„Ich bin sowohl Mensch als auch Brut.
„Ich bin Zerberus, der letzte meiner Familie.
„Und meine Geschichte geht weiter.“
– Zerberus; ca. um 3023
Teil I
Moriarty´s Erpressung
1.
Es war schon spät, als ich seine Nachricht erhielt. Unter meiner Fußmatte vor meiner Wohnungstür hinterließen mir meine Stammkunden einen Treffpunkt, bei dem ich sie zu einer bestimmten Zeit, die auch in der Nachricht enthalten ist, treffen soll. So auch heute, als ich nach Hause kam.
Triff mich in der Bar, sobald du das hier liest. Ich bin die ganze Nacht dort. Es ist dringend, schrieb er. Unterzeichnet mit einem M. Mir reichte schon alleine seine Handschrift um ihn von meinen anderen Kunden unterscheiden zu können. Moriarty war in einer großen Firma angestellt. Und seinen rasanten Karriere Aufstieg darin, hatte er im Grunde mir und meinen Informationen, die ich ihm beschaffte, zu verdanken. Er erpresst seine Kollegen und Vorgesetzten. Mir war es ja egal, was er mit den Informationen, die ich ihm gab anstellte. Ich war der Letzte, der sich ein Urteil darüber erlaubte. Doch da gab es schon ganz andere Leute, die sich für etwas Besseres hielten.
Die Bar, die er in seiner Nachricht meinte, gehörte einem guten Freund von mir. Es war der Standartort, in dem ich meine Kunden empfing. Denn niemals würde ich sie zu mir nach Hause bringen. Das was ich tat war illegal. Ich beschaffte irgendwelchen Leuten, die ich gar nicht näher kennen wollte, Informationen, die sie sonst gar nicht bekommen würden oder dürften.
Wie ich das anstellte? Nein, ich bin kein Hacker, der sich in fremde Systeme einschleusen konnte, und so an Betriebsgeheimnisse oder private, schlüpfrige Details heran kam. In Wahrheit bin ich ein Telepath. Als Telepath war es mir ein leichtes die Gedanken anderer zu lesen und so an ihre geheimsten Geheimnisse zu kommen. Denn obwohl Geheimniskrämer etwas verheimlichten, dachten sie so häufig daran, dass es nicht lange dauert, bis ich meinen Auftrag erfolgreich hinter mich bringen konnte und einen Haufen GE´s einstreichen kann.
Es ist äußerst rentabel im Informationsgeschäft tätig zu sein. Denn wie heißt es doch so schön, Wissen ist Macht. Und obwohl es tausende andere Telepathen im Solarpentagon System gibt, habe ich quasi ein Monopol darauf. Zum einen, weil es illegal war Telepathie gegen andere einzusetzen und die Strafen dafür enorm abschreckend waren. Und zum anderen, weil ich ein sehr begabter Telepath bin. Viele Telepathen müssen sich enorm anstrengen um die Gedanken andere zu lesen und können daher nicht aufpassen, ob sie erwischt werden. Ich bin in dieser Hinsicht multitaskingfähig.
Mit der Nachricht in der Hand öffnete ich erst einmal die Tür zu meiner Wohnung mit der Zugangsberechtigung durch meinen Daumenabdruck. In weniger als einer Sekunde schob sich die Tür nach links in die Wand aus meinem Weg, sodass ich Zugang bekam.
Bevor ich irgendetwas anderes tat, holte ich erst das Feuerzeug aus einer der Schubladen in meiner Küche und zündete die Nachricht von Moriarty in der Spüle an. Ich wollte ja immerhin keine Spuren hinterlassen, falls die Ordner doch noch auf mich aufmerksam werden.
Dann sah ich auf die Uhr. In deutlichen, blauen Zahlen, verkündete sie mir, dass es bereits 29 Uhr war. Es war spät. Ich wusste zwar nicht, seit wann die Nachricht schon unter meiner Fußmatte gelegen hatte, aber ich war mir sicher, dass Moriarty noch ein wenig länger auf mich warten konnte. Seine Definition von dringend, war etwas anders als die allgemein bekannte Version. Oft machte er einfach aus einer Mücke einen Elefanten.
Zunächst überprüfte ich mein Bildtelefon nach Nachrichten – es waren keine vorhanden. Nicht einmal von Yoko, obwohl sie sich melden wollte. Und wäre das nicht schon öfter vorgekommen, würde ich mir jetzt auch sorgen machen. Vermutlich würde ich sie morgen sogar sehen.
In der Post war auch nichts Interessantes. Werbung. Rechnungsbescheide. Keine Nachricht von … Das übliche eben.
Nur weil ich Hunger hatte, beschloss ich Moriarty doch nicht mehr länger warten zu lassen. In der Bar würde ich mir etwas zu Essen bestellen. So musste ich nicht selbst etwas kochen, das ohnehin nicht genießbar sein würde. Ich wusste gar nicht, warum ich überhaupt Lebensmittel in meiner Küche hatte, wenn ich gar nicht kochen konnte. Vermutlich wegen Yoko. Sie kochte gerne. Besonders für mich, wie sie mir einmal sagte.
Doch bevor ich meine Wohnung wieder verließ, warf ich noch einen Blick aus meinem Fenster. Ich lebte im oberen Viertel eines zweihundertstöckigen Hochhauses. Vor einigen Tagen hatte die Stadt eine Baustelle nur wenige Etagen unter meiner Wohnung aufgestellt. Jetzt bauten sie die Straßen schon in fast fünfhundert Metern Höhe. Im Grunde war es mir ja egal, was sie taten. Die meiste Zeit war ich sowieso außer Haus. Aber jeden verdammten Morgen weckten mich die Bauarbeiter mit ihrem Krach auf, denn ich hatte die Angewohnheit lange zu schlafen.
Unter der Beleuchtung der einzelnen Wohnungen in dieser Höhe, konnte ich erkennen, dass sie noch nicht besonders weit waren. Mir schwante übles. Wahrscheinlich musste ich den Krach noch einige Morgen hinnehmen.
Ich seufzte und verließ die Wohnung. Es hatte ja keinen Sinn sich darüber aufzuregen. Ich musste nur irgendwie da durch.
Ich nahm direkt den Aufzug in den untersten Level meines Wohngebäudes. Dadurch kam ich direkt zu den Slums, die sich über die gesamte Stadt am Fuße der Wolkenkratzer erstreckten. Es war beinahe surreal, dass sie direkt unter mir lagen, ich sie aber von meinem Fenster aus nicht sehen konnte. Das einzige, was ich von dort aus erkennen konnte war der Himmel und die Straßen unter mir.
Der modrige Geruch war das erste, das mir in meine Nase drang. Hier unten kümmerte sich so gut wie niemand darum, dass es sauber war. Lediglich das nötigste wurde unternommen um das Fundament des Gebäudes nicht zu gefährden. Doch auch dabei wurde oft geschlampt, wie man in den Nachrichten immer wieder hörte. Millionen wurden ausgegeben um beschädigte Fundamente wieder herzustellen. Das ging viel mehr in die Taschen der Besitzer des Gebäudes als eine regelmäßige Instandsetzung. Und die Bewohner hatten auch jede Menge Ärger dadurch.
In meinem Wohnhaus war es noch nicht soweit. Aber wenn ich mich hier so umsehe, in dem kleinen Vorraum der zu Gängen führte, die die Aufzüge mit den untersten (heruntergekommenen) Wohnungen verbanden, musste ich mich fragen, ob das nicht auch bald auf mich zukommen könnte.
Doch das schob ich erst einmal beiseite. Mein Magenknurren wurde immer lauter.
Als ich die Glastüren des Vorraumes aufstieß, entkam ich dem modrigen Geruch um in die tropische Luft, gefüllt von duzenden verschiedener Aromen. Scharfe und süße Gewürze. Bittere Geschmäcker, die sich auf meine Zunge legten, obwohl die Verkaufsstände nicht mal in der Nähe waren. Aber auch Ausscheidungen von Tieren mischten sich darunter. Und schon immer hatte ich das Gefühl, das diese Ausscheidungen nicht nur von Tieren stammten.
Die Menschen, die hier unten am Boden lebten, hatten so gut wie gar nichts. Oft nur die Kleider an ihren Leibern und die Waren, die sie verkauften und auf die sie 36 Stunden am Tag aufpassen mussten. Die Kriminalitätsrate war nämlich ungeschlagen in Vergleichswerten zu den anderen Städten.
Zu meiner rechten tauchte ein Verkaufsstand auf, an dem ich mir oft einen Falafel holte. Doch heute hatte ich Hunger auf etwas mehr. So ein Falafel machte mich nicht wirklich satt. Es war mehr ein Snack für zwischendurch.
Also ging ich weiter. Zu der Bar war es ein noch relativ weiter Fußweg. Ich musste mich an unzähligen Menschen vorbei drängen, die sich vor den Verkaufsständen sammelten und wie wild mit den Verkäufern um jede GE feilschten. Ich persönlich hielt hier nicht viel vom falschen. Wenn ich etwas haben wollte bezahlte ich den vollen Preis, der von den Händlern verlangt wurde. Die drückenden Massen, die auch ihr Stück vom Kuchen haben wollten waren mir einfach zu viel, sodass ich mich nie lange an einem Stand aufhielt. Außerdem verdiente ich genug, um mir den Großteil der Waren, die hier angeboten wurden, auf einmal leisten zu können.
Zudem flüchtete ich lieber so schnell wie möglich in die Bar, in der ich mich mit meinen Kunden traf. Die Gerüche der Gewürze waren ja schön und gut, aber der Gestank der Ausscheidungen war kaum erträglich. Und dieser Gestank herrschte wirklich überall, während die guten Gewürze kaum über die jeweiligen Stände hinausreichten.
Und gerade als ich dachte, ich wäre in einer relativ neutralen Geruchszone, tauchte einer der Elefanten auf, die hier immer wieder von ihren Treibern durch die Straßen gedrängt werden. Der Elefant allein stank schon zum Himmel. Aber dann erleichterte er sich auch noch direkt neben mir. Überrascht sprang ich zur Seite, um nicht davon getroffen zu werden. Dabei hätte ich fast einige spielende Kinder umgerannt, die mit einem Ball an mir vorbei huschten.
Zwei der Kinder drehten sich zu mir um, während sie die Gasse weiter entlang liefen, und riefen mir etwas Ordinäres zu. Ziemlich große Mundwerker für so kleine Geschöpfe. Aber von den Kindern hier unten war man ja nichts anderes gewöhnt. Sie schnappten zwischen den Verkaufsständen irgendwelche Sprüche auf, die nicht gerade Kindgerecht waren und plapperten sie nach, auch wenn sie kaum eine Vorstellung davon hatten, was diese Sprüche oder Wörter bedeuteten.
Ich bin froh hier nicht auch aufgewachsen zu sein. Die Gerüche, die in zwei ganz unterschiedliche Richtungen gingen. Die überfüllten Verkaufsstände, die die ohnehin schon zu engen Gassen überfüllten und verstopften, sodass kaum ein Durchkommen war. Die Elefanten, die nicht aufpassten, wo sie mit ihren riesigen Tonnenschweren Füßen hin trampelten, sodass sie jemanden plattdrücken konnten, wenn man nicht aufpasste. Die herumstreunenden Tiere, die aus den Dschungelteilen der Slums kamen und sich öffentlich erleichterten – wie auch einige der Menschen. Und der Müll, der sorglos einfach auf den Boden fallen gelassen wird, ohne ihn in Wertstoffanlagen zu entsorgen. Das alles zeichnete kein schönes Bild, in dem man ein Leben leben konnte, das sich zu leben auch lohnte.
Die Armut der Menschen in den Slums war dabei ein ganz anderes Thema.
Jarek´s Bar war eines der wenigen richtigen Gebäude in den Slums. Das Geschäft lief auch äußerst gut für ihn. Ich schätze wenn man nicht viel besaß und noch weniger vom Leben erwarten durfte, lohnte es sich nicht besonders nüchtern zu bleiben. In meinem Leben hatte ich auch schon oft Situationen in denen ich meinen Kummer ertränken wollte und Lösungen nur auf dem Grund eines Glases suchte.
Das klingt jetzt womöglich extrem kitschig, aber seit ich Yoko hatte, gab es solche Zeiten nicht mehr.
„Hallo, Ehmi!“, rief mir eine Stimme entgegen, als ich auf die Bar zuging. Ich sah auf und entdeckte Perpetua, Jarek´s Tochter, wie sie mir übereifrig zu winkte. Sie war ein wenig in mich verknallt. Was sich besonders deutlich daran erkennen ließ, dass sie sofort rot wurde, als sie merkte wie heftig sie mir zu winkte. Schüchtern wendete sie ihren Blick von mir ab und zog sich in die dunkle Gasse neben der Bar zurück, wo sie aufgetaucht war. Vermutlich hatte sie gerade geholfen neue Waren nach hinten ins Lager zu bringen.
Wie erwartet war die Bar überfüllt. Noch nüchterne Individuen, die sich aber schnell zuschütten wollen, und andere, die vor lauter Alkohol längst nicht mehr wussten, wo sie sich überhaupt befanden. Jarek hatte hinter dem Bartresen alle Hände voll zu tun, weshalb ich ihn nicht stören wollte und ihn nur mit einem Kopfnicken begrüßte.
In der üblichen Ecke fand ich einen ungeduldigen Moriarty vor. Mit seinem feinen Zwirn und perfekt getrimmten Bart passte er hier ungefähr so rein, wie einer der Händler oder Treiber im Regierungsgebäude des Planeten – was bedeutete, dass er hier viel zu sehr auffiel. Wenn er nicht aufpasste erregte er die Aufmerksamkeit der Ordner. Und dann würde es womöglich nicht mehr lange dauern, bis sie auf mich kamen.
Wenn sie herausfanden, was ich schon alles an Informationen weitergeleitet habe, würde ich Jahre auf dem Gefängnisplaneten Naipjies verbringen. Von dort gab es keine Möglichkeit auch nur an Flucht zu denken. Denn die einzige Möglichkeit von dort wegzukommen waren die Raumschiffe, die doppelt und dreifach gesichert waren. Selbst wenn man einen Fingerabdruck eines autorisierten Wärters für die Kontrolle hatte, oder sich in das System einhacken zu können, gab es noch etliche Hürden für die Flucht zu überwinden.
„Was hat dich so lange aufgehalten!“, fauchte mich Moriarty über seinen Drink an, als er mich in der Menge der Betrunkenen entdeckte.
„Ich bin gleich gekommen, als ich deine Nachricht gefunden habe.“ Na ja, nicht ganz.
Ich setzte mich und sah mich dabei um. Perpetua war schon auf dem Weg um meine Bestellung aufzunehmen. „Was gibt es denn so dringendes?“, fragte ich ihn ohne ihn anzusehen. Das letzte Wort betonte ich extra, weil er ja eine etwas andere Definition von dringend hatte.
„Ich hab da ein Problem mit einem Beamten der Forschungszulassungsstelle.“, erzählte er mir mit gedrückter Stimme.
„Wann hast du eigentlich mal keine Probleme mit irgendjemanden.“, sagte ich schnell, bevor Perpetua an unseren Tisch ankam.
„Was darf ich dir bringen?“, fragte sie über die Geräuschkulisse einer Bar voller Betrunkener, die sangen und zusammenhanglosen Mist durch die Gegend schrien.
„Ich nehme ein Bier und…“, ich reckte meinen Hals, sodass ich die Angebote, die oberhalb der Theke auf Tafeln aufgeschrieben waren, „… und was von dem Eintopf.“ Niemand wusste eigentlich so recht, was überhaupt in dem Eintopf war, aber er schmeckte. Und genau deshalb hatte ich bisher auch nie nachgefragt.
Nachdem Perpetua wieder außer Hörweite war fing Moriarty wieder an zu reden. Bei den Betrunkenen um uns herum mussten wir uns keine Sorgen machen, dass sie uns zuhörten. Und selbst wenn hätten sie es bis morgen, wenn sie ausgenüchtert waren, wieder vergessen.
„Ich brauch eine Zulassung für ein neues Forschungsprojekt.“, erklärte mir Moriarty, „Aber dieser Kerl, mein Sachbearbeiter, will mir die Zulassung nicht gewähren.“
„Und da willst du ihm einen guten Grund liefern, es sich noch einmal anders zu überlegen.“, schlussfolgerte ich. Denn warum sollte er sonst zu mir kommen, wenn nicht für Informationen um ihn zu erpressen.
In der Forschung lief es so: Wegen lange vergangener, aber in die Menschheitsgeschichte einschneidiger Ereignisse, brauchte man für jede Studie eine Genehmigung. Diese Genehmigung bekam man nur von der offiziellen Forschungszulassungsstelle der Regierung. Und um geheime Forschungen auszuschließen, ist dieser Zulassungsstelle eine Stichprobe bei jeder Einrichtung erlaubt, die nur im Entferntesten etwas mit Forschung zu tun haben könnte. Selbstverständlich sind die Prüfer, sofern alles nach Vorschrift verläuft, zur Geheimhaltung verpflichtet, damit niemanden ein mögliches verdientes Patent weggenommen wird.
Moriarty war bei irgendeiner großen Firma beschäftigt, von der ich eigentlich nichts Genaueres weiß, außer dass sie in irgendeiner Weise Forschungen unternimmt. Vielleicht sollte ich ihm die Frage stellen, wofür diese Zulassung benötigt wird, aber ich tat es nicht. So, wie ich es nie tat. Im Grunde war es mir auch egal was er tat, solange er bezahlt. Und üblicherweise bezahlt er gut.
„Hast du ein Bild oder einen Namen?“, fragte ich ganz im Geschäftsmodus.
„Klar.“, sagte er und fummelte in seiner Aktentasche herum, die er unter dem Tisch gelassen hatte. Er hatte enormes Glück, dass sie noch da war. Oft wurden einem die Sachen unter der Nase weggeklaut. Besonders wenn es eine so feine und teuer aussehende Ledertasche war, wie seine.
Er kam mit einem dilettantisch aufgenommenen Foto hervor. Das Foto war bereits ausgedruckt, so wie ich es verlangte. Ich konnte keine Daten gebrauchen, die man irgendwie zu mir zurückverfolgen könnte. Denn auf den Datenstrom, der von Person zu Person floss und von jeder dritten Person gesehen werden konnte, hatte ich mit meiner Telepathie keinen Einfluss.
Der Mann auf dem Bild hatte natürliche rote Haare. Die Zeit, in der man sich seine Haare in den verschiedensten knalligen Farben gefärbt hat, war mittlerweile vorbei. Nur noch selten sah man so etwas. Das Rot des Mannes nahm fast eine Orange Tönung an, die besonders in seinem kurz getrimmten Vollbart verdeutlicht wurde. Er trug eine Brille. Auch nur ein Modeaccessoire, das wohl nie aus der Mode zu kommen schien.
Weitere Details brauchte ich mir gar nicht einzuprägen. Wenn ich erst einmal wusste wie er hieß und wo er wohnte oder arbeitet, würde ich ihn schnell finden.
„Hat er auch einen Namen?“, fragte ich ihn.
„Rückseite.“ Moriarty bedeutete mir mit zwei Fingern, das Foto umzudrehen.
Ich warf erst einmal nur einen kurzen Blick darauf, denn aus den Augenwinkeln erkannte ich, dass Perpetua mit meiner Bestellung zurückkam.
Perpetua, genauso wie ihr Vater, wusste was ich tat. Sie waren zwei der wenigen, die über meine Tätigkeit informiert waren. Aber das hieß nicht, dass sie sehen musste, an was – oder wen – ich gerade arbeitete. Deshalb signalisierte ich Moriarty nicht weiter zu sprechen und deckte das Bild mit meinem Arm ab, sodass sie es nicht sehen konnte.
Sie lächelte mich schüchtern an, als sie mir die Schüssel mit Eintopf und den Krug mit Bier vorsetzte. Für Moriarty hatte sie keinen Blick übrig. Nicht einmal um nach zu sehen, ob er noch etwas bestellen wollen würde.
„Hast du irgendwas über ihn, das mir weiterhelfen könnte?“, wollte ich von Moriarty wissen, als Perpetua wieder außer Hörweite war. Er wusste worauf ich hinaus wollte. Das hier war nicht der erste Auftrag, den ich für ihn erledigen sollte. Jeden meiner Kunden, die auf Informationen für Erpressung aus waren, fragte ich zunächst einmal, ob sie mir einen Verdacht über die besagte Zielperson mitteilen konnten. Eine heimliche Affäre, von der die Frau nichts wissen durfte. Illegale Geschäfte, die den Ruf schädigen könnten. Irgendetwas in der Richtung, denn das erleichterte mir meine Arbeit und beschleunigte die Sache wesentlich, wenn ich wusste, wonach ich in den Gedanken der Zielperson Ausschau halten musste. Ansonsten könnte es eine Weile dauern, bis ich endlich mal etwas Brauchbares in dem Gewirr aus alten Gedanken und gegenwärtigen Eindrücken fand.
„Nein.“, antwortete er. „Ich befürchte fast, er hat eine weiße Weste. Aber da muss irgendwas sein. Es muss etwas geben.“, sagte er mehr zu sich selbst, als zu mir.
Bald darauf ging Moriarty wieder. Er konnte Jarek´s Bar nicht ausstehen, oder vielmehr die Slums. Aber er verstand, dass es hier unten sicherer war, um nicht zusammen in Verbindung gebracht zu werden. In den Slums achtete nämlich jeder auf sich selbst. Und die Ordner hielten nur nach eskalierten Streitereien aus, mehr interessierte sie auch nicht.
Ich blieb noch wenigstens solange, bis ich mein Bier ausgetrunken und meinen Eintopf aufgegessen habe. Um mir die Zeit ein wenig zu vertreiben beobachtete ich Perpetua, wie sie mit den betrunkenen Gästen umging. Sie war hübsch und jung – was bedeutete, dass sie vor grabschenden Betrunkenen nicht sicher war. Doch die meisten kannten ihren Vater. Und aus Respekt ihm gegenüber behandelten sie sie, als hätten sie wirklich Manieren. Trotzdem behielt Jarek seine Tochter im Auge. Wenn jemand der Gäste seine Finger nicht bei sich behalten konnte, griff er schon mal übermäßig hart ein. Aber wer konnte es ihm verdenken, seine Tochter beschützen zu wollen.
Um mich zusätzlich noch etwas zu unterhalten stöberte ich ein wenig in den Gedanken der Leute in der Bar herum. Die Gedanken von Betrunkenen waren schwieriger zu verfolgen, als die der klaren Menschen. Oft nahm ich nur einen Rausch von Wörtern war, der für mich keinen Zusammenhang darbot.
…Wie soll es nur weitergehen…
…Ich will nicht mehr…
…Die kleine Schlampe gehört heute Nacht mir…
…Noch zwei Drinks, dann verschwinde ich…
Moment was war das.
…Ich werd ihr zeigen was es heißt eine Frau zu werden…
Wessen Gedanken sind das denn. Ich reckte wieder meinen Hals. Aber diesmal um einen Kerl zu suchen, der klare Absichten hatte, sich einer Frau zu bemächtigen, die womöglich gar nichts von ihm wollte. So etwas war praktisch an der Tagesordnung in den Slums. Und jedes Mal, wenn ich davon Windbekam, konnte ich einfach nicht anders, als so einem Kerl einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Es waren heute nicht viele Frauen anwesend, was eigentlich ganz normal war. Aber es waren immer noch genug, um nicht genau sagen zu können, welche dieser Mistkerl wollte. Noch schwieriger wurde es, weil die meisten Frauen sich gerade mit Männern unterhielten.
…Da kommt ihr zuckersüßer Arsch wieder…
Die einzige Frau, auf die dieser Gedanke zutreffen konnte. Perpetua brachte gerade einige Drinks an einen Tisch. Und wie sollte es anders sein, der Tisch war voller Männer. Es war mir aber sofort klar, welcher von diesen Typen es auf sie abgesehen hat. Ich hatte einen direkten Blick auf genau diesen Kerl und seine Hand, die er in seinen Gedanken schon bereit machte, an Perpetua´s Hintern zuzupacken.
Es war nur ein kurzer schlag, den ich ihm mittels meiner Gedanken in die seinen gab. Heftige Kopfschmerzen sollten für ihn das Resultat daraus sein. Doch der erste Kontakt mit meinem Gedankenschlag ließ ihn schlagartig zusammen zucken und brachte ihn zum Schwanken. Leichte Benommenheit konnte auch eine Folge daraus sein.
Nach drei weiteren mentalen Schlägen gegen ihn, die ihn enorm blass aussehen ließen, reichte es ihm offenbar. Nicht wissend, was ihm wiederfahren war, zog er sich mit eingekniffenen Schwanz zurück. Natürlich erst nachdem er brav seine offenen Rechnung bezahlt hat. Als ich diesen schmierigen Kerl dabei beobachtete fing Jarek meinen Blick auf. Er dachte etwas, das für mich bestimmt war.
…Ich will keinen Ärger. Also wenn du dafür verantwortlich warst, lass das in Zukunft gefälligst…
Ich hab nur deine Tochter vor den Fingern und etwas mehr von diesem Kerl beschützt, dacht ich ihm mit einem zufriedenen Lächeln zu.
Es überraschte mich, dass das Licht in meiner Küche in Betrieb war, als ich nach Hause kam. War ich mir doch sicher, das Licht wieder ausgemacht zu haben, als ich die Wohnung wieder verlassen hatte. Doch als ich weiter in den Raum trat, war ich weniger überrascht.
Yoko lag in meinem Bett. Inmitten meiner über sie geknäulter Decke schlief sie in meinem dunklen Zimmer. Ich löschte das Licht in der Küche und machte auch kein anderes an, um sie nicht zu wecken. Es war niedlich, wie sie leise vor sich hin schnarchte, weshalb ich sie auch nur ungern wecken wollte.
So leise wie ich nur konnte, zog ich meine Sandalen aus. Ich musste sie erst aufschnüren, bevor ich raus schlüpfen konnte. Wobei ich aber fast meine Balance verloren hätte. Doch ich schaffte es meinen beinahe Sturz abzufangen, bevor ich Yoko irgendwie wecken konnte.
Im Dunkeln beobachtete ich sie kurz. Wie sie so da lag. Ganz regungslos, bis auf das leichte Heben ihres halbnackten Rückens, als sie einatmete. Bis auf das Top ihres Saris hatte sie oben herum nichts an. So konnte ich das Tattoo auf ihrem rechten Schulterblatt sehen, von dem sie mir nie erzählt, was es bedeutet. Ein dickes, schwarzes T. Sie meinte nur mal, um meine Frage abzuwimmeln, es hätte irgendetwas mit ihrer Familie zu tun.
Plötzlich gab Yoko einen Laut von sich, der mich erschreckte. Aber ich war mir sicher, dass sie schlief. Und dazu wollte ich mich jetzt auch am liebsten gesellen. Ich hatte einen langen Tag und war wirklich müde.
Ich öffnete meine Gürtle um meine weiße Jacke und zog sie aus. Genau wie meine Hose und mein schwarzes Shirt. Dann begab ich mich so vorsichtig wie möglich auf mein Bett, um Yoko nicht zu wecken. Ich schaffte es ganz und gar ohne das leiseste Knarzen.
„Hmm.“, machte sie hinter mir. Ich hatte noch nicht die richtige Position zum Schlafen gefunden, die bei mir üblicherweise mit meinem Arm um sie geschlungen war. „Wann bist du nach Hause gekommen?“, fragte sie mich plötzlich und erschreckte mich damit heftig.
„Gerade eben.“, antwortete ich.
„Warst du arbeiten?“
„Mhm.“
Jetzt wo sie schon wach war, konnte ich mich richtig in mein Bett werfen. Yoko erhob sich und legte sich halb auf mich, sodass ich meine Arme um sie legen konnte. Ich genoss es, wenn ihre nackte Haut direkt auf meiner war. Als wären wir eins. Und ihr Geruch war einfach himmlisch. Besonders gemischt mit der tropischen Luft von draußen. Und da bemerkte ich erst jetzt, dass sie das Fenster sperrangelweit offen hatte.
„Also hast du morgen zu tun?“, fragte sie mich mit geschlossenen Augen und wieder halb im Schlaf.
„Ja. Wieso?“, fragte ich zurück. „Willst du was unternehmen?“
„Wir haben uns lange nicht mehr richtig gesehen.“ Das war ihre Art mir zu sagen, dass sie gerne etwas unternehmen würde. Nur äußerst selten sagte sie klar, was sie wollte.
„Worauf hast du Lust?“
„Die Stadt wird mir langsam zu viel.“, sagte sie.
„Ein Ausflug ins Grüne?“, schlug ich vor.
„Geht das denn, wenn du arbeiten musst?“, fragte sie zurück.
„Für dich hab ich doch immer Zeit.“
2.
Der Kaffee war so widerlich, dass es egal war, wie viel Zucker ich hineinschüttete, er schmeckte ohnehin weiter wie Spülwasser aus einer Toilette.
Ich stand angelehnt an einer verspiegelten Glaswand, die zu einem der Wolkenkratzer in der Innenstadt gehörte. Fast zweihundert Meter war ich über dem Boden, auf einem der unzähligen Fußgängerwege, die sich durch die Stadt an den Hochhäusern entlangschlängelte. Etliche Fußgänger liefen an mir hin und her. Aber bisher war mir der Mann, auf den ich wartete noch nicht über den Weg gelaufen.
Aus meiner Tasche an meinem Gürtel zog ich das Foto auf Papier hervor und sah es mir noch einmal an. Der Mann mit den natürlichen roten Haaren war mir definitiv noch nicht begegnet. Gefunden hatte ich ihn nur über seinen Namen, den mir Moriarty auf der Rückseite des Bildes aufgeschrieben hatte. Cosimo stand dort in einer kaum leserlichen Sauklaue.
Heute Morgen nach dem Aufstehen – ich bin früher aufgestanden als sonst – hatte ich mich sofort an die Arbeit gemacht. Wie üblich, wenn ich eine Zielperson aufspüren sollte, suchte ich mir einen Privathaushalt aus, wo ich mir dann Zugang verschaffen, sodass ich deren Computer benutzen konnte. Da ich Daten nicht beeinflussen oder manipulieren konnte, damit man keine Spur zu mir zurückverfolgen konnte, musste ich die Netzordner irgendwie von meiner Person abschütteln. Daher benutzte ich lieber private Netzzugänge um gezielt nach meinen Zielpersonen zu suchen. Für mich war es leicht mir Zugang zu den jeweiligen Wohnungen zu verschaffen. Als Telepath konnte ich besonders überzeugend sein, wenn ich wollte – (zwinker;).
Zu einer Frau, die bei ihrem kranken Kind zu Hause saß, hatte ich mir heute Zugang verschafft. Als ich angefangen hatte mir mein Leben durch meine Telepathie zu erleichtern, musste ich noch Alibis erfinden um in die Wohnungen hinein gelassen zu werden. Oft hatte ich die Ausrede verwendet, dass ich selbst ein Netzordner bin und irgendetwas mit dem Anschluss überprüfen müsse. Eigentlich bräuchte ich dazu eine spezielle Ausweiszugabe auf meinem ID-Chip. Doch in meiner Gegenwart schienen die Leute immer zu vergessen, dass sie meine Identität überprüfen sollten – (zwinker;).
Doch heute war alles ohnehin anders. Ich bin besser geworden. Meine telepathischen Fähigkeiten waren auf ihrem Höhepunkt – könnte man meinen. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich noch zu viel mehr in der Lage sein könnte. Mittlerweile brauchte ich nur noch zu klingeln und konnte einfach hinein spazieren. Niemanden kam es merkwürdig vor, dass ich dort eigentlich nichts zu suchen hatte. Für meinen Aufenthalt war es fast so, als sei ich ein Mitbewohner oder ein Dauergast, der eine uneingeschränkte Autorisierung für die Wohnung hatte.
Es war auch gar nicht so schwer Cosimo im Einwohnerverzeichnis der Stadt zu finden. In die Suchmaschine gab ich lediglich den Namen ein, den ich hatte, seinen Beruf und wo er angestellt war. Glücklicherweise gab es nur einen Cosimo, der hier in der Stadt ein bei der Forschungszulassungsstelle als Prüfer beschäftigt war. Das hätte auch ganz anders laufen können. Ich erinnere mich da an einen Auftrag, bei dem ich auch jemanden beschatten musste, um seine Gedanken herauszufinden. Nur dauerte es fast zwei Tage die richtige Zielperson zu finden, weil es so viele Treffer für meine Anfrage gab, dass ich jeden einzelnen überprüfen musste. Ich hatte mich schon glücklich schätzen können, dass meine Zielperson im ersten Zehntel der Suchergebnisse aufgetaucht war. Sonst hätte ich glatt eine ganze Woche benötigt um wirklich jeden einzelnen zu überprüfen.
Die Schwingtür auf meiner Höhe des Gebäudes öffnete sich. Sie hatte sich heute Morgen schon öfter geöffnet, aber diesmal kam tatsächlich eine rothaarige männliche Figur heraus. Sofort nahm ich die Verfolgung auf. Einige längen hinter ihm natürlich, sodass er mich nicht entdecken würde.
…Heute nicht den Kontrolltermin bei Solar-Systems vergessen… dachte er, wenige Meter vor mir hergehend. …Ich bezweifle eigentlich, dass ihr Projekt den Umweltanforderungen entspricht, aber bisher hab ich einfach nichts finden können…Ich muss noch gründlicher suchen…Die heutigen Berichte, die sie mir geben werden, gebe ich einfach einem Experten…Daya soll da jemanden aus der Branchendatei raussuchen…Ob ihr Mann wohl seine Beförderung bekommen hat…Ich hab nämlich keinen Nerv dafür eine neue Assistentin einzuarbeiten…
Den ganzen Weg zu seiner Arbeitsstelle dachte er so belanglose Dinge – belanglos für meine Zwecke. Bis auf die Tatsache, dass er aus eigennützigen Gründen hofft, dass der Mann seiner Assistentin Daya nicht befördert wird, sodass sie sich eine Babypause nimmt, kann man ihm soweit nichts vorwerfen. Damit lässt es sich für Moriarty schlecht erpressen.
Kurz hatte ich in Betracht gezogen, dass er vielleicht eine Affäre mit seiner Assistentin haben könnte. Aber dafür hatte er weder romantische noch animalische Gedanken über sie. Er sah sie nur als seine eigene Arbeitsdrohne, die er durch die Gegend scheuchen konnte.
Doch im Allgemeinen schloss ich eine Affäre nicht aus. Erst recht nicht, als er über eine Verabredung zum Mittagessen nachdachte, für die er sich besonders viel Zeit lassen wollte. Während er in seinem Büro saß, konnte ich ihn nicht observieren. Das wäre wohl zu auffällig. Daher beschloss ich mir die Zeit hier in der Gegend zu vertreiben, bis Cosimo zu seinem Termin bei Solar-Systems aufbrechen musste.
Ein Telepath, der jetzt in diesem Augenblick meine Gedanken lesen würde, würde jetzt hören: …Wow, was für Beine…
Eine verdammt attraktive Frau ging gerade auf dem Fußgängerweg an mir vorbei. Ich war bestimmt nicht der Einzige, der sich nach ihr umdrehte. Ihre unaufhörlich langen Beine waren glatt und makellos. Da wollte man einfach nur seine Hand darauf legen und…
Natürlich würde ich Yoko niemals betrügen. In einer Beziehung halte ich Treue für mit das Wichtigste. Aber ansehen war erlaubt. Yoko hatte auch nichts dagegen, wenn ich anderen Frauen hinterher sah. Sie war nicht der Eifersüchtige Typ, der mich an der kurzen Leine hielt. Ich wusste nicht woher sie sich so sicher sein konnte, dass ich ihr treu war, aber sie war es. Vermutlich liebte sie mich so sehr, dass sie mir einfach vertraute.
Cosimo war auf dem Weg zu seiner Verabredung zum Mittagessen. Es war ein kleines Restaurant, das in einer Seitenstraße lag. Die perfekte Lage für ein heimliches Treffen, von dem zum Beispiel seine Frau nichts wissen durfte. Und er traf sich tatsächlich mit einer anderen Frau als seiner Angetrauten Ehefrau.
Ihr Name war Margo. Seine Gedanken über sie, die gar nicht mehr weichen wollten, nachdem er von dem Meeting mit Solar-Systems wieder raus kam, waren nicht ganz jugendfrei. Viel drehte sich über ihre nackte Haut oder ihre Brüste, wie es sich für ihn anfühlte sie zu küssen und zu berühren.
Von da an lauschte ich nicht mehr seinen Gedanken. Mir war bewiesen, dass er eine Affäre mit dieser Margo hatte, von der seine Frau nichts wissen sollte. Jetzt war es aber an mir, es auch beweisen zu können. Denn das einfache Wissen über die Affäre ließ sich einfach bestreiten. Ich brauchte handfeste Beweise, wie Fotos oder einen Film.
Ich hielt Abstand zu den beiden, als ich mich in dasselbe Restaurant saß. Cosimo war so vertieft in seine Gedanken, dass er gar nicht bemerkte, dass ich ihm schon den ganzen Tag wie ein hungriger Schoßhund hinterherlief. Von meinem Platz aus konnte ich die beiden Turteltauben gut beobachten. Ich tarnte mich als einsamer Gast, der gerne durch das Fenster, an dem sie saßen, auf die leblose Straße sah. Doch eine Tarnung schien wirklich nicht nötig zu sein. Cosimo und Margo waren so mit sich beschäftigt, dass gegenüber eine Bombe hochgehen konnte, und sie würden sich nur weiter in die Augen starren. Es war fast schon niedlich, wie zwei frisch verliebte Teenager. Das heißt, wenn man außer Acht lässt, dass er verheiratet war. Und sie wahrscheinlich auch.
Endlich fingen sie an sich auch zu küssen. Unauffällig zückte ich meine Kamera und machte ein paar Beweisfotos. Auch solche, auf denen man genau erkennen konnte, wem diese Gesichter gehörten. Damit wäre mein Job eigentlich erledigt. Ich musste nur noch Moriarty die Bilder auf sicherem Wege überbringen. Trotzdem blieb ich aber noch, weil gerade mein bestelltes Essen auf meinem Tisch landete.
Eine Suppe hatte ich mir kommen lassen, sonst nichts. Ich hatte keinen großen Hunger. Besonders, wenn ich mit Yoko heute noch Schick Essen gehen wollte. Ich hatte ihr nicht sicher zusagen können, dass wir schon heute ins Grüne fahren konnten, um wieder etwas mehr Zeit miteinander zu verbringen. Daher hatte ich ihr zugesichert, dass wir heute wenigstens Schick ausgehen.
Die Tür öffnete sich, noch ehe ich klingeln musste. Ich war nicht überrascht, dass mir ein kleiner Junge die Tür auf machte. Doch als ich seine Gedanken durch die Wand seiner Wohnung gelesen hatte, bevor ich ihn dazu brachte mich rein zu lassen, war ich schon überrascht, dass er alleine zu Hause war. War er doch erst fünf Jahre alt. Wo waren seine Eltern?
„Hallo.“, begrüßte er mich freundlich, als würden wir uns schon seit seiner Geburt kennen. Ohne zu zögern ließ er mich durch die offene Tür herein, in die Wohnung.
In den falschen Händen konnte meine Macht wirklich gefährlich sein. Aber ich hatte keinerlei Interesse dem Jungen – oder anderen Leuten, zu deren Wohnung ich mir Zutritt verschaffte – etwas anzutun. So ein Mensch war ich nicht. Gewalt war nicht mein Ding. Sollte mich jemand aus irgendeinem Grund angreifen, ist mein erster Gedanke, dass ich ihn aufhalte, telepathisch. Ich pflanzte ihm einfach den Gedanken ein, dass er mir niemals etwas tun wollen würde. Das klappte ganz gut. Wobei ich womöglich als Feigling angesehen werde, weil ich jedem Kampf aus dem Weg ging. Aber das war mir egal. Da stand ich ganz und gar darüber.
„Ich spiele gerade mein neues virtuelles Realität Spiel.“, verkündete er mir, als er fröhlich vor mir her hopste. „Magst du mitspielen?“
„Später vielleicht.“, antwortete ich ihm, „Ich hab noch zu tun. Kannst du dich für mich in den Computer einloggen?“
„Warum kannst du das denn nicht selber?“, jammerte er mir vor, „Ich mag weiter spielen.“
„Dauert doch nicht lange.“, sagte ich. Und mit etwas mehr Nachdruck meiner Gedanken in seinen, stellte ich sicher, dass er keine weiteren Fragen stellte, sondern einfach zur Tat schritt.
Mit seinem Fingerabdruck loggte er sich in den Hauscomputer ein, sodass ich ihn benutzen konnte. Dann lief er wieder zurück zu seinem Spiel in seinem Zimmer. Ich verkabelte derweil meine Kamera mit dem Computer, um meine Fotos auszudrucken. Meine Kamera war zwar in meinen handlichen Computer integriert, aber ich hatte unterwegs keinen Drucker. Und weil ich zu Hause nur Datenströme von den Bildern, die ich von Cosimo und seiner Affäre gemacht habe, hinterließ, druckte ich wieder bei einer fremden Quelle aus. Immerhin wollte ich nicht erwischt werden.
Der Job verlief einwandfrei. Es ging sogar richtig schnell. In den seltensten Fällen war ich schon am Nachmittag, nachdem ich den Auftrag erhalten habe, fertig. Meistens dauerte so etwas schon so vier oder fünf Tage.
Nachdem, was Moriarty gestern in der Bar gesagt hatte, dass er glatt befürchtete, dass Cosimo eine weiße Weste hatte, war ich schon darauf vorbereitet, diesen Auftrag länger an der Backe zu haben. Vermutlich hätte er niemals erraten können, dass Cosimo etwas so simples wie eine Affäre hatte. Er wirkte nicht so, als mache er etwas Falsches. Für ihn – Cosimo – war es wohl keine große Sache. An seine Frau hatte er kaum gedacht. Und wenn, dann nur neutrale Sachen wie „Heute ist sie mit einkaufen dran“ oder „In Zukunft geben wir die Wäsche in die Reinigung, wenn sie das Waschen nicht hinkriegt“. Er dachte gar nicht an den Betrug und Verrat, den er seiner Frau antat. Vermutlich empfand er nicht mehr so viel für sie. Denn eines war klar, Margo liebte er wirklich.
Vertieft in sein Videospiel, merkte der Junge gar nicht, dass ich ging, nachdem ich meine Fotos ausgedruckt hatte. Immer noch fand ich aber komisch, dass seine Eltern ihn in diesem Alter alleine zu Hause ließen. Niemals würde ich mein Kind alleine zu Hause lassen. Besonders da ich wusste, wie leicht sich Telepathen Zugang zu einer Wohnung verschaffen konnten.
Davon mal abgesehen, war es schon gefährlich genug für ein Kind ohne Aufsicht alleine zu sein. Wie leicht Kinder sich doch verletzen. Niemals würde ich unsere Kinder alleine lassen. Unsere Kinder… Kinder von Yoko und mir… Eine kleine Yoko Junior und einen kleinen Ehmi Junior…
Ich lächelte plötzlich ganz selbstzufrieden.
Immer, wenn wir ausgingen, holte Yoko mich ab. Das lag aber wohl nur daran, dass ich immer unpünktlich war. Oft war ich bis zu einer halben Stunde über der Zeit. Ich war noch nie der pünktlichste. Würde sie also warten, bis ich sie abholte, hätten wir bisher jede Reservierung verloren, weil wir zu spät kamen.
Doch eines musste ich zugeben. Ich war noch nie bei Yoko zu Hause. Ich wusste zwar wo sie wohnte, aber wir waren entweder immer zusammen unterwegs, oder bei mir zu Hause. Wahrscheinlich bin ich in irgendeiner Weise ignorant, weil ich zufrieden war wie es zwischen uns lief, obwohl ich mich wohl eher fragen sollte, warum sie mich bisher noch nicht zu sich mitgenommen hat. Waren wir doch nun schon seit fast einem halben Jahr zusammen. Aber ich war zufrieden, wie es gerade zwischen uns lief.
Bevor sie meine Tür erreicht hatte, wusste ich schon, dass es Yoko war, die jeden Augenblick herein kommen würde. Ich konnte ich ihre Gedanken schon lesen, da hatte sie noch nicht einmal mein Wohnhaus betreten.
…Ich wette er ist noch gar nicht fertig… dachte sie …Immer ist er zu spät dran… Obwohl wir verabredet sind…
Sie hatte Recht. Ich bin noch nicht fertig. Ich bin noch im Badezimmer beschäftigt. Obwohl ich eigentlich schon lange zu Hause bin. Nachdem ich die Fotos von Cosimo und seiner Affäre gemacht und fertig gegessen hatte, bin ich gleich nach Hause gegangen, wo ich den ganzen Nachmittag über die Zeit totschlug.
Oft fragte ich mich, warum ich trotzdem so spät dran war, wenn ich doch den ganzen Tag nichts Besonderes unternahm. Irgendwie hatte ich einfach ein Händchen dafür. Jedes Mal fand ich im Laufe der Zeit irgendeine Beschäftigung, in die ich mich vertiefte. Nachrichtenmagazine im Netz lesen. Zeichnen. Videospiele. Darüber hinaus vergesse ich schließlich die Zeit und komme zu spät.
Als Yoko sich gerade Zugang zu meiner Wohnung verschaffte, fummelte ich gerade vor dem Spiegel an meinen Haaren herum – sie wollten einfach nicht sitzen, wie ich wollte. Yoko hatte schon lange eine dauerhafte Zugangsberechtigung für meine Wohnung. Deshalb konnte sie sich gestern auch so einfach rein lassen. Vor zwei Monaten schon hatte ich sie ihr gegeben. Dabei machte es mir auch nichts aus, dass ich ihre Wohnung immer noch nicht zu Gesicht bekommen habe.
„Wie lange brauchst du noch?“, rief mir Yoko vom Eingang zu, als sie meine Wohnungstür hinter sich schloss.
„Ein paar Minuten.“
Erfahrungsgemäß benötigte ich immer ein kurzes Weilchen, wenn ich meine Haare zu bändigen versuchte. Meistens gab ich jedoch auf, bevor ich zufrieden war, weil ich die Gedanken von Yoko auffing, die genervt auf mich wartete.
Heute war es nicht so. Meine Haare schienen mir zu gehorchen und blieben in der perfekten Position für eine, mich zufriedenstellende Frisur. Gerade rechtzeitig, bevor Yoko wieder drauf und dran war, meine Eitelkeit zu verfluchen. Wobei ich mich nicht außergewöhnlich eitel beurteilte.
Texte: Coverbild: http://www.google.de/imgres?imgurl=http://s1.artquid.fr/art/2/104/157921.1372564211.1.450.jpg&imgrefurl=http://de.artquid.com/artwork/157921/46075/markt-von-chennai-indien-geheimnisvoll.html&usg=__ks3OQEv59VmJw8oHywHNLKBlYc4=&h=450&w=320&sz=129&hl=de&start=66&zoom=1&tbnid=TYT2lPKr6BKgqM:&tbnh=130&tbnw=101&ei=r77XTYe1JMeA-wa-98GfDw&prev=/search%3Fq%3Dmarktplatz%2Bindien%2Billustrationen%26um%3D1%26hl%3Dde%26rlz%3D1R2GFRE_de%26biw%3D1003%26bih%3D455%26tbm%3Disch0%2C2241&um=1&itbs=1&biw=1003&bih=455&iact=rc&dur=437&sqi=2&page=8&ndsp=10&ved=1t:429,r:4,s:66&tx=37&ty=59
Tag der Veröffentlichung: 21.05.2011
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