesen Gedanken formuliert, fing sie sich wieder – Ivy hat sie zur Besinnung gebracht. Mit ihren Kräften verriegelte sie die Türen die zur Arena hinaus führten. Dennoch war schon ein Großteil entkommen und auf freiem Fuß in der Stadt unterwegs. Lange wird es nicht mehr dauern, bis sie zu ihren Waffen kommen, um sich gegen die Eindringlinge, uns, zu wehren.

Panik brach aus. Jeder versuchte auf einmal durch die sperrangelweitoffenen Türen in die Freiheit zu gelangen, um zu sehen, was dort draußen vor sich ging. Warum unternahm Sarah nichts dagegen? War sie nicht auch deshalb hier, um zu verhindern, dass die Stadtbewohner zu früh hier rauskamen, um sich gegen unsere Leute zur Wehr zu setzen? Und Sireno starrt mich auch nur an. Obwohl seine Wut schon fast überkocht, bewegt er sich nicht vom Fleck.
Ich beschloss ihn zu ignorieren. Irgendjemand musste unsere Leute ja davor bewahren, dass sie in der Unterzahl die wir darboten in ihr eigenes Verderben versanken. Also tat ich mein Bestes die Türen zu schließen, damit nicht noch mehr Stadtbewohner ins Freie kamen. Doch schnell war klar, dass meine Fähigkeiten nicht dazu ausreichten. Ich war einfach nicht stark oder begabt genug – Sarah schon. Aber sie war durch irgendetwas abgelenkt.
Um ihre Aufmerksamkeit kämpfte ich, als sich draußen noch mehr Schüsse lösten. Es waren so viele, dass sie von den Stadtbewohnern kommen mussten. Wir waren darauf aus erst einmal nur Gefangene zu nehmen, bevor Dad dann weiter entschied, was aus ihnen werden wird. Den Stadtbewohnern war es egal, ob wir gerechterweise durch ihre Hand starben oder ob wir unschuldig waren. Für sie galt nur eines, die Eindringlinge zu vertreiben oder zu dezimieren. Wenn man es genau betrachtet, war es sogar ihr Recht, immerhin sind wir in ihr zu Hause eingefallen. Dennoch. Wir sind es nicht, die uns Sklaven halten, um unsere Drecksarbeit zu erledigen.
Schließlich ließ Sarah von dem ab, was auch immer sie abgelenkt hatte, und griff wieder oder zum ersten Mal ins Geschehen ein. Sie schloss die Türen. Aber es waren nur noch vielleicht ein Drittel aller Höchstens die Hälfte in der Arena eingesperrt. Die Stadtbewohner waren also jetzt in der Überzahl dort draußen. Da tat es auch nichts zur Sache, dass fast alle Sklaven bereit sind uns zu helfen ihnen die Freiheit zu erkämpfen. Was wir jetzt brauchten war eine Menge Glück.
Plötzlich durchzog mich eine Art Schrei. Es war nichts, dass ich mit meinen Ohren gehört hatte, sondern sich in meinen Gedanken abspielte. Es war Sarah, die jetzt um meine Aufmerksamkeit kämpfte. In meinen Gedanken zeigte sie mir ein Bild von Sireno und seinen Brüdern, wie sie an der Tribüne standen und zu mir herunter sahen, dann ein anderes, wo die Tribüne leer war – natürlich war sie noch mit einigen Gesichert bepackt, aber die von Sireno, Ira und Dino fehlten. Schockiert überzeugte ich mich selbst davon. Und tatsächlich, sie waren weg. Ich suchte sie überall auf der vergitterten Tribüne, konnte sie aber nicht finden. Wie waren sie entkommen. Sie hätten die letzten sein müssen, die hier raus gekommen wären. Und jetzt sind sie auf freiem Fuß?! Das war übel, so richtig übel.
Ich muss sie finden!
Ich brauchte gar nicht erst darüber nachzudenken, wie ich das anstellen wollte, mir blieb in diesem Augenblick nichts anderes übrig als so schnell wie möglich zu handeln. Ich lief zurück zu dem Käfig, der mich in die Arena gebracht hat, der einzige Ein- und Ausgang. Noch bevor ich drinnen war suchte ich die Arena nach einem Mechanismus ab, der den Käfig in Gang setzte. Die Sekunden tickten bedrohlich an mir vorbei. Sireno, der schlimmste Telepath, der mir je begegnet ist, ist irgendwo dort draußen, und töten vielleicht jemanden, der mir viel bedeutet, meine beste Freundin, mein bester Freund, der fast so etwas wie ein Bruder für mich ist, meinen Vater, oder Rick oder VJ. Da war der Mechanismus, den ich sogleich betätigte. Und als ich hinunterfuhr wurde mir bewusst, dass VJ ja gar nicht in Gefahr war. Er, Ben und Travis waren im Untergeschoss der Arena eingeschlossen, vollkommen isoliert. Sie wussten noch gar nicht, was dort draußen vor sich ging. Ich hatte es ihnen nämlich zuvor nicht sagen können, sonst hätten sie es ungewollt durch ihre Gedanken, die sie nicht kontrollieren können, an Sireno verraten.
Soll ich es ihnen erklären? Viel Zeit hatte ich nicht, aber ein paar Worte konnte ich ihnen schon entgegenbringen. Trotzdem, sie haben keine Waffen. Wenn sie wissen, dass über ihren Köpfen ein Kampf um die Freiheit abläuft, wollen sie doch sofort mitkämpfen. Und das, ohne Waffen? Andererseits haben sie reichlich Erfahrung im Kämpfen ohne Waffen sammeln können, und das auch noch gegen Zombies. Niemand kämpft so beharrlich und unfair wie Zombies. Da waren ein paar bewaffnete Stadtbewohner doch nichts dagegen. Außerdem können sie sich doch Waffen besorgen, jemanden entreißen, den sie außer Gefecht gesetzt haben.
Alle drei starrten verwirrt zur Decke, als ich hereinplatzte. „Wir kämpfen.“, brachte ich eilig hervor. „Um eure Freiheit. Aber wir machen nur Gefangene. Tötet niemanden, wenn ihr es verhindern könnt.“ Dann rannte ich in die andere Richtung. Auf meinem Weg nach oben dachte ich noch einmal nach. Travis war erst vierzehn. Eine unserer Regeln lautet, dass niemand unter sechzehn ins Ödland geht, was gleichbedeutend ist, dass keiner unter sechzehn kämpft. Aber Travis hat schon vorher gekämpft. Er war geübt darin, sonst hätte er wohl kaum so lange gegen Zombies bestehen können. Fünf Jahre, glaube ich hatte mir VJ erzählt. Travis schafft das schon. Er ist nicht dumm, wenn er es sich nicht zutraut, wird er sich nicht unnötig in Gefahr bringen.
Für mich blieb jetzt nur eine Frage offen. Wo sind Sireno, Dino und Ira abgeblieben? Ich kämpfte mich durch die letzten Verbliebenen, die Sarah noch in der Arena behalten konnte zur Tür. Hier wurde ich fast zerquetscht, als alle versuchte durch zielloses und ungehaltenes Drücken versuchten die Türen zu öffnen. Einmal tief durchgeatmet und ich ließ die Leute hier für einen kurzen Moment vergessen, was passiert. VJ hatte sich hinter mich gedrängt, hinter ihm kamen Ben und Travis, die ich von meiner mentalen Attacke ausließ. Sarah ließ mich die Tür öffnen und ich scheuchte VJ, Ben und Travis raus, dann schloss ich die Türen wieder, gerade als die Leute im Innern bemerkten, dass sie der Freiheit so nahe waren.
Die Straßen waren leerer als ich gedacht hatte, aber dennoch konnte ich das Chaos in der Stadt spüren. Und als ich Cooper, Aaron und Chris sah, die an uns vorbei liefen, pfiff ich ihnen nach. „Nehmt die drei mit!“, rief ich ihnen zu. Es war besser, wenn ich meinen drei neu gewonnenen Freunden jemanden anvertraute. Nicht, dass ihnen noch etwas zustieß, weil ich sie so unvorbereitet in den Kampf schicken musste.
„Und du?“, fragte mich VJ, als ich schon wieder los laufen wollte, um mich auf die Suche nach Sireno und seinen Brüdern zu machen.
„Ich muss die drei finden.“, sagte ich. Dabei hatte ich nicht die Hoffnung, dass er verstand wen ich meinte oder was ich überhaupt meinte. Aber er schien es doch zu tun.
„Aber du hast gesagt, dass du nichts gegen sie ausrichten kannst.“, beharrte er und packte mich am Arm um mich davon abzuhalten wegzulaufen.
Das kostete zu viel Zeit. „Ich hab gelogen, um das hier zu beschützen.“, sagte ich verzweifelt. Das ergab bestimmt noch weniger Sinn für ihn. Immerhin erzählte ich ihm nur Bruchstücke. „Außerdem bin ich nicht allein.“
In seinen Augen erkannte ich zu meiner Überraschung, dass er verstand. Dann zog er mich plötzlich an sich und presste seine Lippen auf meine. „Sei vorsichtig.“, sagte er und ließ mich los, um den anderen zu folgen, die bereits weiter gelaufen waren.
Verdattert drehte ich mich wieder um, um meinen eigenen Weg auch wieder auf zu nehmen. Unfreiwillig stockte mir der Atem, als ich erkannte, von wem ich diesmal aufgehalten wurde. Rick und Kyle waren gerade aus einer Seitenstraße gekommen. Er hat uns gesehen, dachte ich, Rick hat uns gesehen, als VJ mich küsste.
„Rick, ich…“, fing ich an, wusste aber nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte ihm ein Versprechen gegeben, dass ich wirklich halten wollte, und auch immer noch will. Aber jetzt gab es eben auch VJ in meinem Leben.
„Einer der Brüder ist in die Richtung verschwunden.“, sagte er nur und zeigte durch die Gasse. „In ein Haus an der linken Ecke des Platzes.“ Wie angewurzelt stand ich da und konnte mich nicht bewegen. Es lag nicht daran, dass ich mich fragte, woher er die Brüder kannte. Ich wusste woher. Dad hatte jeden unserer Leute Bilder meiner Erinnerungen in ihre eigenen Gedanken gebrannt, damit sie wissen, wem sie aus dem Weg gehen sollen, weil sie absolut keine Chance gegen sie haben werden. Nein, das was in mir vorging war, dass es mir Leid tat, das er uns gesehen hatte, es mir aber nicht Leid tat, das es geschehen ist, dieser Kuss. Konnte er es mir ansehen?
„Ivy!“, rief mich Dad plötzlich. „Hier lang!“
Aus meiner Starre gerissen, versuchte ich Rick zu ignorieren, zumindest, bis hier alles vorbei war. Danach konnte ich mir noch genug Gedanken darum machen.
„Wie viele sind noch in der Arena?“, fragte mich Dad, als ich in Hörweite war.
„Ich weiß nicht genau. Weniger als die Hälfte vielleicht.“, antwortete ich.
„Na schön, damit müssen die anderen erst einmal ohne uns fertig werden.“, meinte Dad. „Wir müssen die drei Brüder finden. Sie sind nicht mehr in der Arena.“
„Glaubst du sie wollen klammheimlich die Stadt verlassen?“, fragte ich ihn.
„Gut möglich.“, sagte er und überlegte kurz, als er sich umsah. Auf dem Marktplatz in dem wir uns gerade befanden, lagen bestimmt schon vierzig Gestalten gefesselt auf dem Boden. Wir versteckten uns hinter einem der Stände, weil wir unter Beschuss standen. Einigen Stadtbewohnern gefiel es wohl nicht, dass wir ihre Freunde und Nachbarn gefangen nahmen. Aber es waren genug Leute von unserer Seite hier, die auf unsere Gefangenen achtgaben, sodass sie nicht wieder entkamen. „Vielleicht kann Sarah sie in dem Chaos besser finden als wir.“, sagte Dad und lief in Richtung Arena. Ich vermutete, er wollte wieder über das Nebengebäude zu Sarah gelange, und darüber hinaus, dass ich ihm folge. Aber das kam für mich nicht in Frage. Ich weiß, es klingt irgendwie blöd, aber vielleicht waren die drei Brüder ja in ihrem zu Hause. Nicht unbedingt um sich zu verkriechen, aber vielleicht um einige für sie wichtige Habseligkeiten zu holen, ohne die sie nicht fliehen wollten. Einen Versuch war es wert, dachte ich und sprang auf. Unter einem leichten Kugelschauer, der sofort zunahm, als ich mich von meinem Versteck hervor wagte, rannte ich auf die Nordseite des Marktes zu und entwischte durch die Seitenstraße zwischen zwei Häusern, wovon eines Sirenos Haus war.
Als ich auf der anderen Seite wieder auf die Straße kam sah ich ihn. Von dem Gebäude, das ich durchaus ein Krankenhaus nennen würde, kam er direkt auf sein Haus zu gelaufen. Und direkt dazwischen stand Lena, die Frau von Jordan, der zu Hause für den Strom der Kolonie sorgte. Sireno rannte und Lena drehte sich um. Es war als ob alles in Zeitlupe ablief. Ihr Gewehr wurde ihr durch eine unsichtbare Kraft aus der Hand gerissen und schwebte urplötzlich vor ihr. Ich hatte gar keine Chance noch etwas zu unternehmen, bevor das Gewehr losging. Aber es traf nicht Lena, sondern Luke, der sich im Affekt vor sie geworfen hatte. Sireno rannte weiter, an ihnen vorbei; Lena starrte Luke an und wich einen Schritt zurück, als dieser zu Boden sackte; und ich lief weiter. Sireno sah mir direkt und ich ihm direkt in die Augen, als wir aneinander vorbei liefen. Ich nahm diese einmalige Chance nicht war ihn sofort zu töten, sondern stolperte auf Luke zu. Den letzten Meter schlidderte ich auf dem Boden an Lena vorbei, wobei ich mir die Knie übel aufriss, und drehte Luke zu mir um. Er atmete noch, aber er verlor so viel Blut durch die Wunden in seiner Brust, die die Kugeln aus Lenas Gewehr verursacht haben.
Instinktiv suchte ich nach einem unserer Mediziner. Kyle war am nächsten, gleich um die Ecke. Also schickte ich Lena los um ihn zu holen. Ich musste sie regelrecht weg schieben, weil sie sich nicht aus ihrer Starre lösen wollte. Als sie schließlich verschwunden war um Hilfe zu holen, hörte ich den zitternden Atem von Luke und das rasselnde Gurgeln in seiner Lunge, die irgendwie verletzt sein musste. Sofort schossen mir dicke, heiße Tränen in die Augen, die meine Sicht vollkommen verschwammen. Niemand, der so ein Geräusch von sich gab wurde bisher von einem unserer Mediziner gerettet, wenn wir ihn nicht innerhalb kürzester Zeit nach Hause schaffen konnten, wo man sich richtig intensiv um ihn kümmern konnte und nicht so notdürftig wie unterwegs.
Luke wusste das auch. Sein Vater ist so gestorben, obwohl man ihn noch nach Hause geschafft hatte. Nur leider war es da schon zu spät gewesen. Er hatte damals nur noch genug Kraft um seinen kleinen Sohn zu sagen, wie lieb er ihn hatte.
„Ich hab Angst.“, sagte er mit leiser und gebrochener Stimme.
„Ich weiß, ich auch.“, gestand ich ihm. Normalerweise verbarg ich solche Schwächen wie Angst, besonders wenn ich mit den Jungs unterwegs war. Für die anderen tat ich nicht, wie für Luke, weil ich ihnen weißmachen wollte, dass alles wieder in Ordnung käme, sondern, weil sie mich schon so, so schwer als ihren Teamleader akzeptieren konnten, war ich doch eine Frau und ein bis neun Jahre jünger als alle anderen, außer Luke.
„Kannst du nicht irgendwas machen?“, fragte er kleinlaut.
„Ich wüsste nicht was.“, gestand ich. „Aber ich nach Kyle geschickt. Er wird dir helfen können.“ Wir beide wussten, es war eine Lüge.
„Ich meine … mit … meinem Kopf … damit ich keine … Angst mehr habe.“
Diesen Wunsch erfüllte ich ihm nur zu gern und wünschte mir dabei, dass auch jemand etwas mit meinen Gedanken machte, damit ich auch keine Angst mehr hatte. Ich war bisher erst zweimal dabei, als jemand so starb. Einmal bei Panda, bei der ich nur geschockt und starr vor Angst in der Ecke stand. Und das andere Mal bei Declan, den ich bekanntlich selbst getötet hatte, und somit nicht sonderlich viel davon mitbekam, bevor es nicht vorbei war.
„Weißt du, ich wollte immer so sein wie du.“, sagte er mit dieser kleinen Stimme, die immer schwächer und leiser zu sein schien. „Ich hab immer davon geträumt … mit euch raus ins Ödland zugehen und irgendwelches Zeug … zu sammeln und zu jagen. Ich wollte immer … einer von euch sein.“
„Das warst du.“, sagte ich mit tränendicker Stimme. „Und das wirst du immer sein.“ Beinahe hätte ich gesagt, nach deinem Tod. Aber das wäre zu viel gewesen.
„Nach meinen Eltern und vor Penny warst du diejenige, die mir immer … am wichtigsten war. Deine Meinung, deine Ansicht und … eben du selbst. Wie eine große Schwester, die ich bewundert habe.“
„Luke…“ Mehr brachte ich nicht hervor.
„Nur dir hab ich den Mut zu verdanken, den ich gebraucht habe um Penny anzusprechen.“ Er lachte kurz schmerzhaft auf. „Und dass ich sie lieben durfte und … jetzt nicht als Jungfrau sterben muss.“
Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und bemerkte dann erst, dass ich mir sein Blut ins Gesicht rieb. Als ich die Augen wieder aufmachte war er tot. Einfach so, ohne einen weiteren Pieps von sich zu geben, starb er in meinen Armen, mit einem Witz auf den Lippen, der immer noch daran hing.
„Luke!“, hörte ich Kyle rufen, als er zu uns rannte.
Ich schaffte es nicht ihm oder Lena ins Gesicht zu sehen, also legte ich Luke sanft auf den harten Betonboden und gab mich dem einzigen Gefühl hin, zu dem ich noch taugte. Wut. Blinde, unbesiegbare Wut, die Sireno, diese Made zerstören wird. Und wenn es das letzte ist, was ich tue.
Als Kyle vergeblich nach einem Puls an Lukes Halsschlagader suchte, stand ich auf und nahm meinen Weg Sireno zu töten wieder auf. Es soll so leiden, wie er andere Leiden ließ. Nur wusste ich bis jetzt noch nicht, wozu er noch alles fähig war und sein würde.
Es hatte keinen Sinn ihn im Haus telepathisch aufzuspüren. Bei dem ganzen Chaos um mich herum, könnte ich mich ohnehin nicht richtig Konzentrieren. All die wirren und panischen Gedanken, die ich dadurch auffangen würde, machten es unmöglich. Also ging ich so hinein – natürlich vorsichtig, sodass mich niemand überrumpelt und aus einer finsteren Ecke anspringen und angreifen kann. Sein Zimmer war ganz oben, um das zu wissen, war ich schon oft genug dort gewesen. Wo seine beiden Brüder wohnten wusste ich allerdings nicht. Ich schätze mal irgendwo auch in der Gegend, immerhin waren sie eine Familie. Aber meine Priorität galt vor allem Sireno. Er war der Gefährlichste von allen, obwohl Ira wohl als der Brutalste gelten konnte. Und was Dino anging, so konnte ich ihn immer noch nicht einordnen, mal abgesehen von Sirenos Urteil, dass Dino nur sich selbst der Nächste sei. Dennoch erschien mir Sireno als der Gefährlichste. Es war nur so ein Gefühl. Aber wenn Dad seinem Gefühl vertrauen konnte, konnte ich das doch wohl auch, oder?
Ich rannte so schnell ich konnte die Stufen bis zur obersten Etage hinauf und übersprang dabei mal zwei und mal drei ganze Stufen. Sein Zimmer war leer, als ich hereinplatzte. Auch das, in dem sein Bett stand, wobei ich nicht erwartet hatte, dass er bei dem Chaos draußen ein Nickerchen hier drinnen hielt. Aber an seinem Schreibtisch und dem Aktenschrank daneben, konnte ich sehen, dass er hier war. Und weil es so aussah, als hätte er es eilig gehabt, konnte es erst ein paar wenige Minuten her sein.
Plötzlich spürte ich etwas – oder hörte ich etwas? Es war wieder so ein Gedankending, das ich, obwohl ich seit zwanzig Jahren damit zu tun hatte, sogar noch vor meiner Geburt, mir noch immer nicht richtig erklären konnte, wo es eigentlich her kam … Oder wie es mich erreichte, denn wo es herkam wusste ich genau – aus dem Keller … oder weiter darunter? War da noch mehr, als der Keller? Es war nicht Sireno, das war mir sofort bewusst. Aber jemand rief mich. Und ich hatte das dumpfe Gefühl, das dieser Ruf mich zu der dreckigen Made führen wird, dessen Eltern keinen besonderen Geschmack verrieten, indem sie ihn Sireno nannten.
Also lief ich alle Stufen wieder runter und rannte darüber hinaus in den Keller. Der Ruf, der in meinen wuterfüllten Gedanken hallte, führte mich in die hinterste Ecke des Kellers, wo es nichts zu geben schien. War das eine Falle? Dann drehte ich mich um, um mich zu vergewissern, ob jemand hinter mir stand, und mir fiel die Tür hinter ein paar hochgestapelten Kisten auf. Erhellt von einem roten Licht über der Tür, schien sie mich zu sich zu ziehen. Sie wirkte anders als die anderen Türen im Gebäude, die alle aus Holz waren. Diese war aus Metall. An der Seite war statt eines Türknaufs ein Tastenfeld und ein kleiner Bildschirm, der nur Platz für eine Zeile ließ. War hier ein Code ein zu tippen um die Tür zu öffnen? Ich probierte die Tür so, ohne Code auf zu machen, und schlug frustriert dagegen, als sich nichts tat. Ich hatte keine Zeit mir irgendwelche Zahlenkombinationen einfallen zu lassen, die mich durch diese verdammte Tür lassen würden! Dahinter konnte ein Fluchttunnel sein, durch den er entkommt. Ich hätte ihn vorher nicht so einfach an mir vorbei ziehen lassen dürfen. Ein Gedanke und ich hätte ihn ausgeknockt, dann hätte ich immer noch Zeit gehabt für Luke da zu sein als er…
„Ivy!“, rief Dad hinter mir, als er durch den dunklen Keller stolperte. Ich hatte mich gar nicht bemüht das Licht an zu machen. „Ich hab das mit Luke mitbekommen.“, sagte er in einem sanften und mitfühlenden Ton. Bevor ich etwas unternehmen konnte, nahm er mich in den Arm und drückte mich. So mochten vielleicht nur einige wenige Sekunden vergangen sein, aber es kam mir vor, wie ein paar Minuten – zu viel Zeit, die ich nicht hatte, vor allem, weil ich diese Tür nicht aufbekam ohne den richtigen Code zu kennen. „Ist er dahinter?“, fragte mich Dad, mich immer noch im Arm haltend.
Ich machte mich von ihm los und nickte. Die Tränen, die mir entwichen sind, als ich seine Wärme und die damit verbunden Geborgenheit spürte, wischte ich mir schnell wieder aus den Augen und dem Gesicht.
„Wir brauchen doch keinen Code um diese Tür zu öffnen.“, sagte er selbstsicher, um mich aufzuheitern. Aber er hatte Recht. Das brauchten wir wirklich nicht, jedenfalls nicht, als Telepath, der auch telekinetische Kräfte in sich trug. Dad legte seine rechte Hand an die Tür. Nicht um ihr Innenleben zu spüren – das konnte er auch so, ohne jegliche Berührung. Er tat es wohl nur, aus einer Art Gewohnheit zur Konzentration heraus. Jedenfalls wirkte es dann so, als würde er die Innenliegenden Schlösser der Metalltür mit seiner zauberhaften Hand zum Öffnen zwingen, bis er die schwere Tür schließlich aufziehen konnte.
Ungehalten drückte ich mich an ihm vorbei und rannte die ersten Stufen der langen Treppe hinunter.
„Ivy, warte!“, rief er mir hinterher und brachte mich damit zum Stehen. „Du bist zu aufgewühlt, ein leichtes Ziel für ihn.“
Aber das ließ ich mir nicht gefallen. Wutentbrannt schlug ich ihm die Tür regelrecht vor der Nase zu und verschloss sie wieder. Sireno gehört mir! Ein dumpfes Klopfen das von der anderen Seite der Tür drang, ließ mich vermuten, dass Dad da anderer Meinung war. Aber das war mir egal und ich machte mich hinab in die Tiefe des Untergeschosses unter dem Keller von Sirenos Haus. Wer weiß, was sich dort unten verbirgt?


32


Die Treppe musste gleich mehrere Etagen hinunter führen. Ich fragte mich, was dort unten wohl auf mich wartete. In jedem Fall etwas, das es wert war von einer dicken Metalltür geschützt zu werden, die sich in der hintersten Ecke eines heruntergekommenen Kellers verborgen vor einigen Kisten befand und sich nur mit einem Zahlencode öffnen ließ. Weiß-blaues Licht flackerte über meinen Kopf, sodass ich aufpassen musste, dass ich keine der unzähligen Stufen verfehlte. Würde ich hier ausrutschen oder stolpern und zu Boden hinab stürzen, würde ich mir bestimmt den Hals brechen. Die Stufen waren auch so schon sehr eng, zu eng für einen einfachen Fuß. Sireno darf einfach nicht entkommen! Also muss ich vorsichtig hinuntergehen, obwohl ich am liebsten alle fünf Stufen überspringen würde.
Die engen Wände, die sich auf die Treppe zusammen zu quetschen schienen, waren mit etlichen Rissen durchzogen. Die klinisch weiße Farbe blätterte an einigen Stellen schon ab. Ich frage mich, wie lange dieser unterirdische Keller schon existierte. Bestimmt entstand er zusammen mit diesem Gebäude, vielleicht sogar mit dem gesamten Häuserblock. Denn wie sonst hätte man einen zusätzlichen Keller unter einem bestehenden Haus bauen können? Demnach musste diese Treppe und die Räume, zu der sie führte, schon vor der Apokalypse entstanden sein. Wozu die Räumlichkeiten wohl gedient haben, soweit unter der Erde? Als eine Art Luftschutzbunker? Als ich noch zum Unterricht musste, hat Heath uns oft von der Zeit davor erzählt. Zum Beispiel von einem Krieg, in dem sich zwei große Nationen besonders feindlich gegenüberstanden und ein Wettrüsten veranstaltet haben, sodass überall in diesen Ländern solche Luftschutzbunker gebaut wurden, weil die Menschen Angst hatten, dass die jeweils andere Nation ihre Massenvernichtungswaffen – was auch immer das sein mag – gegen sie einsetzt. Heath meinte, dass durch einige dieser Waffen eine sogenannte radioaktive Strahlung entstehen konnte, die für alles Leben giftig war und alle krank machte. Aufgrund der Erinnerungen an die ersten, und für sie letzten Bilder, unserer Vorfahren, vermuteten Dad, Jodie und ich, dass die Apokalypse einige Teile der Welt so einer Vergiftung ausgesetzt ist. Als Dad vor meiner Geburt von Dave besucht wurde, hatte er sogar erzählt, dass der ehemalige Kontinent Europa total verseucht ist mit so einem Zeug. Dad träumt manchmal davon. Er träumt, er sei Dave und rennt auf dieses Mädchen zu, dass ihre Haare verliert. Ich glaube dieses Mädchen war Lana, die sich gegen Dad und für Dave entschieden hat. Sie brachte ihr Weg schließlich um, mir ermöglichte es meine Geburt.
Die schier endlose Treppe mündete in einen langen Gang, der sich in zwei Richtungen erstreckte. Durch Dads stetiges gepolter an der Tür konnte ich mich einfach nicht konzentrieren, um Sireno über meine Gedanken ausfindig zu machen. Als ich die schwere Metalltür hinter mir schloss, um Dad auszusperren, habe ich die Schlösser ein wenig verbogen, sodass ich mir etwas Zeit alleine mit Sireno erkaufen konnte. Doch viel Zeit blieb mir nicht. Ich folgte dem Ruf, der mich nach rechts zog. Irgendetwas in mir sagte mir, dass mich am Ende dieses Ganges nicht Sireno erwarten wird, es aber wichtig für mich sein kann die Tür dort ganz hinten zu öffnen und zu durchschreiten.
Hier war noch eine Tür mit einem Zahlencode-Dingens. Sie war aber nicht verschlossen, sondern stand einen Spalt weit offen. Als ich die Tür aufzog, kam ein Raum, in dem ein Kühlschrank stand, eine Couch, ein Schreibtisch und einige mit Akten gefüllte Aktenschränke, zum Vorschein. Auf der anderen Seite des Raumes war noch eine Tür. Ich war jetzt schon ganz nah – wo auch immer dieser Ruf mich hinführte. Diese Tür war nicht verschlossen, also betätigte ich eine ganz normale Klinke um sie zu öffnen. Der kleine Gang dahinter war stockfinster. Ich hörte ein leises, kaum wahrnehmbares Wimmern und ein rasselndes Atmen, das mich an Luke erinnerte, der jetzt womöglich mehrere Meter genau über mir tot dalag. Hatte man ihn schon weggebracht? Einen Freund lassen wir nämlich niemals zurück. Luke wird nach Hause gebracht, wo wir uns alle von ihm verabschieden und ihn bei seinen Eltern begraben werden.
Plötzlich hörte ich sich etwas bewegen. Unfreiwillig zuckte ich einen Schritt zurück. Erst jetzt nahm ich überhaupt war, dass ich mich in einem Raum voller Zellen befand. Waren hier womöglich noch mehr von Sirenos seltsamen Zombies, an denen er herumexperimentiert?
„Wir sind keine Zombies.“, sagte eine raue Stimme und ich wich noch weiter zurück. Mir stockte der Atem. Hier unten waren Menschen eingesperrt. Warum sperrt Sireno Menschen hier unten ein? Sind das seine Testobjekte?
Ein junger Mann kroch an das Zellengitter, das uns voneinander trennte. Er schien wesentlich älter zu sein als ich. Aber wer weiß, wie lange er schon hier unten eingesperrt ist. Solche Umstände konnten einen Menschen schneller altern lassen als gewöhnlich üblich. Ich konnte mir sogar vorstellen, dass er unter all dem Schmutz und den Narben an seinen Händen, die die Gitter umklammerten, sogar jünger war als ich selbst. Denn seine Augen wirkten noch sehr jung, aber weise zugleich. Er hatte genau solche Augen wie Pablo, wie alle Telepathen unserer Familie.
„Sperr die Zelle auf, dann kannst du wieder gehen.“, sagte der junge Mann. Seine Augen flehten mich an, sodass ich keinen Moment zögerte. Zuerst sah ich mich nach einem Schlüssel um, doch dann viel mir auf, dass es doch viel zu dunkel hier war um etwas vernünftig sehen zu können. Außerdem brauche ich keine Schlüssel um ein Schloss aufzumachen. Und das Schloss an dieser Zelle war wesentlich einfacher gehalten als das an der Metalltür oberhalb der Treppe, gegen die Dad wohl nicht mehr ankämpfte, denn ich spürte jemanden, der vor dem Raum hinter mir stand. Er wartete draußen vor der Tür und lauschte.
„Das ist nicht dieselbe.“, flüsterte eine Mädchenstimme. Erschrocken sah ich in die Finsternis der Zelle nebenan. Es war mir eiskalt den Rücken runtergelaufen, als plötzlich aus dem Nichts diese unheimliche Stimme an mein Ohr drang.
„Beeil dich!“, forderte der junge Mann mich jetzt auf. Ich hatte inne gehalten, weil ich versuchte das Mädchen durch die Dunkelheit zu erkennen. In Nullkommanichts hatte ich die Zellentür offen. „Und jetzt verschwinde und bring dich selbst in Sicherheit!“, fuhr er mich an und stieß mich plötzlich zur Seite. Als er aus seiner Zelle kam, hatte ich für einen Augenblick die Befürchtung, dass es ein noch gewaltigerer Fehler war diesen Mann aus seiner Zelle zu holen, als nicht einfach nach Sireno zu suchen, damit ich die Gelegenheit hatte ihn zu töten, bevor Dad dazwischen kommen konnte.
„Chane, geh nicht.“, flehte das Mädchen den Mann an. Sie stand jetzt an ihren Zellengittern und streckte ihre Hand nach dem Mann aus. Die beiden sahen sich sehr ähnlich. Aber das konnte auch einfach nur daran liegen, weil beide so verwahrlost aussehen.
„Ich bin gleich wieder zurück.“, sagte der Mann mit liebevoller Stimme und berührte nur leicht die Hand des Mädchens, die vielleicht sechs, allerhöchstens sieben Jahre jünger als er war. Aber im Gegensatz zu ihm, wirkte sie wirklich so jung, fast noch wie ein Kind. Vielleicht war sie das auch noch, und der Mann war etwa in meinem Alter.
Der Mann, Chane, verließ den Raum durch die Tür, durch die ich gekommen bin. Chane. Chane? Das war ein merkwürdiger Name. Und trotzdem hab ich ihn schon irgendwo gehört… Chane und Ariana! Jodie hat hin und wieder an sie gedacht. Einer der Sklaven, der sich mit uns ein Zimmer geteilt hat, bevor ich in die Arena gesperrt wurde, hat ihr von ihnen erzählt. Aber dieser Chane und diese Ariana, von denen Jodie erfahren hat, waren auch Telepathen, hieß es. Die beiden hier hätten niemals solange hier unten eingesperrt werden können, wenn sie auch Telepathen wären. … Aber sind das überhaupt dieselben? Der Mann heißt Chane. Und das Mädchen?
„Ariana?“, fragte ich sie, als ich auch ihre Zelle aufschloss. Bevor ich mit ihr sprach hatte sie Chane hinterher gesehen und mich vollkommen ignoriert. Jetzt sah sie mich an, suchend.
„Du kannst unsere Gedanken nicht lesen.“, sagte sie beharrend. „Oder doch?“
„Nein.“, antwortete ich und ließ sie aus ihrer Zelle. „Man hat mir von euch erzählt. Ihr fünf seid alle Geschwister?“ Ich war mir sicher, dass sie mir folgen konnte, und wusste wen ich meinte. Sie nickte. Dann zuckte ihr Kopf plötzlich zur Tür, die nur noch einen winzigen Spalt offenstand. Auch mein Kopf zuckte in diese Richtung, weil wir beide denselben Schrei hörten.
Für einen Moment dachte ich, dass Chane Dad angegriffen hat und Dad nun am Boden lag und so schrie. Deshalb folgte ich Ariana, bereit sie als Geisel zu nehmen, damit Chane seine Finger von Dad ließ. Aber es war nicht Dad, der sich auf dem Boden krümmte vor Schmerz, es war Chane. Auch sein Angreifer war nicht Dad, sondern Dino.
„Chane!“, rief Ariana angsterfüllt und ließ sich neben ihren Bruder fallen, passte aber zugleich auf, dass sie Dino nicht zu nahe kam, der nur wenige Meter von uns entfernt stand. Warum Dad noch nicht hier unten war, konnte ich mir später überlegen. Jetzt galt es erst einmal Dino aus dem Weg zu räumen. Und dabei würde ich mich bestimmt nicht zurückhalten. Er war zwar nicht Sireno, den ich mir eigentlich erhofft hatte hier unten zu finden, aber ich würde ihn genau so behandeln, als wäre er sein Bruder.
Mit der Kraft meiner Gedanken bewegte ich Dinos Körper ruckartig, sodass er durch die Luft flog. Dabei schmiss ich ihn in einen Raum, dessen Tür nur angelehnt war. Mit einem lauten Krach landete Dino auf irgendetwas hartem – gut, ich hoffe das hat wehgetan. Vorher, da war ich mir sicher, obwohl ich nicht genau darauf geachtet habe, weil ich von Chanes und Araians Ruf abgelenkt war, war die Tür noch geschlossen gewesen. Ich vermutete, dass er sich darin verkrochen hatte. Dann war vielleicht Sireno auch noch hier unten.
Ich hörte ein endloses Krachen über unseren Köpfen, mit dem ich aber nichts zu tun hatte. Es endete erst, als eine verbogene Metalltür am Fuß der Treppe landete, die ich zuvor hinunter gestiegen bin. Da war Dad ja endlich. Zwar hatte ich nun nicht mehr genug Zeit Sireno zu töten, aber mir blieb immer noch genug Zeit für seine Made von Bruder. Ich folgte Dino in den Raum in den ich ihn befördert hatte. Er richtete sich gerade wieder auf, begraben unter Computerteilen. Woher sie die wohl haben? Seit fast zweihundert Jahren wurden keine Computer mehr hergestellt – jedenfalls nicht so, dass sie sich jeder in einem Laden kaufen gehen konnte. Ich konnte mir gut vorstellen, dass man in Australien bestimmt Computer benutzt. Aber mit Sicherheit konnte man das nicht sagen, immerhin haben wir keinen Kontakt zu Menschen außerhalb unserer Kolonie.
Ich brachte einen schwer wirkenden Schrank zum Kippen, der schließlich über Dino zusammenkrachte. Spätestens jetzt konnte ich mir sicher sein, dass er und seine Brüder weder etwas von Telekinese verstanden, noch sie benutzen konnte. Immerhin war es ein angeborenes Talent – nehme ich jedenfalls an. Aber bei der Vorgeschichte unserer Familie, kann man das eigentlich nicht so genau sagen.
Gerade, als ich Dino aus den Trümmern über ihn herauszog, und ihm mit meinen Gedanken die Luft aus seinen Lungen zog, sodass er vergeblich nach Sauerstoff ringen musste, wurde ich von einem Schmerz in meinem Kopf abgelenkt. Dad! Ich spürte seine Hand auf meiner Schulter, als Dino anfing zu husten und nach Luft zu ringen. Dad schob mich eigentlich sanft zur Seite, weil ich ihm den Weg in den Raum versperrte, aber ich stolperte wegen des Schmerzes, der jetzt wieder nachließ, zu Boden.
Mit seinen eigenen Händen befreite Dad Dino aus den Trümmern, die ich über ihn hereingebracht hatte. Ich fing an ihn dafür zu hassen. Warum tut er das? Dieser Mistkerl hat weit mehr verdient als den einfachen Tod, den ich ihm gegeben hätte. Warum also behandelt er ihn so … sanft und rücksichtsvoll?!
„Kyle.“, rief Dad. Erst jetzt bemerkte ich, dass er nicht alleine gekommen ist. Jodie lugte durch den Eingang des Raumes hinein und ließ Kyle vorbei. Seine Kleidung war voller Blut. Lukes Blut, rief ich mir in Erinnerung. Er muss seinen Leichnahm in Sicherheit gebracht haben, bis wir ihn nach Hause bringen können, wo er dann die Ewigkeit bei seinen Eltern verbringen kann.
Erneut flammte Wut in mir auf. Es war seine Schuld! Nicht die von Dino, aber die seines Bruders. Und weil sein Bruder nicht da war, musste er eben dafür büsen, bis ich ihn in die Finger bekam. Ich konzentrierte mich auf das, was Kyle tat, kramte in seiner mitgebrachten Tasche herum, die wohl voller medizinischer Materialien war. Während ich ihn beobachtete, waren es aber Dinos Gedanken, die ich durchdrang. Endlich hatte ich es geschafft. Ich weiß nicht, woran es lag, dass er mich nicht mehr blockieren kann, aber er tat es nicht, und so erhielt ich zutritt in die Abgründe eines Verbrechers, der seine eigenen Geschwister einsperrte. Ich konnte ihn nicht für Lukes Tod bestrafen, immerhin hatte er nicht direkt etwas damit zu tun, außer dass er der Bruder des Täters ist, aber seine Grausamkeit seinen Geschwistern gegenüber, von denen seine Schwester noch ein richtiges Kind war, sollte und durfte nicht ungesühnt bleiben. Alle Kraft, die ich noch in mir trug, zusammen mit der Wut und den Hass auf seinen Bruder, legte ich in seine Bestrafung, und pflanzte ihm einen so gewaltigen Schmerz in seinen Kopf, dass er sich wünschen wird niemals geboren zu sein. Seine Schreie waren ein wahrer Hochgenuss, wie sie aus dem Raum und in den weiten Gang davor echoten. Wenn ich es richtig anstelle, kann ich ihn rein theoretisch auch damit töten.
Doch dazu kam es nicht. Ich selbst spürte auch einen Schmerz und war gezwungen von ihm abzulassen.
„Kyle, mach noch eine Spritze fertig.“, hörte ich Dad sagen. Ich war auf dem Boden zusammengesackt und beobachtete, wie er dem halbbewusstlosen Dino eine Spritze in Hals jagte.
„Ich hoffe das ist Gift.“, sagte ich grinsend, obwohl ich wusste, dass wir kein Gift zu Hause hatten. Aber vielleicht hat Kyle ja hier in ihrem Krankenhaus etwas gefunden. Zutrauen würde ich es dieser Stadt, dass sie im Krankenhaus Gift benutzen.
Dad schnaubte. Aber es war kein Schnauben, dass meinen Kommentar als Witz auffasste, was auch nicht im Geringsten so gemeint war. Ich spürte wie wütend er war. Wütend auf mich. Dabei hab ich gar nichts getan. Er ist reingeplatzt, bevor ich etwas hätte tun können, worauf er evantuell das Recht hätte wütend auf mich zu sein, weil ich ein wertloses Leben beendet habe, ohne ein zweites Mal darüber nach zu denken.
„Jodie, Kyle, schnallt ihn auf eine dieser Liegen im Nebenraum. Danach kümmert ich euch um die beiden.“ Er zeigte auf Chane und Ariana, die wie Jodie zur Tür hinein sahen, überrascht und erstaunt, was wir mit ihrem Bruder taten.
Grob packte mich Dad an meinem Oberarm und zerrte mich auf meine Beine. Halb tragend und halb schiebend, führte er mich auf den langen Gang, wo er mich an die Wand stieß. Noch nie hat er die Hand gegen mich erhoben. Im Grunde war ich immer ein artiges Kind gewesen. Die einzigen Strafen, die ich mir immer einhandelte, waren diese Kopfschmerzen, die er mir zusetzte, weil ich mit meinen Fähigkeiten etwas tat, was ich seiner Meinung nach nicht tun durfte. Doch diesmal schlug er mich mit seiner Handfläche, sodass mein Kopf von der Wucht seiner Ohrfeige richtig zur Seite gerissen wurde. Entsetzt über seine Handlung verharrte ich einen Moment in genau dieser Position. Obwohl die Kopfschmerzen, mit denen er mich immer wieder strafen musste, wesentlich schmerzhafter waren, war diese Art der Bestrafung weitaus schlimmer, demütigender. Und das einzige, was ich in diesem Moment denken konnte war, das Mum mich nie geschlagen hätte. Was vollkommener Unsinn war, denn schon oft hatte sie ihre Hand so über mir gehalten, als wolle sie mir eine Ohrfeige geben, tat es aber nie. Dad war immer der Grund, warum sie es nie tat. Er ließ sie nie die Ohrfeige, die sie mir oft genug geben wollte, ausführen, obwohl ich sie ab und zu wegen meiner Aufmüpfigkeit während meiner Pubertät verdient hatte. Umso schlimmer war es jetzt, dass er mich genau so schlug.
Ich sah ihm in die Augen und sie ertranken in entsetzter Wut. Zuerst dachte, nein hoffte, dass er wütend auf sich selbst war, weil er dieser Ohrfeige nicht widerstanden hatte. Aber das war nicht der Grund für meine Wut. Von Dad habe ich immer gelernt, dass kein Leben genommen werden darf, dass jedes Leben etwas wert war. Und obwohl er die Bürde auf sich nahm und seinen eigenen Grundsatz brach, wenn es um solche Menschen ging, die mit ihrem Leben nur andere zerstören, hielt er doch beharrlich darauf fest, dass alle anderen diesen Grundsatz einhielten. Es widersprach sich selbst. Aber ich verstand, dass er seine Leute, die er unter seinen Schutz stellte, mit diesen Entscheidungen beschützen wollte. Er schützte sie davor diese Entscheidungen, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen, zu treffen – obwohl das nicht galt, wenn das eigene Leben in unmittelbarer Gefahr war.
„Du benimmst dich wie sie!“, schrie er mich an und zeigte dabei auf den Raum hinter ihm, in dem Dino gerade festgezurrt wurde. „Ist es das was du willst? Wie sie sein? Dann herzlichen Glückwunsch, du hast es geschafft. Dir ist kein Leben mehr etwas wert!“
Seine Wut schwappte auf mich über und vereinte sich mit der Wut über Sireno, kochten zu einem Brodelnden Lavastrom auf, der alles vernichtete, das ihm in die Quere kam. „Wag es ja nicht mit diesen Monstern zu vergleichen!“, schrie ich zurück.
„Vergleichen?! Ich brauch dich nicht mehr zu vergleichen! Du bist selbst zu einem Monster geworden! Ich hoffe da ist Gift drinnen? Was hast du dir dabei gedacht!?“
„Was spielt das für eine Rolle? Wir wissen doch beide, was du hinterher mit ihm machst. Ich hätte dir nur deine Arbeit abgenommen.“ Darauf schwieg er, was mich verunsicherte. „Oder?“ Er konnte diesen Bastard doch nicht mit seinen Taten davonkommen und leben lassen. Das kann unmöglich sein Ernst sein. „Oder?“, forderte ich ihn auf mir endlich zu antworten, weil er einfach nichts sagte, mich nur anstarrte.
„Ich entscheide das, wenn ich seine Gedanken-“ Ich unterbrach ihn.
„Das kann doch nicht dein Ernst sein. Wir wissen beide, was er denkt, auch wenn er uns keinen Einblick gewehrt.“
„Ivy…“
„Was ist mit Sireno?“, fragte ich, gab aber mit nichts Preis, dass seine Antwort auf diese Frage für mich weit essentieller war.
„Dasselbe bei ihm.“
Ich ließ ein lautes und hysterisches Lachen los und entfernte mich soweit es ging von meinem Vater. „Er wollte mich umbringen.“, sagte ich mit erstaunlich ruhiger Stimme. „Mehr als nur einmal. Er hat Luke umgebracht. Er hat mich bewusstlos Zombies zum Fraß vorgeworfen. Er hat mich angefasst.“ Ich zeigte ihm meine Arme, Beine und meinen Bauch, wo mich vor wenigen Tagen der Zombie gebissen hatte, mit dem Sireno experimentiert hatte. Narben haben sich dort in Windeseile gebildet, Narben, die ich für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen musste. „Mehr als ein Dutzend Bisse, die zu Narben geworden sind, weil er ohne Moral am Leben herumexperimentiert. Kommt dir das nicht bekannt vor? Er ist nicht besser als diese N-Corp Schweine, die diese Hölle über uns hereingebracht haben!“ Er hatte mich zum Weinen gebracht. Und immer noch stand er regungslos da.
Schließlich sagte er endlich etwas. „Komm her.“ Er spreizte seine Arme für eine Umarmung. Aber sein Gesichtsausdruck passte nicht ganz dazu. Da war zwar das Mitgefühl, weil er offenbar verstand, warum mir das Leben von Sireno oder seinen Brüdern so wenig bedeutete. Aber da blitzte noch etwas durch, das mir nicht gefiel.
Sein Ausdruck war nicht das einzige was blitzte. Er tat sein Bestes es zu verstecken, aber er hielt etwas in der Hand. Eine Spritze!
„Was ist das?“, fragte ich und deutete auf die Spritze in seiner rechten Hand. Meine Augen sprangen aufgeregt und angsterfüllt zwischen seinen Augen und der Spritze hin und her, als ich mich langsam von ihm fort bewegte.
„Ivy.“, sagte er mitfühlend und verständnisvoll. Aber er sprang auf mich zu und obwohl ich zurück wich, bekam er mich zu fassen und schlang mich in seinen Griff. „Du kannst nicht klar denken.“, flüsterte er mir ins Ohr und zog die Schutzkappe von der Spritze ab.
„Nein!“ Ich wehrte mich mit Leibeskräften, aber er war stärker, ich kam nicht frei. „Tu das nicht! Wieso zerstörst du immer alles, was dir angeblich so lieb ist?! Erst Mum und jetzt ich!“ Ich spürte, wie er die Spritze mit Gewalt in meinen Hals bohrte und ihren Inhalt in mich ergoss. Trotzdem wehrte ich mich weiter, als ob ich nicht wüsste, dass es bereits zu spät war. Ich würde niemals die Gelegenheit haben Sireno zu töten, weil mein Vater mich schlafen legte.

Sie hat absolut Recht. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt wusste, wie Recht sie hatte, aber es war genauso, wie sie sagte. Ich habe wirklich einen Hang dazu das zu zerstören, was mir Lieb und teuer ist. Und als wäre das noch nicht genug, musste ich auch noch mit der Angst der Konsequenzen leben, bis sie erst richtig eintraten. Ivy wird wohl früher auf mich wütend sein, weil sie in ein paar wenigen Stunden wieder aufwachen wird. Aber ich hoffe, bis dahin hat sich ihre Wut wenigstens soweit gelegt, dass sie keine dummen Fehler macht. Was Rae angeht … Nun ja, damit muss ich noch ein wenig länger leben.
Leblos sank Ivy unter meinen Armen zu Boden, als sie ihr Bewusstsein endgültig verlor. Es wird nicht viel nützen, aber ich wollte sie auch festschnallen, wie den Telepathen. Er konnte sich nicht befreien, weil er über keine Telekinese verfügte, aber Ivy schon. Dennoch wollte ich es so. Es gab mir wenigstens den Hauch des Gefühls, dass sie nicht blindlings in ihren Tod rannte, weil sie Blind vor Wut war. Doch bevor ich sie hochhob, um sie zurück zu den anderen zu tragen, sah ich mir ihre Narben genauer an. Überall an ihrem Körper waren diese weißen, hervorquellenden Bissspuren, die nie wieder verheilen werden. Und an ihrem Bauch… Diese Wunde hätte noch gar nicht zu heilen dürfen. Ihr wurde immerhin ein ganzes Stück davon herausgerissen. Aber alles was davon noch zu sehen war, war die augewölbte Narbe, die das eigenlich klaffende Loch füllte. Wobei diese Narbe noch etwas rosa wirkte, frischer. Zu Hause sollte sich Lestar das unbedingt mal ansehen.
„Alles in Ordnung?“, fragte Jodie forschend, als ich mit Ivy auf meinem Arm in den Raum kam. Sie machte sich sorgen um mich. Zu spät, gestand ich mir ein, schon vor langer Zeit bin ich verloren gegangen.
Ich legte Ivy auf die Liege, die im Gegenüberliegenden Raum von dem lag, in dem wir diesen Dino fest hielten. Ich selbst schnallte sie an Armen und Beinen fest, und versuchte dabei mein Bestes ihre Narben zu ignorieren. Hätten Brad und die anderen mich damals nicht aufgehalten, wäre ich alleine in die Stadt marschiert und hätte ein Massaker angerichtet, in dem ich vermutlich selbst gestorben wäre, in dem Glauben, dass ich meine eigene Tochter auf dem Gewissen hatte.
„Sie wird ein paar Stunden bewusstlos sein.“, sagte ich Jodie, die mir in den Raum gefolgt ist. „Ich will, dass du hier bleibst und sie solange wie möglich festhältst.“
„Aber…“
„Kein aber, Jodie.“, sagte ich ihr ins Gesicht, als ich die letzte Fußschnalle fest zurrte. „Sie hat Recht. Alles was mir lieb ist zerstöre ich irgendwann. Ich will wenigstens dich davor bewahren, wenn ich es schon bei meiner Frau und Tochter nicht schaffe.“
„Aber, John, das ist doch…“
„Schon gut.“
„Nein, ist es nicht. Das ist absoluter Quatsch. Wenn Ivy nicht sieht, was du für sie tust, dann tut es mir leid, dann ist sie einfach nur dumm und ignorant. Dasselbe gilt für Rae.“


33


Er ist einfach gegangen. Und das ohne mich, ganz alleine. Ich hab versucht es ihm auszureden, ihn davon zu überzeugen, dass er nicht alleine gehen soll, um die anderen beiden Brüder zu finden. Aber er wollte nicht hören. Jeder der John so gut kannte wie ich wusste, dass er ein Sturkopf war. Das schien ein Familienmerkmal bei uns zu sein. Niemand in unserer Familie gab gerne nach, was eigentlich bedeuten sollte, dass ich nicht locker gelassen hätte. Aber John ist und bleibt ein anderes Kaliber. Von niemand ließ er sich rein reden. Ich weiß, dass die meisten zu Hause denken, dass wenigstens Ivy und ich Einfluss auf seine Meinung hätte, weil wir auch Telepathen sind, aber das ist nicht wahr. John macht immer was er für richtig hält. Und jetzt ist er dort draußen und sucht in dem oben herrschenden Chaos nach Sireno und Ira, die sich irgendwo versteckt hielten, und wir wissen nicht wo. Wenigstens konnten wir sagen, dass sie immer noch in der Stadt waren.
Mich hat er zum Babysitter abkommandiert. Nicht nur für den Fall, dass unser Gefangener Dino aus seinem bewusstlosen Zustand aufwachen sollte, sondern auch um Ivy daran zu hindern etwas dummes in ihrer blinden Wut zu tun, dass sie ihr Leben kosten könnte. John hatte Recht, sie ist wirklich zu ungestüm, sie denkt nicht lange genug darüber nach, was sie tat.
Kyle kümmert sich um Ariana und Chane, die wirklich beide sehr verwahllost aussahen. Dennoch wirkten sie in ihrem Geisteszustand relativ normal. Bis auf ein unbedachtes und ängstliches Zusammenzucken, wenn man sie berühren wollte, waren sie noch ganz klar im Kopf. In meinem Leben mit, seit ich mit John unterwegs bin um Sklaven zu befreien, habe ich schon schlimmere Fälle gesehen, wesentlich schlimmer als diese beiden.
Unter all dem Dreck hatten beide sehr helle Haare. Aber ich konnte nicht genau sagen, ob sie noch braun oder schon blond waren. Obwohl er gekrümmt auf einer Couch an der Wand saß, konnte ich sagen, dass Chane klein gewachsen sind, kleiner als Kyle jedenfalls, der selbst nicht besonders groß war. Vielleicht lag es daran, dass er schon so lange hier unten eingesperrt war, ohne Sonnenlicht. Und ich hatte das Gefühl, dass der Mangel an Sonne nicht der einzige Grund für die Blässe der beiden Geschwister war. Sein abgemagerter und ausgemergelter Körper bot keinerlei Fettreserven, sodass er lediglich aus Haut und Knochen bestand, wie seine Schwester, bei der man noch deutlicher ihr Skelett wahrnehmen konnte. Sie sind unterernährt, sind aber noch stark genug um auf eigenen Beinen zu stehen. Die Hoffnung auf Freiheit stärkte sie. Hoffnung war es wohl auch, die Ariana zu mir auf grinsen ließ.
„Was ist?“, fragte ich sie verwirrt. Irgendwie kam sie mir komisch vor.
„Ich wusste, dass du kommst.“, sagte sie. Dann wandte sie sich an ihren Bruder, lächelte in sich hinein und rempelte ihn sanft mit der Schulter an, während Kyle in seiner Tasche kramte, um alles was er brauchte zusammenzusuchen, damit er sich um ihre Hunde an ihrem Bein kümmern konnte. „Hab ich nicht gesagt, sie kommt wieder? Ich hatte Recht, siehst du?“
„Ja, ich weiß.“, sagte Chane, strich ihr über ihr fettig glänzendes Haar und küsste sie dort. „Du hast immer Recht.“ Chane sah meine Verwirrung. „Wir haben euch schon vor einiger Zeit bemerkt, als ihr ein paar Tage in den Ruinen der alten Stadt herumgestreunt seid. Ariana wusste von Anfang an, dass ihr wieder kommt um uns zu retten.“
„Was?“, fragte ich noch verwirrt als zuvor. Kyle teilte meine Überraschung. „Ihr wusstet, dass wir da waren? Und was wir vorhatten?“ Ich war doch so vorsichtig nicht zu nah an die Stadt der Brüder zu kommen. Wussten sie etwa auch Bescheid? Aber hätten sie uns dann nicht schon eher getötet?
„Sireno, Ira und Dino wussten nichts von euch.“, erklärte mir Chane, als habe er meine Gedanken gelesen – was er womöglich sogar hat. „Ich wusste es auch nur, weil Ariana euch bemerkt hat. Wir zwei unterscheiden uns von unseren Brüdern. Sie sind mit ihrer Telepathie eher offensiv, während wir defensiv sind. Sie greifen mit ihren Gedanken an, wir lesen höchstens die Gedanken anderer und halten uns zurück. Das ist so eine angeborene Sache. Aber damit kennst du dich ja bestimmt selber ganz gut aus. Immerhin bist du auch ein Telepath.“ Er spürte, dass ich ihm nicht ganz folgen konnte. „Oder? Ich meine, ich kann in deinen Gedanken die Erinnerungen von Generationen vor dir sehen. Ihr müsst doch in all den Jahren viel Informationen über unsere Fähigkeiten gesammelt haben.“
„Ja, schon, aber…“ Ich überlegte, was mich überhaupt an seiner Aussage störte, dass ich ihm nicht folgen konnte. „Eine defensive oder offensive Art seine Telepathie einzusetzen ist doch nicht angeboren.“
Chane sah mich kurz schweigend an, bevor er wieder sprach. „Na ja… Bei uns schon. Aber wir sind auch keine normalen Telepathen.“ Weiter sah er mich eindringlich an. „Wobei ihr auch nicht normal seid, oder?“
Es hätte mich gekränkt, dass er meinte wir seien nicht normal, wenn er nicht Recht gehabt hätte. „Stimmt.“, sagte ich. „Mit unseren Vorfahren wurden Experimente gemacht, sodass all ihre Nachkommen auch Telepathen werden.“ Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich ihm das erzähle. Zu Hause weiß eigentlich niemand davon. Kyle jetzt schon, denn er ist hellhörig geworden, kümmert sich aber schweigend um Arianas Bein, dass eine tiefe Schnittwunde aufwies.
Chane überlegte kurz. „Sieht wohl so aus, als hätten wir da was gemeinsam. An einem unserer Vorfahren wurde auch herum experimentiert. Vielleicht war das sogar eine Weiterführung der Studie, die mit euch gemacht wurde. Jedenfalls, vorher war unser Vorfahr kein Telepath.“
„Warte mal.“, unterbrach ich ihn, bevor er mir noch mehr Informationen gab, die so unglaublich klingen. „Willst du damit sagen, dass man diesen Vorfahr von euch-“
„Casey.“, warf Ariana ein.
„- Casey, dass er mit Experimenten erst zum Telepathen gemacht wurde?“, fragte ich. Das war total … verrückt. Andererseits hat N-Corp es auch geschafft, dass die Telepathie in unserer Familie von Generation zu Generation vererbt werden konnte. Und offenbar nicht nur bei uns. Bisher dachte ich eigentlich, dass wir die einzige Familie waren, die Telepathie weitervererben konnte. Aber bei ihnen schien es genauso zu sein. Das erklärte auch, dass alle Fünf Geschwister und auch ihr Onkel Ifram gleichzeitig Telepathen waren.
„Ja.“, antwortete Chane ganz simpel, als sei dies keine unglaubliche Nachricht. Aber das war es für ihn wohl auch nicht. Immerhin ist er damit aufgewachsen.
„War das hier?“, fragte ich nach einer langen Schweigeminute, in der ich diese Informationen erst einmal in meinen Kopf kriegen musste. „In diesen Labors, meine ich.“
„Nein. Das war irgendwo in den Bergen. Die Einrichtung gibt es wohl auch nicht mehr. Ist schon ziemlich lange her.“, erklärte er und sah sich um. „Das hier gehörte zwar auch zu N-Corp, war aber nur für kleinere, mehr oder weniger unwichtigere Forschungen. Die Labors hier wurden erst übernommen, nachdem die Stadt gegründet war.“
„Und all die Jahre wurde hier an Zombies herumexperimentiert?“, fragte ich.
„Nein.“, antwortete Chane. „Anfangs hat man sich hier nur breit gemacht, weil wir das, was die Zombies zu Zombies machte besser verstehen wollten, um irgendwie eine Lösung dafür zu finden, ein Gegenmittel oder wenigstens eine Impfung. Man muss seinen Feind erst richtig kennen, um ihn zu besiegen.“
„Und stattdessen hat euer Bruder herausgefunden, wie man Zombies macht, die nicht ansteckend sind.“
„Das war nicht Sireno.“, sagte Chane, ohne seinen Bruder in Schutz nehmen zu wollen. Er zeigte keinerlei Emotion, als er darüber sprach. Irgendwie klang er sogar hohl, was wohl den Jahren die er hier unten zugebracht hat zuzuschreiben war. „Der Zombie, den deine Cousine heute getötet hat, ist eigentlich schon sehr alt.“
„Neunundzwanzig Jahre.“, warf Ariana wieder ein.
„Du musst wissen, er altert nicht. Genau wie normale Zombies. Ist aber mehr Mensch und doch nicht im Geringsten Mensch. Ich glaube der Mann, an dem man das Mittel getestet hat, das ihn zu dem werden ließ, war selbst schon Mitte Dreißig. Also, du siehst, dass er schon weit über sechzig sein muss, aber immer noch so aussieht als sei er erst vor kurzem zu diesem Ding geworden.“
„Aber Sireno hat noch einen gemacht.“, sagte Ariana.
„Es gibt noch mehr davon?“, fragte ich.
„Nur noch einen.“, sagte Chane. „Sie war in dem Raum, in dem deine Cousine gerade wieder zu sich kommt.“ Er zeigte durch die dicke Glaswand, durch die man Ivy sehen konnte, wie sich langsam wieder zu regen begann.
„Kyle, wie viel hast du ihr gegeben?“, fragte ich erschrocken. Ich war gar nicht darauf vorbereitet jetzt schon mit Ivy fertig werden zu müssen.
„Nur so viel, dass sie kurz weggetreten ist, damit sie wieder runterkommt.“, sagte er und starrte jetzt auch auf den zuckenden Körper von Ivy. Sie wehrte sich unbeholfen gegen die Fesseln an ihren Gelenken. Ganz bei sich war sie aber noch nicht.
„Gibt ihr mehr.“, sagte ich. „Sonst rennt sie gleich wieder los.“
Kyle kramte erneut in seiner Tasche und kam mit einer weiteren Spritze mit der glasklaren Flüssigkeit darin hervor. Vorsichtshalber folgte ich ihm in Ivys provisorische „Zelle“, damit ich sie aufhalten konnte, falls sie sich gegen Kyle zu wehren versuchte, der jetzt neben ihr stand und die Spritze testete. Ein dünner Strahl der Flüssigkeit flog durch die Luft und glitzerte wie Tautropfen unter der gerade aufgegangenen Sonne. Ivy stöhnte vor sich hin und versuchte ihre Arme aus den Fesseln zu ziehen, die sie an die Liege pinnten. Vorsichtig testete Kyle die Lage, indem er sanft eine Hand an Ivys Oberarm legte und sie langsam immer stärker an Ort und Stelle hielt, bevor er die Spritze in sie einfahren ließ.
Doch noch ehe er das Betäubungsmittel mit ihrem Blut in ihrem Körper vermengen konnte, flog ihm die Spritze aus der Hand. Die Nadel ist dabei abgebrochen und steckte noch immer in Ivys Arm. Kyle wich erschrocken zurück, ich kam instinktiv näher, was ein Fehler war. Ivy hatte meine Bewegung als Bedrohung wahrgenommen, und schon flog ich rücklings durch den Raum und schlug an der Wand hinter mir schmerzhaft auf. Für einen kurzen Moment schaffte ich es einfach nicht meine Lungen mit Luft zu füllen, weil sie durch den plötzlichen und harten Aufprall irritiert waren.
Meine kurze Abwesenheit im Geschehen reichte Ivy um sich von ihren Fesseln zu befreien. Schwankend aber gestützt von ihrer noch immer brennenden Wut richtete sie sich in eine Sitzposition auf.
„Ivy…“, fing Kyle an, verfiel aber gleich wieder in Schweigen, als er ihren erbosten Blick auffing. Am liebsten wäre er wohl mit der Wand hinter ihm verschmolzen.
„Wo ist er?“, fragte sie mit kränklich wirkender Stimme und zog die in ihrem Arm verbleibende Nadel heraus, die sie dann zu Boden warf.
„Er sucht die andern beiden.“, sagte ich und stemmte mich mithilfe der Wand wieder auf meine Füße.
„Dann hat er Sireno noch nicht gefunden?“, fragte sie fast hoffnungsvoll und sprang von der Liege.
„Ivy, wenn du hier auf Dino aufpasst, dann kann ich losgehen und deinem Dad helfen.“, sagte ich wiederum hoffnungsvoll. Bitte lass sie nicht mehr so versessen darauf sein sich in den Kampf zu stürzen, der sie womöglich das Leben kostet. „Für dich ist das zu gefährlich. Du bist immer noch zu wütend…“
„Nein, ich werde ihm helfen.“, sagte sie und ging an mir vorbei, als wäre sie nicht gerade für knapp eine Stunde bewusstlos gewesen. „Und wie ich ihm helfen werde.“, murmelte sie vor sich hin.
„Ivy!“, hielt ich sie auf und packte sie am Arm. Zuerst sah sie nur meine Hand an, die ihren Arm im Griff hatte, dann mich. In ihren Augen sah ich etwas, das ich zuvor noch nie so in ihr gesehen habe. Ich konnte nicht einmal sagen, was es überhaupt war. Ihre Wut? Entschlossenheit? Der endgültige Verlust ihres Verstandes?

Ich wollte es nicht, tat es aber trotzdem. Für einen Augenblick sah ich noch zu, wie Jodie sich wegen des heftigen Kopfschmerzes, den sie mir zu verdanken hatte, auf dem Boden krümmte. Ich warf Kyle einen letzten Blick zu. Er hatte sichtlich Angst vor mir, würde am liebsten in der Wand hinter ihm verschwinden. Dann verließ ich den Raum, ging an Ariana und Chane vorbei und machte mich auf die Suche nach Sireno, um seinem Leben ein Ende zu setzen.
Doch plötzlich verlor ich den Boden unter den Füßen und stolperte, unfähig mich abzufangen, auf die Wand zu. Schmerzhaft schlug mein Kopf gegen die Wand und ich sank zu Boden, wie ein Sack Mehl. Angestrengt versuchte ich bei Bewusstsein zu bleiben, aber meine Augen wollten nicht mehr richtig funktionieren, was mir die Sache erheblich erschwerte. Ich sah nur noch verschwommen und versuchte diesen Umstand wegzublinzeln.
„Tut mir Leid, aber du wolltest ja nicht hören.“, sagte Jodie hinter mir und kam auf mich zu. Ich ließ sie mich zu sich umdrehen, sie ging vor mir in die Hocke und nahm die Schutzkappe einer Spritze vor mir ab.
„Nein!“, schrie ich und stieß sie zur Seite, sodass ihr Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel. So schnell wie möglich wollte ich von ihr davon kriechen, merkte aber dann, dass ich in die falsche Richtung kroch, genau auf die Zellen von Chane und Ariana zu. Das war eine Sackgasse. Jodie würde mich nicht mehr vorbei lassen. Also machte ich kehrt und sprang sie an, als sie sich wieder aufrichten wollte. Mit aller Kraft versuchte ich ihr die Spritze aus der Hand zu schlagen, aber sowohl mental als auch Körperlich stand sie mir in nichts nach.
„Ivy, hör auf!“, brachte Jodie angestrengt hervor. „Wir versuchen dich doch nur zu beschützen!“
„Indem ihr mich unter Drogen setzt? Darauf kann ich gerne verzichten.“ Wir rangelten auf dem Boden um die Oberhand, die keiner von uns gewann.
„Wieso kannst du das denn nicht verstehen? Er will doch nur das Beste für dich.“
„Da hat er aber eine komische Art das zu zeigen.“
Einen winzigen Moment der Unachtsamkeit und Jodie nutzte dies zu ihrem Vorteil. Sie drehte uns so, dass nun ich auf meinem Rücken lag und sie über mir pinnte mich dort fest.
„Hör zu, er ist dein Vater, er liebt dich und will dich nur beschützen. Wieso bist du nur so dumm das nicht zu sehen? Wenn du jetzt gehst, so wütend wie du bist, wird Sireno das mit Leichtigkeit ausnutzen können, um dich zu töten. Er hat nämlich nicht das Ziel nur Gefangene zu nehmen. Er wird nicht zögern, wenn ihm die Gelegenheit gegeben wird. Du bist zu unvorsichtig…“
„Ha! Genau das denkt Dad über mich, nicht wahr? Ich hab euch reden gehört, als er euch den Plan erklärt hat. Er traut mir nicht.“
„Weißt du was, er hat vollkommen Recht dir nicht zu trauen! Wenn du zur Abwechslung mal das tust, was man dir sagt, würde er dir vielleicht mehr Vertrauen können. Aber wenn du dich so kindisch, dumm, ignorant und selbstsüchtig benimmst, wird das nie eintreffen.“
Daraufhin schwieg ich erst einmal. Was warf sie mir da an den Kopf? Ich sei kindisch, dumm, ignorant und selbstsüchtig? Ich bin nicht selbstsüchtig. Sireno hat den Tod verdient, schon allein, weil er Luke umgebracht hat, der noch ein halbes Kind war. Ich wollte nur sicherstellen, dass dieser Mistkerl bekommt was er verdient. Und ignorant? Wieso ignorant? Natürlich weiß ich, dass es gefährlich wird mich Sireno zu stellen. Und genau deshalb werde ich auch aufpassen, werde darauf achten, was sein nächster Schritt sein wird. Aber dazu muss ich ihn erst einmal finden. Und das ging nicht, solange ich Jodie an meiner Backe habe. Dumm und Kindisch. Pah, das ich nicht lache. Ich weiß genug von Sireno, um zu wissen, dass ein schneller Tod das Beste war um ihn ein für alle Mal den Gar auszumachen. Ich war klug genug zu erkennen, dass sie womöglich sogar Recht hatten mich für einen Moment außer Gefecht zu setzen. Ich war wirklich blind vor Wut, sodass ich Sirenos Tod wohl solange wie möglich hinaus gezögert hätte, um ihm so viel Schmerzen wie möglich dabei zuzufügen, die er verdient hat. Würde ein Kind den Mord an einem anderen Menschen so einfach in Kauf nehmen, um andere vor diesen Menschen zu beschützen?
„Du merkst ja nicht einmal, dass John vorhin sehr verletzt hast mit dem was du gesagt hast.“, sagte Jodie. „Dir ist egal was andere denken, solange du deinen Willen kriegst. Denkst du, es fällt ihm leicht all diese Entscheidungen zu treffen? Wenn du mal durch die Oberfläche sehen würdest, könntest du vielleicht sogar erkenne, wie sehr das an deinem Vater nagt. Wird endlich erwachsen!“
Was redet sie da? Ich weiß, dass es Dad nicht immer unbedingt gut geht. Das weiß jeder. Seit über zwanzig Jahren trauert er seinem besten Freund nach und verfällt hin und wieder in Depressionen, die er zu verbergen versucht. Was soll ich dagegen tun? Ich hab doch im Grunde keine Ahnung, wie man jemanden bewusst manipuliert – auf telepathische Art und Weise. Wie soll ich ihm helfen? Was will sie von mir?
Denkst du, es fällt ihm leicht all diese Entscheidungen zu treffen? Natürlich nicht. Wem würde es – außer Sireno und einigen anderen seines Kalibers – schon leicht fallen Entscheidungen über Leben und Tod zu fällen. Aber genau so eine Entscheidung will ich ihm doch abnehmen. Wenn auch nicht ausgerechnet diese Gründen. Aber will sich ja nicht helfen lassen. Er hat verhindert, dass ich Dino töte, der zweifelsohne den Tod verdient hat. Dad und Jodie – das sind zwei… Aus ihnen werde ich einfach nicht schlau.

Einen ganzen Stoß von Akten nahm ich aus dem Schrank, der die gesamte Wand in Anspruch nahm. Auf ihnen prangte überall das Logo, der von der ganzen Welt so verhassten Firma. N-Corp. Es war bestimmt nicht normal, dass sich unter einem x-beliebigen Keller eine Forschungsstationen mit Labors, durch einen ganzen Häuserblock und vielleicht sogar darüber hinaus zog. Aber dass das eine Station von N-Corp war, hätte ich mir beim besten Willen nicht in den Sinn kommen lassen.
Als Dave mich das allerletzte Mal in unser beider Leben besuchte, bevor er die Erde für immer verlassen hat, hatte er mir erzählt, dass N-Corp noch irgendwo existierte. Ich hatte ihn reden lassen und nichts gesagt, aber irgendwie klang das für einfach so unwirklich. Es war, als ob die Monster, die einem in Kindheitsalbträumen heimgesucht haben plötzlich daraus hervor sprangen und Wirklichkeit wurden. Die Vorstellung war einfach grauenerregend. Aber hier hatte ich nun den Beweis, für Daves Vorahnung, Akten von N-Corp.
Ich setzte mich an einem verstaubten Schreibtisch, der auf eine Magnettafel ausgerichtet war. Mit einem Stift waren dort Formeln aufgeschrieben worden, die eingetrocknet noch immer dort standen, nach wer weiß wie vielen Jahren der Nutzlosigkeit. Für mich ergaben diese Formeln keinen Sinn, ich hatte keine Ahnung von Wissenschaft. Ich verstand mich eher auf den Kampf ums Überleben.
Die oberste Akte des Stapels, den ich geborgen habe, schlug ich auf und fand noch mehr Formeln. Die ganze Akte war voll davon. Die nächste enthielt eine Fotografie von einem Mädchen. Sie war kaum älter als zehn Jahre alt und blickte unsicher in die Kamera. Von ihrem Blick hätte jeder erschließen können, dass sie nicht dort sein wollte, man hat sie gezwungen. Alles, was N-Corp in seinen Labors und Fabriken fabriziert hat, haben sie erzwungen, ohne Rücksicht auf die Gefühle und den Willen anderer. Sie haben einfach gemacht. Und das machte mich wütend.
Ich weiß, ich sollte eigentlich nach den beiden fehlenden Brüdern suchen, aber es ging nicht. Diese Akten schrien nach mir. Immerhin betrafen sie mich zum Teil auch. Meine Vorfahren wurden auch so behandelt. Sie wurden in ein Labor gesteckt, wo man mit ihnen machte, was man wollte. Es war ironisch, dass ausgerechnet ein solches Labor, das gleichzeitig als Bunker diente, sie schließlich vor der Apokalypse gerettet hat, die diese Firma über die Welt hereingebracht hat.
Ivy ist aufgewacht! Sie ist wütend und macht sich schon wieder auf den Weg das zu tun, was ich ihr eigentlich verboten hatte. Ich hatte nicht wirklich den Eindruck, dass Jodie sie hätte lange aufhalten können. Aber hätte sie dabei nur ein bisschen mehr Glück gehabt, hätte sie es sogar geschafft Ivy für noch eine Runde ins Reich der Träume zu schicken, wo sie nichts anstellen konnte, das sie das Leben kosten könnte. Aber es hat eben nicht sollen sein und Ivy stürmt wütend davon, nachdem sie Jodie ihre eigene Spritze verabreicht hat. Ich sollte wütend auf sie sein, weil sie damit riskierte, dass Dino uns entkam, sollte er genauso schnell aus seiner Bewusstlosigkeit aufwachen, wie sie. Aber ich war mir sicher, dass Kyle Chane und Ariana bitten konnte ihren Bruder aufzuhalten, sollte dieser Fall eintreffen.
„Was hat dich so lange aufgehalten?“, fragte ich Ivy, als sie mich endlich fand. „Ich dachte Kyle hätte dir eine geringere Dosis gegeben.“ Natürlich kannte ich die Antwort, ich versuchte nur zu erfahren, wie wütend sie auf mich war.
„Ich hatte da eine Zecke, die ich erst loswerden musste.“ Erwartet hätte ich, dass sie eiskalt oder aufbrausend reagierte. Aber sie wirkte … normal. Als hätte ich sie nicht unter Drogen gesetzt um sie vor einer Dummheit zu bewahren. Vielleicht hat sie eingesehen, dass sie im Unrecht war.
„Was tust du hier?“, fragte sie mich, als sie näher kam und mir über die Schulter sah. Ich hatte mich nicht zu ihr umgedreht, als sie das große Labor betreten hatte, in dem ich immer noch am Schreibtisch über den Akten saß. Immer noch hatte ich das Bild des ängstlichen Mädchens aufgeschlagen und nicht daran gedacht weiter zu blättern.
„Nichts weiter.“, sagte ich und klappte schließlich den Deckel der Akte zu. Alles, was ich hier später von N-Corp finde, würde ich mit nach Hause nehmen, um es mir dort in aller Ruhe ansehen zu können. Vielleicht gab es sogar Hinweise darauf, dass es wirklich noch aktive Einrichtungen dieser Firma gab, wie Dave vermutet hatte.
„Ich dachte du suchst nach Ira und Sireno.“, sagte Ivy und legte eine Hand sanft auf meine Schulter. Diese kleine Geste verwirrte mich. Nicht nur, dass sie nicht sauer auf mich war, benahm sie sich jetzt auch noch merkwürdig … fast zutraulich, würde ich sagen.
„Ich, äh, wurde abgelenkt. Was ist los?“, fragte ich. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, dass sie so einen plötzlichen Stimmungsumschwung erliegen war. Sie war noch so wütend, als sie aufgewacht ist. Und jetzt… Hat Jodie vielleicht etwas zu ihr gesagt? Ich hab ihren Streit nicht richtig verfolgt, abgelenkt von diesen Akten.
Ganz automatisch, ohne ein Wort von ihr, schlangen sich ihre Arme um meinen Hals und sie lehnte ihren Kopf gegen meinen. Ich begrüßte diese Umarmung. Schon zu lange ist es her, dass mich mein Mädchen freiwillig so liebevoll umarmt hat. Selbst, als wir uns das letzte Mal umarmten, tat sie dies nicht ganz freiwillig. Ich hab sie nicht dazu manipuliert, aber auffordern musste ich sie. Oben, im Keller, als ich sie wegen Luke trösten wollte; an der Feuerwache, als wir uns für lange Zeit verabschiedet haben; … das Mal davor, war viel zu lange her.
„Es tut mir leid.“, flüsterte sie in meine Schulter. „Ich wollte dir nicht wehtun. Ich war nur so sauer, dass…“
„…dass ich dich unter Drogen gesetzt habe.“, beendete ich ihren Satz. Ich küsste ihr Haar und bemerkte, als ich sie einatmete, dass sie eine Dusche mit viel Seife gebrauche könnte. Bei diesem Gedanken musste ich lächeln. Er war so herrlich banal. „Schon gut. Ich war nicht ganz fair zu dir.“
„Was hast du da gefunden?“, fragte sie und löste die Umarmung wieder – zu früh.
„N-Corp.“, sagte ich.
Ivy blätterte desinteressiert durch den Stapel von Akten. „Chane und Ariana meinten, dass hier eher unwichtige Forschung betrieben wurde.“, erklärte sie.
Ich öffnete die Akten mit dem Foto des kleinen Mädchens darin. „Sieht das für dich unwichtig aus?“


34


Bevor er plötzlich aufsprang und mich hinter seinen Rücken drückte, hatte ich nur seinen weit aufgerissenen Augen als Vorwarnung. Erst dann, wo ich sie sah, hörte ich ihr hungriges Stöhnen. Berechnend sah sie uns an, wie ich es von dem unnatürlichen Zombie kannte, den ich heute getötet habe. Aber das hier war eine Frau. Sie war nackt und hatte eine riesige, klaffende Wunde an ihrem Bauch, aus der ein langes Stück ihres Darms heraus hing. Ihr Mund war Blut verschmiert, genau wie ihre Hände, die die ableckte. Ihre milchigen Augen scannten uns von Fuß bis zu Kopf. Und als sie oben angekommen waren, fing sie an zu grinsen, wie eine Verrückte.
Blitzartig stieß mich Dad zu Seite, als sie zum Angriff ihre Muskeln zucken ließ. Ich fiel zu Boden und schlidderte ein paar Meter auf dem rutschigen Linoleum weiter auf die andere Seite des Raumes, während Dad den Schwung des Angriffs des Zombies ausnutzte um ihren Kopf auf den Schreibtisch hinter sich zu rammen, indem er ihr auswich. Weil Dad dabei keinen guten Halt hatte, war der Aufprall des Kopfes auf der Holzoberfläche des Tisches nicht heftig genug um ihren Schädel einzudrücken. Er versuchte sogleich ihr das Genick zu brechen, schaffte es aber nicht, weil er aufschrie und zusammenzuckte. Sie hatte ihn gebissen! Hoffentlich war sie wirklich so ein Zombie, wie der, den ich heute getötet habe. Ich will meinen Vater nicht verlieren.
Dad stieß sie von sich und bemerkte sogleich seinen Fehler, denn sie schlidderte genau auf mich zu. Die Zombiefrau übernahm den Schwung ihres Sturzes und hechtete auf mich zu. Dad blieb wie angewurzelt stehen, er wollte sie mit seinen Gedanken töten. Aber auch das half nichts, sie schnellte unaufhaltsam auf mich zu. Und obwohl Dad ihr hinterher lief, spürte ich schon den Schmerz, den sie mit ihren Zähnen in meinem Fleisch ausrichtete. Denn irgendwas war da, dass mich daran hinderte zu reagieren. Aber es war kein anderer Telepath, der mich irgendwie blockierte. Es war die nackte Angst, die die Erinnerung an meinen ersten Kampf mit so einem Zombie auslöste. Diese Angst hatte ich heute schon einmal gespürt, aber da konnte ich sie wenigstens soweit abschütteln oder zumindest im Zaum halten, dass ich meinen Gegner töten konnte. Diesmal war es nicht so.
„Argh!“, schrie ich auf, als sich ihre Zähne in meine Wade vergruben. Dad stürzte sich von hinten auf sie und zwang sie gewaltvoll von mir ab zu lassen. Was er zwar schaffte, aber nicht ohne, dass sie mir ein Stück Fleisch entriss, was mich ein weiteres Mal aufschreien ließ – noch lauter, denn es war noch schmerzhafter.
Zitternd sah ich zu, wie Dad ihr den Hals umdrehte, im wahrsten Sinne des Wortes. Ihren reg- und leblosen Körper ließ er unachtsam auf den Boden plumpsen und war sofort an meiner Seite, um meine Wade zu untersuchen. Tiefe Sorge, dass sie womöglich doch kein abnormaler Zombie war, huschte ihm übers Gesicht. Aber diese Emotion unterdrückte er gleich wieder. Ein Stück von seinem Hemd riss er ab und wickelte es um die Wunde, um die Blutung zu stoppen. Es hatte sich bereits eine Lache unter meinem Bein gebildet. An das warme Gefühl, das aus der Wunde heraus trat, ignorierte ich lieber. Trotzdem merkte ich, dass der provisorische Verband sich schnell mit Blut vollsog.
„Alles in Ordnung?“, fragte Dad. Ich nickte, brachte aber kein Wort raus. In diesem Moment, verletzt und mit meinem Dad an meiner Seite, fühlte ich wie ein Kind, das beim Spielen hingefallen war, anstatt gerade von einem Zombie angeknabbert worden zu sein. „Kannst du aufstehen?“
Ich wusste es nicht, aber ich versuchte es. Nicht ohne die Hilfe von Dad schaffte ich es aufzustehen, geschweige denn zu gehen. Obwohl ich Verletzungen aller Art gewöhnt war, vor kurzem sogar einen Stahlbolzen in meinem Bein stecken hatte, traute ich mich bei dieser Art von Wunde nicht auf mein Verletztes Bein aufzutreten. Ich humpelte an Dads Seite, der mich fast schon trug. Er wollte mich zu Kyle bringen, damit er sich richtig um die Wunde kümmern konnte.
Aber so weit kamen wir gar nicht erst. Alle drei waren wir überrascht, denn alle drei hatten wir nicht auf unsere Umgebung geachtet, als Dad und ich plötzlich auf Ira stießen. Für eine Schrecksekunde starrten wir uns nur geschockt und überrascht entgegen. Ich war die erste, die wieder zu sich kam. Sofort vergaß ich den Schmerz in meinem Bein, die Angst die damit wieder in mir hochkam, und in mir loderte wieder die Wut auf. Ein erfüllendes Gefühl, dass mir Kraft schenkte, die ich brauchte um ihn zu töten, bevor Dad wieder zu sich kam und wieder eingreifen konnte. Ich sammelte meine Gedanken und Konzentration und richtete sie auf einen Punkt, seinen Tod.
Doch, zu spät! Dad trat mir mit seiner Hacke direkt in meine offene, aber immer noch verbundene, Wunde. Und während ich vor Schmerz zusammenzuckte, fiel Ira schon zu Boden. Gegen meinen Willen wurde ich auf einen nahestehenden Stuhl gesetzt, sodass Dad eine Spritze aus einer seiner Hosentaschen fischen konnte. Er hatte die Spritze schon angesetzt, als ich wieder dazu bereit war Ira den Gnadenstoß zu geben, der die Welt von ihm befreien würde. Doch dann sah er mich an und ich sah ihn an. Seine Augen flehten. Er flehte mich an keiner von ihnen zu werden, kein Monster, das tötet, wenn sein eigenes Leben nicht in unmittelbarer Gefahr ist. Da konnte ich es nicht tun. Gerade haben wir uns quasi wieder vertragen. Da konnte ich ihn doch nicht gleich wieder enttäuschen.
Also ließ ich es reumütig bleiben. Glücklich hievte Dad den Regungslosen Jungen auf seine Schulter und bot mir seine andere Schulter an, auf die ich mich stützen sollte. Aber ich lehnte ab. Ich würde hinter ihnen her humpeln, sagte ich ihm, er brauche sich keine Sorgen mehr um mich zu machen. Ich weiß nicht woran es lag, dass er mir diese Lüge so einfach abkaufte, vielleicht wollte er es ja ganz einfach, aber er ließ mich so machen, wie ich gesagt habe. Er beeilte sich sogar Ira zu Kyle und Jodie zu bringen, damit er schnell wieder zurück zu mir konnte, um mich zu unterstützen. Aber vielleicht beeilte er sich auch so, weil er wusste, dass ich ihm nicht folgen würde, dass ich absichtlich zurückfiel. Vielleicht wollte er mich nur rechtzeitig wieder einholen, um zu verhindern, dass ich Mist baue. Doch auch mit der Möglichkeit in meinem Hinterkopf, dass ich gerade wirklich dumm handelte, setzte ich so schnell wie möglich meinen Weg fort, um möglichst als erstes und alleine auf Sireno zu treffen. Dabei ignorierte ich sogar den brennenden Schmerz in meiner Wade, der sich durch mein ganzes Bein hindurch zog.
In Nullkommanichts hatte ich die lange Treppe, die hinunter in das Untergeschoss des Kellers führe überwunden, musste dabei aber kräftig die Zähne zusammenbeißen. Von draußen drangen kaum noch Laute, außer hier und da ein Rufen – ich glaube ich hörte sogar ein erleichtertes Lachen einer Gruppe. Ich konnte nur hoffen, dass es unsere Leute waren, denn auf den Straßen sah ich niemanden, der mich darauf schließen ließ, welche Seite gerade die Oberhand hielt. Es war noch immer dunkel, aber mein Gefühl sagte mir, dass die Sonne nicht mehr lange auf sich warten ließ, bald würde wieder Tag herrschen, dann wissen wir endlich, wie die Lage aussieht.
Die Müdigkeit, über den fehlenden Schlaf, bemerkte ich erst, als mir ein riesiger roter Fleck auf der Straße vor dem Gebäude auffiel. Die Realität schlug mich ins Gesicht, wie Dads Ohrfeige vor ein paar Stunden. Luke war tot. Wie viele waren noch tot? Was war mit meinen Freunden? Sie waren ohne Ausnahme, alle mit gekommen. Waren sie verletzt? Waren sie…? Ging es ihnen gut?
Für einen Augenblick nahm ich mir Zeit. Mir war sogar egal, ob Dad mich jede Sekunde einholen konnte. Ich suchte nach ihnen und schloss dabei die Augen. Stella war mit ein paar anderen in dem Haus, in dem die ersten Schüsse gefallen waren. Sie entfesselten die Kinder, die man dort zurückgelassen hatte, damit sie außer Schusslinie waren – Sklavenkinder. Sie hatten Angst und wichen sofor zurück, als sie befreit waren. Aber Stella ging es gut. Auch den anderen, die bei ihr sind, konnten nichts weiter aufweisen als ein paar blaue Flecken oder Schrammen. Erleichtert suchte ich nach Ava und fand auch gleich Eve neben. Sie gehörten zu der Gruppe, die erleichtert und triumphal gelacht hatten. Ich bemerkte, dass Ava eine Schusswunde am Arm hatte, aber weil sie sich keine Gedanken darum machte, musste ich mich jetzt auch nicht darum kümmern. Greg fand ich etwas abseits. Zusammen mit seinem Vater tröstete er Lena, die immer noch aufgelöst darüber war, dass Luke bei dem Versuch sie zu retten, gestorben ist. Aber körperlich ging es ihnen soweit ganz gut. Sammy schien sich an den Rippen verletzt zu haben. VJ hatte Probleme mit seiner Hand und fragte sich, ob sie gebrochen oder nur verstaucht ist. Meinen Freunden ging es soweit ganz gut, immerhin lebten sie noch. Das beruhigte mich. Aber nach den anderen der Kolonie konnte ich jetzt nun wirklich nicht suchen. Ich hatte schon zu viel Zeit dafür aufgewendet und das, obwohl ich mir sicher war, dass Sireno nicht länger unten im Untergeschoss war, sondern irgendwo hier draußen.
Doch für einen musste ich noch Zeit haben. Nick brachte mich darauf, als er sich bei Doris erkundigte, die den mehr oder weniger schwer verletzten Aaron behandelte – er hatte mehrere Schusswunden – ob sie etwas von Jodie wisse. Als er aber aus ihr nichts herausbekommt, eilt er zu Sarah und versucht es bei ihr. Er hat Angst um Jodie, weil er sie liebt und nicht verlieren will. Es gibt auch noch so einen Menschen, den ich nicht verlieren möchte. Rick.
Er war nicht bei den anderen, nicht bei seinen Freunden, die alle nicht wussten wo er steckte, und auch nicht bei seiner Mutter, die sich verletzt um einige Gefangene kümmerte. In ihren Hintergedanken machte sie sich Sorgen um ihre beiden Söhne – Kyle hatte sie ja auch schon eine Weile nicht mehr gesehen. Mit ihrer Sorge steckte sie mich an. Wo zum Teufel war Rick?! Lag er irgendwo, fernab von den anderen, und war verletzt, unfähig sich bemerkbar zu machen, weil er dem Tode nahe war?
Ich suchte und suchte und suchte ihn.
Und nein, er war nicht verletzt. Aber das konnte sich jeden Augenblick ändern. Denn Sireno war in seiner Nähe!
Die Schmerzen in meinem Bein spürte ich nur noch durch einen Dicken Schleier aus Adrenalin, als ich unaufhaltsam in das Gebäude lief, in dem Stella versuchte das Vertrauen der Kinder zurückzugewinnen. Ich hörte dumpf, wie sie meinen Namen rief, als sie mich bemerkte, obwohl ich schon lange an ihr vorbei gelaufen war. Wie konnte ich Sireno nur nicht bemerken, als er sich durch das Haus aufs Dach schlich? Ich hatte doch Stella gesuchte um zu sehen, ob es ihr gut ging. Wie konnte er mir nur entgehen? Denn sicher war er da schon in der Nähe. Ich warf die Tür zum Dach auf und schoss ins Freie. Nur die Sterne begleiteten meinen Weg, als ich mit lauten Schritten über die Brücken polterte. Die Sterne über meinen Kopf, und die Zombies unter meinen Füßen, die ich aber ignorierte. Nach meiner Begegnung mit zwei abnormalen Zombies, hatte ich bestimmt keine Angst mehr vor den da unten – obwohl die mich mit nur einem Biss auch in einen von ihnen verwandeln können, die abnormalen Zombies nicht.
Da war er! Direkt vor mir stand Sireno, mit seinem Rücken zu mir gewandt. Die perfekte Gelegenheit für mich ihn unbemerkt von hinten anzugreifen und sofort zu töten. Aber warum bemerkt er nicht, dass sich Gefahr in Form von mir hinter ihm anbahnt? Da entdeckte ich den Grund. Rick stand vor ihm, mit den Knien zu Boden gesunken und fasste sich an die Kehle. Fast sah es so aus, als würde er sich selbst erwürgen, aber trotz der Dunkelheit hier draußen, erkannte ich, dass er mit seinen Fingern an seinem Hals herumkratzte, als wolle er sich von zwei unsichtbaren aber starken Händen befreien, die ihm die Luft abschnürten. Und diese unsichtbaren Hände waren Sirenos Gedanken. Er schnürte ihm aber nicht wirklich die Luft ab, sondern ließ es Rick nur denken, sodass er seine Lungen nicht dazu bringen konnte sich mit Sauerstoff zu füllen.
Was tu ich denn hier?! Ich sehe tatenlos zu, wie Sireno den Mann … den Mann den ich liebe tötet!
„Rick!“, rief ich, um ihn wissen zu lassen, dass Rettung naht. Aber das rief natürlich auch Sirenos Aufmerksamkeit auf den Plan, der bis dahin noch ganz mit Rick beschäftigt war. Noch bevor ich zum Spurt ansetzen konnte, mit dem ich Sireno rammen wollte, damit er Rick losließ, schob er ihn von der Dachkannte des Gebäudes, auf dem Rick gestanden hatte, direkt in die Meute von Zombies unter uns.

Das Rufen weckte mich nicht auf, sondern das Stöhnen, obwohl es viel leiser als die Rufe meines Namens war. Das Unheimlich daran, dass zunächst unbewusst Panik in mir auslöste als ich noch halb bewusstlos war, war, dass das Stöhnen so dicht vor mir war. Und als ich dann auch noch die kalte und klebrige Hand an meinem Arm spürte, die nach mit tastete, um Halt an mir zu finden, schossen meine Augenlieder ganz automatisch auf.
Ihre Köpfe sah ich nicht – außer vielleicht die Skalps der Größten unter ihnen – dafür war ich zu weit oben – zum Glück. Aber die tastenden Arme und das Stöhnen dazu genügten schon, um den mutigsten Mann eine Heiden Angst einzujagen. Unter lähmenden Schmerzen im Kopf, im Rücken und meinen rechten Fuß, versuchte ich mich aufzurichten. Erst beim zweiten Anlauf klappte es. Und das war auch der Zeitpunkt, in dem mein Name nicht mehr gerufen wurde.
Ich erinnerte mich nur vage, obwohl es nur wenige Sekunden her waren, dass die Rufe irgendwo über mir hergekommen sein mussten. Ich reckte meinen Kopf um hoch zu sehen, konnte aber niemanden entdecken. Aber ich bildete mir ein, dass da ein lautes Krachen war, als sei etwas zerschlagen worden. Doch darum konnte ich mir jetzt keine Sorgen machen. Da waren Dutzende Zombies um mich herum, die alle nach meinem Fleisch hungerten – und daran hing ich noch sehr. Ich lag auf irgendeinem Vordach, einem sehr niedrigen Vordach, sodass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis die Zombies darunter einen Weg zu mir hochfanden. Leider sah ich keine Möglichkeit, außer einem Fenster über mir, durch die ich aus meiner prekären Lage entkommen konnte. Nur war das Fenster meines Erachtens nach zu weit oben. Unter normalen Umständen hätte ich es wohl erreichen können, aber als ich versuchte aufzustehen, durchzog mich ein heftiger Schmerz von meinem rechten Fuß, der mich gleich wieder auf die Matte legte. War er gebrochen?
„Rick!“, rief plötzlich jemand über mir. Ivy streckte sich zu dem Fenster heraus, das über mir lag. Ich war so froh sie zu sehen. Unverletzt, wie es auf den ersten Blick erschien. „Bist du verletzt?“, fragte sie besorgt und aufgeregt zugleich.
„Mein Fuß.“, sagte ich in Antwort. Es war unnötig meine Kopf- und Rückenschmerzen zu erwähnen. Die hinderten mich nicht besonders daran, von diesem Vordach zu klettern.
„Kannst du aufstehen?“, fragte sie und suchte bereits nach einer Lösung für mein kleines Problem.
Ich versuchte es noch einmal, in der Hoffnung, dass jetzt wo ich auf den Schmerz gefasst war, er mich nicht wieder so einfach zu Boden zwingen würde. Hart biss ich die Zähne zusammen, bis es sich anfühlte, als würden sie gleich zerbersten. Aber es half auch diesmal nichts, wieder landete ich auf meinem Hintern. Diesmal sogar mit tränenden Augen, die mir der unfassbare Schmerz aufzwang. Um sie vor Ivy zu verbergen, tat ich so als würde ich mir Dreck oder Schweiß aus dem Gesicht reiben.
„Geht nicht.“, sagte ich kleinlaut und hasste es das zuzugeben.
Ivy schwieg und überlegte.
„Noch mal, Rick!“, rief sie mir zu und beugte sich weiter aus dem Fenster um mir ihre Hand entgegen strecken zu können. „Bitte versuch es noch mal!“, flehte sie angestrengt.
Ihr zu liebe hätte ich alles getan, auch wenn ich schon im Vornherein wusste, dass es nicht funktionieren konnte. Ivy hätte mich um alles bitten können, was sie wollte, die Sterne, den Mond, eine Welt, wie es sie vor der Apokalypse gab, ich hätte alles daran gesetzt ihr diese Dinge zu schenken, nur um sie lächeln zu sehen. Selbst wenn es mich umbringen würde. Also versuchte ich es erneut aufzustehen, mit dem Wissen, dass ich jeden Moment wieder hinfallen werde. Doch der Schmerz blieb aus. Warum? Das einzige was ich von meinem Fuß noch spürte war gar nichts mehr. Er war taub. War der Schmerz jetzt schon so heftig, dass mein Gehirn so damit überfordert war überhaupt etwas zu spüren? Ging das überhaupt?
Stehend, mich aber vorsichtshalber an der Ziegelwand abstützend, testete ich das merkwürdig taube Gefühl in meinem Fuß. Ich spürte zwar keinen Schmerz, aber dafür, dass etwas ganz und gar nicht mit ihm in Ordnung war. Bestimmt war er gebrochen. Ziemlich übel sogar, soweit ich das beurteilen konnte.
„Rick, beeil dich!“, rief mich Ivy wieder in die Realität. Als ich zu ihr hoch sah, bemerkte ich Anstrengung und noch mehr Besorgnis in ihrem wunderschönen Gesicht. Ich folgte ihrem Blick und erkannte den Grund für ihre Zusätzliche Besorgnis. Die Zombies versuchte an der Kante des, durch meinen Sturz ohnehin schon lockeren und instabilen Dachs heraufzuklettern, was es jeden Augenblick aus den Angeln reißen konnte. Damit wäre es unnötig für die Zombies gewesen herauf zu klettern, damit sie mich fressen konnten.
Eilig stolperte ich auf Ivy zu und nahm ihre Hand. Sie war stärker als sie aussah, hatte aber trotzdem Schwierigkeiten damit einen ausgewachsenen Mann an einer Wand herauf zu ziehen, in der es keinerlei Möglichkeiten gab die Halt boten. Dennoch schafften wir es in Zusammenarbeit – gerade rechtzeitig, als das Dach unter der zusätzlichen Last der Zombies, die schon halb hochgeklettert waren, zusammenkrachte – mich an den Fenstersims zu hieven. Von da aus bedeutete es keine große Anstrengung mehr mich auch ins Innere des Gebäudes zu ziehen. Ausschnaufend landete ich neben Ivy auf dem Boden eines Treppenhauses, in dem es modrig muffelte.
„Alles okay?“, fragte mich Ivy und packte mich an meinem Oberschenkel meines verletzten Beines, nur um mich neben sich zu spüren. Erst dann sah sie mich direkt an. Zitternd wie ihr Köper huschten ihre Augen über mich, um sich selbst von einer Antwort zu überzeugen. „Du blutest.“, sagte sie und strich mir Haare aus der Stirn – ich sollte sie mir mal wieder schneiden, bemerkte ich, sie fielen mir schon in die Augen. Ihre Zitternde Hand strich mir sanft wie ein Schatten übers Gesicht und berührte mich an meinem Hals. Die Berührung brannte, Leidenschaft, die ich für sie empfand, vermischt mit Schmerz. Getrieben vom Schmerz, der eigentlich nichts im Vergleich zu dem Schmerz war, den ich in meinem Fuß gespürt hatte, wich ich vor ihrer Berührung zurück, wobei ich ihre Finger liebend gerne auf meiner Haut spürte.
Mein Blick fiel auf ihr Bein. „Du blutest auch.“, sagte ich erschrocken. Hatte sie sich verletzt, als sie mich hier rein gezogen hat? Aber nein, ihre Wunde war bereits verbunden, blutete aber noch sehr stark, sodass der Verband, der aussah wie ein einfacher Fetzen Stoff, schon vor Blut nur so triefte.
„Das ist nichts weiter.“, sagte sie und versteckte ihre Wunde vor mir, indem sie sich vor mich schob und sich auf ihr Bein setzte. Mit großen und reumütigen Augen blickte sie mich an. Reumütig? Warum Reumütig? War ich mir sicher, dass sie mich nicht irgendwie anders ansah? Nein, Sorge kam nicht ganz hin, obwohl wohl auch davon ein bisschen in das Gesamtbild mit einspielte. Doch der Großteil war Reue. „Es tut mir leid.“, sagte sie flehentlich zitternd. Ihre Hand fand mein Gesicht wieder und strich mir sanft über die Wange.
Was tut ihr leid? Ich überlegte kurz und kam zu dem Schluss, dass ich mich eigentlich entschuldigen musste. „Nein, mir tut es leid.“, sagte ich, nahm beide ihre Hände in meine und küsste sie. „Meinetwegen ist dieser Kerl jetzt entkommen. Dabei wollte ich ihn nur solange aufhalten, bis einer von euch kommt.“
„Was?“, fragte Ivy sichtlich verwirrt. „Sireno? Nein, das meine ich gar nicht. … Aber selbst wenn, das war nicht deine Schuld. Er hat dich doch vom Dach geschoben und fast umgebracht.“ So langsam klang sie sogar etwas sauer. „Es war höchstens dumm von dir dich überhaupt in seinen Weg zu stellen. Er hätte dich umbringen können.“ Sie sorgte sich um mich.
Aber das war es nicht gewesen, warum sie sich entschuldigte. Was meinte sie also?
„Warte. Wofür hast du dich entschuldigt?“ Jetzt war ich derjenige, der verwirrt war.
Einen kurzen Moment schwieg sie, sagte aber dann, „Für den Kuss.“
„Kuss?“, fragte ich. Welcher Kuss-? Dieser Kerl, früher heute Nacht! „Kuss.“, wiederholte ich, als ich einsah, was sie meinte. Ich spürte denselben Stich ins Herz, als die Szene sich wieder vor meinem inneren Auge auftat, den ich auf gespürt hatte, als es wirklich geschehen ist. Dieser Kerl, groß, muskulös, dunkelhäutig und gut aussehend, hatte sie geküsst. Aber was noch schlimmer war, sie hat ihn auch geküsst, sich nicht gewehrt, oder hinterher so ausgesehen, dass es ihr leid tat. Das kam erst, als sie umdrehte und mich erkannte.
„Rick, ich…“, fing sie an, „… ich… ich weiß nicht was ich sagen soll. Außer, dass es mir leid tut. Ich wollte das nicht.“
„Ihn küssen oder dass ich es sehe?“, fragte ich verletzt aber emotionslos zugleich.
Sie schwieg kurz. „Ich wollte dich nicht verletzen. Ich…“
„Du hast dich in ihn verliebt.“, half ich ihr auf die Sprünge. Meiner Ansicht nach, wollte sie das sagen. Ich glaubte ihr, dass sie mich nicht verletzen wollte. Sie ist kein schlechter Mensch. Eigentlich war sie eigentlich ein besserer Mensch als die meisten anderen, die ich kenne. Und deshalb liebe ich sie. Und deshalb tut es auch so weh.
„Nein!“, protestierte sie. Aber sofort, als sie das ausgesprochen hat, ging der Kampf in ihr verloren. „Das heißt… ich weiß es nicht.“
„Wann weißt du eigentlich jemals was du fühlst?!“, schrie ich sie an. Ich wollte weg von hier, weg von ihr. Ich wollte nicht, dass sie mich so sieht, verletzt und wegen meines dummen Stolzes auch noch wütend. Dabei wollte ich nicht wütend sein. Wenn ich sie anschreie geht sie doch gleich zu diesem anderen Kerl. Und das, obwohl ich doch drauf und dran war sie ganz allein für mich zu haben. Immerhin hatte sie mir gesagt, dass sie mit mir zusammen sein wollte.
„Rick.“, sagte sie ergeben.
Ich stand auf. Aber sofort schossen mir wieder Tränen in die Augen, als mich die heftigen Schmerzen wieder unerwartet niederrangen. Blöde Tränen, blöde Stimmungslage. Wenn ich diese Tränen nicht sofort unterband, konnte ich bestimmt nicht mehr aufhören. Denn mir war so richtig zum Heulen zumute.

Wir saßen schweigend in dem alten modrigen Treppenhaus, während Rick seinen Daumen und Zeigefinger auf seine Augen presste. Ich hatte nicht mehr die Kraft ihn die Schmerzen nicht mehr spüren zu lassen, wie Sireno ihn zuvor noch denken ließ, er könne nicht mehr atmen. Aber selbst wenn ich die Kraft noch hätte, hätte ich es wohl nicht getan. Er wollte am liebsten vor mir davon laufen. Und das einzige, das ihn daran hinderte waren die Schmerzen, die ihm sein gebrochener Fuß bereitete. Meine Schmerzen an meiner Wade waren ein Witz dagegen.
Ich berührte ihn am Bein, aber er schüttelte mich wieder ab, obwohl es ihn quälte, denn es war sein schmerzendes Bein. Die einzigen Geräusch, die zu hören waren, war das unaufhörliche Stöhnen der Zombies draußen, und Ricks schwere Atmung. Ich vermied es zu atmen. Oder besser gesagt, atmete so leise und unauffällig wie möglich. Denn Rick war wütend auf mich, weil ich mein Versprechen gebrochen habe. Und jederzeit könnte ihn etwas aufregen, das ich unfreiwillig tat, und dann würde er mich wegschicken. Aber ich konnte ihn nicht alleine lassen. Ich wollte ihn nicht alleine lassen. Und das lag nicht nur daran, dass er verletzt in der Nähe von Zombies war. Ich wollte bei ihm sein, damit ich alles nur möglich Erdenkliche für ihn tun konnte, damit er nicht mehr wütend auf mich ist.
„Hilfst du mir hoch?“, fragte er mit abweisend kalter Stimme. Natürlich half ich ihm hoch. Alles, was mich ihn berühren ließ, ohne dass er mich wieder abschüttelt.
Er lehnte sich mit dem Großteil seines Gewichtes auf mich und humpelte neben mir her, um seinen gebrochenen Fuß zu schonen. Als wir die Hälfte der Treppe erklommen hatten, überlegte ich. Hatte ich es ihm überhaupt schon gesagt? Vor nicht einmal – keine Ahnung, einer Stunde oder so – hatte ich es gedacht. Zum aller ersten Mal hatte ich es in meinen Gedanken ausgesprochen, ohne ein Fragezeichen dahinter zu setzen. Auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, was ich für VJ empfand, wusste ich es bei Rick genau. Ich liebe ihn.
„Ich liebe dich.“, sagte ich.
Keine Reaktion. Nicht mal eine, die mir sagte, ob er mich überhaupt verstanden hatte. Er sah mich nicht an, sondern starrte nur stur die Treppe rauf, als wir sie zusammen hinaufkletterten.
Ich dachte… - ich weiß nicht, was ich dachte. Aber ich hatte mir erhofft, dass er glücklich wäre, wenn ich es ihm endlich sagen würde. Ich dachte an unsere letzte gemeinsame Nacht zurück, in der wir nicht miteinander geschlafen hatten, nur nebeneinander. Damals sah er so glücklich aus, als ich ihm sagte, dass ich mit ihm zusammen sein wollte. Warum war er glücklicher, als ich ihm sagte, dass ich versuchen wollte mich in ihn zu verlieben – obwohl ich es womöglich sogar schon war – als jetzt, wo ich es ihm endlich wirklich sagte, dass ich ihn liebe? War er so sauer auf mich? War er so sauer, dass es ihm egal war, ob ich ihn liebe? Liebt er mich nicht mehr?
Körperlich und emotional, war er mehr verletzt worden, als ich, musste ich zugeben. Aber der Schmerz, die Unsicherheit, auf die Frage, ob er mich nicht mehr liebte, weil ich etwas für einen anderen Mann empfand, brachten mich schier um. Erst recht dann, als ich ihm über die Türschwelle der engen Tür half, sodass er sich an mir vorbei quetschen musste. Seine Brust berührte meine, als er an mir vorbei humpelte – aber er blieb stehen, was mich zu ihm aufsehen ließ. Ich konnte einfach nicht bestimmen, mit welcher Emotion er mich ansah, wusste aber, dass sie stark war. Sehr stark.
Küss mich, flehte ich in Gedanken, traute mich aber nicht es laut auszusprechen. Küss mich! Bitte, bitte, tu es. Küss mich!
Und das tat er auch. Sein Mund war sofort offen und seine Zunge verlangte nach Einlass in meinen Mund. Wäre ich nicht so überrascht gewesen, dass er es wirklich tat, dass er mich wirklich küsste, hätte ich ihm den Einlass in meinen Mund in der Sekunde gewährt, in der er mich mit seinen Lippen berührte. Während eine immer lauter werdende Stimme in meinem Hinterkopf schrie, dass ich Sireno doch noch verfolgen sollte, weil er Luke getötet hatte, ließ ich mich von Ricks Anziehungskraft vollkommen einnehmen. Es war noch nicht verloren. Beide Fronten. Rick hatte noch genug für mich übrig, um mich zu küssen. Dann hatte er vielleicht auch noch genug für mich übrig, um mir zu verzeihen. Und Sireno… die Welt war zwar groß, aber da braucht es schon mehr, damit er sich vor mir verstecken kann. Irgendwann, das Schwöre ich, töte ich ihn.

Impressum

Texte: Coverbild: aus dem PS3-Spiel Fallout3
Tag der Veröffentlichung: 22.05.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Anstelle einer Widmung schreibe ich jetzt eine Entschuldigung: Eigentlich wollte ich diese Story noch zurückhalten, weil ich sie dringend überarbeiten müsste. Hier sind nämlich verdammt peinliche Grammatik- und Rechtschreibfehler drinnen. Aber dazu hab ich momentan einfach keine Lust/Zeit, da sich noch so viele unfertige Werke bei mir stapeln. Und da dieses hier schon fertig ist, dachte ich mir, dass ich erst mal sehe wieviele Sterne ich bekomme. Ab zehn Sternen überarbeite ich die Story.

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