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Halb im Schlaf und doch halb wach zog sich Natalie ihre Bettdecke über die Schulter bis nur noch ihr Kopf zu sehen war. War es kälter geworden? Ihr Fenster war geschlossen. Die Heizung gab ihr bestes ihr Zimmer tropisch warm zu halten. Dennoch fror sie. Außerhalb der Decke.
So kurios, wie man in einem halb wachen Zustand sein konnte, streckte sie ihr Bein aus. Ihre Ferse streifte etwas, das nicht dort sein sollte. Erst jetzt merkte sie, dass sie viel weiter auf der rechten Seite ihres Bettes lag als sie es gewöhnlich tat. Jemand lag in ihrem Bett. Und er lag dort nicht, als sie eingeschlafen war.
In Panik, aber vorsichtig drehte sie sich um, um den Fremden Körper, der hinter ihr lag, zu identifizieren. Zu ihrer Beruhigung war er aber nun doch nicht so Fremd wie sie zu Anfang dachte. Es war dunkel im Raum, aber die Straßenbeleuchtung die geringfügig durch ihr Fenster schien reichte aus um die Silhouette ihres Bruders zu erkennen. Allerdings war sie überrascht, dass es nicht Mike, ihr älterer Bruder war, sondern Jacke, der jüngere.
Mike hatte sich zu seiner Schulzeit hin und wieder, nach einer Alkoholdurchzechten Nacht mit seinen Freunden nachts in ihr Zimmer verirrt. Seit er allerdings seine eigene Autowerkstatt eröffnet hatte, hatte er immerhin so viel Verantwortungsgefühl entwickelt, dass er nicht mehr ganz so viel trank, sodass er noch sein eigenes Zimmer fand. Problem gelöst, dachte Natalie.
Und nun lag sie hier in ihrem Bett mit ihrem kleinen Bruder neben sich. Eines konnte sie jedenfalls sagen, und sie musste dafür nicht einmal die Nase eines Werwolf haben, wie sie ihr Vater und ihre beiden Brüder hatten – er hatte nichts getrunken. Hätte ihr Vater Alkohol an seinem fünfzehn jährigen Sohn gerochen, hätte er ihm die Hölle heiß gemacht. Aber warum lag er dann trotzdem in ihrem Bett und nicht in seinem eigenen?
Natalie drehte sich komplett zu ihrem Bruder um und platzierte ihre Beine und Hände so, dass sie ihn aus ihrem Territorium, ihrem Bett werfen konnte. Mit einem dumpfen Schlag landete er auf dem Boden. Aber nicht bevor er nicht mit seinem Kopf auf dem Weg nach unten an ihrem Nachttisch aufschlug. Noch ehe Jacke vor Schmerz stöhnen konnte, verzog Natalie bereuend ihr Gesicht. Da ihr aber einfiel, dass er sie nicht sehen konnte, wenn er sich so krümmte, flüsterte sie hastige Entschuldigungen.
„Tut mir-“, sie unterbrach sich selbst, da Jacke, als der Werwolf, der er war, über die maßen übertrieb. Werwölfe spürten zwar Schmerzen, wie normal Sterbliche auch, aber sie hielten doch viel mehr aus. „Übertreib nicht so.“
Er gab seine kleine Scharade auf und setzte sich auf. „Übertreib nicht so? Du hättest mich ernsthaft verletzen können.“ Natürlich meinte er das nicht ernst. Sie war im Gegensatz zu ihm ein schwächlicher kleiner Mensch, der niemals genug Kraft aufwenden konnte, um ihn wirklich ernsthaft zu verletzen.
„Ja, sicher.“, murmelte Natalie vor sich hin, als sie sich wieder in ihre Decke kuschelte. Flüchtig hatte sie erkennen können, dass ihr Fenster sperrangelweit offen war. Jacke musste es geöffnet haben, als er rein kam. Er schlief selbst im tiefsten Winter mit offenem Fenster. Werwölfe empfanden keine Kälte – oder so gut wie gar keine. Es brauchte schon einen Jahrhundertwinter in einer Region wie Montana, dass ein Werwolf frieren würde. Allerdings galt das nur, wenn er auch in Wolfform war und nicht in seiner menschlichen Gestalt.
„Rutsch rüber, Schwesterherz. Ich will schlafen.“, flüsterte er mit verschlafener Stimme. Wie lange war er schon neben ihr gelegen, bevor sie bemerkt hatte?
Ohne auf ihre Reaktion zu warten schob er sie wieder auf die rechte Seite ihres Bettes. Das ließ sie sich aber nicht so leicht gefallen. Aufgebracht über den Schlaf, den er ihr geraubt hatte, drehte sie sich abermals um, um ihrem Bruder ins Gesicht zu sehen als sie fragte, „Hast du nicht ein eigenes Bett? Auf der anderen Seite des Flurs? In deinem eigenen Zimmer?“ Immerhin betrieb sie in ihrem Zimmer keine Frühstückspension.
„Das ist besetzt.“, sagte er schlicht, legte aber übertrieben schmollend nach, „Also würdest du einem Obdachlosen einen Platz zum Schlafen geben?“ Wer hielt denn sein Bett besetzt?
Sie würde es nie zugeben, aber sie mochte es an Jacke, wenn er so überzogen Süßholz raspelte. Ohne ein Wort zu sagen rutschte sie an den Rand des Bettes und bot ihm einen kleinen Teil ihrer Decke an. Sichtlich mit sich selbst zufrieden kroch er zu ihr ins Bett. Die beiden lagen Rücken an Rücken und warteten auf den erholsamen Schlaf.
Jacke war offensichtlich Hundemüde – ha, ha, ha – da er sofort zu schnarchen anfing. Es war lange her, dass Natalie ihren Bruder hatte schnarchen gehört. Er behauptete, damit aufgehört zu haben, als er zehn war. Doch wie sollte er es denn wirklich wissen. Er konnte sich schlecht belauschen, wenn er schlief. Früher hatte er immer bestritten, dass er schnarchen würde, wenn sich Natalie und Mike darüber lustig machten.
Trotz seines Schnarchens verfiel Natalie wieder in einen Halbschlaf, der sich jeden Moment in einen Tiefschlaf transformieren würde. Diesmal wurde sie allerdings von einem Ohrenbetäubender Krach, der von unten kam – vermutlich aus dem Wohnzimmer – aus dem Schlaf gerissen.
Sie erhob ihren Kopf von ihrem Kopfkissen, das Jacke ihr gelassen hatte, und stützte sich auf einem Arm ab, um zu lauschen. Jacke sprang, vor sich hin fluchend, über sie hinweg, als hätte er sich dafür bereitgehalten, anstatt eine Fahrt durchs Traumland zu unternehmen.
Er war bereits halbwegs an der Treppe, die runter ins Wohnzimmer führte, als Natalie noch mehr Geräusche hörte. Irgendetwas ging dort unten vor. Den Geräuschen nach zu urteilen, ein Kampf. Eigentlich nicht unüblich, wenn man im Haus des Alphas eines Rudel Werwölfe wohnte.
Dennoch konnte Natalie nicht anders, als sich sorgen zu machen. Es bedeutete schon etwas, dass Jacke bei dem leisesten Krach im Haus aus dem Tiefschlaf gerissen wurde und nach unten zum Schauplatz des vermeintlichen Kampfes stürmte.
Jacke warf sich sonst nicht in den Kampf zweier Wölfe, wenn es sich bei den Kontrahenten nicht wenigstens um ihren Vater oder Mike handelte. Wenn sie es sich recht überlegte, mischte er sich nie in einen Kampf ein. Das war nicht üblich in Werwolf Kreisen. Es bedeutete Schwäche für den einen oder den anderen, wenn sich ein Dritter in einen Kampf einmischte.
Kämpfte Mike gerade mit ihren Vater? Und Jacke versuchte jetzt sie davon abzuhalten sich gegenseitig zu verletzen?
Wobei Mike, soweit Natalie es verstand, nicht annähernd so dominant war wie ihr Vater. Er würde, laut Jacke, keine fünf Sekunden in einem Kampf mit ihrem Vater überstehen.
Sorge und Neugier trieben sie aus ihrem Bett. Irgendjemand Kämpfte dort unten. Und sie wollte sicher gehen, dass es weder ihr Bruder noch ihr Vater war. Oder das irgendetwas, das ihr etwas bedeutete zu Bruch ging. Wie zum Beispiel das letzte Familien Foto, auf dem auch noch ihre Mutter war. Sie starb vor dreizehn Jahren. Erst als Jacke durch einen Unfall zum Werwolf wurde hatte ihr Vater ihm und ihr erzählt wie sie starb. Ermordet. Von Vampiren.
Mike, der als Werwolf geboren war, wusste von Anfang an, was geschehen war. Sie war zwar nicht seine leibliche Mutter. Aber da auch seine Mutter verstarb, bei seiner Geburt – durch ihn – akzeptierte er sie nur zu gern als Ersatzmutter.
Obwohl sie nur fünf Jahre älter war als er, und er schon erwachsen war, als ihr Vater und ihre Mutter sich kennen lernten, bemutterte sie ihn, als wäre er ihr eigener Sohn. Natalie hatte von den anderen im Rudel gehört, dass Mike sich das vor den anderen nie hat gefallen lassen, aber insgeheim nichts dagegen hatte.
An der obersten Stufe lauschend konnte sie beim nächsten Geräusch, neben dem geknurre der Werwölfe, genau ausmachen was zerstört wurde. Der antike Couchtisch aus Buchenholz, den ihre Großmutter ihrem Vater und Mike´s Mutter zur Hochzeit geschenkt hatte. Nur damals, war er noch nicht antik. Die Hochzeit war schon eine ganze Weile her und Mike war auch älter als er aussah – Werwolfgene.
Warum unternahm denn niemand etwas, dass die beiden Streithähne, die gerade ihr zu Hause auseinander nahmen, nicht draußen kämpften? War es doch eine Regel, dass man nicht in Häusern kämpfte, sondern möglichst nur draußen, wo es genügend Platz gab, dass man niemand unbeteiligten verletzte.
Außer natürlich ihr Vater kämpfte wirklich. Dann hatten seine Wölfe große Schwierigkeiten, den Kampf nach draußen zu verlegen. Niemand konnte dem Alpha befehlen was er zu tun und zu lassen hatte. Deshalb war er ja auch Alpha, der Anführer des Rudels. Er war der dominanteste Wolf in seinem Rudel.
Ein paar Stufen weiter unten erhaschte sie nicht mehr als den Eindruck eines Schwanzes ehe jemand aus dem nichts in ihren Weg sprang. „Hey, hey, hey. Wo willst du denn hin?“, sagte Carter, einer der Wölfe ihres Vaters, und schob sie wieder nach oben.
„Was ist da unten los?“, fragte sie, darauf bedacht nicht rückwärts über die Stufen zu stolpern, als Carter sie die Treppe und zurück in ihr Zimmer schob. „Wer kämpft da unten?“
„Kümmer´ dich nicht d´rum. Geh wieder schlafen.“ Und damit zog er die Tür vor ihrer Nase zu.
Kümmer´ dich nicht d´rum? Jemand zerstörte da unten ihr Wohnzimmer und sie sollte einfach schlafen gehen? Wie sollte sie das bei diesem Krach anstellen? Sie war nicht Jacke, der oft mit Kopfhörern und lauter Musik seelenruhig vor sich hin dösen. Natalie hasste es, wenn man sie ausschloss. Und man schloss sie immer aus, wenn es um Rudel Angelegenheiten ging.
Natürlich war es für sie, als sterblicher Mensch, zu gefährlich mit all den, meist hitzköpfigen, teilweise brutalen und gewalttätigen Werwölfen. Besonders, wenn sie mitten in einem Kampf steckten. Normalerweise lautete die goldene Regel ihres Vaters für sie: wenn sie kämpfende Wölfe hörte oder sah, durfte sie nicht in ihre Nähe kommen.
Die zweite Regel lautete: schau einem Wolf niemals zu lange in die Augen, oder ärgere ihn – das könnte damit enden, dass sie an dir herumkaut (was er nur immer sagte, um ihr ausreichend Angst einzujagen, denn einfach so, kaute kein Wolf an einem herum).
Und normalerweise befolgte sie die beiden einfachen Regeln – ausnahmen bestätigen die Regel. Wie heute, wenn die Sorge und Neugier die Oberhand über den gesunden Menschenverstand siegten.
Sie wusste, dass sie nicht zurück ins Wohnzimmer durfte, solange die Wölfe unten noch kämpften. Ihr Vater hatte die Regeln für sie aufgestellt, damit sie nicht verletzt wurde, damit er sie nicht versehentlich verletzte. Aber es brauchte jedes bisschen ihrer Willenskraft so, auf ihrem Bett zu sitzen, wie sie es jetzt tat und zu warten.
Nicht ehe die Glasvitrine, in der ihr Vater errungene Trophäen und Erinnerungen seiner Schulzeit (auch Mikes´, seiner Mutter und ihrer Mutter) aufbewahrte – Natalie war sich sicher, das es sich darum handelte – zu Bruch ging, verstummten die Kampfgeräusche vollkommen.
Das war ihr Startschuss. Als sie die Treppe wieder runter rannte, schenkte ihr niemand auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Scott, der Beta, der Zweite in der Rudelrangordnung, und einige andere Wölfe in Menschen Form waren um irgendetwas oder jemanden versammelt. Sie beachtete sie vorerst nicht, da sie ihren Vater entdeckt hatte. In Wolf Form. Er war also am Kampf beteiligt gewesen. Und jetzt lag er regungslos neben der Couch auf dem Boden. Da war Blut, das eine Lache unter ihn bildete.
Er lag da regungslos, blutete und niemand kümmerte sich um ihn, alle waren sie anderweitig beschäftigt. War er etwa …?
Arme schlossen sich um sie, als sie gerade auf ihn zu gehen wollte. Sie kämpfte dagegen an, wollte zu ihrem Vater, sichergehen, dass es ihm gut ging, dass er am…
Die Arme ließen nicht locker, wurden eher noch strenger um sie herum. „Nicht der richtige Ort für eine zarte Blume, wie dir.“ Die Stimme kam ihr bekannt vor. Natürlich kam sie ihr bekannt vor, immerhin ist sie mit dem Rudel aufgewachsen. Zwar hatte ihr Vater sie meist von den Wölfen ferngehalten (obwohl das schwierig war, da das Haus des Alpha´s immer eine offene Tür für alle Wölfe des Rudels hatte), da es für sie zu gefährlich war, dennoch kannte sie die Wölfe ihres Vaters gut genug, um zu sagen, dass es Graham war, der gerade versuchte sie aus ihrem eigenen Wohnzimmer zu werfen. Weg von ihrem verletzten Vater.
Doch ohne jede Vorwarnung stieß Graham sie zur Seite. Instinktiv fing sie ihren Sturz mit ihren Händen ab und verspürte einen stechenden Schmerz in ihrem rechten Handgelenk. Das würde noch eine Weile wehtun. Sie war kein Werwolf, der den Schmerz so einfach wegstecken konnte. Genau genommen war sie sogar ein wenig weichlich – und nicht einfach nur im Vergleich zu einem Werwolf.
Als sie den Schmerz aber schließlich runterschluckte und ermittelte weshalb Graham sie zu Boden warf, fand sie den Schwanz eines Wolfes in ihrem Gesicht. Erst als sie aus ihren Augenwinkeln bemerkte, dass die Stelle bei der Couch, an der ihr Vater regungslos gelegen hatte, konnte sie sich absolut sicher sein, dass er es war, dessen Schwanzhaare ihr im Gesicht hingen. Über ihr stehend knurrte er Graham, der seine Hände in einer defensiven Haltung hoch hielt, an.
Ihr Vater hatte wohl gedacht, dass er Natalie wehtun wollte und er sie vor ihm beschützen müsste. Werwölfe an sich haben schon einen starken Beschützerinstinkt, dominante Wölfe Toppen das um einiges. Von einem Alpha ganz zu schweigen. Die wichtigste Aufgabe eines Alphas ist, sein Rudel und die, die zu ihm gehören zu beschützen.
„Hey, ganz ruhig, Mann.“, sagte Graham defensiv. „Ich wollte deiner Kleinen nicht wehtun.“ Er wusste, dass eine falsche Bewegung fatal für ihn enden könnte. Ihr Vater reagierte oft etwas über, wenn er verletzt war und dachte, dass Natalie in Gefahr war. Graham traute sich nicht einmal ihm in die Augen zu sehen. Wobei, soviel wusste Natalie, es eine Herausforderung bedeutete einem Werwolf in direkt in die Augen zu sehen. Und das war der erste Schritt für Graham in sein Grab.
Ihr Vater knurrte nur. Obwohl sein Rücken – äh, Hinterteil – zu ihr gedreht war, konnte sie sich vorstellen, wie er seine riesigen und scharfen Reißzähne zeigte. „Äh, Scott. Ich könnte hier ein bisschen Hilfe gebrauchen.“ Graham bemühte sich möglichst ruhig zu klingen, doch selbst wenn Natalie, durch und durch Mensch war, und seine Angst hören konnte, dann konnte das ihr Vater erst recht. Bestimmt konnte er sie auch riechen… Was Natalie schon immer wissen wollte war, wie Angst roch…
Hm. Im Moment hatte sie wohl eher andere Probleme als Neugier. Ein wütender Werwolf stand über ihr und war drauf und dran einen weiteren Kampf anzufangen. Auch wenn ihr Vater ihr niemals absichtlich wehtun könnte, so war es wahrscheinlich, dass sie verletzt werden würde, wenn er so nah bei ihr einen Kampf mit Graham anzettelte.
Glücklicherweise war Hilfe schon unterwegs. Als Beta war Scott hier derjenige, der die besten Chancen hatte ihren Vater aufzuhalten. Gerade noch über das erste Opfer von Natalie´s Vater gebeugt, schlich Scott nun langsam auf gefährliche Szenerie zu.
„Ganz ruhig, Jerry.“, sagte er mit ruhiger aber gestresster Stimme. „Graham hatte bestimmt nicht die Absicht Natalie zu verletzen. Du weißt, dass selbst du für sie gefährlich werden kannst, wenn du verwundet bist. Er wollte sie nur in Sicherheit bringen.“
Natalie hatte den Eindruck, dass ihr Vater zu verstehen begann. Zwar bewegte er sich nicht von der Stelle, aber sein Knurren, dass zuvor tief aus seiner Brust kam, wurde leiser und er schien Scott zu zuhören. Deshalb versuchte sie sich langsam unter ihm hinweg zu ziehen-
„Nicht bewegen!“, ermahnte Scott sie plötzlich, mit absolut nicht mehr so ruhiger Stimme. Seine Mahnung ernst nehmend – er wird immerhin wissen, was er tat – hielt sie absolut still.
Allerdings war sie nicht die einzige, die seine Mahnung Beachtung schenkte. Der Wolf, der ihr Vater war sah sie an. Große gelbe Augen durchdrangen sie. Hätte er ihren Blick als Herausforderung angesehen, wäre es ihr nicht möglich gewesen seinem Blick stand zu halten.
Seine zähne wieder verborgen, legte er seinen Kopf in einer Wolftypischen Haltung zu Seite und gab einen Laut von sich, der wie eine Frage klang. Selbstverständlich konnte sie nicht erraten, was er fragte. Sie war sich nicht mal sicher, ob er etwas fragte. Obwohl sie mit Werwölfen aufgewachsen ist, ist sie hauptsächlich nur mit Werwölfen in Menschen Form aufgewachsen.
„Scheiße, Dad!“, rief Mike, der, wie Scott zuvor auch, immer noch über dem ersten Opfer stand, zu ihnen rüber, „Willst du noch mehr verletzte?! Reicht dir Alex für heute etwa noch nicht?!“
Alle anwesenden – Natalie hatte im Augenblick keine Ahnung wie viele es waren – hielten die Luft an. Niemand durfte so mit seinem Alpha reden. Nicht einmal sein eigener Sohn. Das bewies ihr Vater zunächst mit einem erneuten Knurren, das tief aus seiner Brust kam. Was danach kam war … nichts.
Ihr Vater entfernte sich langsam von ihr und ging auf vier Pfoten die Treppe rauf. Natalie fiel auf, dass er eine Blutspur hinterließ. Seine Wunde musste tief gewesen sein, wenn sie noch nicht verheilt war.
„Du hattest verdammt viel Glück, dass er nicht plötzlich auf dich losging.“, sagte Scott und wandte sich wieder dem verletzten Wolf zu, der auf der anderen Seite des Zimmers lag.
Alex, dachte Natalie. Ihr Vater hatte mit Alex gekämpft. Er musste schon einen guten Grund gehabt haben, um mit Alex zu kämpfen. Er war nicht nur der Dritte in der Rudelrangordnung, sondern auch der beste Freund des Alphas.
„Ja, ja. Das ist mein Bruder.“, sagte Jacke, der, zu Natalie´s Überraschung, lässig aus der Küche kam, als wäre gerade nichts passiert. Weder der Kampf, der ihn aus dem Schlaf getrieben hatte, noch die angespannte Situation mit ihr und ihren Vater. „Mehr Glück als Verstand.“
„Das trifft ja eher auf dich zu, Welpe.“, sagte Mike und trat von Alex zurück.
„Nachdem Alex jetzt stabil ist“, sagte Javier, der Arzt des Rudels und selbst auch ein Werwolf, „würde ich sagen, dass wir ihn erst runter in den Sicherheitsraum bringen, bevor ich mich um seine gebrochenen Knochen kümmere.“
Für Natalie war es ein Schock Alex so zu sehen. Bewusstlos und verschmiert mit Blut wurde er von Carter und Mike an Armen und Beinen hochgehoben und zur Kellertreppe getragen.
Sie war kein Arzt, aber sie hatte schon genug verletzte Wölfe nach einem Kampf gesehen, um zu sagen, dass er eine gebrochene Nase, eine ausgerenkte Schulter und mindestens eine gebrochene Rippe hatte. Mit der Rippe war sie sich deshalb so sicher, da sie deutlich zu sehen war, wie sie so aus seinem Brustkorb heraustrat. Aus Arztserien wusste sie, dass eine gebrochene Rippe ganz leicht die Lunge aufspießen konnte. Also warum bewegten sie ihn, bevor Javier sich nicht um diese Rippe gekümmert hatte? Andererseits haben die Ärzte in den Serien, die sie sich hin und wieder gern ansah, noch nie einen Werwolf behandelt.
Sicher darüber, dass Javier wusste, was er tat, konnte sie die Sorge über Alex beiseite schieben und sich um etwas anderes Gedanken machen. Justin, Alex Sohn. Er teilte dasselbe Schicksal wie sie, ein Mensch in mitten von Werwölfen. Jemand musste ihn wissen lassen, dass sein Vater verletzt bei ihnen im Keller lag und die nächsten Tage nicht in Lage sein wird nach Hause zu kommen. Auch wenn es für Werwölfe üblich ist schneller als ein Mensch zu heilen, so dauerte es bestimmt ein paar Tage, bis Alex wieder auf den Beinen war.
„Sollte nicht jemand Justin anrufen?“, fragte Natalie, als sie endlich aufstand. Niemand außer Jacke war in menschlicher Hörweite, aber sie hatte es ja auch nicht mit Menschen zu tun. Selbst ihr Vater konnte sie hören, obwohl er, so vermutete sie, oben in seinem Schlafzimmer war.
Dennoch war es Jack, der ihr aus der Küche antwortete. „Schon längst erledigt.“ Es klang so als ob er einen vollen Mund hatte.
Es überraschte Natalie immer wieder, wie viel Werwölfe essen konnten. Was sie natürlich mussten, da sie wesentlich mehr Energie verbrauchten als normale Menschen – besonders, wenn sie sich in ihre Wolf Form verwandelten. Aber Jacke war da in einer ganz anderen Liga. Vor seinem Unfall, der ihn zum Werwolf machte, konnte er fast schon so viel essen, wie ein Werwolf, aber jetzt …
Sie hatte es schon vermutet, dass er an seiner Lieblings Salami herumkaute, an die er sonst niemanden ran ließ. Er hatte es sich auf dem Küchentresen bequem gemacht und starrte Löcher in die Luft.
„Was war da vorhin los?“, fragte Natalie. Normalerweise wurde sie im Dunkeln gelassen, wenn es um Rudel Angelegenheiten ging. Doch hin und wieder konnte sie Jacke ein paar Informationen entlocken. Und diese Informationen brauchte sie. Es kam ihr merkwürdig vor, dass ihr Vater und Alex gegeneinander kämpften. Der Alpha würde nie einfach so einen seiner Wölfe angreifen und Alex hatte in den zehn Jahren, in denen er im Rudel ihres Vaters war, nie einen Dominanzkampf gegen ihn angestrebt.
Jacke schwieg im ersten Moment so lange, dass sie schon dachte, dass er ihr überhaupt nicht antworten würde. „Dad und Alex haben sich gestritten und dann…“ Er gestikulierte mit seinem Arm und fasste damit das Chaos im Wohnzimmer ein, dass Natalie noch gar nicht genau das Ausmaß des Schadens ermessen konnte. „Du weißt ja wohl was dann passiert ist.“ Er schnitt sich ein großes Stück seiner Salami ab und schob es sich in den Mund.
„Weißt du worüber sie sich gestritten haben?“
Er schüttelte den Kopf. „Falls es dir nicht aufgefallen ist, ich hab geschlafen.“
„Und überhaupt“, fügte Mike hinzu, der plötzlich hinter ihr auftauchte, „geht dich das gar nichts an.“
Auch wenn Mike es bestimmt nicht beabsichtigt hatte, hatte er ihr zumindest einen kleinen Hinweis gegeben, worum es bei dem Streit ging. Selbst wenn sie nicht viel damit anfangen konnte. Es war nichts privates, sondern hatte definitiv etwas mit dem Rudel zutun. War Alex vielleicht doch scharf auf den Alpha Posten? Natalie wusste nicht genug über die Angelegenheiten des Rudels, um noch auf einen anderen Grund zu kommen.
Wenn Werwölfe verletzt sind, verbrauchen sie am meisten Energie, da sie sie für den übermenschlich schnellen Heilungsprozess der Wunden brauchen. Die Wunden eines hungrigen Wolfs benötigen beinahe so lange wie die eines Menschen um zu heilen. Deshalb wird automatisch, wenn jemand im Rudel schwer verletzt war, gekocht.
Meistens war es Natalie, die sich um das Essen kümmerte, wenn ein hungriger Wolf im Haus war. Diesmal war es aber Mike, der zum Kühlschrank ging. Aber statt ihn aufzumachen und Zutaten für ein Menü herauszuholen, das zwar nur für einen war, aber durchaus für ein halbes Baseballteam reichen würde, nahm er etwas von oberhalb des Kühlschranks.
Ein Bilderrahmen, dachte Natalie. Nein, nicht nur ein Bilderrahmen. Es war das Familienportrait, auf dem noch ihre Mutter war. Normalerweise hing es im Wohnzimmer neben der Couch. Mike muss es abgehängt haben, damit es während des Kampfes nicht kaputt ging.
Es bedeutete ihm genau so viel wie ihr und Jacke. Damals waren sie noch eine richtige und normale Familie – von Werwölfen mal abgesehen. Ihre – und Jacke´s – Mutter war die einzige, die Mike je kennen gelernt hatte. Die Frauen, die mit einem Werwolf Baby schwanger sind, überleben die Geburt nicht.
Die meisten sterben zusammen mit dem Baby in den ersten vier bis fünf Monaten der Schwangerschaft, da sich der Fötus ab den vierten bis fünften Vollmond in einen Wolf verwandelt und im Mutterleib mit seinen Krallen und Zähnen herum rumort, bis es schließlich ausbricht.
Nur Spätzünder überleben die Geburt. Mike war so ein Spätzünder. Ihn hat der Vollmond erst im siebten Monat gerufen, sodass er sich in einen Wolf verwandelte. Trotzdem starb seine Mutter, als er sich in Wolf Form instinktiv den Weg in die Freiheit gebahnt hatte.
Natalie hatte jedes Mal Tränen in den Augen, wenn sie darüber nach dachte. Er würde es niemals erwähnen, aber Mike hatte große Schuldgefühle, wegen des Todes seiner Mutter. Sie sah es jedes Mal in seinen Augen, wenn er ihren Vater ansah und sich unbeobachtet fühlte. Ob er sich wohl fragte, ob ihr Vater ihn deshalb irgendwie hasste? Natalie würde sich das auf jeden Fall fragen, wäre sie in seiner Haut.
Die Tränen wegblinzelnd ging sie zurück ins Wohnzimmer und beobachtete Mike, wie er das Bild wieder an seinen ursprünglichen Platz hing. Sein Gesicht war nicht zu sehen und Natalie fragte sich, was sie dort wohl gerade erkennen würde.
Hände schlossen sich über ihren Schultern und sie wurde vorsichtig aus dem Weg geschoben. Javier kam aus dem Keller, wo er dafür gesorgt hatte, das Alex´ gebrochene Knochen wieder richtig und nicht in grotesken Winkeln zusammen wuchsen.
„Du solltest wieder ins Bett gehen.“, sagte er ihr, als er die Treppe bestieg. „Es ist spät.“
Halb zwei Uhr morgens, um genau zu sein. Und erst um kurz vor Mitternacht ist sie ins Bett gegangen, weil sie unbedingt noch diesen Film zu Ende sehen wollte. Sie war müde, wollte aber noch warten, bis Justin hier auftauchte.
Er reagierte immer besonders allergisch darauf, wenn sein Vater ernsthaft verletzt war. Und wenn er erfuhr, dass ihr Vater für Alex Wunden verantwortlich war, würde er dem Alpha mit Sicherheit wissen lassen, dass ihm das nicht gerade gefiel, obwohl er wusste, dass man dem Alpha besser keine Vorwürfe machte. Denn das erlaubte er höchstens seinen Kindern – und das auch nicht immer.
Ihr Vater würde natürlich niemals einen Menschen angreifen, wenn er es verhindern konnte. Aber Natalie sah es nicht gern, wenn jemand seine Wut an ihrem Vater ausließ. Denn auch wenn er die Verletzungen zu verantworten hatte, war es für Werwölfe durchaus üblich, dass einfache Streitereien in einem Kampf enden konnten. Es war nicht das erste Mal und würde auch nicht das letzte Mal sein, das so etwas passierte.
Sie nutzte die Wartezeit, um im Wohnzimmer wenigstens ansatzweise klar Schiff zu machen. Aus der Abstellkammer holte sie einen Handbesen und –schaufel, um die Scherben der zu Bruch gegangenen Glasvitrine zusammen zu kehren. Mike kümmerte sich bereits um die Pokale, Fotos und anderen Erinnerungstücke, die sie in der Vitrine aufbewahrten. Davon schien glücklicherweise noch alles heil zu sein – bis auf das Glas eines Bilderrahmens, das vorher noch keinen Sprung gehabt hatte.
Jacke, der bei solchen Aufräumarbeiten sonst eigentlich nie einen Finger krum machte, trug die Einzelteile des Couchtisches zusammen. Graham hatte sich einen Eimer Wasser und einen Lappen besorgt und beseitigte das Blut auf dem Fußboden.
„Tja“, sagte Carter, der sich auf die Stufen niedergelassen hatte und ihnen munter beim Aufräumen zusah, „der Teppich da“, er nickte zu dem Teppich, der einst unter dem Couchtisch lag, „ist wohl nicht mehr zu retten.“
Damit hatte er wohl Recht. Der weiße Teppich hatte sich an einer Ecke mit Blut voll gesaugt. Es sah fast schon kunstvoll aus, wie das Weiß mit dem saftigen rubinroten Blut harmonierte. Aber sicherlich keine gute Idee einen blutigen Teppich in einem Haus voller Werwölfe auszulegen. Blut macht sie nämlich hungrig. Außerdem war kein schöner Gedanke zu wissen, dass das Blut war. Ziemlich eklig sogar.
„Lass mich die Wunde doch wenigstens mal ansehen.“, hörte sie Javier vom oberen Absatz der Treppe.
„Nicht nötig.“, sagte ihr Vater, der jetzt die Treppe runter kam. „Das ist gleich wieder verheilt. Alles okay?“ Der letzte Teil war an Natalie gerichtet, die nur nickte. Er ging nicht weiter zur Kellertreppe, wie sie erwartet hatte, um sich zu überzeugen ob mit Alex alles okay war, wie er es sonst auch tat. Ihr Vater stand mitten im Raum und starrte die Haustür an, als würde er auf etwas warten.
Worauf auch immer er wartete, es ließ nicht lange auf sich warten. Der Besucher, der die Tür öffnete, kümmerte sich nicht darum erst einmal an zu klopfen, sondern kam einfach rein. Es war Justin. Er würdigte niemanden eines Blickes und ging Schnur stracks Richtung Keller. Aber nicht ohne ihren Vater an zurempeln – und er legte soviel Kraft wie möglich dahinter. Jacke musste ihm gesagt haben, wer hinter der Verwundung seines Vaters steckte.

Justin wusste, dass es dumm war, den Alpha eines Rudels Werwölfe vorsätzlich anzurempeln, noch bevor er überhaupt die Idee dazu hatte formen können. Dumm und kindisch, würde Dad sagen. Aber irgendwie musste er seiner Wut Ausdruck verleihen – selbst wenn er nicht hundertprozentig und nur auf Jerry, den Alpha wütend war. Und ihn Anzuschreien wäre nicht halb so befriedigend gewesen, wie körperliche Gewalt. Auch wenn es nur für ihn, Justin körperlicher Gewalt nahe kam. Der Werwolf würde es gerade mal als Windhauch wahrnehmen, der ihn streifte, dachte Justin.
Der Kampf hat im Wohnzimmer statt gefunden. Das verrieten ihm die Scherben, die Natalie zusammen kehrte. Hatte sie zugesehen, wie ihr Vater Dad angegriffen hatte? Vermutlich eher nicht. Einer der Wölfe hätte die menschliche und, im vergleich zu ihnen, zerbrechliche Tochter des Alphas aus dem Ring gebracht. Seinen besten Freund konnte Jerry angreifen. Aber seine Tochter konnte er nicht einmal zu sehen lassen, wie er es tat.
Wie er Dad kannte, würde dieser ihn dafür zurecht weisen, dass Justin groll gegen Jerry hegte, wegen dem, was heute war. Eigentlich wusste er auch, dass es nicht fair war. In Werwolf Kreisen ist es legitim, dass man vom Alpha bestraft wird, wenn man ihn anlügt.
Dad schlief – oder war immer noch bewusstlos. Die Blässe seiner Haut verriet ihm, dass er viel Blut verloren hatte. Nicht das erste Mal, dass er ihn so sah. Wenigstens waren die schlimmsten seiner Wunden am Heilen.
Justin lehnte sich mit seinen Armen durch die Gitterstäbe an die Zellentür. Werwölfe waren besser hinter Silberstäben weggesperrt, wenn sie verletzt waren. Meistens war es in der Gegenwart von verwundeten Wölfen nicht sicher.
Wäre jemand mit ihm hier unten im Keller, würde man Justin bis auf die andere Seite der Wand hinter ihm zerren. Sie wären der Meinung, dass Dad jeden Augenblick aufspringen könnte um an seinen Armen rum zu kauen. Es ist Scheiße ein sterblicher Mensch in einer Welt voller Werwölfe, Vampire und Hexen zu sein. Aber wenigstens wusste er, was da draußen war.
„Tut mir Leid.“ Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass es Natalie war. Sie hatte ihren Vater wohl dazu überreden können erst einmal mit ihm zu reden, damit er sich beruhigen konnte und nicht doch noch anfing den Alpha anzuschreien. Ihre Mühe war umsonst, in diesem Fall hatte er nicht die Intention zu schreien – jetzt jedenfalls nicht mehr.
„Was tut dir Leid?“ Trotzdem konnte er seine schlechte Laune nicht verbergen.
„Na, das.“ Hinter seinem Rücken – er hatte sich noch immer nicht zu ihr umgedreht und sie blieb an der untersten Stufe stehen – gestikulierte sie auf Dad. Er kannte Natalie gut genug, um zu wissen, dass sie sich für ihren Vater entschuldigte. Manchmal fragte sich Justin, wer hier eigentlich wen beschützte. Sie suchte immer nach Entschuldigungen für ihn. Sogar, wenn sie mal wütend auf ihn war.
„Ach, dann warst du das?“ Er musste zugeben, dass er etwas verbittert klang.
Natalie schwieg. Sie wusste, dass er keine Antwort erwartete.
„Es…“, sagte sie schließlich.
Es gab bestimmt einen guten Grund für den Kampf. Er wusste, was sie sagen wollte und konnte nur mit den Augen rollen. Klar gab es einen guten Grund für den Kampf. Justin kannte ihn sogar. Im Gegensatz zu ihr. Jerry hatte irgendwie erfahren, dass Dad mehr über die Vampire wusste, die sie heute gejagt hatten, als er zugab.
Lange konnten sie ihr Geheimnis nicht mehr verbergen, wenn sie nicht wollten, dass Dad wegen genau solcher Kämpfe stirbt. Wenn Dad nicht bald mit der Wahrheit rausrückte, würde es an ihm sein, dem Alpha alles zu gestehen.
„Ich weiß.“, sagte er und drehte sich schließlich zu ihr um. Heute wollte er jedenfalls noch nichts preisgeben. Und wenn sie weiter redete, würden die Wölfe, die oben mit ihrem Supergehör lauerten und lauschten, erraten, dass auch er etwas wusste. Die waren verdammt gut in so was. „Ich bin auch damit aufgewachsen.“
Natalie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sogar ihre dunkel braunen, fast schwarzen Haare waren zerzaust, als wäre sie gerade erst aus dem Bett gekommen. Nichts Ungewöhnliches zu dieser Morgenstunde. Sie hatte ein überlanges Rolling Stone T-Shirt (vermutlich eines ihrer Brüder oder ihres Vaters) und eine graue Jogginghose an. Ihr Schlafoutfit ähnelte seinem, das er auch gerade trug. Nur war es bei ihm ein Kiss T-Shirt und Boxershorts – natürlich hatte er eine Jeans angezogen, als er nach Jack´s Anruf das Haus verlassen hatte um her zu kommen.
Als sie merkte, dass Justin seine Augen von ihren Beinen bis zu ihren Augen laufen ließ, sah sie zuerst nervös auf den Boden. Dann fiel ihr wohl ein, dass es etwas gab dem sie ihre Aufmerksamkeit schenken konnte, ohne rot anzulaufen, und beobachtete Dad. Sein Leben lang mit Werwölfen verbracht zu haben, schulte ihn darin Mimik, Gestik und Körperhaltung genauer zu interpretieren, als es ein Mensch sonst getan hätte. Und ihre Mimik, Gestik und Körperhaltung verrieten ihm, dass sie zumindest ein bisschen in ihn verknallt war. Es tat ihm fast leid, dass sie für ihn nicht mehr als eine gute Freundin war – ja, fast schon eine Schwester.
Langsam schritt Natalie an die Zelle heran. Obwohl sie nah genug neben ihm stand, vermied sie es offensichtlich, dass sich ihre Schultern nicht berührten.
Ein paar Minuten verbrachten sie in Schweigen damit, Dad zu beobachten. Seine nackte Brust hob und senkte sich mit seiner Atmung. Justin vermutete, dass er unter der Decke auch nackt war. Wieso sollte sich jemand die Mühe machen ihm etwas anzuziehen? Wo es doch wahrscheinlich war, dass er sich aufgrund seiner Schmerzen wieder in seinen Wolf verwandelte und damit die Klamotten wieder zerschrederte.
„Ist er wach?“
Justin fuhr erschrocken hoch. Es war Jerry, der plötzlich hinter ihnen auftauchte. Seine Jogginghose, die er nach dem Kampf angezogen haben muss, hatte am rechten Bein einen riesigen Blutfleck. Sein nackter Oberkörper zeigte ein paar blaue Flecken. Dad hatte anscheinend auch den einen oder anderen Treffer gelandet. In seiner Hand hatte er einen Teller mit einem Sandwich in Werwolfgröße, was bedeutete, dass es groß und dick belegt war. Da es noch ganz war, war es wohl für Dad. Verletzte Wölfe mussten viel essen, um den Heilungsprozess der Wunden zu unterstützen und zu beschleunigen.
„Ja, ist er.“, antwortete Dad´s angestrengte und raue Stimme für sich selbst.
Aus fünf Yards Entfernung konnte Justin in Dad´s Wolfsaugen blicken. Ein saftiges Gelb starrte seinen Alpha an. Der Wolf wurde besser mit Schmerzen fertig, als die menschliche Hälfte.
„Geht nach oben, ihr beiden.“, sagte Jerry.
Natalie ging sofort. Justin blieb. Obwohl Natalie kein Werwolf war, und eigentlich nur Wölfe im Rudel aufgenommen wurden, wurde für sie eine Ausnahme gemacht. Jerry hatte die Zeremonie, die sonst nur für Wölfe war, zum Wohle des Rudels mit ihr durchgezogen. Weil sie ein normaler Mensch war, und er ein überfürsorglicher Vater, war er jedes Mal, wenn er nicht genau wusste, wo sie war, unruhig und unkonzentriert. In Justin´s Augen auch ein wenig paranoid und kontrollsüchtig. Das beeinträchtigte das Wohlbefinden des ganzen Rudels, da die Stimmung eines äußerst dominanten Alpha´s auf seine Wölfe übergehen konnte. Und das wäre immer mehr zu einer Katastrophe geworden.
Den Gipfel des Eisbergs erreichte die Situation mit Natalie, als vor etwa einem Jahr Sam aufgetaucht war. Sam war ein Werwolf, der eines Tages in ihr Territorium eindrang. Schon bei der ersten Begegnung mit ihr, hatte Sam sie zu seiner Partnerin auserkoren. Jeder Werwolf fand irgendwann in seinem Leben einen Menschen – oder einen anderen Werwolf – der wie für ihn geschaffen war. Zwischen den beiden herrschte dann eine Anziehungskraft, die wie Liebe war, aber irgendwie auch nicht. So wurde es ihm jedenfalls mal beschrieben.
Lange Rede kurzer Sinn: Sam war drauf und dran das Rudel zu zerstören und Natalie´s Vater und Brüder umzubringen. Als sie seine Pläne entdeckt hatte, hatte sie sich gegen ihren Partner und für ihre Familie und das Rudel entschieden und Sam mit einer Silberkugel in den Kopf getötet.
Die Folge war, dass Natalie trotzdem durch den Verlust ihres Partners am Boden zerstört und depressiv war. Sie aber in das Rudel aufgenommen wurde, weil sie dem Rudel einen großen Dienst erwiesen hatte und damit ihr Vater durch die geistige Verbindung, die zwischen den Mitgliedern eines Rudels entstand, immer wusste wo sie war und wie es ihr ging.
Jerry´s Knurren zog Justin aus seinen Erinnerungen und warf ihn wieder in den Keller des Alpha´s. Dort wurde er von diesem abwartend angestarrt, mit einer Hand ad der offenen Zellentür. Natalie wartete auf halben Weg nach oben und sah ängstlich aus. Eigentlich wollte er nicht gehen. Er hätte lieber mit Dad geredet. Wollte herausfinden, was genau heute Nacht passiert war. Und vor allem wollte er ihn vor den bohrenden Fragen des Alphas bewahren. Aber Dad´s leichtes Nicken signalisierte ihm, dass es okay für ihn war. Vielleicht war es ja auch halb so schlimm.
„Willst du was trinken?“, fragte Natalie ihn, als sie ihn in die Küche führte. „Oder was essen?“
„Kaffee.“, antwortete er und setzte sich an den Küchentisch. Es war schon bald halb drei Uhr Morgens und er wurde langsam richtig müde. Im Wohnzimmer waren mittlerweile nur noch Scott und Mike, die auf der Couch saßen und, wie Justin vermutete, dem Gespräch im Keller lauschten. In manchen Momenten würde er alles für ein Werwolfgehör geben. Der übernatürliche Geruchsinn hingegen reizte ihn nur wenig, da er nicht unbedingt scharf darauf war, üble Gerüche aus sonst wie weiter Entfernung riechen zu könne. Egal wie aufregend es war, wie viel Informationen man von Gerüchen ableiten konnte. Tod, Verletzungen, Anwesenheit und sogar Gefühle. Dad wusste immer ob Justin gerade wütend, ängstlich oder glücklich war.
Während Natalie sich daran machte Kaffee zu kochen, stellte sich Justin in den Türrahmen der Hintertür, die offen stand und sah in die Nacht hinein. Der Wald, der diesen Teil der Stadt umzingelte, grenzte am Grundstück des Alphas. Unter einem der Bäume schwirrte ein Schwarm Glühwürmchen umher. Irgendwie wirkten die kleinen Kerlchen glücklich, wie sie so auf und ab wirbelten.
Er hörte das klappern von Porzellan, als Natalie mehrere Tassen aus einem der Schränke holte. Der Kaffee ist bereits durch die Maschine gelaufen und verströmte ein warmes Aroma. Justin erinnerte sich, dass Natalie den besten Kaffee kochte.
Es hatte nicht den Anschein, als ob Jerry bald wieder aus dem Keller kam. Von Scott und Mike hörte er nur entfernte Ablehnung – sie hatten wohl kein Verständnis dafür, was sie aus dem Keller hörten.
Als Justin die Hintertür schloss und die Nacht aussperrte, um sich der heißen Koffeindröhnung, die auf ihn wartete hinzugeben, entdeckte, dass Natalie wie gebannt auf den Kaffeebecher starrte, den sie in der Hand hielt. Sie strich mit ihren Fingern über die Abbildung der Tasse. Beim Näher treten erkannte er was auf der Tasse stand und wem sie gehört hatte.
Sam.
Nachdem Sam gestorben war, hatten Jerry und seine Söhne alles vernichtet, was Natalie an ihren toten Partner erinnern könnte. Umso mehr verwunderte es Justin, dass ihnen Sam´s Tasse entgangen ist und erst nach zehn Monaten entdeckt worden war.
Justin hatte keine Ahnung wie es war einen Partner – im Werwolfsinne – zu haben, geschweige denn ihn zu verlieren – besonders, wenn man ihn eigenhändig getötet hatte. Aber es war offensichtlich, dass Natalie darunter litt. Ihre langen Haare verdeckten ihr Gesicht, doch er war sich sicher, dass sie weinte.
Ohne nachzudenken ging er auf sie zu, quälte die Tasse aus ihrer Hand und umarmte sie. Er wusste nicht, ob es eine gute Idee war, da sie doch in ihn verknallt war und er nichts weiter als Freundschaft für sie empfand. Oder ob er sie damit überhaupt trösten konnte. Aber wenn er so gar nichts unternehmen würde, käme er sich nur hilflos vor.
Natalie zitterte vor Schluchzern am ganzen Leib. Sein T-Shirt wurde an seiner rechten Schulter, wo ihr Kopf war nass von ihren Tränen. Sie klammerte ihre Arme um ihn, hielt ihn fest und weinte.
„Was zum-?“, fragte Mike, der gerade aus dem Wohnzimmer in die Küche geeilt war.
Als Antwort zeigte Justin ihm nur die Tasse und die Gesichter von Mike und Scott, der ihm gefolgt war, erhellten sich in Wissen.

Eine SMS weckte Justin am nächsten Morgen. Das Footballtraining, das ihr Coach für heute angesetzt hatte, wurde abgesagt. Gut, das letzte wofür er jetzt fit war, war hartes Training. Und es würde hart werden, da sie das nächste Spiel unbedingt gewinnen mussten, damit sie in die Play-Off´s kämen.
Den Rest der Nacht hatte Justin auf der Couch im Haus des Alphas verbracht. Er wäre nach Hause gegangen, wäre Dad nicht unruhig geworden, als er es tun wollte. Als er mitten in der Nacht aufgetaucht war, um sich zu vergewissern, dass es ihm gut ging, schien er noch ganz in Ordnung zu sein. Doch als er sich wieder auf den Weg machen wollte, verwandelte sich Dad in seine Werwolf Form und fing an in seiner Sicherheitszelle zu randalieren.
Justin war der einzige, der wusste warum sich sein Zustand soweit verschlechtert hatte, dass er die Kontrolle verlor. Er hatte bereits vermutet, dass es nicht irgendein Vampir war, der sich in ihr Territorium verirrt hatte. Dad´s Reaktion bestärkten ihm in den Verdacht, der in ihm schon aufkam, als Tanya ihnen von den blutleeren Leichen in der Gegend erzählt hatte. Es war der Vampir, der schon seit Jahren hinter seiner Familie her war. Dad hatte gehofft, dass sein Vater diesen einen Vampir aufgespürt und getötet hätte. Doch offensichtlich hatten sie sich zu früh gefreut.
Ein Knarzen auf der Treppe erregte seine Aufmerksamkeit. Natalie schlich die Treppe runter. Sie hielt inne, als ihre Augen auf Justin landeten. Entweder hatte sie nicht damit gerechnet ihn hier unten anzutreffen, oder ihn wach anzutreffen. Auch wenn sie so schnell wie möglich in der Küche verschwand und ihr Gesicht verbarg, hatte er ihre roten und verquollenen Augen erkennen können.
Jerry hatte Natalie gestern – oder besser gesagt heute Morgen – ins Bett gebracht. Justin hatte sie noch eine ganze Weile weinen gehört. Es dachten eigentlich alle, sie sei schon darüber hinweggekommen. Für einen Menschen dauerte es meist nicht so lange den Tod des (Werwolf-) Partners zu überwinden, als für einen Werwolf.
Er gab ihr etwas Zeit sich zu sammeln, bevor er ihr in die Küche folgte. Sie hatte schon wieder die Kaffeemaschine eingeschaltet und holte eine Pfanne aus einem der Küchenschränke. Eier und Speck neben dem Herd, verrieten ihm, was es zum Frühstück gab.
„Du hast hier geschlafen.“, stellte Natalie fest. Es klang fast wie eine Frage.
„Dad hatte Schwierigkeiten.“, informierte er sie. Sie war schon eine Weile im Bett gewesen, als Dad sich verwandelt hatte. „Und Mike hat mir die Couch angeboten.“
„Mike kann dich nicht ausstehen.“, sagte sie nach einer Pause, aus heiterem Himmel. Ein Small Talk Versuch.
„Ja, ich weiß“, musste er lachen. Warum, wusste er allerdings nicht. Wenn er darüber nachdachte, konnte er an nichts denken, was er Mike getan hätte, dass er ihn nicht mochte. Mit Sam hatte er kein Problem. Und der wollte ihm ans Leder. Natürlich wollte er ihn umbringen, als er erfuhr, was er vorgehabt hat, aber Natalie ist ihm zuvor gekommen.

Stillschweigend saß Natalie mit Justin zusammen beim Frühstück. Noch nie hatte sie sich so sehr gewünscht, dass das Haus so voll war wie sonst auch. Wo waren die ganzen Wölfe, wenn man sie mal brauchte?
Es war ihr peinlich mit Justin in einem Raum zu sein, nachdem sie sich noch vor ein paar Stunden an seiner Schulter ausgeweint hatte. Wegen eines Kaffeebechers. Völlig unerwartet viel ihr die weiße Tasse in die Hände, auf der die drei großen schwarzen Buchstaben prangten. SAM.
Erinnerungen überfluteten sie. Ihre erste Begegnung an diesem Waldweg. Ihr erster Kuss in Alex´ und Justins Wohnzimmer. Ihr erstes Mal mit Sam. Aber all das war vergessen, als sie sich an das Ende ihrer Beziehung erinnerte. Der eigentliche Grund, warum Natalie die Fassung verloren hatte. Nie wird sie vergessen können, wie er sie ansah und versuchte sie dazu zu bringen die Waffe mit der Silberkugel im Lauf weg zu legen. Genau diese Szene verfolgte sie immer noch bis in ihre Träume.
Auch wenn sie froh war, nicht mehr im selben Raum wie Justin zu sein, so war es doch keine befriedigende Lösung für sie alleine zu sein. Musik half nicht. Einen Fernseher gab es nur unten im Wohnzimmer, wo Justin sein würde (wenn er nicht bei seinem Vater im Keller war). Also warf sie ihren Computer an. Stella, ihre beste Freundin, würde um diese Zeit bestimmt online sein.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.05.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Wuhu, für alle Natalies dieser Welt - auch wenn sie keine Werwolf-Familie haben. Seid froh drum, die erschweren nur das Leben *augenroll*.

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