„Ich bin sowohl Mensch als auch Brut.
„Ich bin Zerberus, der letzte meiner Familie.
„Und meine Geschichte geht weiter.“
– Zerberus; ca. um 3023
Teil I
1.
Nervös starrte ich durch eines der Bullaugen in der Transportkapsel. Ich beobachtete, wie die Erde immer kleiner und kleiner und kleiner wurde. Die letzten Bilder der Erde, die ich sehen würde. Und es war ein merkwürdiges Gefühl.
Ich sollte traurig sein, dass wir unsere Heimat für immer verließen. Oder aufgeregt, dass wir eine vollkommen neue Welt besiedeln würden, in der es ganz neue Dinge zu entdecken gab. Aber ich hatte nur Angst. Achtzig Jahre würden wir schockgefroren verbringen, wie ein Eis am Stiel, das niemand mehr will.
Das hatte einen einfachen Grund. Die Raumschiffflotte, die uns in unser neues zu Hause, weit, weit entfernt in einer anderen Galaxie brachten, hatten nicht genug Platz, um die gesamte Menschheit der Erde zu beherbergen, wenn sie frei herumliefen. Also entwickelte man die Kryogentechnik, die einen einfror, bis wir unsere neue Heimat erreicht hatten.
In den Lehrveranstaltungen hieß es, dass es anders sein würde, als wenn man einfach einschlief. Es sei so, als ob die Zeit angehalten würde. Nur das sie weiter lief, ohne dass man es merkte. Ein schnelles Einfrieren, mit der richtigen Temperatur, stellte sicher, dass man uns ohne zu erwartende Nebenwirkungen wieder auftauen konnte. Der Alterungsprozess wird aufgehalten. Essen und Trinken war nicht nötig. Energie würde man nur so viel brauchen, um die Temperatur zu halten. Es würde einem so vorkommen, als würde man im selben Augenblick eingefroren werden, in dem man auch wieder aufgetaut würde. Als sei nichts gewesen.
Doch was wenn etwas ist? Das war nämlich meine Angst. Was wenn etwas schief gehen würde? Die Techniker, die während der Reise wach waren und lebten und aufpassten, dass das Schiff auf Kurs blieb und die Kammern die richtige Temperatur enthielt. Was wäre, wenn sie alle sterben? Wegen einem Defekt, den sie nicht beheben können, und der das Leben auf dem ganzen Schiff unmöglich machte. Oder wegen einer Krankheit, die ausbricht, und für die niemand eine Heilung kennt. Sie würden sterben und wir würden solange durch die Weiten des Weltalls trieben, bis die Energieversorgung zusammenbricht, weil sie niemand mehr wartet. Wir würden aufwachen und wüssten nicht was zu tun wäre. Und irgendwann würden auch wir sterben, weil wir nicht wüssten, was zu tun wäre.
Oder was wäre, wenn ich die Einzige wäre, die aufwacht? Ich wäre dann ganz alleine auf dem Schiff. Und weil ich niemanden aufwecken könnte, weil das Technik war, die ich nicht im Geringsten verstand, würde ich einsam leben und irgendwann verhungern, verdursten oder einfach vor Einsamkeit sterben.
Oder ich würde ganz einfach nicht mehr aufwachen. Man friert mich ein und das war es dann. Ich würde nie wieder aufwachen. Vermutlich würde man mich dann verbrennen und ins Weltall entlassen. So würde ich für den Rest der Existenz, was vermutlich für immer uns alle Zeit sein würde, an Planeten vorbei schwirren, ferne Galaxien treffen und vielleicht sogar neue Lebewesen entdecken – nur dass ich ein Häufchen Asche wäre.
Wäre das nicht so erschreckend, wäre es irgendwie beruhigend – nein, eher überwältigend vor Ehrfurcht.
„Dir wird nichts passieren“ sagte mir meine Mutter, „uns wird nichts passieren, niemanden wir etwas passieren. Wir werden aufwachen und es wird uns so vorkommen, als wäre keine einzige Sekunde vergangen. Genauso, wie man es uns versichert hat.“
Sie hatte meine Gedanken gelesen. Und zwar wirklich gelesen. Denn sie war eine Telepathin. Genau wie ich, meine Großmutter und mein Ur-Großvater und der Rest ihrer Vorfahren.
„Macht sie sich immer noch sorgen?“, fragte mein Vater etwas belustigt. Er ist kein Telepath, konnte keine Gedanken lesen, weshalb er sich darüber lustig machen konnte.
Ich sprach nämlich nicht gerne über meine Ängste. Aber das brauchte ich auch nicht. Meine Mutter untersuchte regelmäßig meine Gedanken um herauszufinden, was in mir vorging. Das machte sie erst, seit ich angefangen hatte, mir Sorgen über die Reise zu machen, die wir eingefroren antreten würden.
Und obwohl sie es sich nicht anmerken ließ, musste es sie nerven, dass ich nicht aufhören konnte mir darüber Sorgen zu machen – sie war nicht die einzige, die Gedanken lesen konnte. Ab und zu las ich auch in ihren. Weshalb ich wusste, dass auch sie sich hin und wieder Gedanken um die Reise machte, die nicht gerade positiv aufgeregt waren, wie die meines Vaters, aber längst nicht so negativ, wie meine. Und nicht im Geringsten so häufig durch ihre Gedanken geisterten, wie die meinen.
Mein Vater zog mich an meiner Hand zu sich und setzte mich auf meinen Platz neben sich. Er legte seinen Arm um meine Schulter, drückte mich an sich und gab mir einen Kuss auf meine Stirn. „Mach dir nicht so viele Sorgen“, sagte er, „davon bekommt man Falten.“
Das brachte mich zum Lächeln, beruhigte aber nicht meine nervösen Gedanken.
„Achtung!“, sagte eine weibliche Lautsprecherstimme, „Bereit machen zum Andocken. Bitte begeben sie sich in eine aufrechte Positionen auf ihre Sitzplätze und schnallen sich an. Das Andocken kann etwas holprig werden, aber es gibt keinen Grund zur Besorgnis.“
Wie versprochen wurde es holprig, als die Transportkapsel an das riesige Raumschiff andockte, das uns in unsere neue Heimat, dem Solarpentagonsystem bringt. Es schüttelte uns kurz aber hart durch. Gut, dass die Lautsprecherstimme uns gebeten hatte, uns anzuschnallen, denn sonst wären wir wohl quer durch den Raum geflogen.
Einige Minuten passierte dann nichts, bis eine weitere Durchsage gemacht wurde, „Willkommen auf der Rising Star. Bitte begeben sie sich geordnet zu den Ausgängen der Transportkapsel.“ Und wir taten, wie uns geheißen.
Wie ein Chor hörte es sich an, als jeder der vierundzwanzig Passagiere unserer Transportkapsel sich abschnallte. Die Kapsel war nicht voll ausgelastet, weil wir eine der Letzten Kapseln waren, die die Erde verlassen hatten und die Rising Star anflogen.
Es hatte sich bereits eine Schlange vor den beiden Ausgängen gebildet, die darauf wartete, dass sich die Türen öffneten, als wir uns einreihten. Die beiden Piloten kamen in dem Augenblick aus ihrem Cockpit, als sie die Türen schließlich mit einem Zischen öffneten. Automatisch klappten sie sich nach links und rechts außen. Einer nach dem anderen der Passagiere verließ die Transportkapsel und trat in die riesige Hangar Halle, die bestimmt fünf Etagen hoch sein musste.
Es herrschte ein reger Betrieb in der Halle, da neben unserem, noch etwa ein Dutzend anderer Transportkapseln angekommen waren. Die Gittertreppe, an der wir hinunterstiegen, wackelte ziemlich, sodass ich mich an beiden Seiten des Geländers fest halten musste, um meine Balance zu halten.
Ein Mann schlenderte durch die ankommende Menge, und sprach durch seinen Lautsprecher, „Bitte begeben sie sich zum nächsten Aufnahmepunkt. Dort werden ihre ID Chips gescannt und sie werden einem der Schienenfahrzeuge zugewiesen. Familien bleiben bitte zusammen. Und bitte nicht drängeln, es kommt jeder dran.“
Meine Mutter nahm mich an die Hand und zog mich mit sich, als sie mit meinem Vater und meinen Großeltern den nächsten Aufnahmepunkt ansteuerte.
In der ganzen Halle herrschte ein Stimmengewirr, aus dem sich nur schwer Sinn machen lässt. Die einen versuchten ihre Mitreisenden zu beruhigen, weil sie so aufgeregt waren, wie ich. Andere schwärmten von unserer neuen Heimat, obwohl sie sie noch nicht einmal gesehen haben. Und wieder andere versuchten ihre Familien zusammenzuhalten. Mütter riefen ihre Kinder zusammen, die sich zwischen den Erwachsenen hindurch drängten, um ihre Eltern zu finden. Ältere Kinder liefen quer durch die Halle. Alte und schwache Menschen wurden von jüngeren vorsichtig durch die Masse geführt.
„Wo ist Luca?“, hörte ich eine Frau fragen, als wir an ihr vorbei liefen.
„Da hinten kommt sie schon.“, wurde ihr von einem – ihrem Mann geantwortet.
„Was ist, wenn es einen Kurzschluss oder so gibt und wir daran in unseren Kammern sterben?“, sprach mir jemand aus der Seele.
Aber unsere bevorstehende Reise war nicht das einzige Thema, das die Menschen hier beschäftigte.
„Hast du die kleine da hinten gesehen?“, sagte ein Kerl zwinkernd zu seinem Freund und pfiff anerkennend.
„Warte Floy! Das kann´s doch nicht gewesen sein?“, rief ein Junge in meinem Alter einem Mädchen hinterher, das er verfolgte.
„Ist es normal, dass mein Chip zu jucken scheint?“, fragte ein Kind seine Eltern.
Meine Eltern, Großeltern und ich reihten uns in eine weitere Schlange ein, die an einem Aufnahmepunkt anzufangen schien. Nach gut einer halben Stunde waren wir endlich dran und ich konnte mir endlich sicher sein, dass wir uns bei einem Aufnahmepunkt angestellt hatten. Mein Vater war der erste von uns, dessen Chip in seiner Handfläche gescannt wurde, der ihm dort vor einem Monat implantiert worden war.
Die ID – oder Identifizierungschips – beinhalteten nicht nur Informationen, wie unsere Namen und unsere Geburtsdaten, sondern auch unsere Krankengeschichten, Liquiditätsinformationen und alles andere, was offizielle Behörden über uns wissen mussten. Auch unsere Kryogenkammer Nummern und unsere Zielorte waren dort enthalten.
Es gab nämlich neun verschiedene Planten im Solarpentagonsystem, auf dem wir angesiedelt wurden. Der Planet, auf dem wir leben werden, wurde Astrhal genannt. Wir wussten nicht viel, was uns dort erwarten würde. Ob es dort irgendwie so, wie auf der Erde sein würde. Das würden wir erst erfahren, wenn wir angekommen sind und aufgetaut werden. Denn dann würden wir noch einige Wochen im Raumschiff leben, während wir auf das Vorbereitet werden, was uns dort erwarten wird.
Schließlich war ich an der Reihe meinen ID Chip scannen zu lassen. Die Frau, die die längsten und schönsten blonden Haare hatte, die ich je gesehen hatte, nahm meine Hand in ihre geschmeidigen Finger und hielt den Scanapparat darüber. Meine Familie wartete hinter ihr darauf, dass sie uns zu unserem Schienenfahrzeug brachte.
Ein Piepen signalisierte die Ankunft der Datenströme von meinem Chip im Scanapparat. Ich linste auf den Bildschirm und erkannte ein Bild von mir, dass vor einem Monat gemacht wurde, als man mir auch meinen Chip implantiert hatte. Daneben standen mein Name, mein Geburtsdatum, die Anzahl meiner Familienmitglieder, mit denen ich reisen würde, und die Nummer meiner Kryogenkammer – zweihundertdreiundsechzig.
„Okay, das waren alle.“, sagte die Frau, mit den glänzend blonden Haaren. „Folgen sie mir bitte.“ Auf ihren Weg zu den Schienenfahrzeugen, sprach sie in ihr Funkgerät, „Posten fünf neu besetzen. Bringe eine Gruppe zu ihren Kammern.“
Bei einem der Schienenfahrzeuge angekommen, auf dem schon eine andere kleine Familie wartete, wies sie uns an einzusteigen und uns anzuschnallen. Zusammen mit meinem Vater half sie meinen beiden Großmüttern und meinem Großvater – der Vater meines Vaters starb vor zwei Jahre – auf das erhöhte Fahrzeug, und setzte sich dann selbst vorne auf den Fahrersitz, wo sie sofort einige Befehle eintippte.
Nachdem alle auf ihren Plätzen saßen und angeschnallt sind, drückte sie einen Knopf, der bewirkte, dass wir uns aus der Reihe der stehenden Schienenfahrzeuge ausreihten. Dann schob sie einen Hebel an ihrem Armaturenbrett nach vorne. Das schien der Gashebel zu sein, denn sofort setzte sich das Schienenfahrzeug mit einer rasanten Geschwindigkeit, die uns in unsere Sitze drückte, in Bewegung. Damit ließen wir die Hangar Halle hinter uns und fuhren durch einen dunklen Tunnel.
„Wie schnell fährt dieses Ding denn?“, hörte ich den Vater der anderen Familie fragen. Er musste schon fast schreien, damit ihn jemand hörte.
„Im Moment fahren wir etwa Achtzig Kilometer die Stunde.“, antwortete ihm die blonde Frau über ihre Schulter hinweg. „Aber es auch zu noch höheren Geschwindigkeiten fähig.“
Nach kurzer Zeit waren wir plötzlich in so helles Licht getaucht, dass ich meine Augen schließen musste, bis ich mich an das Licht gewöhnt hatte. Da sah ich, woran wir vorbei sausten. Hinter einer langen Glaswand war das erste Kryogenkammern Feld. Ein gewaltiger Raum, der hunderte von diesen Schneewittchen ähnlichen, durchsichtigen Särgen, beherbergte.
Es hatte rein gar nichts damit zu tun, dass ich sie mit dem gläsernen Sarg von Schneewittchen verglich, weil ich befürchtete in so einem Ding zu sterben. Sie sahen einfach so aus. Wenn man davon absah, dass Schneewittchens Sarg bestimmt keine Schläuche, LED Anzeigen und Knöpfe hatte.
Schließlich war es wieder Stockdunkel und ich konnte rein gar nichts mehr sehen. Und, gerade als ich mich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatte, wurde es wieder hell. Nach kurzer Zeit aber schon wieder dunkel. Das ging noch zweimal so, bis wir schließlich langsamer wurden. So plötzlich, wie wir losgebraust waren, hielten wir nicht an. Die blonde Frau bremste vorsichtig ab.
Als wir schließlich vollkommen zum Stillstand gekommen sind, erhob sich die blonde Frau und wies uns an, uns wieder abzuschnallen und ihr zu folgen. Sie führte uns über eine kleine Plattform und durch eine Tür, die in ein weiteres Kryogenkammern Feld führte.
In dem Raum, hinter einigen Reihen von besetzten Kryogenkammern, wartete ein Team von Technikern, die uns vermutlich in den Kammern einfrieren sollten. Sie sahen entspannt aus. Als hätten sie schon länger nichts mehr zu tun gehabt.
Die blonde Frau blieb schließlich vor zwei Türen stehen. „Hinter diesen Türen befinden sich Umkleidekabinen, wo sie Kleidung finden, die sie bitte anziehen. Männer rechts, Frauen links. Dann gehen sie bitte dort hinten zu ihren Kammern.“ Sie zeigte zu der Gruppe wartender Techniker.
Meine Großmütter, meine Mutter und ich, gingen zusammen mit der Frau der anderen Familie und ihrer – Mutter? / Schwiegermutter? – in die linke Umkleidekabine. Hinter einem Tisch mit ausschließlich weißer Kleidung, war eine weitere Frau, mit einem Scanner. Wieder wurden unsere ID Chips gescannt. Nach jedem Scan reichte die Frau ein bestimmtes Kleidungspaket. Ihr Scanner musste wohl auch die Kleidergrößen anzeigen.
Ich nahm mein Kleiderpaket in Empfang und folgte meiner Mutter zu einem freien Platz, wo ich mich umziehen konnte. Als ich das weiße langärmlige Shirt vor mir hinhielt um es genauer zu inspizieren, entdeckte ich eine Aufschrift darauf. Auf dem Rücken war die Nummer zweihundertdreiundsechzig – die Nummer meiner Kryogenkammer.
Neben dem Shirt, der Hose und Schleichschuhen, die sich anzogen wie Socken, aber eigentlich Schuhe waren, war in dem Paket auch Unterwäsche enthalten. Wenn wir uns umziehen sollten, sollten wir uns wohl wirklich umziehen. Glücklicherweise waren Frauen und Männer getrennt worden. Ich fühlte mich schon unwohl, mich vor fremden Frauen umzuziehen, geschweige denn vor Männern – ob ich sie kannte oder nicht.
„Clio, hilfst du deiner Großmutter bitte mit den Schleichschuhen?“, sagte meine Mutter. Da sie selbst ihrer Mutter half, sollte ich wohl meiner Großmutter väterlicherseits helfen.
Nachdem das erledigt war, und meine Großmutter mir mit einem Kuss auf die Wange dankte, verließen wir die Umkleidekabine, wo mein Vater und Großvater bereits auf uns warteten. Zusammen näherten wir uns dem gelangweilt aussehenden Techniker Team. Ich fragte mich, ob sie zu denjenigen gehörten, die während der Reise wach waren und sich um die Wartung und Kurshaltung kümmerten, oder sie nur beim Einfrieren aushalfen. Der Gedanke war komisch, dass sie womöglich schon tot waren – durch einen natürlichen Tod, nach einem langen Leben, hoffte ich – wenn ich aufwachte – immer noch fünfzehn Jahre alt.
Wir gingen durch mehrere Reihen von besetzten Kryogenkammern. Einige der Gesichter der in Kälteschlaf liegender Menschen, sah ich mir genauer an. Die meisten hatten die Augen geschlossen. Aber einige hatten sich nicht die Mühe gemacht. Es war gruselig, sie so anzusehen. Offene Augen, die einen anstarren, ohne etwas wirklich zu sehen. Oder konnten sie sehen? Laut den Lehrgangsveranstaltern, nicht.
Der Techniker, der mich und meinen Vater, dessen Kammer neben meiner lag, einfrieren sollte, hatte blau gefärbte Haare. Nichts Unübliches in der heutigen Zeit – meine eigenen Haare waren knallrot. Aber sein Haar war grün gesprenkelt. Eine neue Modeerscheinung, die aber noch nicht viele trugen. Das wird sich wohl geändert haben, wenn ich aufwache. Denn wir gehörten auch zu den letzten, die aufgetaut werden.
Es gehörte zum Plan der Neukolonisierung, dass die Menschen erst nach und nach aufgetaut werden. Zuerst die Arbeiter, die die Energie- und Wasserwirtschaft aufbauen sollen. Natürlich mit ihren Familien. Dazu kommen noch die Arbeiter, die die ersten Häuser bauen sollen. Sobald die Häuser fertig sind, wird die nächste Ladung Menschen aufgetaut und angesiedelt. Das geht dann so lange weiter, bis alle Menschen aus ihrem Kälteschlaf geholt wurden.
Zuerst beäugte ich die gepolsterte Kammer, die aus der Nähe betrachtet noch mehr aussah, wie ein Sarg. Und diesmal dachte ich so, weil ich fürchtete dort drinnen zu sterben. Aber ich folgte schließlich doch dem Beispiel meiner Familie und legte mich auf die weißen Polster aus Kunstleder. Es war recht bequem, was in mir die Frage aufbrachte, wozu es denn eigentlich bequem sein musste, wenn es doch so sein würde, als sei keine Zeit vergangen. Doch irgendeinen Grund werden die Ingenieure der Kryogenkammern schon gehabt haben, um sie so auszupolstern.
„Man sieht sich, kleine Lady.“, zwinkerte er Techniker mir zu, als er den Deckel meiner Kammer über mir zu klappte. Dann trat er aus meinem Blickfeld, um die Kammer meines Vaters zu schließen, vermutete ich.
Obwohl es nicht mehr als eine Minute war, die ich schon hier drinnen lag, fiel mir das Atmen von Mal zu Mal immer schwerer. Das einzige, das ich sehen konnte war das immer wieder flackernde Licht, das sich direkt über meiner Kammer befand. Nervös feuchtete ich mir meine Lippen an. Ich war kurz davor den Deckel wieder auf zu klappen und auszusteigen, als ich plötzlich die Stimme meiner Mutter in meinen Gedanken hörte.
Als Telepath konnte man nicht nur die Gedanken anderer lesen, sondern auch mittels Gedankenübertragung miteinander kommunizieren.
Ganz ruhig, Liebling. Es wird gleich wieder vorbei sein.
„Kammer zweihundertdreiundsechzig und zweihundertvierundsechzig geschlossen.“, hörte ich den Techniker dumpf durch den Plastikglasdeckel sagen.
Wenn du aufwachst werden dein Vater, deine Großeltern und ich da sein.
„Leite Gefrieren der Kammern zweihundertdreiundsechzig bis zweihundertneunundsechzig ein.“, hörte ich von weiter weg einen anderen Techniker rufen.
Genau, wie es uns versichert wurde, wird es ganz so sein, als sei keine…
2.
…Sekunde vergangen.
Das wurde niemals gesagt.
„Kammern zweihundertdreiundsechzig bis zweihundertneunundsechzig aufgetaut.“, hörte ich eine weibliche Stimme dumpf durch den Plastikglasdeckel rufen.
Kurz darauf stand eine Frau mittleren Alters über mir und öffnete den Deckel meiner Kammer mit einem Zischen. Es fiel mir immer noch schwer zu atmen, was allerdings nicht an meiner Nervosität lag. Meine Lunge fühlte sich müde an. Als wäre sie eingeschlafen, wie eine Hand, auf der man gesessen hat. Doch mit jedem Luftzug wurde es leichter. Und nach nur wenigen Luftzügen fühlte es sich wieder ganz normal an ein- und auszuatmen.
Jetzt hielt ich es auf für ungefährlich mich zu bewegen. Da spürte ich, dass diese Steifheit nicht nur meine Lunge beeinträchtigte. Jedes einzelne meiner Glieder fühlte sich so … so … es war merkwürdig. Als könnte ich mich nicht weit genug strecken, um die Steifheit und Mattigkeit loszuwerden.
Der erste Versuch mich aufzusetzen ging schief. Erst beim zweiten Mal klappte es. Und erst da merkte ich, dass vier Techniker mich anstarrten, statt nur des einen, der mich eingefroren hatte. Doch es überraschte mich, dass er auch unter den Technikern war, die mich jetzt beäugten.
„Alles okay?“, fragte mich die einzige weibliche Technikerin unter ihnen. „Schwindelgefühl oder Übelkeit? Tut dir irgendwas weh?“
Ich führte eine kurze aber gründliche Bestandsaufnahme in meinem Körper durch, um ihr die Fragen zu beantworten. Meine Lunge schien wieder normal zu arbeiten, und abgesehen von der Steifheit meiner Glieder, fehlte mir nichts, denke ich. Ich hatte keine Schmerzen. Übelkeit verspürte ich auch nicht. Und Schwindelgefühl…? Das wird sich gleich zeigen.
Ich setzte meine Füße fest auf den Boden auf, beugte mich vor und riss meinen Hintern ein Stück vor. Im ersten Moment klappte es. Ich stand. Aber dann ... oh … kippte ich nach vorne und nach vorne und … ich konnte mich nicht mehr halten, kippte aber nicht weiter nach vorn. Ein paar Arme hatten mich aufgefangen.
Vorsichtig wurde ich auf den Boden gelegt, damit die Arme, die, wie ich jetzt erkannte, dem blauhaarigen Techniker, der mich eingefroren hatte, einen besseren Halt um mich herum fanden. Er hob mich auf und setzt mich auf einen Rollstuhl ab.
„Ich glaube mir ist schwindelig.“, sagte ich.
„Ja, das konnten wir gerade live miterleben.“, lächelte er.
„Sonst irgendwelche Beschwerden?“ fragte die weibliche Technikerin.
„Ich fühl mich irgendwie steif.“, sagte ich.
„Tja, ich-“, fing einer der beiden Techniker an, die bisher nichts gesagt haben, wurde aber durch einen Schlag auf dem Hinterkopf unterbrochen, der ihm von dem anderen verpasst wurde.
„Und…“ Irgendwas war da noch. Aber ich kam nicht darauf, was es war. Keine Übelkeit, keine Schmerzen, aber Schwindel und Steife Glieder.
… Sekunden vergangen.
Das war es. Meine Mutter. Ich sah mich um. Außer uns war niemand in dem riesigen Raum, der auch wach war. Nicht meine Großeltern, nicht meine Mutter und nicht mein Vater, dessen Kammer, die gleich neben meiner war, leer ist.
„Wo sind meine Eltern?“, fragte ich.
Der Techniker mit den blauen Haaren sah die weibliche Technikerin an und ich schwöre, mein Herz blieb für mindestens eine Sekunde stehen. Das war´s. Ich wusste irgendwas würde schief gehen. Ich wusste irgendwas würde passieren. Meine Eltern sind tot. Warum sonst sollte der blauhaarige Techniker hilfesuchend jemand anderen ansehen.
„Es geht ihnen bestimmt gut.“, sagte die weibliche Technikerin. „Weißt du, als die ersten Kammern geöffnet wurden, gab es einige Komplikationen.“ Irgendwie wurde mir langsam warm, da half es auch nicht, dass man mir versicherte, dass es meinen Eltern gut ging. Bevor ich sie nicht sah, konnte ich es ohnehin nicht glauben. „Deshalb kam es so, dass es Standard wurde, dass das gesamte Techniker Team anwesend sein musste, wenn wir eine Kammer öffnen. Unsere Schicht hat erst mit dir angefangen, weshalb wir nicht genau wissen, wie das Auftauen deiner Eltern verlaufen ist. Aber da wir zeitig angefangen haben, bedeutet das wohl, dass es ihnen gut geht.“ So ganz konnte sie mich nicht überzeugen. „Du wirst sie nach deiner Untersuchung sehen.“ Wenigstens etwas.
„Odg, bring sie zu ihrer Untersuchung und bleib bei ihr, bis sie bei ihren Eltern ist.“, wies die weibliche Technikerin den mit den blauen Haaren an. Sie schien wohl irgendwie sein Boss zu sein.
Der blauhaarige Techniker, Odge, positionierte sich hinter meinen Rollstuhl und setzte ihn in Bewegung. Er fuhr mich an den Kammern meiner Eltern und meiner Großeltern vorbei. Alle leer. Und ich machte mir sorgen. Hoffentlich ging es ihnen wirklich gut. Ich wüsste nicht, was ich ohne sie tun würde.
Als er mich aus dem riesigen Raum in einen langen Gang mit metallenen Wänden manövrierte, fing er schließlich an zu reden. „Hast du Geschwister?“, fragte er in einer zum Plaudern aufgelegten Stimme.
„Nein.“, antwortete ich. Ich war nicht gerade zum Plaudern aufgelegt. Obwohl ich wohl gerade achtzig Jahre geschlafen hatte, wollte ich jetzt lieber schlafen. Doch auch erst, nachdem ich meine Familie gesehen hatte, und mich davon überzeugen konnte, dass es ihnen gut ging.
„Also nur du und deine Eltern?“, fragte er.
„Und meine Großeltern.“ Eigentlich gab es noch mehr Verwandte. Aber die hatte meine Familie schon lange aus den Augen verloren. Wir wussten lediglich durch unsere Telepathie, dass es sie gab.
„Ich hab noch einen Bruder. Aber der ist auf einem anderen Schiff.“
Jetzt hatte ich die Wahl. Würde ich ihn fragen, warum sein Bruder auf einem anderen Schiff war, würde das wohl eine richtige Unterhaltung werden. Hielt ich aber meinen Mund, passierte wohl nichts weiter als etwas mehr Smal Talk.
Ich schwieg. Ich war jetzt wirklich nicht in der Stimmung mich zu unterhalten. Außer vielleicht mit meiner Familie. Auch wenn das ihm gegenüber unhöflich sein würde. Im Augenblick konnte mir nichts mehr egal sein, als das.
„Warst du auch eingefroren?“, fragte ich aus heiterem Himmel, obwohl ich mich gerade dazu entschieden hatte eine Unterhaltung zu unterbinden. Doch die Neugier überkam mich urplötzlich.
„Klar.“, sagte er. „Sonst würde ich wohl schon lange nicht mehr so umwerfend aussehen, wie ich es einfach tue.“
Ich sah nach oben, in seine breit grinsendes Gesicht. Und es zauberte auch mir ein Lächeln auf die Lippen, wobei mir eigentlich nicht danach zumute war.
„Dann sind wirklich achtzig Jahre vergangen?“, fragte ich.
„Yep. Und lass dir sagen, für deine … äh, wie alt warst du?“, fragte er.
„Fünfzehn.“
„Tja, jetzt wohl nicht mehr.“, sagte er.
Da hatte er wohl Recht. Fünfundneunzig Jahre, war ich jetzt alt. Da ich keinen Spiegel hatte, untersuchte ich meine Hände. Keine Falten. Keine Altersflecken. Nur glatte Haut, die zurückschnellte wie ein Gummiband, wenn man daran zog. Nicht das, was man an den Händen einer fünfundneunzig jährigen erwarten würde.
Der Gang hatte schließlich ein Ende. Oder zumindest hielten wir an. Odge tippte irgendwas auf das Bedienfeld der Tür ein, die sich augenblicklich öffnete. Zum Vorschein kam eine Arztpraxis. Ein Röntgengerät hing an der Wand. Ein Tablett mit medizinischem Besteck lag auf einem Tisch neben der Patientenliege, auf die ein grelles Licht von der Decke schien.
Odge rollte mich durch die Tür zur Patientenliege.
„Die Ärztin wird gleich da sein.“, sagte er. „Am besten du setzt dich schon mal auf die Liege. Kannst du alleine aufstehen?“
Ich versuchte es. Und als ich schon fast stand, spürte ich, wie sich plötzlich wieder alles drehte. Als würde das Schiff in dem wir uns befanden, sich um seine eigene Achse drehen. Als würde sich der Raum um seine eigene Achse drehen. Alles wurde stumpf.
Aber ich konnte mich aufrecht halten. Auch wenn Odge mich nicht unterstützte, was er jetzt tat, hätte ich es ohne zu fallen auf die Liege geschafft. Ist dieses Schwindelgefühl normal? Oder ist das eine dieser Komplikationen, von dem die weibliche Technikerin gesprochen hatte?
Eine der drei Türen im Raum öffnete sich. Nicht die, durch die wir gekommen sind. Die Tür war an der linken Wand von dieser Tür. Durch die Liege, auf der ich saß, war mein Rücken zu der Frau gedreht, die herein kam. Sie trug einen weißen Kittel, weshalb ich annahm, dass sie die Ärztin war, die mich untersuchen sollte.
Odge saß sie auf den einzigen freien Platz im Raum, dem Rollstuhl, und rollte sich an die Wand, um der Ärztin Platz zu machen. Ihr rabenschwarzes Haar hatte sie zu einem streng wirkenden Knoten gebunden. Doch insgesamt, erschien sie mir ganz und gar nicht streng. Ihr Gesichtsausdruck versprach Einfühlungsvermögen, Freundlichkeit und Professionalität. Alles, was man sich von seinem Arzt wünschen konnte.
„Hallo.“, begrüßte sie mich lächelnd. „Mein Name ist Dr. Wera. Und du bist?“
Ihr Lächeln erreichte ihre Augen, wo sich feine Fältchen bildeten. Insgesamt war sie nicht mehr die jüngste. Ich würde sie auf etwa Ende vierzig oder Anfang fünfzig schätzen. Ich fragte mich, ob es sie schon gab, als ich eingefroren wurde. Wurde sie auf der Reise der Flotte geboren? Oder war sie auch eingefroren?
Doch so wichtig war das eigentlich nicht.
„Clio.“, antwortete ich ihr.
„Freut mich dich kennen zu lernen Clio.“ Dr. Wera streckte mir ihre linke Hand entgegen. Ich nahm und schüttelte sie kurz. Dann sagte die Ärztin, „Ich werde jetzt deinen ID Chip scannen. Okay?“
Ich nickte nur, und ließ meine Hand in ihrer liegen. Sie drehte sie um, meine Handfläche nach oben und hielt einen Scanapparat, den sie aus dem Nicht hervor zu zaubern schien, darüber. Wie beim letzten Mal, als die Frau, die meine Familie und mich auf das Schiff aufnahm, gescannt hat, signalisierte der Scanner mit einem Piepsen, dass er die Daten aus meinem Chip empfangen hat.
„Alles klar.“, sagte sie schließlich. „Hast du irgendwelche Beschwerden Clio? Schmerzen? Taubheits- oder Schwindelgefühle? Übelkeit?“
„Mir ist schwindelig, wenn ich aufstehe.“, antwortete ich.
„In Ordnung. Sonst irgendwas?“
Ich überlegte. Hatte ich irgendwo ein Taubheitsgefühl? Nein, ich glaube nicht. Da wäre nur meine schwache Lunge, als ich gerade aufgewacht war. Doch jetzt konnte ich wieder ganz normal atmen, als wäre nichts gewesen.
Trotzdem erwähnte ich es ihr gegenüber. „Es fiel mir schwer zu atmen, als ich aufgewacht bin. Aber jetzt geht es wieder.“
„Okay. Das ist ganz normal.“, sagte die Ärztin. „Kein Grund zu Besorgnis. Deine Lunge war fast achtzig Jahre eingefroren, weshalb sie in ihrer Arbeit unterbrochen wurde. Da ist es ganz normal, dass sie eine kurze Eingewöhnungszeit brauchte.“
Sie ging zu einer Schrankwand, vor der Odge in meinem Rollstuhl saß, und öffnete eine durchsichtige Schranktür, hinter der ihr Medikamentenvorrat sein musste. Sie tippte auf der Suche nach dem richtigen, eine Packung nach der anderen an.
„Gegen dein Schwindelgefühl hab ich ein Medikament für dich.“, sagte sie und kam mit der richtigen Packung zurück an meine Seite. Sie öffnete die Packung, holte eine Palette Tabletten heraus, aus der sie eine herausnahm und mir gab. „Moment, ich gebe dir ein Glas Wasser, um das kleine Ding runterzuspülen.“ Sie legte die Tablettenpackung neben das Waschbecken in der Ecke des Raumes, nahm ein Glas von einem Regal und füllte es halbvoll mit Wasser, was sie mir reichte.
Erst jetzt sah ich mir die Tablette, die sie mir gegeben hat, an. „…das kleine Ding…“ traf es nicht ganz. Das war eine der größten Tabletten, die ich je schlucken sollte. Da war das Glas Wasser wirklich nötig, um das weiße Ding runter zu bekommen. Aber ich schaffte es doch. Allerding hinterließ die Pille einen bitteren Nachgeschmack, obwohl meine Zunge sie kaum berührt hatte.
Dr. Wera setzte sich zu mir auf die Liege, zusammen mit einem Tablett, das sie auf einem rollenden Tisch zu sich zog. Auf dem Tablett war eine grüne Gummischnalle, einige sterile Tücher, Pflaster und ein Blutwertemessgerät. Ich wusste was jetzt kommen musste. Sie würde mir die Nadel, die durch einen Schlauch mit dem Messgerät verbunden war, in eine meiner Adern stecken. So etwas hasste ich. Aber wer mochte es auch schon mit einer Nadel gestochen zu werden?
Mit ihrer liebevollsten Stimme, erklärte sie mir genau das, was ich schon wusste, dass sie tun würde. Ich hatte das Gefühl, dass der ein oder andere Patient vor mir, dieses Gepiecke nicht so gut aufgenommen hatte, weshalb sie sich diese extra herzliche Stimme bei diesem Teil der Untersuchung angewöhnt hatte.
Die Gummischnalle fädelte sie auf meinen Arm und zog sie bis auf meinen Oberarm, wo sie sie fest zog. Dann suchte sie mit Klopfen, und der Unterstützung meiner immerzu pumpenden Hand, nach einer geeigneten Ader, die sie anzapfen kann. Als sie eine gefunden hatte, wischte sie die Stelle mit einem der sterilen Tücher, die irgendwie feucht waren, ab. Ich atmete tief durch, als sie die Nadel des Messgeräts in die Hand nahm, und stellte überrascht fest, dass ich zitterte.
„Keine Angst.“, sagte sie beruhigend. „Das ist nur ein kurzer Piecks.“
War es aber nicht. Ja, der Piecks war da. Aber damit war es noch nicht zu Ende. Ich konnte regelrecht spüren, wie mir Blut ausgesaugt wurde. Wie von einem Vampir. Wie viel konnte diese Ding womöglich von mir haben wollen?
Nach weniger als einer Minute war es aber dann auch schon wieder vorbei. Obwohl mir gerade einige Milliliter Blut ausgesaugt wurde, wurde mir nicht schwindelig. Das hatte ich wohl der kleinen – großen Pille zu verdanken.
Dr. Wera übertrug die Daten, die das Blutwertemessgerät aus meinem Blut gewonnen hatte, auf ihrem Computer. Weil sie sich noch weiter damit beschäftigte, lies ich meinen Blick durch den Raum wandern und stoppte schließlich bei Odge. Er hatte die ganze Zeit keinen Ton von sich gegeben. Dabei hatte ich den Eindruck, dass er jemand war, der normalerweise nicht still sein konnte. Aber da saß er nun auf meinem Rollstuhl und schob sich gelangweilt vor und zurück, vor und zurück.
„Du kannst gehen, wenn du willst.“, sagte ich zu ihm.
Es dauerte kurz, bis er kapierte, dass ich mit ihm redete.
„Schon gut.“, sagte er schließlich. „Mir wurde gesagt, ich soll bei dir bleiben, also bleib ich bei dir.“
„Ist sie dein Boss?“, fragte ich. „Die Technikerin von vorhin?“
Daraufhin lachte Odge auf. „Ja.“, antwortete er wieder ernst.
3.
Mit meinen Blutwerten war alles in Ordnung. Und nachdem Dr. Wera mit mir einen Termin für die nächste Nachuntersuchung ausgemacht hatte, entließ sie mich. Dank der bitteren Pille konnte ich jetzt auch wieder gefahrenlos gehen und brauchte den Rollstuhl nicht mehr. Trotzdem begleitete Odge mich weiterhin. Er meinte, laut seiner neuen Chefin, der Technikerin, die er Evadine nannte, gehörte es nicht nur zu seinem Job die Leute aufzutauen, sondern sich auch um sie zu kümmern, wenn sie es benötigten.
Als wir in einem Aufzug etliche Etagen nach oben fuhren, erzählte Odge mir, dass Evadine eine der Techniker war, die während der Reise geboren wurde. Demnach war sie mindestens die Enkeltochter eines weiteren Technikers, der die ganze Zeit über wach war. Odge selbst, war nur eine Aushilfe für das Einfrieren und Auftauen. Deshalb war er ihr untergeordnet.
Der Aufzug blieb schließlich stehen und seine Türen öffneten sich. Hier traf ich neben den Technikern und der Ärztin die ersten Menschen, die wach waren. Es herrschte sogar reges Treiben. Menschen in blauer Kleidung liefen durch die Gänge auf dieser Etage. Alle trugen ausschließlich blau.
„Also … laut Plan müssen wir nach rechts.“, sagte Odge. Er brachte mich zu meiner, mir zugeteilten Wohnung, wo meine Familie auf mich warten wird, wenn es ihnen nach ihrem Auftauen gut ging.
An den Wänden des Ganges, den wir entlang liefen, reihten sich automatische Schiebetüren aneinander, von der jede eine andere Nummer hatte. Die Nummern waren der einzige Orientierungspunkt, den man in einem Gang hatte, der an jeder Stelle gleich aussah. Ich schenkte den Menschen, die sich im Gang tummelten, keine Aufmerksamkeit, da ich zu sehr damit beschäftigt war, die Zahlen an den Türen rauf zu zählen, bis ich endlich an meine Tür angelange, der Nummer zweiundneunzig.
Achtundachtzig, neunundachtzig, neunzig, einundneunzig.
Und da war sie. Die Tür zu meiner Wohnung, für die nächsten Wochen der Eingewöhnung. Ich hoffte inständig, dass sich meine ganze Familie dahinter befinden würde. Dass alle fünf heil durch die Jahre des Kälteschlafs geschafft haben.
Odge zeigte mir, wie ich die Tür öffnen konnte. Ich musste einfach meine Handfläche über das Bedienfeld der Tür halten, damit mein ID Chip gelesen werden und die Zugangsberechtigung überprüft werden konnte.
„Auf welchen Planeten kommst du?“, fragte er plötzlich.
Im Solarpentagonsystem gab es neben fünf Sonnen, siebenunddreißig Planeten. Doch nur neun davon waren dafür geeignet Menschen zu beherbergen. Einige hatten keine Atmosphäre, andere keinen Sauerstoff, oder nicht genug Sauerstoff, und wieder andere waren entweder zu heiß oder zu kalt, als das Menschen darauf leben könnten.
„Astrhal.“, sagte ich.
Odge nickte und sagte, „Dann laufen wir uns vielleicht nochmal über den Weg.“ Dann drückte er an der Tür auf das Feld öffnen.
Die Tür schob sich nach links in die Wand und machte den Weg frei für den Blick auf mein neues zu Hause, für die nächsten Wochen. Ein kleines, aber gemütlich aussehendes Wohnzimmer befand sich vor mir, mit einem Fernseher in der Wand, einem Kamin in der Ecke und einer weich aussehenden Couch. An den Seiten des Fernsehers erstreckten sich zwei Bücherregale, die bereits mit Büchern gefüllt waren, die ich nicht kannte.
„Mama?!“, rief ich durch die Wohnung, ohne sie zu betreten. „Papa?!“
Und da waren sie. Meine Eltern kamen aus einem der anderen Räume in das Wohnzimmer. Es ging ihnen gut. Sie sahen durch und durch gesund aus. Und ohne darüber nachzudenken was ich tat, dass ich etwas tat, umarmte ich sie, als hätte ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Was im Grunde auch so war. Ich hatte sie genau genommen vor achtzig Jahren zuletzt gesehen – auch wenn es mir, die Zeit meiner Untersuchung miteinberechnet, nur wie eine Stunde vorkommen sollte. Das Wissen, dass es achtzig Jahre waren, machten die achtzig Jahren irgendwie so real, dass ich wusste, dass ich sie verpasst hatte.
„Alles in Ordnung bei dir, Schatz?“, fragte mich meine Mutter. Sie schien die Zeit, die vergangen ist, auch zu spüren.
„Ja.“, sagte ich. „Als ich aufgewacht bin, war mir nur etwas schwindelig, sonst nichts.“
„Da ging es dir besser als mir.“, sagte mein Vater. „Ich musste mich erst mal, dreimal übergeben. Mir ist immer noch ein wenig übel.“, lachte er. Wenn er lachte, konnte es ja nicht so schlimm sein.
„Und du?“, fragte ich meine Mutter.
„Mir geht es prima.“, versicherte sie mir. „Willst du dein Zimmer sehen?“
Ich nickte und meine Mutter führte mich durch eine Tür auf der rechten Seite des Wohnzimmers. Mein Vater legte sich auf die Couch. Er sah etwas blass aus. Als ich das Wohnzimmer verließ, erkannte ich, dass die Eingangstür zu unserer Wohnung wieder geschlossen war. Odge muss gegangen sein, als ich meine Eltern umarmt hatte. Vielleicht begegnen wir uns noch einmal, wenn wir auf Astrhal endgültig angekommen sind.
Mein Zimmer war, wie das Wohnzimmer, nicht besonders groß. Aber für die nächsten Wochen würde es seinen Zweck erfüllen. Ich hatte ein Bett, einen Schreibtisch, einen Schrank, der halb in der Wand verborgen lag, und neben einem Regal auch einen Spiegel. Auf dem Bett waren einige Kisten gestapelt, die meine Sachen aus meinem alten Leben auf der Erde beinhalteten. Denn jeder Mensch, durfte eine bestimmte Menge an persönlichen Dingen in unsere neue Heimat mitnehmen.
„Wir haben alles, bis auf deine Sachen, schon ausgepackt.“, sagte meine Mutter. „Ich dachte mir, dass du dein Zimmer vielleicht lieber selber einräumen willst.“
„Ja, danke.“
Dann zeigte sie mir den Rest der Wohnung, die wie man von meinem Zimmer und dem Wohnzimmer her schließen konnte, auch nicht besonders groß war. Die Küche mit Essecke, befand sich neben meinem Zimmer. Das Schlafzimmer meiner Eltern, war der Küche gegenüber, auf der anderen Seite des Wohnzimmers. Wir hatten nur ein Badezimmer, das sich meinem Zimmer gegenüber und neben dem Schlafzimmer meiner Eltern befand.
Ich schämte mich fast, dass es mir erst jetzt auffiel. Aber wo würden meine Großeltern wohnen? Und viel wichtiger, wo sind meine Großeltern jetzt? Sie waren nicht in unserer Wohnung.
„Wo sind die Großeltern?“, fragte ich, als meine Mutter mir mein erstes Getränk seit achtzig Jahren einschenkte.
„Sie wohnen nebenan. In der Nummer einundneunzig.“, antwortete sie mir.
Aber ich konnte sagen, dass da noch etwas war, das ich wissen sollte. „Und?“, trieb ich sie an, weiter zu sprechen.
„Und … dein Großvater liegt zur Beobachtung auf der Krankenstation.“
„Was? Wieso?“
„Es ist nichts weiter.“, versicherte sie mir. „Als sie ihn aufgetaut hatten, ist sein Herz kurz stehen geblieben.“
Für einen Moment klappte mir nur der Mund auf. „Und das nennst du nichts weiter?“
„Es geht ihm ja wieder gut.“, versicherte sie mir weiter, als sie mir mein Glas mit eiskalter Himbeerlimonade reichte. „Er wird nur vorsichtshalber für die nächsten Tage genauer beobachtet. Wir wollen ihn heute Abend, nach der ersten Einführungsveranstaltung, noch mal besuchen gehen.“
Nachdem ich meine Limonade ausgetrunken hatte, nahm ich erst einmal meine erste Dusche seit achtzig Jahren. Obwohl ich weder Schmutzig war, noch muffelte, war die Dusche einfach nötig. Nichts war so schön, wie heißes Wasser, das über meinen Körper floss. Die Wärme war entspannend. Und von diesem Zeitpunkt an, war mir klar, dass ich mich jetzt darauf freuen konnte nach Astrhal zu kommen.
Meine neue Kleidung, die die Verantwortlichen des Raumschiffes vorbereitet hatten, war nichts weiter, als ein blauer Abklatsch von der, die ich zum Einfrieren bekommen hatte, und die alle auf dem Schiff zu tragen schienen, die hier nicht auch arbeiteten. Aber ich musste zugeben, dass die blaue Hose, das langärmlige Shirt und die Schuhe, äußerst bequem waren. Ich schätze meine alten, weißen Klamotten waren genauso weich und angenehm. Nur hatte ich wohl keine Zeit und keinen Nerv, es wirklich zu bemerken.
Mein Zimmer war schnell eingerichtet. Ich hatte nicht viele Habseligkeiten gehabt, die es mir Wert waren mitzunehmen. Einige externe Buchdateien, die ich auf meinem Computer ansehen und lesen konnte. Einige Erinnerungsbilder, die ich vor unserer Abreise von unserer alten Wohnung, meiner besten Freundin, die jetzt schon seit fast Zehn Jahren aufgetaut sein musste, meinem alten Hund, der starb, als ich sieben Jahre alt war, und meinem toten Großvater gemacht hatte.
Ich packte nicht mal alles aus. Zwei volle Kisten verstaute ich in meinem Schrank. Nur noch einige Dekorationsgegenstände schafften es in mein Regal. Darunter auch mein altes Lieblingsstofftier, das ich, als wir noch auf der Erde waren, nicht mehr angesehen hatte, seit ich neun war. Jetzt hatte ich irgendwie das Gefühl, dass ich es in der neuen Umgebung in meiner Nähe brauchte. Ein lila Elefant, der den Großteil seiner Wattefüllung verloren hatte, als mein alter Hund Mal eifersüchtig auf ihn war.
Als ich vorläufig zufrieden war, mit der Personalisierung meines neuen Zimmers, saß ich mich zu meinem Vater auf die Couch, der vor sich hindöste, während meine Mutter nach nebenan zu meinen Großmüttern ging. Ich beschloss sie erst morgen zu Besuchen. Erst wollte ich mich in meine neue Umgebung eingewöhnen, wozu ich erst einmal Zeit darin verbringen musste. Also machte ich den Fernseher an, um zu sehen, was die heutige Zeit alles so zu bieten hatte.
Auf dem ersten Kanal lief irgendeine Informationssendung des Raumschiffs. Dort berichtete ein Sprecher über die neuesten Zahlen des Auftauens und der Besiedelungen der neun Planeten. Nichts, was mich interessierte. Also schaltete ich auf den nächsten Kanal, wo eine Kindersendung zu laufen schien. Davon war ich bestimmt nicht die Zielgruppe. Ein sprechender Bleistift mit Gesicht erklärte einem Blatt Papier, das auch ein Gesicht hatte, wie man das Wort Straße buchstabierte. Und das ganze tat der Stift auch noch mit einem Lied.
Der nächste Kanal bot gerade einen Werbeblock dar. Der Werbespot stellte einen Wagen vor, der voll automatisch fuhr. Man brauchte keinen Fahrer mehr. Im Bordcomputer gab man einfach nur das Ziel ein, wählte optional eine bestimmte Route aus, die das Vehikel nehmen sollte, und sah zu, wie man sich durch den Verkehr schlängelte, ohne einen weiteren Finger zu krümmen.
Als wir noch auf der Erde waren, stellte man Pläne für so ein Fahrzeug vor. Heute war es vom Preis her fast schon erschwinglich. Ich fragte mich, ob wir uns auch einen Wagen zulegen würden, sobald wir auf Astrhal angekommen sind. Meinen Vater wollte ich jetzt nicht fragen. Er sollte ungestört vor sich hindösen, solange ihm immer noch übel war und er auch noch so blass aussah.
Ich schätze irgendwann würden wir uns einen Wagen kaufen. Wenn das öffentliche Verkehrsnetz gut strukturiert war, wovon ich mal ausging, da wir in die Hauptstadt von Astrhal zogen, würde diese Anschaffung auch noch warten können. Leisten konnten wir uns einen. Aber nur einen normalen Wagen, bei dem man noch selbst lenken musste. Dieser neue Wagen, der von alleine durch die Straßen lenkte, war für uns wohl noch zu teuer.
Jeder Siedler, ob Kind, Erwachsener oder Senior, bekam von der Regierung dasselbe Guthaben an Geld zugeschrieben. So wurde jeder praktisch auf null gesetzt. Egal, ob man auf der Erde wie ein König gelebt hatte, oder eher wie ein Bettler, im Solarpentagonsystem fingen alle von vorne an.
Von dem zugedachten Vermögen, hatte man sich schon auf der Erde ein Haus oder eine Wohnung in der neuen Heimat zulegen können. Uns würde ein Haus am Rande der Hauptstadt von Astrhal erwarten. Direkt neben uns, würden meine Großeltern zu dritt wohnen.
Zu meinem ersten Geburtstag, den ich auf dem neuen Planeten feiern würde, hatten mir die Großeltern ein einheimisches Haustier versprochen. Denn schon auf den ersten Satellitenbildern, die die Besiedlungsbehörde erhalten hatte, waren einheimische Tiere zu sehen. Und weil wir eine der letzteren waren, die aufgetaut wurden, gingen meine Großeltern davon aus, dass man einige dieser Tiere bis zu meinem Geburtstag als Haustiere erwerben konnte. Ich war da nicht so optimistisch. Aber natürlich würde ich mich über ein einheimisches Haustier freuen. Das wäre nur ein weiterer Schritt, ein Teil dieses Planeten zu werden, auf den ich noch nicht einmal einen Fuß gesetzt hatte.
„Also so ein Ding werde ich mir auf jeden Fall zulegen.“, sagte mein Vater plötzlich. Ich dachte eigentlich, dass er eingeschlafen wäre.
„Was denn?“, fragte ich, da ich ihm nicht folgen konnte.
„So ein Armbandcomputer, wie in der Werbung gerade.“, sagte er, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Was es vermutlich auch war, da ich die Werbung auch gesehen hatte – nur ohne sie wirklich zu registrieren, weil ich in Gedanken war.
„Was kann das Ding denn alles?“, fragte ich, neugierig geworden.
„Telefonieren, Internetzugang, Tagesplaner – alles was ein normaler Computer eben auch kann.“, sagte er. „Nur das man den wie eine Armbanduhr am Handgelenk tragen kann.“
„Ist das Display dann nicht viel zu klein.“ Ich stellte mir das irgendwie unpraktisch vor. Da bräuchte man ja glatt ein Mikroskop um zu sehen, was man sich gerade auf das Display geholt hatte. Und an eine Touchpadbedienung war bei so einer minimalen Größe gar nicht zu denken.
„Hast du denn gar nicht hingesehen?“, fragte mein Vater. „Die haben doch gezeigt, wie man das Display rausziehen kann, damit es sogar in 3D ist.“, erzählte er begeistert.
Doch wie man das Display aus seinem Gehäuse ziehen sollte, konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Aber es hörte sich interessant an. Ich sollte nach diesem Werbespot unbedingt Ausschau halten, um zu erfahren, wie genau das funktionierte.
Die nächste Werbung fand ich allerdings weitaus interessanter. Es ging auch um eine neue Form eines Computers. Ich glaube sogar vom selben Anbieter. Denn obwohl ich den Inhalt des vorherigen Spots nicht verfolgt hatte, erkannte ich dasselbe Firmenlogo wie zuvor.
Diesen Computer konnte man wie eine Brille aufsetzen. In einem oder in beiden Brillengläser konnte befand sich wahlweise das durchsichtige Display. Mit einem Handschuh, der kabellos mit der Brille verbunden war, bediente man die Aktivitäten auf dem Display. Den Handschuh, konnte man an der Brille an- und ausschalten, sodass man ihn nicht ausziehen musste, wenn man gleichzeitig etwas in die Hand nahm.
„Also ich finde, dass das viel besser ist, als dieser Armbandcomputer ist.“, sagte ich ihm.
Mein Vater lächelte. „Dann weiß ich ja, was ich dir zu Geburtstag schenken kann. Damit dürfte ich wohl das beste Geschenk in der Tasche haben.“
Das brachte mich zum Lachen. „Du musst dir meine Liebe doch nicht erkaufen.“
Jetzt lachten wir wirklich herzlich. Zum ersten Mal seit achtzig Jahren. Irgendwie sagte ich das immer wieder gerne. Es war schon beeindruckend fünfundneunzig Jahre alt zu sein, aber immer noch so jung zu sein. Als wäre ich unsterblich, oder so. Nur, dass ich die letzten achtzig Jahre nicht erlebt hatte. Trotzdem war es beeindruckend.
Schließlich kam meine Mutter wieder nach Hause – hm, kaum war ich ein paar Stunden hier, konnte ich es schon mein zu Hause nennen. Wenn das bei unserem Umzug nach Astrhal auch so ist, hatte ich ja nichts zu befürchten. Das Eingewöhnen in die neue Umgebung würde dann ganz leicht von statten gehen und nicht wohl nicht lange dauern.
Meine Mutter erinnerte uns daran, dass wir gleich los müssten, wenn wir nicht zu spät zur ersten Einführungsveranstaltung kommen wollten. Dort würde man uns über die ersten grundlegendsten Veränderungen im Gegensatz zum Leben auf der Erde informieren. Was genau, wusste ich nicht.
Außerdem ging man mit uns durch, was wir in den Wochen, die wir noch im Raumschiff verbrachten, zu tun hatten. Schule, für die schulpflichtigen Kids, und was weiß ich, für die Erwachsenen. Aber eine war gewiss, jeder, der aufgetaut wurde, musste an einem Seminar teilnehmen, in dem man etwas ausführlicheres über das Solarpentagonsystem, seine Planeten und das Leben auf diesen Planeten.
„Meinst du, du kannst auch zur Veranstaltung gehen?“, fragte meine Mutter meinen Vater.
Immer noch auf der Couch liegend, sah er zu ihr auf, wie sie über die Couch gebeugt war. „Solange ich nichts esse, kann ich meinen Mageninhalt bei mir behalten.“
„Das ist doch Schwachsinn.“, urteilte meine Mutter.
„Nein, wirklich. Willst du es sehen?“, fragte er scherzhaft.
Daraufhin musste ich so lachen, dass, wenn ich gerade etwas getrunken hätte, wäre es mir zur Nase wieder rausgelaufen. Mein Vater war immer auf einen guten Scherz aus, was ihn bei vielen beliebt machte. Aber er konnte auch vollkommen professionell sein, wenn es zum Bespiel um die Arbeit ging, was ihn bei noch mehr Leuten noch beliebter machte.
„Du bist ein Vollidiot.“, sagte meine Mutter nur halb ernsthaft.
„Und es ist deine eigene Schuld, dass du damit leben musst.“, sagte er, richtete sich zu ihr auf, und gab ihr einen zärtlichen Kuss.
Ich rollte nur mit den Augen. Es war ja schön, dass sie sich, nach fast zwanzig Jahren, die sie jetzt schon zusammen waren, immer noch so sehr liebten, aber musste sie es sich immer vor mir zeigen, wie sehr? Oft hatte ich das Gefühl, dass sie sich, immer wenn ich in denselben Raum kam wie sie, gegenseitig abschleckten. Niemand in meinem Alter will seine Eltern so sehen – jedenfalls nicht so häufig wie ich es tat.
„Willst du auch einen?“, fragte mich mein Vater, packte mich und zog meinen Kopf zu sich, damit er mir einen dicken Kuss aufdrücken konnte, wie er es immer schon tat, wenn er mich ärgern wollte.
„Du bleibst für heute hier.“, ordnete meine Mutter an. „Dein Gesundheitsstatus sagt sowieso, dass du für die nächsten drei Tage von jeder Verpflichtung freigestellt bist.“
„Geht´s dir denn so schlecht?“, fragte ich. Normalerweise legte er sich gleich zum Sterben ins Bett, wenn er nur einen Schnupfen hatte.
„Eigentlich nicht.“, antwortete er mir und legte sich wieder hin.
„Weil seine Übelkeit mit dem Kälteschlaf zusammenhängt, will sein Arzt nur auf Nummer sicher gehen.“, erklärte mir meine Mutter. „Genau wie bei deinem Großvater.“
4.
„Dein Seminar findet am Ende des Ganges statt.“, sagte meine Mutter, als wir in einem der oberen Etagen aus dem Aufzug gestiegen sind. „Meines ist offenbar gleich hier.“
Weil ich noch schulpflichtig war, musste ich ein anderes Einführungsseminar besuchen, als meine Mutter. In ihrem würde es wohl darum gehen, wie und wann sie zu arbeiten anfing. Ich würde bestimmt schon meinen Stundenplan für den Schulunterricht bekommen. Von meinen Großmüttern hatten wir uns schon vor zwei Etagen getrennt. Weil sie schon so alt und in Rente waren, hatten sie nochmal ein anderes Seminar zu besuchen.
„Ich weiß nicht, wie lange mein Seminar dauert“, meinte meine Mutter, „deshalb würde ich sagen wir treffen uns zu Hause.“
„Und Großvater?“, fragte ich. Wir wollten ihn eigentlich nach den Seminaren in der Krankenstation besuchen. Aber ich schätze, das war bevor wir wussten, dass wir in getrennten Seminaren erwartet würden.
„Ich bring dich morgen zu ihm.“, sagte sie. „Ich werde heute sowieso auch nicht lange bei ihm bleiben. Besonders, wenn es bei dem Seminar später wird.“
Wir verblieben dabei, dass wir alleine wieder nach Hause gingen und ich dann morgen zusammen mit meiner Großmutter meinen Großvater besuchen würde.
Am Ende des Ganges, wo mein Seminar stattfinden sollte, warteten etwa zwei Dutzend Kids in meinem Alter. Ich schätze, sie wurden, wie ich, alle heute aufgetaut. Nicht alle schienen fünfzehn zu sein, wie ich. Sie hatten vielleicht ein oder zwei Jahre mehr oder weniger auf den Buckel.
Einige von ihnen schienen sich nicht nur einfach schon zu kennen, sondern auch Freunde zu sein. Da musste ich an Deanna denken. Noch auf der Erde war sie meine beste und einzige Freundin. Sie wurde drei Monate vor mir eingefroren, und vor etwa zehn Jahren wieder aufgetaut. Wegen der Jobs ihrer Eltern wurden sie als eine der ersten wieder aufgetaut, um bei der ersten Besiedelung mitzuarbeiten. Das bedeutete, dass sie jetzt schon fast fünfundzwanzig sein musste.
Zehn Jahre, hatte sie ohne mich gelebt. Ich fragte mich, ob sie mich wohl schon vergessen hat, oder vielleicht ab und zu an mich dachte. Jedenfalls hatte sie mir vor ihrem Einfrieren versprochen, wir würden uns finden und Kontakt aufnehmen. Der erste Schritt wird wohl an mir sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie nach zehn Jahren eines neuen Lebens noch wusste, an welchem Tag ich aufgetaut werden sollte.
Selbst, wenn sie es nicht vergessen hatte, war da noch die Tatsache, dass es zu Komplikationen kam, als die Techniker angefangen hatten die Leute aufzutauen. Das hatte bestimmt Verzögerungen zur Folge gehabt. Vielleicht war Deanna sogar schon viel länger wieder wach. Vielleicht hatte sich mein Auftauen weiter nach hinten verschoben, als ursprünglich geplant. Oder…
Ich wollte gar nicht daran denken. Sie und ihre Familie waren eine der ersten, die aufgetaut wurden. Vielleicht waren sie von diesen Komplikationen betroffen. Was wenn es sie schon gar nicht mehr gab, wenn sie schon vor zehn Jahren, oder sogar schon länger, tot ist?
„Verzeiht die Verspätung.“, sagte plötzlich ein Mann mit blaugrauem Haar, der uns die Tür zum Seminarraum offen hielt. Er hatte eine Brille auf der Nase, obwohl man schon lange keine Brillen oder Kontaktlinsen mehr brauchte. Jeder, der eine Sehschwäche hatte, unterzog sich einem kleinen Routineeingriff bei seinem Arzt, der nicht mal fünf Minuten pro Auge dauerte.
Aber viele Menschen trugen trotzdem eine Brille. Nur, dass sie keine Sichtkorrigierenden Gläser mehr hatten. Es war lediglich noch ein Modeaccessoire, das viele nur deswegen trugen, weil sie damit klüger aussahen. Und, ja, es wirkt bei den meisten. Bei dem Mann, der wohl der Seminarleiter zu sein schien, wirkte mit der Brille wie ein typischer gelehrter. Meine Mutter, die Geschichtsprofessorin war, trug auch ganz gerne eine Brille.
Der Seminarraum war zwar nicht so groß, wie der Vorlesungssaal, in dem meine Mutter auf der Erde unterrichtet hatte, aber er war so aufgebaut. Stufenweise waren die hinteren Platzreihen höher als die davor, sodass jeder problemlos über die Köpfe der vor ihnen sitzenden sehen konnte.
Ich setzte mich auf einen freien Platz in der Mitte der dritten Reihe. Links von mir unterhielten sich ein Junge und ein Mädchen, die sich verdammt ähnlich sahen. Ich würde sagen, die beiden sind Zwillinge. Und weil sie sich so angeregt unterhielten, wollte ich mich nicht bei ihnen einmischen, obwohl ich mir wohl neue Freunde suchen sollte.
Immerhin würde es noch ein Weilchen dauern, bis ich meine alte beste Freundin wieder sehen würde. Und dann war da noch das Problem, dass sie jetzt schon viel älter war, als ich. Davon, dass sie möglicherweise sogar tot war, wollte ich gar nicht reden. Ich schob diesen Gedanken erst einmal ganz weit nach hinten, in die dunkelste Ecke meiner Gedanken. Ich konnte mich auch erst damit auseinandersetzen, wenn es soweit war – falls es überhaupt so weit kommt.
Als sich der Raum langsam füllte, wie es bei Halbwüchsigen nun mal dauerte, fiel mir ein Junge auf, den ich irgendwoher zu kennen glaubte. Er stand da vor der ersten Reihe und starrte ein Mädchen an, das dort saß. Er wirkte traurig und unglücklich, wurde aber gleich von einem anderen Jungen weiter geschoben, der ihn direkt rechts neben mich absetzte, weshalb ich die beiden besser nicht mehr ansah. Ich konnte mich aber nicht daran hindern, ihrer Unterhaltung zu folgen.
„Du musst aufhören, sie ständig anzustarren.“, sagte der, der den anderen neben mich gesetzt hatte. Ich musste kurz linsen, um zu sehen, wem welche Stimme gehörte.
„Tu ich doch gar nicht.“, sagte der niedergeschlagene. Man hörte seine Geschichte fast schon aus seiner Stimme heraus. Irgendwas war zwischen ihm und dem Mädchen in der ersten Reihe vorgefallen. Von seinem Blick vorher, und ihrer Reaktion, wie sie ihn ignoriert hatte, würde ich sagen, die beiden waren mal ein Paar.
„Hallo?!“, sagte sein Freund so laut, dass ich beinahe dachte, er wüsste, dass ich ihnen zuhörte. „Was machst du denn gerade?!“
Sie anstarren, vermute ich. Aus meinen Augenwinkeln, konnte ich sogar beobachten. Hilfreich, darauf zu kommen, war auch, dass er seinen Kopf, von seinem Freund weggedreht, auf den Tisch legte, sodass er jetzt in meine Richtung schaute. Aber er schenkte mir keinerlei Aufmerksamkeit.
„Hörzu, langsam wird das ganze jämmerlich.“, sagte sein Freund.
„Was soll ich denn machen?“, sagte der Niedergeschlagene, als er sich wieder zu seinem Freund drehte, „Es ist gerade mal drei Tage her.“
„Korrigiere.“, sagte sein Freund, wie ein Klugscheißer, „Achtzig Jahre und drei Tage.“
Mir entwich ein unfreiwilliges, kurzes Kichern, was die beiden Jungs dazu bracht mich anzusehen. Ich schaute schnell in die andere Richtung, solange, bis ich mir sicher war, dass sie mich wieder vergessen hatten. Doch aus meinen Augenwinkeln sah ich, dass der Niedergeschlagene mich immer noch ansah. Nur, dass er nicht mehr ganz so niedergeschlagen aussah. Eher neugierig.
„Dann wollen wir mal anfangen.“, sagte der Seminarleiter zu meiner Rettung. „Lasst mich euch erst einmal sagen: Willkommen auf der Rising Star und willkommen im Solarpentagonsystem.“ Der Tafelbildschirm, der hinter ihm in der Wand verankert war, wie der Fernseher in unserer Wohnung, leuchtete auf und wiederspiegelte seine Worte in großen bunten Buchstaben.
Als nächstes öffnete sich auf dem Bildschirm ein neues Fenster, in dem eine Gliederung mit den Seminarthemen aufgeführt war, die drei Oberpunkte hatte. Die neue Zeitrechnung, das Raumschiff und die Eingewöhnungszeit, die wir im Raumschiff verbrachten.
Es war schon vorher bekannt, dass sie die Zeitrechnung hier, von der auf der Erde unterscheiden würde. Nur, in wie weit, hatte die Kolonisierungsbehörde noch nicht ganz ausmachen können. Erst seit die Raumschiffflotte ihr Ziel erreicht hatte, konnte man die Planeten und ihre Sonnenumrundungen so messen, dass man ein neues Zeitsystem ausarbeiten konnte. Doch von Anfang an konnten sie schon sagen, dass ein Tag wohl mehr Stunden hatte, als auf der Erde. Und ein Jahr würde wohl sogar mehr Monate haben.
Bist du ein Telepath?, hörte ich plötzlich eine fremde Stimme in meinen Gedanken fragen. Ich wusste sofort, was das zu bedeuten hatte. Meine Mutter hatte so mit mir kommuniziert, als wir eingefroren wurden. Aber wer hatte mich gefragt?
Neben dir, hörte ich wieder. Ich weiß nicht genau warum, aber ich drehte meinen Kopf unauffällig nach rechts, während der Seminarleiter anfing seine Gliederung genauer zu erläutern, bevor er anfing.
Der Junge, der vorher so niedergeschlagen war, hatte seinen Kopf nach vorne ausgerichtet, aber seine Augen waren eindeutig zu mir gedreht. Bis du?, fragte er. Wie bei meiner Mutter manchmal, konnte ich jetzt auch in seine Augen sehen, dass er mit mir kommunizierte. Es war keine auffällige Veränderung seiner Augen, die man einfach so beobachten konnte. Vielmehr musste man schon ganz genau hinsehen um den abwesenden Nebel in seinen Augen zu erkennen. Aber vielleicht bildete ich mir das manchmal auch nur ein.
Ja, antwortete ich ihm telepathisch.
Ich kenne nicht viele Telepathen, erzählte er mir.
Ich auch nicht, erwiderte ich. Bis auf meine Mutter ihre Mutter und Tante, die schon länger tot ist, kannte ich keinen persönlich. Auf der Erde, in unserer alten Heimatstadt, bin ich mal dem ein oder anderen auf der Straße oder so, begegnet. Aber mit keinem hatte ich jemals telepathisch kommuniziert oder auch nur gesprochen.
„Fangen wir am besten von ganz vorne an.“, hörte ich den Seminarleiter sagen, als nichts mehr von dem telepathischen Jungen neben mir kam. „Aufgrund der Sonnenumrundung, die hier länger dauert, als bei der Erde, haben sich die Zeiten enorm verändert. Zu Anfang wird es eine große Umstellung für euch sein, was sich gegen Ende der Eingewöhnungszeit legen wird.“
Das Bild auf dem Tafelbildschirm hinter dem Seminarleiter veränderte sich in eine Tabelle, in der, in der ganz linken Spalte, von Sekunden zu Jahren hochgezählt wird. In der zweiten Zeile der Tabelle, auf der Höhe der Sekunden, war eine leere Spalte daneben. Darüber war das Wort Minuten zu lesen. Der Rest der obersten Zeile zählte von Stunden bis zu Jahren durch. Als der Seminarleiter weiter sprach, tauchten Zahlen in den leergebliebenen Zellen auf.
„Eine Minute hat ganz normal sechzig Sekunden.“, sagte er und die Zahl sechzig erschien in der Zelle, zugehörig zu Sekunden und Minuten. „Eine Stunde hat wieder ebenfalls sechzig Minuten, Ein Tag aber sechsunddreißig Stunden.“ – Wow, sechsunddreißig Stunden pro Tag!
Ich war nicht die Einzige im Raum, die davon beeindruckt war. Immerhin waren die Tage hier, jetzt solang, wie eineinhalb Tage auf der Erde. Was sollte man mit der ganzen neugewonnen Zeit am Tag anfangen? Würde sich womöglich die Zeit, die man in der Schule verbrachte, daran anpassen und damit verlängern? Und würde ich es überhaupt schaffen solange wach zu bleiben? Wenn mein Tag anstrengend war, fiel ich ja schon nach fünfzehn Stunden hundemüde ins Bett. Wie sollte ich da doppelt so lange aushalten?
Der Seminarleiter erklärte weiter, die Änderungen des Zeitsystems. Eine Woche hatte elf Tage, ein Monat mal sechsunddreißig und mal siebenunddreißig Tage. Das Jahr hatte noch dazu ganze fünfzehn Monate. Der fünfzehnte Monat hatte als einziges neununddreißig Tage. Ein ganzer Haufen mehr Zeit, den man da hatte.
Aber das krasseste kam erst noch. Unsere jeweiligen Alter wurden an die neue Zeitrechnung angepasst. Wonach ich jetzt als zehn Jahre alt gelte. Zehn Jahre und zwölf Monate. Die Monate wurden nämlich oft zu den Jahren dazu genannt, damit die Umstellung ein wenig einfacher war. Für mich, war das aber nur eine äußerst geringfügige Erleichterung. Kaum erwähnenswert, um ehrlich zu sein.
Kannst du laut sagen, hörte ich den Telepathen neben mir wieder in meinen Gedanken.
Ich wäre dir dankbar, wenn du aus meinen Gedanken fern bleibst, erwiderte ich darauf nur. Ich konnte es schon nicht leiden, wenn meine Mutter ständig meine Gedanken las. Aber dann noch ein Fremder? Das brauchte ich nun wirklich nicht.
Der Seminarleiter fuhr in seinem Vortrag fort. Auf dem Bildschirm hinter ihm, war nun ein Plan des gesamten Raumschiffs zu sehen, das mit unterschiedlichen Farben hervorgehoben war. Im Vergleich zu den Etagen mit den Kryogenkammer Feldern, waren die Etagen, mit den Vorläufigen Wohnungen, der frisch Aufgetauten, verschwindend klein. Und die Brücke des Schiffs, war von meinem Platz aus, kaum zu erkennen. Aber die Etagen, die für Zivilisten gesperrt waren, kamen fast schon an die Größe der Kryogenkammern Etagen ran. So ein Schiff hatte eine Menge empfindlicher Maschinerien, die das ganze Schiff zerstören könnten, wenn man sie falsch handhabte.
Schließlich kam der Seminarleiter zu den alltäglichen Funktionen des Schiffs, die wir gebrauchen konnten. Wie man die Tür öffnete, was mir Odge gezeigt hatte; wie man Lebensmittel oder anderes Einkaufen konnte, das nur über Internetbestellung möglich war, die dann frei Haus geliefert wurden; und wie man innerhalb des Schiffes telefonieren konnte, und auch nach außen, auf die Planeten.
Darin sah ich meine Chance Deanna zu finden, ohne zu warten, bis wir endlich in unser Haus auf Astrhal eingezogen sind. Allerdings konnte ich ihm nicht ganz folgen, wie man nach außen telefonieren kann. Aber das war auch gar nicht nötig. Die Telefone hatten anscheinend ein assistierendes Hilfesystem, das einem Schritt für Schritt erklärte was man tun musste, um den gewünschten Gesprächspartner zu erreichen.
Als nächstes kam der Seminarleiter zu seinem dritten und letzten Punkt, dem Inhalt der Eingewöhnungszeit, und was wir währenddessen zu tun hatten. Zunächst predigte er darüber, wie wichtig die Nachuntersuchungen waren, da der Kälteschlaf einige Nebenwirkungen hatte, die unsere Lebensqualität beeinträchtigen konnten. Darüber, was diese Beeinträchtigungen waren, verlor er aber kein Wort. Er sagte zu diesem Thema nur noch, dass wir bei jeder noch so kleiner Beschwerde einen der Ärzte aufsuchen sollten.
Und schließlich erklärte er uns, wie das mit dem Schulunterricht ablief. Jeder von uns bekam einen Stundenplan, auf dem, neben jeder Unterrichtsstunde, vermerkt war, wo der Unterricht in der Schulabteilung des Schiffes stattfand. Neben den normalen Fächern wie, Mathematik, Sprachunterricht, Geschichte und anderen, gab es noch einen Eingewöhnungsunterricht, was im Grunde nichts anderes war, als eine Mischung aus Erdkunde – oder besser gesagt, Planetenkunde (wir waren ja nicht mehr auf der Erde) – und Astronomie und Sozialkunde. Darin lernten wir etwas über alle Planeten, ob bewohnbar oder nicht, und erhielten detaillierte Informationen über unseren künftigen Heimatplaneten, wie zum Beispiel das Klima, die natürliche Beschaffenheit, Unterschiede zu den anderen Planeten, und die Kultur, die sich in den letzten Jahren der Besiedlung schon eingestellt hat.
Der erste Schultag war bereits morgen. Aber die ersten beiden Schultage waren eher zwei halbe Schultage. Danach kam auch schon das erste Wochenende, das im Solapentagonsystem vier Tage, anstelle der gewohnten zwei Tage auf der Erde, dauerte. Das war, laut den Organisatoren, genug Zeit um sich genug an den sechsunddreißig Stunden Tag zu gewöhnen, damit man dem vollen Schulunterricht folgen konnte, ohne mittendrin einzuschlafen.
Und endlich, endlich kam der Seminarleiter zum Ende und verabschiedete uns. Den ganzen Tag hatte ich keinen Blick auf eine Uhr werfen können. Aber ich war müde und freute mich auf einen gemütlichen Abend mit meinen Eltern und dann mein Bett. Wobei der Tag vielleicht noch lange nicht vorbei war. Der Seminarleiter empfahl uns täglich zwölf Stunden zu schlafen. Und da ich für die Schule um etwa sieben Uhr aufstehen musste, um nicht zu spät zu kommen, rechnete ich mir aus, dass es wohl am besten war, wenn ich um einunddreißig Uhr schlafen ging. – Das hörte sich echt schräg an. Einunddreißig Uhr.
Niemand blieb mehr sitzen, nachdem der Seminarleiter uns entlassen hatte. Die meisten verließen auch schon den Raum. Nur wenige blieben noch und unterhielten sich in kleinen Gruppen. Ich war einer von denen, die noch kurz blieben, denn der Telepath, der neben mir gesessen hatte, sprach mich an.
„Hi.“, sagte er. „Ich bin Ash.“
„Clio.“, stellte ich mich vor.
„Ich wollte mich dafür entschuldigen, dass ich deine Gedanken gelesen habe.“, sagte er überraschend.
„Schon gut.“, versicherte ich ihm. „Ich hätte nur gerne, dass meine Gedanken privat sind.“
„Kann ich verstehen. Geht mir eigentlich ganz ähnlich.“
„Wenn ihr mich nur weiter ignoriert, kann ich auch gleich gehen.“, sagte sein Freund, den ich bis dato gar nicht mehr bemerkt hatte.
„Tut mir leid.“, sagte Ash. „Das ist mein bester Freund, Fivel.“
„Hi. Clio.“, stellte ich mich ihm noch einmal vor.
„Hi.“, sagte er. „Du bist ein Telepath?“ Ich nickte nur. „Deshalb war es heute in meinem Kopf so einsam.“ Und zu Ash sagte er, „Mir gefällt deine Taktik.“
„Was denn für eine Taktik?“, fragte Ash verwirrt. Ich wusste auch nicht worauf Fivel anspielte.
„Naja, entweder flirtest du mit ihr“, er nickte zu mir rüber, „um Floy eifersüchtig zu machen, oder sie zu vergessen. Egal was es ist, mir gefällt´s.“
„Was?! Wer flirtet denn hier?!“ Er klang ja schon fast panisch. Und jetzt, wo er merkte, dass ich immer noch da war und hören konnte, was er sagte, wurde er sogar ein wenig rot.
„Schon gut. Ich bin nicht beleidigt.“, versicherte ich ihm. „Ich hatte sowieso nicht vor zu flirten.“
„Du musst ihn entschuldigen.“, sagte Fivel. „Seine Freundin hat zwei Tage vor dem Einfrieren mit ihm Schluss gemacht.“ Ash rollte mit den Augen, seufzte sauer und ging. „Och, komm schon.“, rief ihm Fivel hinterher, als er ihm folgte.
Da ich hier sonst nichts mehr zu tun hatte, beschloss ich, auch endlich zu gehen. Ich musste eine Uhr auftreiben. Selbst in Räumen mit Fenstern brannte immerzu nur künstliches Licht. Das Weltall ist stockfinster. Weshalb ich keinen blassen Schimmer hatte, welche Tages- oder gar Nachtzeit wir hatten.
Am Aufzug traf ich auf Fivel, der versuchte Ash dazu zu bringen, wieder mit ihm zu sprechen. Offensichtlich war die Wunde, die die Trennung von seiner Freundin hinterlassen hatte, noch nicht verheilt. Was auch gar nicht verwunderlich war, wenn man bedenkt, dass es auch noch gar nicht so lange her war.
Könntest du ihm das mal klar machen?, hörte ich Ash wieder in meinen Gedanken. Tut mir Leid, fügte er gleich hinzu, aber ich musste mich irgendwie ablenken, sonst hau ich ihm noch mal eine rein.
Hm. Wenn er etwas Ablenkung brauchte, würde ich ihm helfen. Man tut ja was man kann, um anderen zu helfen, pflegte mein Großvater immer zu sagen.
Für die Zeit, die wir uns den Aufzug teilen würden, würde ich ihn in ein Gespräch verwickeln. „Mit meiner besten Freundin hab ich auch immer während des Unterrichts telepathisch kommuniziert“
„Ist sie auch eine Telepathin?“, fragte Ash, Fivel immer noch ignorierend.
„Nein. Ich hab immer mit ihr kommuniziert und dann ihre Antwort in ihren Gedanken gelesen.“, erklärte ich ihm. Es war nicht immer leicht aus dem Gewirr von Gedanken die richtige Antwort herauszufinden. Aber ich kannte sie so gut, dass ich oft wusste, in welche Richtung ihre Antwort gehen würde.
„Sie wurde schon vor etwa zehn Jahren aufgetaut.“, fügte ich hinzu, falls sie sich fragten, warum Deanna jetzt nicht auch bei mir war.
„Vor zehn Jahren?!“, fragte Fivel schockiert.
„Ihre Eltern arbeiteten bei der ersten Besiedlung der Planeten.“, erzählte ich ihnen. „Und jetzt ist sie bestimmt schon fünfundzwanzig, während ich noch fünfzehn bin.“
„Zehn.“, sagte Fivel.
„Huh?“, fragte ich perplex.
„Du bist doch jetzt zehn Jahre alt.“, sagte er und ich konnte Ash wieder mit den Augen rollen sehen.
„Das ist auch so eine Sache.“, sagte ich ein wenig angesäuert. „Jetzt degradiert man mich wieder zu einem Kind. Ich bin zehn. Und anstatt mich auf meinen sechzehnten Geburtstag zu freuen, kann ich mich jetzt auf meinen elften freuen.“ Damit brachte ich beide zum Lachen.
„Weißt du was“, sagte Fivel schließlich, „ich mag dich. Versteh mich nicht falsch. Ich hab eine Freundin. Aber ich würde mich freuen, wenn du dich während des Unterrichts zu uns setzen würdest. Besonders solange er hier“, er zeigte hinter sich auf Ash, der jetzt an der Aufzug Wand lehnte, „so mies drauf ist.“ Ash kaute förmlich auf diesen Kommentar herum.
„Wo ist denn deine Freundin?“, fragte ich, da wir noch Zeit hatten bis wir unsere Etagen (die beiden wohnten in der Etage unter mir) erreichten.
„Sie wurde schon vor zwei Tagen aufgetaut.“, erzählte mir Fivel. „Und weil sie das nicht so ganz vertragen hat, liegt sie in der Krankenstation.“
„Was fehlt ihr denn?“
„Eigentlich nichts mehr. Aber ihr Herz ist zweimal stehen geblieben, als man sie aufgetaut hat. Deshalb lässt man sie bis morgen oder übermorgen in Beobachtung.“
„Meinem Großvater ist auch das Herz stehen geblieben. Scheint öfter zu passieren.“
„Ich hab gehört, dass einige beim Auftauen sogar gestorben sind.“, fügte Ash sich in die Unterhaltung ein. „Aber das war wohl eher noch am Anfang, als die Techniker nicht genau wussten, womit sie´s zu tun haben, wenn jemand fast achtzig Jahre Kälteschlaf hinter sich hat.“
Da musste ich wieder an Deanna denken. Und dass die Möglichkeit bestand, dass sie tot war. Morgen, nachdem ich meinen ersten halben Schultag hinter mich gebracht habe, werde ich mich gleich an meinen Computer setzen, und versuchen sie ausfindig zu machen. Die Chancen standen eigentlich gut, dass sie auch erst aufgetaut wurde, als man schon wusste, dass die Menschen sterben können, wenn man sie aus dem Kälteschlaf aufweckte. Ihre Eltern arbeiteten beide bei der Energieversorgungsentwicklung. Deshalb hatte man sie erst aufgetaut, als man die ersten Wissenschaftler und Erkundungstrupps auf die Planeten geschickt hatte, um sie genauer zu untersuchen.
5.
Mein Vater lag immer noch auf der Couch, wie meine Mutter und ich ihn zurückgelassen hatten, als wir zu unseren Seminaren aufgebrochen sind. Er sah fast so aus, als würde er schlafen. Aber irgendwie…
„Schläfst du?“, fragte ich ihn kurzerhand.
„Nein.“, lächelte er mit immer noch geschlossenen Augen.
„Brauchst du irgendwas?“, fragte ich. Er sah nicht mehr ganz so blass aus wie vorhin.
„Hm.“, überlegte er. „Wie wär es denn mit einem Snack?“, sagte er immer noch lächelnd.
„Haben wir denn was hier?“, fragte ich.
Wir hatten etwas Essbares in der Wohnung. Man hatte einige Grundlagen für einen Snack in den Kühlschrank und die Küchenschränke geschafft, die für den ersten Tag, an dem man aufgetaut wurde, vorläufig reichen würden. Wir hatten Brot, Butter, Marmelade, für das Frühstück, ein paar Scheiben Käse, Schinken und etwas Obst. Getränke kamen aus einem Getränkespender neben dem Kühlschrank, der mit einem Getränkelager verbunden zu sein schien.
Ich machte meinem Vater und auch mir ein Sandwich. In der Küche entdeckte ich die erste Uhr. Und wenn ich dachte, es sei schräg die neuen Uhrzeiten auszusprechen, war es abgedreht die Uhrzeiten an der Uhr abzulesen. Es war bereits siebenundzwanzig Uhr achtunddreißig. Eine siebenundzwanzig hatte auf einer Uhr einfach nichts zu suchen, dachte ich.
Meine Mutter kam auch bald nach Hause. Sie berichtete, dass es ihrem Vater gut ging, er aber über das Essen in der Krankenstation meckerte er. Großvater war immer etwas heikel mit dem Essen. Und meckern tat er sowieso immer gerne. Daher ging es ihm wohl wirklich wieder ganz gut. Man entließ ihn, laut meiner Mutter, aber trotzdem erst in zwei Tagen. Auch wenn es unnötig erschien, dass man die kranken Menschen so behutsam behandelte, obwohl sie sich ganz gut fühlten, ist es doch beruhigend, dass sich so gut um einen gekümmert wird.
Mein Vater fragte uns ein wenig über das Seminar aus, dass er erst in zwei Tagen besuchen musste, wenn sein Gesundheitsstatus wieder normal war. Wir erzählten ihm von dem sechsunddreißig Stunden Tag, von dem er schon vom Fernseher gehört hatte. Wir amüsierten uns über unser neues Alter, bis meine Eltern schließlich in Erinnerungen an die gute alte Zeit schwelgten, als ich noch ein Kleinkind war, und als sie sich gerade kennen gelernt hatten. Das war dann schließlich das Zeichen für mich, zu Bett zu gehen. Und kaum hatte ich meinen Kopf auf das himmlisch weiche Kissen gelegt, befand ich mich schon im Traumland.
Nach zehn Stunden erholsamen Schafs, konnte ich nicht mehr liegen bleiben und stand auf. Zwei Stunden zu früh. Ich hoffte, ich würde das heute Abend nicht bereuen. Anfangs musste ich behutsam mit meinen Stunden des Wachseins umgehen. Es würde bestimmt mehr als sechs Tage dauern, bis ich mich an diese langen Tage gewöhnt hatte.
Auch die Nacht erschien mir verdammt lange zu sein. Aber wie hieß es doch so schön, gut Ding will Weile haben. Irgendwann würde ich mich schon daran gewöhnen. Und in zehn Jahren, würde es bestimmt so sein, als wäre es nie anders gewesen. Als hätte der Tag schon immer sechsunddreißig Stunden gehabt. Ich schätze, ich würde auch irgendwann die Erde vergessen. Oder zumindest nur noch selten an die Zeit zurückdenken, die ich auf der Erde verbracht hatte.
Während der nächsten acht Wochen gab es eigentlich nichts zu tun, als den Unterricht. Auf dem gesamten Schiff gab es keinerlei Freizeitbeschäftigungen, außer vielleicht in der eigenen Wohnung im Internet zu surfen. Also nutzte ich die meiste Zeit dafür um Deanna zu finden.
Jemand von der Verwaltung sagte mir, als ich ihn anschrieb, dass ich in der Bewohnerregistrierung der einzelnen Planeten nach ihr suchen sollte. Dort waren Name, Geburtsdatum und Kontaktadresse eines jeden Siedlers vermerkt. Allerdings würde es einige Tage dauern, bis die Suchmaschine die Daten, die ich von ihr hatte, mit denen im Register abzugleichen, um sie letztendlich auch zu finden. So blieb mir nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Die Eingewöhnungszeit, die man noch auf dem Raumschiff verbrachte, dauerte acht Wochen. Es dauerte halb so lange, bis ich mich hundertprozentig an den sechsunddreißig Stunden Tag gewöhnt hatte. Und ich erkannte, dass die zwölf Stunden Schlaf, die uns empfohlen wurde, absolut nötig waren. Es war nur selten, dass ich nicht zwölf Stunden durchschlief. Im Eingewöhnungsunterricht erfuhren wir, dass man etwas in das Trinkwasser tat, das unseren Körper darin unterstützte, vierundzwanzig Stunden des Wachseins durch zu halten, sodass wir kein Nickerchen mitten am Tag nötig hatten.
Doch sonst ging es in diesem speziellen Unterricht lediglich um die Planeten und speziell um unseren neuen Heimatplaneten. Astrhal, wo ich mit meiner Familie hinziehen werde, war auch bekannt, als der Wasserplanet. Dort gab es nur einen Kontinent, der sich um dreiviertel des Planeten zog. Der Rest war Meer, mit ein paar kleineren Inseln.
Abgesehen davon, gab es zwei Besonderheiten auf Astrhal. Die eine war, dass dort über das ganze Jahr eine extrem hohe Niederschlagsmenge. Der geringste Regenwert wurde zwischen dem vierzehnten und dem dritten Monat gemessen. Durchschnittlich Hundert Liter pro Quadratmeter im Monat. Und obwohl es das ganze Jahr über Regnet, nennt man nur die stärksten Regenmonate (vom sechsten bis zum elften Monat), Regenzeit. Bis zu tausendzweihundert Liter pro Quadratmeter im Monat wurden schon gemessen. Da konnte man sich gleich unter einen Wasserfall stellen.
Die zweite Besonderheit dieses Planeten war, dass das Wasser nicht, wie auf der Erde oder den anderen Planeten, blau ist, sondern rot. Nicht so rot wie Blut. Lediglich wie rot gefärbtes Wasser. Zur Anschauung zeigte uns unser Lehrer eine Wasserprobe, von der wir sogar trinken konnten. Es schmeckte anders als das Wasser, das ich kannte. Irgendwie süß, aber irgendwie auch nicht. Wissenschaftler fanden heraus, dass unsere Zunge mit ihren drei Geschmackserkennungen – süß, sauer und salzig – den wirklichen Geschmack des Astrhalischen Wassers nicht einmal ganz erfassen konnte. Aber süß, kam seinem Geschmack wohl am nächsten.
Anfangs war man sich nicht sicher, ob man Astrhal wirklich, wie geplant besiedeln konnte. Wegen des ungewohnten Wassers, dessen chemische Zusammensetzung nicht mal H2O war, und wegen des Dauerregens. Doch nachdem erwiesen war, dass das rote Wasser ein ungefährlicher Ersatz für das war, das wir kannten, und Architekten und Ingenieure eine passende Lösung für den Städtebau fanden, fing man mit einem Jahr Verspätung mit der Kolonisierung an.
Ebenfalls verspätet, erschloss man den Planeten, den man Naipjies nannte, nachdem man endlich eine Verwendung gefunden hatte. Im Gegensatz zu Asthral gab es nämlich auf Naipjies kein Wasservorkommen. Man hatte irgendwann beschlossen, das Wasser mit enorm großen Tanks, aus Astrhal dort hin zu importieren.
Naipjies war kein gewöhnlich bevölkerter Planet. Es war nicht so wie bei Artrhal und den anderen sieben Planeten, dass die Menschen dort in Häuser zogen, zu arbeiten anfingen und für sich und ihre Familie eine Existenz gründeten.
Naipjies war ein Gefängnisplanet. Das einzige Gefängnis. Fern ab von den Menschen, die sich an die Gesetze halten und somit in Freiheit leben konnten. Die Häftlinge lebten auf Naipjies aber auch nicht vollkommen frei und ohne Grenzen. In fünf Sektoren war der Planet geteilt. In Sektor eins wurden die Sträflinge mit den weniger schweren Delikten festgehalten, deren Haftstrafe unter einem Jahr lag. Das verlief aufsteigend, bis Sektor fünf, wo man eingesperrt wurde, wenn man zu mehr als zwanzig Jahren verurteilt wurde.
Die Sträflinge hatte dort sogar eine Sinnvolle Aufgabe zu bewältigen. Sie wurden im Bergbau eingesetzt. Denn auf Naipjies gab es offenbar ein gewaltiges Eisenerzvorkommen, das vor Ort auch verarbeitet wurde. Wohnen taten die Sträflinge in kleinen Dörfern um ihre Mineneingänge.
Seit Anfang der Kolonisierung der Planeten arbeitete man daran auch irdische Pflanzen und Tiere einzugewöhnen. Man hatte nämlich ein ganzes Schiff der Flotte, nur mit eingefrorenen Pflanzen und Tieren von der Erde, beladen. Mehrere Exemplare einer jeden Art, die es noch auf der Erde gegeben hatte, was im Grunde nicht mehr allzu viel war.
Viele Tiere hatten ihr zu Hause gefunden. Sie lebten noch in Zuchtbetrieben. Aber die Verantwortlichen arbeiteten daran sie auch auf sich alleine gestellt in die Natur der Planeten einzugliedern, damit sie in freier Wildbahn leben konnten. Bei den Pflanzen war es nicht so ganz einfach, denn nicht auf allen Planeten gab es Boden, der mit den Nährstoffen versehen war, die die irdischen Pflanzen zum Wachsen brauchten. Auf Astrhal war es lediglich möglich irdische Wasserpflanzen anzusiedeln, da den meisten das viele Wasser nicht ganz bekam.
Mein Computer hatte nach einer Woche – also elf Tagen – endlich eine Liste von Deanna´s ausgespuckt, die dieselben Geburtsdaten hatten, wie meine beste Freundin, nach der ich suchte. Normalerweise sollte die Suchmaschine nur einige Minuten brauchen, doch da jeden Tag, zu fast jeder Stunde, noch neue Daten hinzu gefügt wurden, war das System überlastet.
Es gab drei Deanna´s mit den gleichen Geburtsdaten. Eine war bereits tot – ich schluckte schwer. Diese eine, hob ich mir zum Schluss auf. Sie war sowieso erst vor vier Jahren aufgetaut worden. Meine Deanna sollte schon vor zehn Jahren aufgetaut worden sein, was auf die beiden übrigen zutraf. Eine der beiden lebte auf Astrhal, die andere wohnte auf dem Planeten Roma, der besonders für sein scharfes Essen bekannt war. Ich schrieb beide an, in der Hoffnung, dass die, die auf Astrhal lebte, meine Freundin war. So konnte ich sie wenigstens ab und zu mal besuchen.
Natürlich konnte man auch interplanetar reisen, doch das würde wohl mein Budget übersteigen, da meine Eltern mir wohl vorerst kein Flugticket kaufen konnten. Immerhin hatten sie eine vollkommen neue Existenz für uns aufzubauen. Außerdem würde so ein interplanetarer Flug ziemlich lange dauern. Wobei ich das für meine beste Freundin auf mich nehmen würde. Nur, besonders oft konnte ich das nicht tun.
Es dauerte zwei Tage, bis die richtige Deanna sich meldete – die, die aus Roma kommt. Sie schrieb mir, dass sie mich all die Jahre vermisst hatte. Doch weil die aufgetauten Menschen, erst in das Bewohnerregister aufgenommen wurden, wenn sie ihre neue Heimat bezogen, musste sie über einen anderen Weg nach mir suchen. Man konnte einen Antrag bei den Behörden stellen, um die Kontaktdaten einer gerade frisch aufgetauten Person zu bekommen. Ihr Antrag hatte fast drei Jahre gedauert, bis er genehmigt wurde. Allerdings dauerte es fast die ganze Eingewöhnungszeit, bis sie die Daten über mich erhalten hätte, weshalb sie froh war, dass ich sie gesucht und gefunden hatte.
Wir unterhielten uns noch den ganzen Tag schriftlich und ich erfuhr, was sie die letzten zehn Jahre getrieben hatte. Nachdem sie mit der Schule fertig war, trat sie in die Fußstapfen ihrer Eltern und arbeitete für das Hauptenergiewerk von Roma. Im Moment stand sie sogar kurz vor einer Beförderung, nachdem sie vor einer Weile nach ihrer Schwangerschaft – Schwangerschaft! – wieder angefangen hatte zu arbeiten. Schwangerschaft! Deanna war seit über zwei Jahren verheiratet und hatte vor fast einem halben Jahr – also fast acht Monaten – nicht nur ein Kind bekommen, sondern gleich Zwillinge. Ein Junge und ein Mädchen.
Als sie mir so über ihr Leben berichtete und von ihrem Mann und ihren Kinder schwärmte, merkte ich etwas. Zehn Jahre hatte sie ohne mich verbracht. Sie war weiter als ich, älter als ich und hatte ein ganzes Leben ohne mich gelebt – oder zumindest zehn Jahre davon. Sie hatte neue Freunde, die in ihrem Alter waren. Passte ich also noch in ihr Leben?
Ich wusste es nicht. Aber ich wollte es herausfinden. Irgendwie musste ich doch ein Plätzchen in ihrem Leben finden. Auch wenn es nur für eine Fernbeziehung reichte. Immerhin waren wir mal die besten Freundinnen.
Sie sah das auch so, denn sie lud mich zu sich nach Hause ein, wenn ich mich in Astrhal eingelebt hatte. Ich nahm zwar zögernd, aber gerne an.
Und wenn unsere Freundschaft nicht mehr so werden würde wie früher, hatte ich doch mittlerweile schon in Ash und Fivel einen guten Ersatz gefunden. Wir verbrachten beinahe jeden Tag miteinander. Auch mit Fivels Freundin, Calliope verstand ich mich gut. Seit sie aus der Krankenstation entlassen wurde, verbrachten wir sogar oft nur zu zweit Zeit miteinander. Sie hatte dasselbe Schicksal wie ich erlitten. Ihre beiden besten Freundinnen, die Schwestern waren, waren auch schon seit mehreren Jahren aufgetaut. Nur hatten sie noch keine Familien gegründet.
Meistens aber, saßen nur Ash und ich zusammen, weil Fivel und Calliope – oder Calli, wie sie lieber genannt werden wollte – oft miteinander alleine sein wollten. Und weil man auf diesem Schiff nicht viel unternehmen konnte, schlichen wir uns hin und wieder verbotenerweise in die für Zivilsten gesperrte Etagen und unterhielten uns. Dabei erkannte ich, dass ich Floy, seine Ex-Freundin besser nicht erwähnte. Er hatte noch viel für sie übrig und versuchte sie sogar zurückzugewinnen. Aber sie wollte einfach nichts mehr von ihm wissen. Doch warum, wusste er nicht. Er konnte nicht viel mit ihren letzten Worten zu ihm anfangen. Auch nicht mit ihren Gedanken, wobei sie, laut Ash, so gut wie gar nicht mehr an ihn Dachte. Außer vielleicht kurz, wenn sie sich begegneten.
„…Unsere Beziehung läuft nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe.“, hatte sie zu ihm gesagt. Natürlich erfuhr ich das nicht von Ash. Fivel hatte es mir erzählt, als wir uns mal über Ash unterhalten hatten. Er brachte auch deutlich zu Ausdruck, dass er Floy noch nie ausstehen konnte und insgeheim froh war, dass Ash sie los war. Wobei er dann, wenn er seinen Freund sah, wie er ihr nachtrauerte, ein schlechtes Gewissen hatte.
Ein paar Mal brachte ich Ash dazu, als wir uns im Schiff umsahen, dass wir zu den Kryogenkammer Feldern gingen. Ich hätte es nie offen zugegeben, aber ich hatte insgeheim die Hoffnung Odge, den Techniker, der mich eingefroren und aufgetaut hatte, zu sehen. Nachdem er mich zu meinen Eltern gebracht hatte, war er so plötzlich verschwunden. Ich wollte ihm beim Wort nehmen, dass wir uns irgendwann wieder über den Weg laufen würden, aber als sich das nie ergeben hat, zog es mich irgendwann nach unten, in die Etagen mit den Kryogenkammern, wo er arbeitete. Nur einmal fanden wir ihn. Doch ich konnte ihn nicht ansprechen, weil seine Kollegen bei ihm waren, und wir dort eigentlich nichts zu suchen hatten.
Die meisten Kammern waren mittlerweile leer. Nur noch wenige waren besetzt. Das konnte ich, wenn auch nur aus sicherer Entfernung, um nicht von den arbeitenden Technikern entdeckt zu werden, erkennen. Ash und ich waren über einen Wartungsschacht der Schienenfahrzeugtunnel dort hingelangt. Wir sahen durch eine solche Fensterscheibe, an der ich vor achtzig Jahren vorbei rauschte, als ich mit meiner Familie und einer anderen kleinen Familie, die ich seitdem nicht mehr gesehen hatte, auf dem Weg zum Kälteschlaf war.
Teil II
6.
Ich hörte immer, dass die acht Wochen Eingewöhnungszeit ja so schnell vergangen sei. Doch ich konnte mich dem nicht anschließen. Schon nach drei Wochen konnte ich nicht erwarten endlich aus dieser überdimensionalen Sardinenbüchse raus zu kommen, in der man nirgends hin durfte und nichts unternehmen konnte. Meinen Freunden – Ash, Fivel und Calli – ging es ähnlich.
Ash war, obwohl er schon fast über sie hinweg ist, froh, dass er Floy nicht mehr jeden Tagen sehen müsse, wenn wir erst auf Astrhal waren. Aber hin und wieder musste er ihre Anwesenheit wohl noch ertragen, da sie, wie wir, in die Hauptstadt ziehen würde. Und obgleich Australienstadt die größte auf Astrhal war, würden wir dieselbe Schule besuchen. Denn in der Hauptstadt gab es einen Bezirk, in dem nur Schulen (alle in der ganzen Stadt), Bibliotheken, Museen und Studentenwohnheime waren.
Für mich war es praktisch. Da die Universität, an der meine Mutter Geschichte unterrichten wird, war im selben Bezirk. So konnte sie mich jeden Morgen mitnehmen. Doch wenn das mal nicht funktionieren würde, weil meine Mutter ab und an auch nur nachmittags unterrichtete, war das öffentliche Verkehrsnetz offenbar so gut, dass ich, obwohl wir am Rand der Stadt wohnten, nur einige wenige Minuten dorthin brauchen würde.
Außerdem konnte ich nach meinem (elften) Geburtstag, der schon in fünf Tagen war, mit meinem Führerschein anfangen. Auch, wenn es noch ein klein wenig länger dauern würde, bis ich ein Auto bekam. Meine Eltern hatten beschlossen, bevor sie mir ein Auto kauften, würden sie erst einmal für jeden von sich eines kaufen (mir selbst konnte ich mir nicht mal mit einem Nebenjob eines leisten). Unser erstes, wollten wir gleich kaufen gehen, wenn wir unsere Sachen in unserem Haus ausgepackt hatten, was ja nicht allzu lange dauern würde. Mein Vater hatte sogar schon ein Modell ins Auge gefasst. Er war schon immer ein Technikfreak. Weshalb er seinen Traumjob als Videospielentwickler gefunden hatte, wo er auch neue Spielekonsolen mitentwickelte.
Fivel und Ash waren heute mit dem ersten Raumschiffflug nach Astrhal geflogen. Deshalb waren sie schon in ihren Wohnungen angekommen, bevor ich – und Calli auch – überhaupt unsere Quartiere auf der Rising Star verlassen hatten, um zu unseren Flügen zu kommen. Während Fivel und Ash ins Stadtzentrum zogen, lebten Calli und ich außerhalb.
Aber Callie zog auf die andere Seite der Stadt, wo die Stadt an einem See lag, weshalb wir zwar zur selben Zeit von der Rising Star abflogen, aber in unterschiedlichen Raumschiffen. Calli hatte von ihrem Haus aus, sogar einen direkten Weg zum Wasser. Allerdings ging dieser Weg über eine Treppe an eine hohe Klippe hinab. Trotzdem war das klasse. So hatten wir in den wenigen Regenfreien Tagen um den Jahreswechsel, an dem Sogar ein oder zwei der Sonnen durchschienen, einen Platz am Strand des Sees.
Meine Mutter gab mir Aufkleber, auf denen Strichcodes abgedruckt waren, die ich auf die Kisten mit meinen Habseligkeiten kleben sollte, damit sie auf unseren Flug nicht verloren gingen. Nachdem das erledigt war, packte ich eine nach der anderen in das Postfach unserer Wohnung und sendete sie zur Frachtabteilung des Hangars, damit man die Kisten in das Raumschiff verladen konnte, mit dem auch wir nach Astrhal fliegen würden.
„Clio!“, rief mich meine Mutter, als ich meine letzte Kiste versendet hatte. „Ash ist am Telefon!“
Er hatte versprochen anzurufen, sobald er angekommen war. Calli würde wohl im selben Augenblick ihren von Fivel versprochenen Anruf bekommen.
„Hey.“, begrüßte er mich. „Wie ist die Luft da oben?“ Manchmal hatte Ash einen merkwürdigen Sinn für Humor. In den acht Wochen, in den ich ihn kannte, und er nicht mehr so am Boden zerstört, wegen der Trennung von Floy war, lachte er oft über die seltsamsten Dinge. Zum Beispiel fand er es irrsinnig komisch, dass er gerade auf Astrhal war und ich etliche hundert Kilometer über ihm mit dem Raumschiff im Weltall schwebte. Fivel hatte mich schon am zweiten Tag, den wir uns kannten, vor seinem Humor gewarnt.
„Ich hoffe nicht so gut, wie bei dir da unten.“, sagte ich. Trotz der Lüftungsanlagen im Schiff, kam es mir hier drinnen oft etwas stickig vor.
„Glaub mir, hier unten ist es ganz in Ordnung.“, berichtete er mir. „Es ist gerade zwar ziemlich dunkel und es regnet, aber die Luft ist so erfrischend, wie du sie noch nie geatmet hast. Liegt vielleicht auch am Regen.“
Ich erinnerte mich daran, dass ich auf der Erde manchmal riechen konnte, wenn es regnete. Ob es auf Astrhal wohl auch so war? Bald würde ich es herausfinden. Doch weil der Flug von hier oben fast sechs Stunden dauerte, würde ich erst mitten in der Nacht ankommen. Wir bekamen sogar Abendessen auf dem Flug.
„Was machst du gerade?“, fragte ich ihn.
„Auspacken.“, sagte er und hob hoch, was er gerade aus einer Kiste packte, sodass ich es über den Bildschirm des Telefons sehen konnte. Ich merkte vor ihm, dass er gerade seine Unterwäsche in die Kamera des Telefons hielt. Er wurde rot, stopfte die Unterwäsche in den Schrank und ich lachte.
„Wo hängt denn euer Telefon?“, fragte ich verwirrt darüber, dass er offenbar direkt vor dem Telefon auspackte.
„Ah.“, sagte er mir, offenbar dazu beglückwünschend die richtige Frage gestellt zu haben. „Unsere Wohnung hat eines dieser Telefone, deren Kamera dich durch alle Zimmer verfolgt, wenn du es vorher einstellst. Meine Mutter hat sich gerade die Bedienungsanleitung angesehen, als ich dich anrufen wollte. Da hat sie gleich an den Funktionen herumgedrückt.“
„Ach so.“, sagte ich. Mein Vater, der Technikfreak, hatte auch schon sichergestellt, dass wir in unserem Haus auch so etwas vorfinden würden, wenn wir heute Nacht dort ankamen. Den Auftrag hatte er unserer Telefongesellschaft erst vor zwei Wochen gegeben.
„Ash!“, rief ihn jemand von seiner Seite der Leitung. Sein Vater, vermute ich. „Leg auf! Ich brauch das Telefon!“
„Gleich!“, rief er zurück und sagte zu mir, „Ich muss auflegen. Wann kommst du heute an?“ Das hatte er mich die letzten vier Tage bestimmt hundert Mal gefragt.
„Achtundzwanzig Uhr.“, antwortete ich ihm wieder. Nach acht Wochen, hatte ich mich halbwegs an die neuen Zeiten, die es jetzt auf der Uhr gab, gewöhnt.
„Packst du dann gleich aus?“, fragte er.
„Mal sehen. Warum?“
„Nur so. Fivel und ich wollen morgen die Stadt erkunden. Hast du auch Lust? Calli kommt wahrscheinlich auch.“ Ich sagte zu. „Okay. Ich hol dich dann so gegen dreizehn Uhr ab. In Ordnung? Wir treffen uns dann mit den andern beiden.“
„Alles klar.“, sagte ich.
„Ash!“, rief sein Vater nochmal. „Telefon!“, verlangte er.
Ash verabschiedete sich schnell, rollte mit den Augen und legte schließlich auf.
Während mein Vater den Großeltern mit ihrem Gepäck half, begutachtete meine Mutter noch einmal die ganze Wohnung, um sicher zu gehen, dass wir nichts vergessen hatten. Ich hingegen schlug die Zeit tot, indem ich durch die Fernsehprogramme zappte. Auf der Suche nach Sendungen in Astrhal, fand ich nur einen Bericht über den Regen dort. Eigentlich hatte ich schon genug Bilder im Eingewöhnungsunterricht von Astrhal gesehen, aber ich war etwas aufgeregt, den Planeten endlich in Natura zu begegnen.
In wenigen Stunden konnte ich den roten Regen auf meiner eigenen Haut spüren. Morgen, wenn es wieder Taghell war, was auf Astrhal, wegen der permanenten Regenwolken, nicht besonders hell war, würde ich die Hauptstadt sehen und erleben – und den roten See, am Rand der Stadt.
Kurz, bevor wir dann schließlich zum Raumschiffhangar aufbrechen wollten, versuchte ich Calli noch mal zu erreichen. Eigentlich war es so ausgemacht, dass sie, bevor sie und ihre Familie selbst auch zum letzten Mal ihre Wohnung auf der Rising Star verließ, mich anrief. Niemand ging ran. Vermutlich hatte sie mich über dem Telefonat mit Fivel vergessen. Wahrscheinlich waren sie immer noch am Telefonieren. Hätte ich einen Freund, würde ich ihn nicht so schnell auflegen lassen, wenn wir uns den ganzen Tag nicht gesehen hätten, weil er auf einen anderen Planeten geflogen ist.
Meine Eltern, Großeltern und ich befanden uns um einundzwanzig Uhr im Hangar ein. Von weitem begegnete mir Calli, die mit ihrer Familie ein Raumschiff bestieg, dass auf der anderen Seite des Hangars ankerte. Sie winkte mir zu und sendete mir eine Geste der Entschuldigung. Eine Entschuldigung dafür, dass ich ihr nicht so wichtig wie ihr Freund war, dachte ich sarkastisch. Aber ich hielt es nicht gegen sie. Immerhin waren wir erst seit fast zwei Monaten befreundet und sie war jetzt schon seit drei Monaten mit Fivel zusammen.
Manchmal war es ganz süß die beiden zusammen zu sehen, wie sie sich küssten, umarmten oder einfach nur berührten. Doch meistens, musste ich zugeben, nervte es mich. Aber so ging es mir wahrscheinlich nur, weil ich keinen Freund hatte. Hätte ich auch einen, würde ich mich nicht anders benehmen.
Als ich meiner Großmutter Riva, der Mutter meiner Mutter, in das Transportraumschiff und auf ihren Platz half, fiel ihr etwas aus ihrer Handtasche. Es wirkte auf mich wie ein Prospekt. Doch als ich es aufheben wollte, kam mir mein Großvater zuvor.
„Ah, ah, ah.“, sagte er lächelnd, als er den Prospekt schnell aus meinem Sichtfeld nahm. „Das ist nichts für dich.“
„Wieso?“, fragte ich. „Was ist das denn?“ In mir reifte ein Verdacht. Ich hatte schon in fünf Tagen Geburtstag. War das vielleicht ein Prospekt über mein Geburtstagsgeschenk?
Weil ich ein Telepath war, der Gedanken lesen konnte, war es mir natürlich möglich, die Antwort in seinen Gedanken zu finden. Aber ich wollten ihnen – und mir – nicht die Überraschung verderben. Falls es sich dabei überhaupt um mein mögliches Geburtstagsgeschenk handelte. Und weil ich mir nicht sicher war, aber fand, dass es niemanden etwas ausmachen würde, wenn ich es wüsste, forschte ich kurz in den Gedanken meines Großvaters, ob es sich um mein Geschenk handelte – und nur, ob es sich um mein Geschenk handelte.
Es dauerte nicht lange, bis ich eine Antwort hatte. Er bemühte sich darum nicht daran zu denken, weil er ahnte, dass ich in seinen Gedanken herumschwirrte. Doch durch die Gedanken, die er an mich richtete, um mich aus seinen Gedanken zu vertreiben, flutschte das ein oder andere Mal das Wort Geschenk. Das reichte mir und ich zwang mich dazu seine Gedanken nicht mehr zu lesen. Der Kampf gegen meine Neugier, die wissen wollte was sie mir schenkten, war hart aber ich kam gegen sie an und hielt mich beschäftigt, damit die Neugier in mir nicht doch noch die Oberhand gewann.
Das Abendessen, das auf dem Transportflug serviert wurde, bestand aus Gerichten, die sich in Astrhal als Spezialitäten des Planeten etabliert hatten. Ein Auflauf aus einem Lila Gemüse, das auf Astrhal einheimisch war und mich irgendwie an Auberginen erinnerte, und Rindfleisch. Ich schätzte sie würden ganz gut schmecken, wären sie nicht nur aufgewärmt gewesen, wodurch das Beste vom Geschmack eingebüßt wurde. Als Nachtisch bekamen wir ein Sorbet aus zwei verschiedenen Früchten. Man sagte uns, dass eine Frucht der beiden nur unter Wasser wuchs. Die andere Frucht schmeckte ähnlich wie eine Banane. Das Sorbet war nicht schlecht. Süß und fruchtig, weshalb ich meiner Mutter sagte, dass wir das unbedingt für zu Hause kaufen mussten.
Der Flug kam mir nicht so lang vor, wie ich zuvor dachte. Das lag aber eher daran, dass ich viel hatte, worüber ich nachdenken konnte. Ich rätselte, was mir meine Großeltern zum Geburtstag schenken würden. Natürlich fiel mir ein, dass sie meinten, bevor wir die Erde verlassen hatten, sie wollten mir ein einheimisches Haustier schenken. Doch irgendwie konnte ich mir die Gedanken nicht erwehren, dass sie mir ein Auto schenken würden, oder zumindest den Führerschein bezahlen würden. Aber vermutlich war das nur Wunschdenken.
Als ich nämlich diese Gedanken hatte, konnte ich meine Mutter schmunzeln sehen. Das konnte zwei Dinge bedeuten. Entweder, ich hatte Recht. Oder, ich lag vollkommen falsch.
Ich ging sicher, dass meine Mutter nicht immer noch meine Gedanken las, bevor ich mir erlaubte wieder zu Odge zu gleiten. Was er wohl gerade machte? Wie lange würde er wohl noch auf der Rising Star arbeiten müssen? Was würde er danach arbeiten? Wie alt war er eigentlich? Viel älter als ich, bestimmt nicht. Ich schätzte ihn auf um die zwanzig, plus minus ein, zwei Jahre. Würde ich ihn wirklich jemals wiedersehen?
Ich dachte an den letzten Moment, an den ich mich vor dem Einfrieren erinnern konnte. Odge hatte mich noch einmal angesehen. Mit einem Hauch eines Lächelns, das auch seine Augen erreichte. Welche Farbe hatten seine Augen? Beim besten Willen konnte ich keine Antwort darauf geben.
Oder hatte ich mir das nur eingebildet?
Mehr Zeit, darüber nach zu denken, gab es nicht. Wir kamen an unserem Ziel an. Mit einem gewaltigen Rütteln, dockten wir an den Dock des südlichen Raumschiffhangars von Australienstadt an. Es erinnerte mich an das Andocken des Transportraumschiffs, das uns von der Erde zur Rising Star gebracht hatte.
Das Innere des Hangars unterschied sich nicht großartig von dem im Raumschiff. Außer, dass der hier etwas kleiner war. Ich schätze, hier hatten vielleicht vier Transportraumschiffe Platz. Wohingegen mindestens sieben in einem Hangar der Rising Star, wovon es dort fünf Hangar gab, Platz fanden. Menschen waren nicht so viele hier. Unser Transportschiff, das neben meiner Familie und mir noch dreizehn andere Leute hierherbrachte, war das einzige, das gerade angekommen ist.
Ich war gespannt die Stadt endlich mit eigenen Augen zu sehen. Auf dem Flug hierher hatte ich nichts sehen können, weil ich keinen Platz an einem Fenster hatte. Nur, dass sie riesig war. Schon allein in unserem Viertel, in dem wir wohnen würden, standen rund siebentausend Häuser – die Geschäfte nicht mit eingerechnet.
Weniger als zehn Minuten wurden wir von einem Shuttel über die Schnellstraße vom Flugplatz bis zu unserem Haus gefahren. Der Eindruck, den ich von unserem Viertel hatte, war sauber, geordnet und neu. Kein Wunder, denn immerhin waren die Gebäude hier höchstens zehn Jahre alt. Doch sie sahen fast alle gleich aus. Insgesamt schien es nur fünf Häuserfarben zu geben, die alle gleichmäßig verwendet wurden. Das erste Haus in der Straße war blau, das nächste rot, das Dritte grün, das Vierte gelb und das Letzte war lila. Die Straßen boten keine Individualität. Aber das wurde uns schon auf der Erde erzählt, als uns die Stadtplanung vorgestellt wurde. Es lag an einem selbst sein Haus um zu dekorieren, wenn es einem nicht passte, und es individuell und persönlich zu gestalten.
In der Mitte des Viertels gab es einen Park, der sich unterhalb der Schnellstraße, die sich wie eine Brücke durch die ganze Stadt schlang, erstreckte. Der Park war überdacht, damit man sich dort aufhalten konnte, ohne nass zu werden, obwohl es draußen regnete. Man hatte uns gesagt, dass die Luft dort drinnen aber ganz so war, wie sie im Freien ist.
Die Schnellstraße endete genau dort, wo wir abfuhren, und wir gelangten direkt in die Wohngegend. Das zweite Haus auf der rechten Seite der Straße, wenn man die Schnellstraße nach links verließ, war auch schon unser zu Hause. Das Haus, links daneben, gehörte meinen Großeltern.
Die Straße hier, war zwar gut beleuchtet, aber ich konnte trotzdem nicht mehr von unserem Haus sehen, als die Grundfassade. Zwei Etagen mit einer kleinen Veranda und rundem Dach. Und wie alle Häuser stand unseres auch erhöht, was mit der Entwässerung des Grundes zusammenhing. Wegen des regelmäßig starken Regenfalls, wurde jedes Gebäude so gebaut, dass das Regenwasser einbandfrei in die Kanalisation abfließen konnte. So wurden Wasserschäden am Fundament vorgebäugt. Die Baufirma, die das ganze konstruierte, hatte sich dadurch eine goldene Nase verdient. Den Nachrichten zufolge, wurde der Ingenieur, der die Grundidee dazu hatte, sogar zum Partner der Baufirma gemacht, für die er arbeitete. Denn durch ihn bekam die Firma ein Monopol auf dem gesamten Planeten Arthral, sodass sie die übrigen ansässigen Baufirmen geschluckt haben.
Morgen früh, wenn es hell war, würde ich mir unser Haus und unseren Garten mal genauer ansehen. Doch für heute wollte ich nur meine Sachen durch den Regen ins Trockene schaffen, einen kleinen Teil auspacken, und schlafen gehen. Der Flug hatte mich überraschend ausgelaugt. Vielleicht war es aber auch die ungewohnte Gegend. Die Luft auf Asthral war ein wenig dünner als auf der Erde.
Mein Vater half den Großeltern ihre Sachen in ihr Haus zu schaffen, während meine Mutter und ich uns um unsere Sachen kümmerten. Möbliert war das Haus schon. Auch Geschirr, Handtücher und Bettwäsche hatten wir. Für die erste Nach war alles bereit. Nur unsere Betten mussten wir noch beziehen, was ich gleich als erstes tat.
Nachdem das erledigt war, packte ich meine Kleidung in den Schrank und die Kommode meines Zimmers. Es war wesentlich größer als das, auf der Rising Star. Neben meinem Bett, meinem Schreibtisch, der Kommode und dem Schrank, hatte ich hier noch einen bequemen Sessel, der einfach perfekt dafür war sich an kalten und regnerischen Nachmittagen, von denen es hier unzählige gab, hinein zu kuscheln und zu lesen, oder ähnliches.
Meine Mutter klopfte an meine offen stehende Tür und fragte mich, ob ich noch einen Snack haben wolle, bevor ich schlafen ging. Aber ich verneinte. Ich war noch vom Abendessen satt. Von meinem Großvater bekam ich sein Sorbet. Entgeistert hatte ich ihn angesehen, als er sagte, es schmecke ihm nicht. Ich fand es besser als nur köstlich.
Gerade als ich mein Bett krabbeln wollte, fiel mir ein, dass ich mich ja Morgen um dreizehn Uhr mit Ash, Fivel und Calli verabredet hatte, um die Stadt zu erkunden. Und davor wollten meine Eltern sich unser erstes Auto kaufen. Natürlich wollte ich da nicht fehlen. Die Autos hier sahen im Vergleich zu den Autos auf der Erde ganz anders aus.
Ich stellte mir meinen Wecker auf acht Uhr, da meine Eltern um neun los wollten. Auspacken konnte ich immer noch, nachdem ich die Stadt erkundet habe. Jetzt legte ich mich erst einmal in mein Bett und schlief sofort ein.
7.
Hell war es, als ich aufwachte. Aber keine der Sonnen schien. Ich setzte mich in meinem Bett auf, und sah aus dem Fenster, wo es nicht regnete. Doch es sah so aus, als würde es jeden Augenblick anfangen zu regnen.
Bevor ich aufstand, ließ ich meinen Blick durch mein Zimmer schweifen, um es erst einmal bei Tageslicht zu sehen. Besonders hell war es hier drinnen nicht, obwohl ich drei Fenster hatte. Doch künstliches Licht würde ich nicht brauchen, solange ich nicht an meinem Schreibtisch zu arbeiten hatte. Mir fiel auf, dass mein Schrank ungünstig für das einfallende Licht stand. Ich sollte meine Eltern fragen, ob sie mir helfen ihn mit meiner Kommode auszutauschen, die in der dunkelsten Ecke des Zimmers stand. Aber das konnte noch warten.
Ich ging ins Badezimmer, das ich bisher noch nicht gesehen hatte, ehe ich frühstückte. Alles aus blauer Keramik, Badewanne und Toilette und Waschbecken. Die Fliesen auf dem Boden, an der Wand und in der Dusche waren auch blau, aber in einem dunkleren Ton. Der Spiegel reflektierte mich hell erleuchtet, was an den Lampen darüber lag, die mich anleuchteten.
Die Dusche mit rotem Wasser war irgendwie merkwürdig. Aber längst nicht so merkwürdig, wie das Zähneputzen mit dem roten Wasser. Der Schaum meiner Zahnpaste, der normalerweise ein gewöhnliches Weiß war, landete jetzt rosa im Waschbecken, als ich ihn ausspuckte.
Mein Vater arbeitete sich durch einen Haufen Autoprospekte, als ich zum Frühstücken in die Küche kam. Er entschied alleine über das Modell, denn meiner Mutter war es ohnehin egal, solange es sie von A nach B brachte. Und weil ich noch nicht Autofahren konnte und nichts von Autos verstand, hatte ich überhaupt kein Mitspracherecht.
Nachdem wir mit der Einschienenbahn zu einem Autohändler im Südwesten der Stadt gefahren sind, ging die Sache sehr schnell über die Bühne. Mein Vater sah sofort den Wagen, den er sich aus den Prospekten herausgesucht hatte. Ein roter Sechssitzer von Starcross Motoren, mit gelbbrauenen Ledersitzen. Der Kofferraum des Wagens war geräumig, aber kam längst nicht an die Geräumigkeit des Wageninneren ran. Man konnte sogar aufrecht darin stehen. Den Bildschirm des Boardcomputers konnte man in das Armaturenbrett verschwinden lassen, genau wie das Fahrpad und den Steuerknüppel. Es war keines dieser Autos, dass vollkommen von alleine fuhr. Aber es gab einen Autopilot. Und auch eine Sichtbehinderungsfunktion, bei der man nur am Bildschirm des Boardcomputers fuhr und nicht mehr aus den Fenstern sehen musste. Wahlweise konnte man die Fensterkuppel abdunkeln, falls die Sonnen zu stark blendeten.
Bereits nach eineinhalb Stunden waren wir bereits wieder zu Hause. Es dauerte noch über eine Stunde, bis mich Ash abholen würde. Deshalb nutzte ich die Zeit unser neues Haus genauer unter die Lupe zu nehmen, denn mein Vater hatte mir gezeigt, als wir nach Hause gefahren sind, dass die Erhöhung, auf der unser Haus stand, nicht nur zur Umleitung des Regenwassers gut war. Bisher hatte ich gar keine Ahnung gehabt, dass wir eine Garage hatten. Wobei es Sinn machte, da es keine richtige Einfahrt gab, in der wir unser Auto parken konnten.
„Soll ich dich und Ash zu euren Freunden fahren, wenn er hier ist?“, fragte mich mein Vater fast schon aufgeregt, als wir aus dem Wagen in die Kellergarage stiegen.
„Nicht nötig. Wir fahren mit der Einschienenbahn.“, antwortete ich und enttäuschte ihn. Er war immer aufgeregt, wie ein Kind an seinem Geburtstag, wenn er ein neues technisches Spielzeug bekam.
„Du kannst mich zum Einkaufen fahren.“, sagte meine Mutter. „Wir brauchen noch etliche Sachen.“
Meine Eltern verließen kurz darauf wieder das Haus, um kleinere Dinge wie Geschirr, Besteck, und Lebensmittel zu kaufen. Aber auch größere Dinge wie zum Beispiel einen Teppich für das Wohnzimmer, zwei zusätzliche Tischlampen und ein paar dekorative Pflanzen. Zu meiner Überraschung bekam ich von ihnen, bevor sie gingen, eine Freigabe von tausend Geldeinheiten von unserem Konto. Davon durfte ich mir bei meinem Stadtbummel mit Ash und den anderen kaufen, was ich wollte. Gemeint war natürlich nur so etwas wie Kleidung oder Dekoration für mein Zimmer. Meine Mutter hatte bemerkt, dass ich nicht besonders viel aus unserem alten Leben mitgenommen hatte, und mein Zimmer jetzt, wo ich alles ausgepackt hatte, ziemlich leer wirkte.
„Aber das ist eine einmalige Sache. Klar?“, fügte meine Mutter hinzu. Ich nickte zufrieden und verabschiedete sie. Sobald ich alleine war, sah ich mich im und hinter dem Haus um.
Hinter dem Haus war ein großer Garten, dessen Boden nicht so matschig war, wie man bei diesem Dauerregen auf Astrhal erwarten würde. Das Wasser stand nicht, sondern sickerte größten Teils ab. Immerhin war der hiesige Boden es gewohnt, dass er mit so viel Wasser versorgt wurde. Soweit ich wusste, brauchten die Einheimischen Pflanzen vier mehr Wasser, als die irdischen Pflanzen, oder die, die auf den anderen Planeten wuchsen.
Es standen zwei einheimische Bäume in einer Ecke des abgegrenzten Bereichs, der unser Garten war. Ein Busch mit gelben Blüten war in die Mitte gepflanzt. Hinter dem Garten war nichts. Wir wohnten am äußersten Rand der Hauptstadt. Im Moment blickte ich auf ein weites Feld Gras, wohinter sich ein dschungelartiger Wald aufbäumte.
„Siehst du dich auch genauer um?“, hörte ich die Stimme meines Großvaters neben mir, in seinem eigenen Garten. Durch den Regen, der vor einer halben Stunden eingesetzt hatte – gerade rechtzeitig, als wir in unser neues Auto gestiegen waren um damit nach Hause zu fahren – hatte ich ihn fast nicht gehört. Aber er hatte seine Stimme weit genug erhoben.
„Ja.“, sagte ich. Sagte es aber noch einmal, weil ich fürchtete er hatte mich nicht gehört.
„Für mich war es gestern auch zu dunkel.“, rief er zu mir rüber. „Ich bin gleich ins Bett gefallen.“
Er schob die Glasschiebetür zur Seite und lehnte sich ins Haus. Mit einem Regenschirm kam er wieder raus und stieg die Veranda hinunter. In seinem Gang konnte man keine Anzeichen seines fortgeschrittenen Alters erkennen. Er bewegte sich zwar nicht wie ein Teenager, aber immer noch ohne Mühe oder steife Gelenke, was man von beiden meiner Großmütter nicht behaupten konnte. Die Mutter meines Vaters, Kala, ging immer etwas gebückte, weil sie Rückenprobleme hatte. Und Großmutter Riva humpelte immerzu.
„Du bist gar nicht mit zum Einkaufen gefahren?“, fragte ich meinen Großvater, der jetzt unsere Veranda hinaufstieg. Meine Eltern waren zu ihnen rüber gegangen, um sie mit zu nehmen, da die Großeltern bestimmt auch noch so einige Sachen brauchten.
„Nein.“, sagte er, als er seinen Schirm schüttelnd vom Regenwasser befreite und schloss. „Das ist der Vorteil, wenn man mit zwei Frauen zusammen lebt. Man braucht keinen Finger zu rühren.“ Damit bewiese er mal wieder grinsend, dass mein Vater, obwohl er nur sein Schwiegersohn war, ihm sehr ähnlich war. Oft fragte ich mich, ob meine Mutter sich wirklich deshalb in ihn verliebt hat.
„Du Sklaventreiber.“, sagte ich scherzhaft, bevor ich mich aufhalten konnte.
Sklaven waren ein wunder Punkt in der Geschichte der Menschheit. Bevor Experten festgestellt hatten, dass die Erde nicht mehr lange bewohnbar war, herrschte ein letzter Krieg, der die Menschheit aus der Sklaverei holen sollte, aber die Erholungsstärke des Planeten soweit ausgezerrt hatte, bis er schließlich nicht mehr zu retten war.
Mittlerweile wäre es wohl halb so schlimm, da die Menschheit im Solarpentagonsystem eine neue Heimat gefunden hat. Aber weil wir Telepathen waren – besondere Telepathen – war es so, als wären die Geschichten unserer Vorfahren uns selbst passiert. Seit der ersten Telepathin unserer Familie, die medikamentös behandelt wurde, damit ihre Nachkommen auch Telepathen wurden. Diese unnatürliche Manipulation hielt bis zu mir an.
Und weil jeder der Nachkommen dieser einen, ersten Telepathin auch einer war, zeigten jeder unserer Familie, seine Erinnerungen und die, seiner Vorfahren, der nächsten Generation. Telepathen waren dafür bekannt, dass sie nicht einfach nur Gedanken lesen oder einpflanzen konnte, sondern auch ein enorm gutes Gedächtnis hatten, weshalb ich die Erinnerungen von Generationen von über sechshundert Jahren in mir hatte. Darunter waren Erinnerungen von versklavten Vorfahren, die trostlos und schmerzlich waren.
Aber mein Großvater schenkte dem keine weitere Aufmerksamkeit, wofür ich ihm dankbar war. Ich wollte jetzt gewiss nicht an ein Leben als Sklave denken.
„Deine Eltern meinten, du würdest heute mit deinen Freunden einen Stadtbummel machen?“, fragte er mich.
„Ja. Wir wollen uns die Stadt mal ansehen.“, sagte ich. „Ich werde bald abgeholt.“ Nach einer Pause des Schweigens, sagte ich, „Was kaufen die Großmütter denn?“
Eigentlich hatte ich mit dieser Fragen nur bezwecken wollen, das Schweigen zu unterbrechen. Erst als ich das breite Grinsen auf dem Gesicht meines Großvaters sah, erkannte ich, dass ich noch ein weiteres Motiv für meine Frage gehabt haben könnte. Noch zweimal schlafen, dann hab ich Geburtstag, stellte ich aufgeregt wie ein kleines Kind fest.
„Du dürftest doch längst erraten haben, was du zu deinem Geburtstag bekommst.“, sagte er.
Da musste auch ich anfangen zu grinsen. Ich wusste es natürlich. Obwohl ich insgeheim immer noch die Hoffnung hegte, dass sie mir ein Auto kaufen würden. Aber mir war klar, dass das sehr unwahrscheinlich war. Ich hatte noch nicht einmal Fahrstunden gehabt. Da würde es noch ein Weilchen dauern, bis ich meinen Führerschein erhalten würde und damit auch endlich fahren dürfte. „Ein einheimisches Haustier, oder?“, fragte ich, obgleich ich schon wusste, dass es so war. Nur welches Haustier, war noch ein Geheimnis.
Er nickte und fragte, „Welches hättest du denn gerne?“
„Aha. Du fragst mich also aus, damit du weißt, welches ich am liebsten hätte.“, stellte ich fest.
„Keineswegs. Die Entscheidung ist schon längst gefallen.“, erwiderte er. „Eines dieser Reittiere oder ein Flugdrache wird es aber ganz bestimmt nicht. Nicht dass du dir darauf Hoffnungen machst. Die sind einfach zu groß. Und deine Eltern wären bestimmt nicht damit einverstanden. Also, was würdest du sonst favorisieren?“
„Hm.“, überlegte ich. „So genau kenne ich die Tiere hier auch nicht.“
Doch ein paar waren mir durchaus bekannt. Zum Beispiel gab es da eines, das irgendwie eine Mischung aus Vogel und Reptil war, aber nur eine Lebensdauer von zwei oder drei Monaten hatte. Es gab ein spinnenartiges Tier, das noch schöner als der beste Singvogel singen konnte. Und da war noch ein Tier, das eine Kreuzung aus einem Ball mit flauschigen Fell und einem Affen, der schwimmen und tauchen konnte. Es galt als sehr gesprächig. Man hatte nämlich die erste Begegnung mit so einem kurz nach der ersten Ankunft der Menschen auf Astrhal. Die ersten Scouts hörten aber anfangs nur immer einzelne Worte, die dieses Affenknäul von ihnen aufgeschnappt hat, als es sie beobachtet hatte. Doch richtige Sätze konnte es nicht bilden. Dennoch, so hieß es, konnte man immer verstehen, was es einem mitteilen wollte.
Schließlich klingelte es an der Tür. Mein Großvater verabschiedete sich und wünschte mir viel Spaß mit meinen Freunden, ehe ich an die Tür ging. Es war nicht Ash, der geklingelt hatte, sondern ein idiotischer Vertreter einer neuen Religion. Um ihn so schnell wie möglich loszuwerden nahm ich seine Broschüre entgegen und tat interessiert genug, damit er mich nicht weiter zu überzeugen versuchte, dass der Weg seiner Religion, der beste war. Aber nicht so interessiert, dass er noch weiter ins Detail gehen würde.
Es würde noch etwas dauern, bis Ash mich abholen würde, also vertrieb ich mir die Zeit damit, in der Broschüre zu blättern.
... lernt aus unserer Vergangenheit …
… kehrt zu einem einfacheren Leben zurück …
… die Sünden der Technik haben uns schon zweimal eingeholt …
Bla, bla bla.
Diese Religion ist der Meinung, dass die Menschheit schon vor der Erde auf einem anderen Planeten gelebt hat, wo sie ihren Ursprung fand. Damals hatte die Menschheit, angeblich auch schon ihren Planeten zerstört, sodass sie ein primitives Leben auf der Erde begonnen hat. Allerdings ist die Religion der Weisen, so der Name, sich nicht ganz einig, ob es noch zurückgelassene Menschen auf ihren ersten Planeten gibt.
Auf der Erde gab es einige solcher neuen Religionen, die aus fixen Ideen gekeimt waren. Diese ist eine der unausgereifteren. Denn sonst gäbe es wohl keine Spaltung ihrer Gläubigen.
Ich selbst, wie auch meine Familie, waren Anhänger von Mutter Natur. Wir achteten stets darauf, dass wir ihr keinen solchen Schaden zufügen, wie wir es bei der Erde getan haben. Wir respektieren die Natur, die unsere Heimat darbot. Die Autos wurden von Solarenergie angetrieben und schwebten mit einem zusätzlichen Stoff, namens Pentalon, der erwiesenermaßen nicht schädlich für die Umwelt war. Es hatte keine nachweisbaren Einflüsse auf die Atmosphäre des Planeten. Entdeckt wurde der Stoff von den Besatzern der Erde, die die Menschen in einem Krieg zurückschlagen konnten. Doch da war es schon zu spät die Erde zu retten.
Die Anhänger von Mutter Natur hatten zwar dieselbe Grundidee wie die Weisen, versuchten sich dabei aber das moderne und bequeme Leben zu erhalten – sofern es der Natur nicht schadet, weshalb vor jeder Serienproduktion eines Produkts ein Protokoll von unendlichen vielen Tests durchlaufen werden muss.
Ich warf die Broschüre der Weisen in den Papiermüll und beschloss mich vor den Fernseher zu setzen, bis Ash mich abholen kommt. Doch gerade als ich mich auf die Couch gesetzt hatte, klingelte es schon wieder. Weil ich einem weiteren religiösen Vertreter aus dem Weg gehen wollte, forschte ich telepathisch nach, wer vor der Tür stand, ehe ich mich überhaupt dorthin begab, um sie zu öffnen.
„Hi.“, begrüßte mich Ash, als ich ihm die Tür öffnete.
„Hey.“
„Können wir dann los?“, fragte er. Ich nickte nur, holte meine Tasche und mein Regencape und schloss die Tür mit einem einzigen Befehl und der Identifizierung meines ID Chips am äußeren Touchpad hinter mir.
„War gar nicht so einfach euer Haus zu finden.“, erzählte Ash mir, als wir zur nächsten Einschienenbahn Station gingen, die gleich um die Ecke war. „Die Häuser hier gleich sich wie ein Ei dem anderen.“
„Ja, das ist mir schon gestern Nach aufgefallen, als wir angekommen sind.“, sagte ich. „Der einzige Unterschied ist, dass nur jedes fünfte Haus dieselbe Farbe hat. Und die Gärten sehen auch alle gleich aus. Alle haben zwei bis drei Bäume und ein, zwei Büsche im Garten.“ Das fiel mir nicht sofort auf, als ich vorhin auf der Veranda stand und meinen Blick über den Garten und das dahinter schweifen ließ. Erst als ich jetzt in den ein oder anderen Garten linsen konnte und darüber nachdachte.
„Ich überlege mir, vielleicht meine Augen färben zu lassen.“, sagte Ash nach einer längeren Pause, während wir auf die nächste Einschienenbahn warteten.
„Ist das nicht schon seit Ewigkeiten out?“, fragte ich. Schon zu Zeiten auf der Erde hatte das kaum noch jemand.
„Ich hab gestern so eine Sendung angesehen, wo es hieß, dass das wieder absolut im Kommen ist.“, berichtete er mir stolz.
Als wir noch auf der Rising Star unsere erste Eingewöhnungszeit absaßen, hatte er hin und wieder erwähnt, dass er immer ein Fan von gefärbten Augen war. Obwohl das schon vor seiner Geburt aus der Mode gewesen sein musste. Ich konnte dem nie viel abgewinnen. Wozu sollte man die Iris seiner Augen in grelle Farben einfärben lassen? Nur um sich weiter von den anderen hervorzuheben?
Schließlich kam die Einschienenbahn und kaum hatten wir uns auf zwei Sitzplätze in dem fast leeren Abteil gesetzt, fuhren wir mit einem Affenzahn durch die Stadt. Die Geschwindigkeit war noch höher als bei den Schienenfahrzeugen, die durch das Raumschiff gedonnert sind, von dem wir kamen.
8.
Erst jetzt, wo ich am helllichten Tag – wenn auch verregnet – durch die Stadt fuhr, konnte ich das ganze Ausmaß erkennen. Die Einschienenbahn schlängelte sich etwa fünf Meter über dem Boden über die Häuser zwischen den Wolkenkratzern hindurch. Unter uns war die Straße, auf der sich Autos und Lastwagen tummelten, aber auch Fußgänger.
Die Wohnhäuser in anderen Vierteln sahen nicht anders aus, als die in meinem Viertel. Doch es gab auch Gegenden, in denen es kleinere Häuser, mit vor allem kleineren Gärten gab. Alle paar Kilometer war ein Park zwischen die Häuser gesetzt, die überdacht waren.
Einer dieser Parks war in der Nähe einer Haltestation, an der unsere Einschienenbahn einen kurzen Stopp machte, weshalb ich einen besseren Blick darauf werfen konnte. Die überdachten Parks waren, soweit ich das erkennen konnte, nur mit irdischen Pflanzen und Bäumen bestückt. Die einheimischen Gewächse dieses Planeten wurden darin vollkommen außer Acht gelassen. Das erklärte auch, warum der Park überdacht war. Irdische Pflanzen konnten unmöglich diese Menge an Niederschlag, der hier täglich vom Himmel fiel, aushalten, ohne einzugehen.
Die Wolkenkratzer der Innenstadt glichen überdimensionalen Kristallen, die aus dem Boden zu wachsen schienen. Würde eine der Sonnen hierauf scheinen, wäre der Anblick atemberaubend. Ich konnte es mir regelrecht vorstellen, wie das Licht auf die verspiegelten Fenster fiel und die Gebäude einer ganzen Stadt zum Funkeln brachte. Umso schöner – oder besonderer war es, weil die Sonnen sich hier so selten blicken leisen.
Ein, zwei Raumschiffe näherten sich in der Ferne einem der Raumschiffhangar und ich fragte mich, ob es weitere Neuankömmlinge waren, wie ich es gestern einer war. Ich fragte mich, wie viele es noch waren, die noch immer im Kälteschlaf darauf warteten aufgeweckt und angesiedelt zu werden. Und ich fragte mich, wie lange Odge dort oben noch zu arbeiten hatte. Und würde ich ihn wiedersehen?
„Hey! Clio!“, rief mich Ash wieder ins Hier und Jetzt zurück. Er war bereits auf seinen Beinen und halbwegs bei der Tür. „Hörst du schlecht. Unsere Station.“
Wir verließen das Abteil schnell, bevor sich die Türen wieder schlossen. Auf diesem Bahnhof war weit mehr los, als in dem bei mir um die Ecke. Es herrschte reges Treiben, in dem geschäftige Personen zu ihrem Termin hetzten, Mütter und Väter ihre kleinen Kinder mit sich zogen, um sie in dem Getümmel nicht zu verlieren, und andere mit Unmengen Taschen und Tüten ihre Einkäufe erledigten. Das Regenwetter schien ihnen kaum etwas auszumachen. Doch vermutlich waren sie schon so lange hier, dass sie daran gewöhnt waren.
Wie einer dieser Eltern, ihre Kinder, nahm mich Ash an die Hand, damit wir uns nicht verloren, als er mich durch das Getümmel zog. Die Leute drückten und schoben um auf die andere Seite der Station oder zur Einschienenbahn zu kommen. Sie merkten gar nicht, dass sie damit noch mehr Gedrückte und Geschiebe provozierten und hervorriefen.
Als wir den Menschenmassen endlich entkommen waren und eine Straße entlang gingen, merkte ich, dass er mich immer noch an der Hand hielt. Während er uns an verschiedenen Geschäften entlang lotste und anderen Passanten auswich, beobachtete ich die Verlinkung unser beider Körper an unseren Händen. Warum ließ er mich nicht los? Fürchtete er, mich hier auch noch zu verlieren? Da fiel mir auf, dass ich auch noch seine Hand fest hielt. Er meine und ich seine. Erschrocken zog ich meine Hand von ihm weg und beobachtete seine Reaktion, die über einen kurzen und flüchtig wirkenden Blick nicht hinausging.
Wir fanden Calli und Fivel an einem von drei Springbrunnen, die auf einem weiten Platz verteilt waren. Calli stand vor Fivel, der auf dem Beckenrand des Springbrunnens saß, sie von hinten umarmte und seinen Kopf auf einer ihrer Schultern abgelegt hatte.
„Da seid ihr ja endlich.“, rief er uns entgegen, ohne seinen Kopf von Callis Schulter zu nehmen.
„Und? Was wollen wir als erstes unternehmen?“, fragte Calli.
„Also ich weiß nicht mal wo wir sind.“, sagte ich. „Geschweige denn was man hier machen kann.“
„Ich würde vorschlagen, wir gehen erst einmal was futtern.“, sagte Fivel. „Das Frühstück ist bei mir schon zu lange her.“
Ich fühlte mich auch so langsam etwas hungrig. Mittlerweile waren vier Mahlzeiten an der Tagesordnung, anstatt der üblichen drei, wie auf der Erde. Von vielen hatte ich auch gehört, dass sie fünf Mahlzeiten über den sechsunddreißig Stunden Tag verteilt bevorzugten. Ich selbst tendierte oft auch schon zu einer fünften Mahlzeit, die ich je nach Bedarf zwischen Mittagessen und Nachmittagssnack, oder zwischen Nachmittagssnack und Abendessen ansiedelte. Auch wenn ich jetzt schon zwei Monaten den Verlauf des sechsunddreißig Stunden Tages innehatte, experimentierte ich immer noch mit den besten Energieaufnahmen zwischendurch. Entweder eine zusätzliche Mahlzeit, oder einem Nachmittags Schläfchen, wie ihn meine Großeltern täglich machten.
Fivel ging auf der Suche nach einem Lokal in dem wir essen konnten. Er ging immer seiner Nase nach und führte uns so zu einer Kebab Imbissbude, in der es nur so vor Fett triefte. Bei dem bloßen Anblick drehte sich mir der Magen um. Ich war zwar nie ein besonderer Gesundheitsfetischist, aber das Fett in der Kebab Bude ging selbst mir zu weit. Genau wie Ash und Calli.
Während Fivel sich seinen ungesunden Gelüsten hingab, gingen Ash, Calli und ich zu einem Sandwichladen zwei Geschäfte weiter. Wir trafen uns mit unseren Essen zum Mitnehmen auf halben Weg und schlenderten durch die Straßen. Ich erzählte ihnen von unserem neuen Auto und erfuhr, dass auch die Eltern der anderen schon ein oder zwei Wagen gekauft hatten.
Alle drei entstammten wohlhabenden Familien. Ash und Fivel wohnten in einem guten Viertel im Innern der Stadt. Sie erzählten, dass ihre beiden Wohnungen in den obersten Etagen lagen und sie über weite Teile der Stadt blicken konnten. Fivel hatte sogar Sicht auf den See, an dem Australienstadt errichtet wurde – wenn auch nur eingeschränkt. Calli hingegen wohnte in einem Viertel voller wohlhabender und großer Häuser, die richtige Villen waren.
Wären wir nicht am selben Tag aufgetaut worden, wären wir uns wohl nie begegnet. Wir vier – oder besser gesagt ich und die drei – lebten in vollkommen verschiedenen Welten. Doch auf der Rising Star waren wir alle gleich. Niemand war besser oder schlechter gestellt, denn alle lebten in identischen Wohnungen, die sich nur in der Anzahl der Zimmer unterschieden.
Aber ich war froh, dass diese drei gefunden hatte, und sie zu meinen Freunden wurden. Hätte ich sie nicht, würde mir der Verlust von Deannas enger Freundschaft zu mir mehr ausmachen. Doch so hatte ich einen dreifachen Ersatz, der es mir erleichterte, dass sie soweit von mir entfernt lebte – und schon zehn Jahre älter war.
„Nicht schon wieder.“, jammerte Fivel, als Calli zum neunten Mal in fünf Minuten an einem Schaufenster kleben geblieben war. „Du nervst Weib!“
„Och bitte. Ich will da rein.“, bettelte sie uns an. „Diese Schuhe muss ich einfach haben.“
Es waren modische Highheels aus Wasserdichtengummi. Neben Mode bot dieses Paar Schuhe auch Praktik. Bei dem Wetter auf diesem Planeten war nichts so wichtig und beliebt, wie Wasserdichte für trockene Füße.
Nachdem wir Calli ihren Willen gelassen hatten und sie mit gleich drei Paar Schuhen den Laden verließ, bummelten wir weiter durch die Stadt, bis Ash ein Schild entdeckte, das auf einen Naturtempel hinwies. So wie man früher auf der Erde Götter- oder Gebetstempel, Kirchen, Moscheen oder Synagogen hatte, gab es hier nur noch Naturtempel, die eigentlich nichts anderes waren, als extra große Parks. Doch diese Parks waren mit einheimischen Gewächsen angereichert. Im Grunde war es sogar so, dass man mitten in der Stadt unberührte Natur gelassen und drum herum gebaut hatte. Besucher waren aber nur auf extra angelegten Wegen geduldet. Und man durfte auch nichts mit hinein nehmen. Keine Taschen oder andere Gegenstände, vor allem keine Trinkflaschen zum Wegwerfen oder irgendetwas mit Verpackungspapier.
Nach einem Fußweg von weniger als zehn Minuten gelangten wir an das Tor zum Naturtempel, der offenbar der westliche war. In Australienstadt gab es zwei davon. Einem im Osten und den hier, im Westen. Jetzt hatte ich wenigstens eine grobe Vorstellung davon, wo wir uns befanden.
Es kostete keinen Eintritt in den Naturtempel zu gehen. Aber man konnte zweierlei Spenden an den Eingängen abgeben. Eine kam der Instandhaltung des Tempels zugute, und die andere floss in soziale Projekte. Die wenigsten Besucher spendeten nichts. Vielleicht lag es am allgemeinen Anstandsgefühl. Aber vielleicht lag es auch an den bohrenden Blicken, die jeder Besucher erhielt, der reinkam, und ein schlechtes Gewissen hervorrief.
Calli und ich packten unsere Taschen in zwei Schließfächer. Sie hätten beide in eines gepasst, hätte Calli nicht auch noch ihre drei neuen Paar Schuhe zu verstauen. Ash und Fivel hatten nichts abzugeben. Ihre wenigen Habseligkeiten die sie bei sich trugen, beschränkten sich lediglich auf ihre Portmonees und Regencapes, wovon sie beides mitnehmen durften.
Die einheimischen Bäume im Natur Tempel, von denen ich nur die wenigsten beim Namen nennen konnte, bäumten sich mehrere Meter vor uns auf. Die meisten sahen eher künstlich als echt aus. Aber ich wusste, dass hier alle natürlich waren. Der Regen brachte die Blätter zu einem unnatürlich wirkenden Glanz.
Vom Eingang des Tempels führten mehrere Wege hinein in die Tiefen des dunklen Urwaldes. Wir nahmen den linken. Je tiefer wir hinein drangen, desto dunkler wurde es, weshalb alle paar Meter kleine Lichter den Rand des Weges bestückten. Das gedämmte Licht erzeugte irgendwie eine romantische Stimmung, was besonders Calli und Fivel beeinflusste, die vor mir und Ash gingen. Fivel legte seinen Arm um ihre Schulter und flüsterte ihr immer wieder etwas ins Ohr, dass sie zum Kichern brachte.
Ich muss zugeben, ich war etwas neidisch. Aber nicht, weil ich in irgendeiner Weise auf einen der beiden stand. Ich hätte nur auch ganz gerne jemanden, mit dem ich so durch die Gegend schlendern konnte. Arm in Arm, flirtend und neckend, die Nähe zueinander spürend.
Bevor ich eingefroren wurde, hatte ich nicht so ein Verlangen. Es lag wohl daran, dass ich jetzt regelmäßig miterlebte, wie Fivel und Calli Zärtlichkeit miteinander austauschten. Obwohl ich das eigentlich auch schon von meinen Eltern vertraut war. Doch weil sie eben meine Eltern waren, war mir ihr ständiges Turteln eher peinlich.
Um mich von Fivel und Calli abzulenken, achtete ich viel mehr auf die kleinen Schilder am Wegesrand, die einige interessante Informationen über die hiesigen Pflanzen bereithielten. Nach einigen hundert Metern im Natur Tempel fingen wir an ein zirpen aus verschiedenen Richtungen zu hören. Tiefer fing der Dschungel richtig an zu leben. Es überraschte mich ehrlich gesagt, dass hier auch Tiere zu Hause waren. Doch wenn man darüber nach dachte, war es nur logisch. Immerhin war dieses Stückchen Land unberührt. Also mussten sich dort auch noch Tiere wohlfühlen und beheimatet sein. Oder?
Meine Frage beantwortete sich von alleine, als mich plötzlich etwas an den Haaren zog. Nicht nur vor Schreck schrie ich auf. Auch vor Schmerz. Denn was immer mich an den Haaren zog, ließ nicht los. Die anderen sahen mich im ersten Augenblick nur fragend an, während ich mit meiner Hand meine Haare nach dem Übeltäter abtastete. Als meine Finger etwas Nacktes mit pelzigen Stellen streiften, zog ich meine Hand blitzartig zurück. Ich hüpfte auf und ab und rief den anderen panisch zu, dass sie, was sich auch immer in meinem Haar verfangen hatte, wegnahmen.
„Macht es weg! Macht es weg!“, kreischte ich.
„Schon gut. Halt still.“, sagte Ash, der jetzt hinter mir stand und versuchte zu helfen. Ich konnte nicht genau sehen, was er tat, aber ich erahnte, dass er versuchte das Tier festzuhalten, damit es nicht weiter herum flattern konnte. „Mach dich mal nützlich und entflechte das Gewirr hier.“, sagte er zu Fivel, der sich über meinen panischen Ausbruch, prächtig amüsierte.
Nach wenigen Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, hatte sie es zu zweit geschafft mich und das Tier zu trennen. Es war eine Art Fledermaus, die einer irdischen Fledermaus fast aufs Haar glich. Und sie war nicht die Einzige. Noch bevor Ash die Fledermaus wieder los gelassen hatte, flog ein ganzer Schwarm über den schmalen Weg hinweg, auf dem wir gingen. Instinktiv zog ich diesmal sofort die Kapuze meines Regencapes über meinen Kopf und schützte mein Gesicht mit meinen Armen. Calli tat es mir gleich.
„Ich will hier wieder raus.“, jammerte sie, als der Schwarm vorbei geflogen war.
„Ach komm schon.“, sagte Fivel. „Wir sind doch gerade erst her gekommen.“
„Ich will auch lieber wieder gehen.“, unterstützte ich Calli. „Bevor sich noch so ein Ding in meinen Haaren verfängt.“
„Dem können wir Abhilfe schaffen.“, erwiderte Fivel und näherte sich mir mit einem tückischen Lächeln. „Wir rupfen dir einfach jedes Haar einzeln aus.“
„Idiot.“, beschimpfte Calli ihren Freund. „Komm Clio, wir gehen.“ Calli hackte sich mit ihrem Arm in meinem ein und setzte uns in Bewegung.
„Wieso bist du denn jetzt eingeschnappt!“, rief Fivel ihr hinterher. „Das war doch nur ein Scherz.“
Aber Calli ignorierte ihn und ging mit mir zusammen den Weg weiter entlang. Fivel und Ash fielen einige Meter hinter uns in unseren Schritt.
Nach einer ganzen Weile, als wir den Weg verließen und den nahmen, der uns zum nächsten Ausgang brachte, war uns klar, dass wir hier schneller hinaus gelang wären, hätten wir einfach kehrt gemacht. Doch jetzt machte das auch nichts mehr. Es wurde bereits heller, als wir uns dem Ausgang näherten. Es war nicht derselbe durch den wir rein gekommen sind und unsere Sachen in Schließfächer verstaut hatten, aber die Inhalte der Schließfächer konnten dorthin beordert werden, wenn wir erst einmal dort waren. Das ganze lief über Schächte, die in der Außenmauer verborgen lagen, die sich um den gesamten Natur Tempel zog.
„Was kann ich denn dafür!“, hörten wir Fivel hinter uns aufgebracht zu Ash sagen, woraufhin Calli und ich uns zu ihnen umdrehten.
Die beiden schienen über irgendwas zu diskutieren, wobei Ash mehr als Fivel darauf bedacht war, dass sie niemand hörte. Er flüsterte mit scharfem Ton etwas zurück, was wir nicht verstehen konnten. Doch es war offensichtlich, dass er vor allem nicht wollte, dass gerade wir ihn nicht hörten. Er warf immer wieder nervöse Blicke zu uns nach vorn.
Wenn Ash nicht wollte, dass wir ihn belauschten, dann tat ich das auch nicht. Aber ich konnte sehen, dass es genau das war, wonach Calli der Sinn stand. Deshalb versuchte ich sie in ein Gespräch zu verwickeln. „Was wollen wir denn machen, wenn wir hier raus sind?“, fragte ich Calli.
Natürlich war ich neugierig, was die beiden so wichtiges zu bereden hatten, das wir nicht hören durften. Doch als Telepath lernt man, dass man anderen ihre Privatsphäre lassen sollte. Auch wenn es einem schwer fiel. Meine Großmutter sagte immerzu, „Behandle andere so, wie du auch behandelt werden willst.“
Das war dieselbe Sache, wie mit dem Geburtstagsgeschenk, das mir meine Großeltern schenken wollten. Ich hielt mich zurück, um nicht in ihren Gedanken zu lesen, was ich bekam. Denn das schönste was man selbst erwarten durfte und konnte, wenn man jemanden beschenkt, die Reaktion des Beschenkten, seine freudige Überraschung, wenn er das Geschenk auspackte. Das wollte ich ihnen keines falls nehmen.
„Wie wäre es, wenn ich euch den See zeige?“, antwortete sie auf meine Frage. „Bei der Gelegenheit kann ich dir auch unser neues Haus zeigen.“
„Klingt gut.“, sagte ich.
Nachdem wir unsere Taschen und Calli´s Schuhe aus den Schließfächern geholt hatten, begaben wir uns zur nächsten Einschienenbahn Station, um zu Calli nach Hause zu fahren. Obwohl niemand Ash und Fivel eingeladen hatte mitzukommen, nahmen wir es stillschweigend hin, dass sie uns folgten.
Die wenigen Minuten, die wir mit der Bahn fuhren, reichten vollkommen aus, dass Calli aufhörte Fivel zu ignorieren. Auch zwischen Ash und Fivel schien es keinerlei Diskussionen mehr zu geben. Es hatte auch kurzweilig aufgehört zu regnen. Erst als wir ausstiegen fing es wieder an.
9.
Ich weiß, es sah bestimmt blöd aus, wie ich hier, am Rand eines Cliffs stand, mit offen stehendem Mund. Doch in diesem Augenblick konnte ich nicht anders. Zum einen, war es, obwohl ich heute Morgen erst darin geduscht hatte, beeindruckend so viel von dem roten Wasser auf einen Fleck zu sehen. Vor allem, wenn der See bis zum Horizont und womöglich noch weit darüber hinaus, ging. Da musste ich mich fragen, wie es war, das Meer mit eigenen Augen zu sehen.
Zum anderen, war das Cliff gewaltig hoch. Erst etliche hundert Meter unter uns schlugen die Wellen des roten Sees, der auch genau so hieß, gegen die felsige Wand des glatten Cliffs. Wenn die Wellen zurückschlugen, sah man den sandigen Boden, der sich darunter verbarg. Hier am Rand war der See nicht besonders Tief, doch in der Mitte, so hieß es, war er so tief, dass sich das Wasser an den Kern des Planeten annäherte.
Ash, Calli, Fivel und ich standen im Garten hinter Callis Villa von einem Haus. Während die Seiten des Gartens von einer Mauer eingezäunt wurden, war an der Cliff Seite des Gartens lediglich eine Rehling wie bei einem Wasserschiff, die uns davon abhielt in die Tiefe zu stürzen.
Plötzlicher Frost durchschüttelte meinen Körper bis in die Knochen. Normalerweise waren die Temperaturen erträglich. Nicht so, dass man in einem sommerlichen Outfit, wie man es auf der Erde hatte tragen können, herumlaufen konnte. Aber es war erträglich genug, sodass man über sein alltägliches Outfit und unter dem Regencape keine extra Jacke anziehen brauchte. Das heißt, wenn man sich nicht zu lange im Regen aufhielt. Und ich wusste nicht einmal wie viel Zeit vergangen ist, seit wir die Einschienenbahn wieder verlassen hatten, durch den Regen die zwei-, dreihundert Meter zu Callis Haus zurückgelegt hatte, und hier an der Reling, den See bewunderten.
„Ist dir kalt?“, fragte mich Ash, der dicht neben mir stand.
„Ein bisschen.“
„Wollen wir auch reingehen?“
„Auch?“, fragte ich verwundert. Erst jetzt viel mir auf, dass Fivel und Calli nicht mehr bei uns waren. Die Terrassentür am Haus stand offen, als ich mich umdrehte um zu sehen, wo sie geblieben waren. Vermutlich waren sie schon vor einigen Minuten ins Haus gegangen. Und ich hatte das gar nicht bemerkt. Aber den See so zu sehen, vor allem vom Rand des Cliffs aus, ließ einen wirklich alles andere um sich herum vergessen.
((...to be continued...))
Texte: Coverbild: http://www.google.de/imgres?imgurl=http://diepresse.com/images/uploads//1/1/b/430363/u_Nasa.jpg&imgrefurl=http://diepresse.com/home/science/430363/Forscher-auf-der-Suche-nach-der-zweiten-Erde&usg=__gtIljDvqOZRhtexE0wEWpykIj6Q=&h=300&w=500&sz=25&hl=de&start=16&zoom=1&tbnid=0F6KPrHjYDaKtM:&tbnh=132&tbnw=188&ei=kqnXTaymCIqq-gai19CfDw&prev=/search%3Fq%3Dfremde%2Bplaneten%26um%3D1%26hl%3Dde%26rlz%3D1R2GFRE_de%26biw%3D1003%26bih%3D455%26tbm%3Disch&um=1&itbs=1&iact=rc&dur=1046&sqi=2&page=3&ndsp=8&ved=1t:429,r:7,s:16&tx=79&ty=63
Tag der Veröffentlichung: 21.05.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für mich ;P