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Als sich die Tür des `Wilder` erneut an diesem Abend öffnete war es fast Mitternacht. Das ´Wilder´ war ein kleiner Club in New York. Es war kein besonders beliebter Club, was wohl daran lag, dass sich durch ein Leck im Dach ein unangenehmer Geruch breit machte, immer wenn es regnete. Der Besitzer hatte bisher nie daran gedacht den Schaden zu beheben, obgleich es sowieso seine finanziellen Mittel überstieg, was wiederum daran lag, dass ihm die Gäste ausblieben. Es ist ein ewiger Teufelskreis, aus dem der Besitzer des `Wilder` wohl nicht wieder herausfinden durfte.
Dennoch hielt der faulig schimmlige Geruch nicht alle willigen Partyfans ab sich dort sehen zu lassen, genau wie sie. Sie war neu in New York. Hier wollte sie ihr Glück machen … in der Liebe … in ihrer Kariere, die eigentlich noch nicht einmal begonnen hat. Sie kam her um spaß zu haben, um glücklich zu sein.
„Warst du früher nicht glücklich?“, fragte eine, ihr unbekannte Stimme neben sich.
Ein junger, attraktiver Mann saß plötzlich neben ihr. Sie konnte nicht sagen, wie lange er schon neben ihr saß. Sie hatte ihn nicht bemerkt … bis eben.
Er sah sie nicht an, aber sie wusste, dass er auf eine Antwort wartete. Sollte sie ihm Antworten? Wie kam er überhaupt auf diese Frage? Eigentlich ein schauriger Zufall, kaum hatte sie daran gedacht, was sie von New York erwartete, stellte dieser Fremde ihr solch eine Frage.
Jetzt sah er sie an. Er fing ihren Blick auf. Seine Augen waren dunkel und tief, so tief, dass sie sich in ihnen verloren fühlte. Er hatte etwas Anziehendes an sich. Doch konnte sie nicht sagen, ob es seine Augen waren oder vielleicht sein nahezu perfektes Gesicht … nein, es war nicht nahezu perfekt, es war richtig perfekt. Seine ausgeprägten Wangenknochen, seine blasse, wunderschöne Haut … Er ist bestimmt Model, dachte sie.
Ein lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. Damit wirkte er noch perfekter, als er ohnehin schon war. Er drehte sich wieder zur Bar, an der sie saßen und nippte an seinem Drink.
„Ich war nie so wirklich glücklich.“, antwortete sie endlich auf seine Frage.
„Was heißt `nie so wirklich`?“
„ Ich weiß auch nicht so genau. Ich glaube es hat mir immer irgendetwas gefehlt.“
„Geld?“
„Nein, nicht so etwas.“
„Was dann?“
„Freiheit?“ Sie antwortete mit einer Frage, da sie, wie sie schon zuvor sagte, nicht genau wusste was ihr in ihrem 19 jährigen leben fehlte. `Freiheit` zu antworten schien ihr das am nächste liegende, ging sie doch von ihrem Heimatnest in New Mexiko, wegen ihrer Eltern weg, die aus ihrer Zukunft etwas machen wollten, das ihr nicht gefiel.
„Freiheit … wollen wir nicht alle frei sein?“, sagte er in einem Anfall von Schwermütigkeit.
„Von was willst du befreit werden?“, fragte sie. Er machte sie neugierig auf ihn, auf seine Geschichte.
Plötzlich drehte er sich um. Sie versuchte herauszufinden, warum er sich so abrupt umdrehte. Da der Club nicht besonders beliebt war und aufgrund dessen kaum Leute da waren, konnte sie schnell ausmachen, wen er anstarrte.
Zwei, ebenso gut aussehende, junge Männer standen am Eingang und sahen zu ihnen herüber. Einer von beiden, der ältere, hatte schulterlanges, schwarzes Haar, der andere war blond. Sie hatten genauso blasse Haut, wie der, der neben ihr saß. Sie dachte, dass sie irgendetwas verband. Und damit meinte sie nicht ihre perfekten Gesichter. Es war etwas anderes.
Es erschien ihr so, als ob sie miteinander reden würden … ohne Worte … gut 15 Meter voneinander entfernt, in einem Raum, der mit lauter Musik erfüllt war.
„Ich bin gleich wieder da.“, sagte ihre neue Bekanntschaft, ohne sie anzusehen und ohne seinen Drink.
Er ging zu den beiden, die am Eingang des Clubs standen. Sie lag richtig, dass er sie kannte. Die drei verhielten sich so, als ob sie ziemlich gut miteinander bekannt wären. Sie unterhielten sich ein paar Minuten, dann gingen sie raus.
Sie hoffte, dass er wieder kommen würde, war er ihr doch noch eine Antwort schuldig. Sie bestellte sich noch einen Drink, denselben, wie der ihres neuen Bekannten. … Sie wusste nicht einmal seinen Namen – der des jungen Mannes, nicht des Drinks – das heißt, der des Drinks im Grunde genommen auch nicht.
Der Barkeeper schüttete einige Flüssigkeiten zusammen, sie konnte nicht erkennen, was er da in ihr Glas goss, aber es waren reichlich viele unterschiedliche alkoholische Getränke. Ihr wurde der Mix vorgesetzt. Sie wollte nicht fragen, was da alles drinnen war. Es war ihr irgendwie peinlich, etwas zu bestellen, von dem sie nicht wusste, was genau es eigentlich war.
Aber eines war auf jeden Fall sicher, dieser Drink hatte eine Menge Alkohol in sich, das verriet ihr ein kurzes Schnuppern daran. Sie rümpfte ihre Nase.
Als sie überlegte, ob sie den Drink wirklich trinken sollte, setzte sich ein anderer Mann neben sie. Er hatte dunkles Haar und etwas zu viel Gel darin – na ja, was heißt hier etwas. Der Typ hatte mindestens eine ganze Tube Gel in seinem Haar. Sie wünschte sich den attraktiven Kerl von vorhin zurück. Er hatte schönes Haar.
„Na, was ist? Willst du eine?“, sagte der Gelkerl und hielt ihr seine Hand hin. Auf seiner Handfläche lag eine kleine blaue Pille. „Die erste ist umsonst.“, fügte er hinzu. (auf Blog veröffentlicht)
Sie wusste genau was das für eine Pille war. Sofort musste sie an eine Schulveranstalung vor zwei Jahren denken, unter dem Motto `Just say no´. Und an die zahlreichen Vorträge ihrer Eltern zum Thema Drogen. Noch vor einem Jahr hätte sie so eine Pille strikt abgelehnt, doch ein Jahr ist eine lange Zeit. Sie griff zu. Sie drehte und wendete die kleine blaue Pille in ihren Fingern, noch nicht ganz sicher, ob sie sie wirklich nehmen sollte.
Die Entscheidung wurde ihr schnell abgenommen. Der junge Mann von vorhin, den sie sich zurück gewünscht hatte, saß wieder neben ihr und nahm ihr die Pille weg. Er lehnte sich zurück und warf sie dem Gelkerl, der sich mittlerweile aufgeregt hatte, ins Gesicht. Dann lehnte er sich wieder vor und trank seinen Drink auf ex aus. Er verzog nicht einmal sein Gesicht, keinerlei Regung auf den starken Alkoholgehalt.
Dann stand er auf, nahm sie an die Hand und sagte: „Wenn du immer noch wissen willst, wovon ich befreit werden will, dann komm mit.“
Es war nicht ihre Art, mit jemanden mit zu gehen, den sie gerade erst kennen gelernt hatte und von dem sie nicht einmal den Namen kannte. Aber das war etwas anderes, dachte sie zumindest. Er erschien ihr nicht gefährlich, also ging sie mit.
Als sie den Club verließen gingen sie nach links, die Straße runter. Es war nicht viel los auf den Straßen, obwohl dies New York war, die Stadt die niemals schläft. Vermutlich lag es an der Gegend, in der sie waren. Es waren nicht viele Clubs in der Nähe, um nicht zu sagen keine.
Sie gingen ohne ein Wort nebeneinander her. Er starrte gerade aus. Sie sah mal zu Boden, mal ihn an, traute sich aber nicht so recht das Schweigen zu brechen - Jedenfalls nicht lange.
„Also? … Wovon willst du befreit werden?“, fragte sie ihn.
„Noch nicht“, antwortete er nur.
Nach ein paar weiteren Schritten fing sie wieder an zu reden.
„Wohin gehen wir?“
„Hier lang.“, sagte er und zog sie in eine Seitengasse.
Beim Anblick dieser verlassenen Gasse wurde ihr schon ein wenig mulmig zumute, war ihnen doch niemand in der Nähe begegnet, der sie eventuell retten könnte, falls sie ihr erstes Gefühl über ihn doch trügen sollte. Sie musste zugeben, dass sie jetzt Angst hatte.
Er blieb stehen, packte sie und drückte sie an die Wand eines Gebäudes. Er sah ihr in die Augen. Seine Augen waren irgendwie erregt. Die Angst quoll in ihr immer weiter auf.
„Du brauchst keine Angst zu haben.“, hauchte er ihr ins Ohr. Sein Atem war kalt. Er strich ihr Haar von ihrem Nacken, strich mit seinen kalten Fingern darüber und küsste sie. Ihre Angst verflog.
Plötzlich verspürte sie einen Schmerz. Erst konnte sie nicht orten, von wo dieser Schmerz in ihren Körper drang. Doch dann machte sie die Ursache ihres unerwarteten Schmerzes aus. Es war eben diese Stelle, an der er sie küsste. Nur Küsste er sie nicht mehr, er biss sie, er trank ihr Blut.
Sie versuchte sich zu wehren. Er aber war um einiges stärker als sie. Es kostete ihn keine große Mühe ihre Arme mit nur einer Hand festzuhalten. Es dauerte auch nicht mehr lange, dann verlor sie immer mehr an Kraft. Alles vor ihren Augen verschwamm. Doch eines konnte sie noch erkennen, bevor sie das Bewusstsein verlor: Die beiden Typen aus dem Club standen ganz in der Nähe und sahen zu, wie sie getötet wurde. Mit all ihren letzten Kräften versuchte sie noch die beiden um Hilfe zu bitten, doch da war es schon zu spät, sie war tot.
Er ließ sie fallen, nachdem er ihre letzten Blutstropfen runter geschluckt hatte. An seinem Mund rann etwas Blut über sein Kinn. Er wischte es mit dem Ärmel seines Jacketts ab.
„Und? War sie gut?“, fragte einer der beiden Zeugen, der Blonde.
„Hätte besser sein können.“, antwortete der Killer.
„Du hast dich verändert, Henry.“, sagte er ältere der drei.
Henry ging auf die beiden zu und sah den älteren genau an. „Ach…“, sagte er.
„Lass ihn in Ruhe!“, mahnt ihn der Blonde. „Er hat Liebeskummer.“
Plötzlich packte Henry seinen blonden Freund am Hals und drückte ihn gegen die Wand.
„Sag das noch Mal…“, flüsterte in einem bedrohlichen Tonfall.
Der ältere ging zu der Leiche des Mädchens und sah sie sich an. Er schenkte seinen beiden Freunden keinerlei Aufmerksamkeit. Er ging lieber in die Hocke neben dem toten Mädchen und nahm mit seinem Finger die letzten tropfen ihres Blutes auf und probierte. Er hatte schon besseres Blut gekostet. Dieses hier war nichts Besonderes für ihn. Aber er kannte jemanden, der genau auf diese Art von Blut aus war, Miryam, seine adoptiv Mutter. Sie mochte das Blut, das nach nichts besonderem schmeckte.
„Du hättest Miryam etwas abgeben sollen. Sie mag doch das Zeug, das nach gar nichts schmeckt.“, sagte er zu Henry.
Henry ließ von seinem Freund ab. Er wusste eigentlich gar nicht so recht warum er in letzter Zeit immer mit den beiden nachts unterwegs war. Er hatte nie sonderlich viel mit den beiden zu tun gehabt. Das hieß nicht, dass er sie nicht mochte – aber das soll auch nicht heißen, dass er die beiden mochte. Über ein Urteil der beiden war er sich noch nicht im Klaren, obwohl er die beiden schon eine ganze Weile kannte.
Seit ihrem Umzug war er nicht mehr derselbe. Das bekam er nicht nur immer zu hören, er wusste es salbst auch am besten. Er hatte sich oft nicht mehr unter Kontrolle. Früher war er immer vehement dagegen, wenn ein Familienmitglied Jagd auf Menschen machen wollte. Er hielt es nicht für richtig Menschen zu töten, um überleben zu können. Heute allerdings war es ihm gleichgültig, wer starb, damit er weiter leben konnte. Dennoch wollte er nie zugeben, warum er sich so verändert hatte. Es war ihm nicht peinlich, nein, es machte ihn nur noch niedergeschlagener als er es sowieso schon war.
Stillschweigend ging Henry jetzt die Gasse entlang.
„Wohin gehst du?“, fragte der Blonde.
„Nach Hause!“, rief er ihm zu, ohne sich umzudrehen.
Und obwohl er noch nicht einmal in der Nähe der nächsten Ecke war, war er ganz plötzlich verschwunden. Seine beiden Freunde ließ er einfach zurück. Und das obwohl er von Wilhelm, sein Adoptivvater, gebeten wurde auf die beiden aufzupassen. Aber da ihm in letzter Zeit auch egal war was er trank, waren ihm Wilhelms Bitten auch schon vollkommen egal.
Henry kam in wenigen Minuten zu Hause an, obwohl es einige Meilen außerhalb New Yorks lag und er zu Fuß unterwegs war. Das Haus war groß und alt, inmitten eines weit reichenden Gartens. Es war schon lange in Wilhelms Besitz. Henry wusste nicht genau seit wann, es noch vor seiner Zeit. Wilhelm erzählte nicht viel über sein Leben bevor er eine Familie gründete. Das einzige was er von seiner Vergangenheit preisgab war, dass er nicht der erste ihrer Art war, aber durchaus einer der ersten.
Er ging rein. Er machte schnell aus, dass niemand im Erdgeschoss war, was normalerweise sehr selten war. Er schlich umher, um zu sehen, ob nicht doch jemand da war. Im Wohnzimmer waren die Vorhänge zu gezogen. Noten lagen durcheinander auf dem Boden neben dem Flügel. Henry dachte sich nichts dabei. Auch dachte er nicht im Entferntesten daran, die Notenblätter aufzusammeln. Er ging in die Küche, die niemals benutzt wurde. Die Chancen standen wohl am schlechtesten hier jemanden zu finden.
Plötzlich kam es ihm. Daisy, seine Schwester – seine richtige Schwester, war die einzige die Stunde um Stunde am Flügel verbrachte. Im Grunde war es schon eigenartig, dass sie jetzt im Moment nicht daran saß, ganz zu schweigen von den Notenblättern auf dem Boden. Er bekam Angst. Daisy ging es schon seit Tagen nicht gut. Sie war krank, nicht wie ein Mensch.
Er rannte nach oben, in das Zimmer seiner Schwester im zweiten Stock. Als er die Tür öffnete konnte er nicht genug erkennen um auszumachen was los war. Wilhelm kam ihm entgegen und schob ihn aus dem Zimmer.
„Was ist mit ihr?“, fragte Henry sogleich.
„Es geht ihr schlechter.“, antwortete Wilhelm in seinem gewohnt ruhigen Ton. Henry fragte sich, wie er in so einem Moment nur so ruhig sein konnte. Daisy ging es schlechter. Und das obwohl es ihr ohnehin schon so beklagenswert ging.
Henry konnte in Wilhelms Augen sehen, wie es um sie stand. Doch er wollte es nicht fassen, ehe man es ihm ins Gesicht sagte. Das wusste Wilhelm auch nur zu gut und er bedauerte es zu tiefst, dass es nun ihm oblag Henry zu sagen, dass …
„Sie hat das Stadium erreicht, in dem sie der Tod schon in wenigen Tagen ereilen wird.“, sagte er. „Auch wenn sie jetzt noch etwas trinken würde ...“ Doch er konnte es nicht weiter über sich bringen, weiter zu sprechen.
Es war auch nicht nötig, dass er weiter sprach. Henry wollte nichts weiter hören. Er zog sich in sein innerstes zurück, gab sich seinen Gedanken hin, seinen Sorgen. Er wusste warum Daisy so krank war. Ihres Gleichen waren leidenschaftliche Wesen. Es kam schon ein paar Mal in seinem Bekanntenkreis vor, dass man, wenn man jemanden verlor, den man mehr als alles andere liebte, verloren die meisten ihren Durst. Oft erholten sich Henrys Bekannte, doch nicht so in Daisys Fall. Sie verlor ihren Liebsten. Sie verlor ihren Durst. Sie verlor ihren Lebenswillen. Jetzt war sie so schwach, dass sie in nur wenigen Tagen verdursten würde.
Henry hatte schon oft versucht sie zum Trinken zu bewegen, jagte für sie sogar einen Menschen, doch es half alles nichts. Und seit sie Umgezogen waren, hatte er mit sich selbst zu tun … Diese Gedanken trieben ihn nun in die Schuld seine Schwester im Stich gelassen zu haben. Was er jetzt, wo er sich sicher sein konnte bald keine Schwester mehr zu haben, nicht mehr leugnen konnte.
Er wurde von Wilhelm aus seinen Gedanken gerissen, der ihn jetzt an seinem Arm packte, um ihn in Daisys Zimmer zu führen, die ihn jetzt sehen wollte. Er fürchtete sich vor der Begegnung mit ihr. Er fragte sich ob er weinen würde.
Als er so darüber nach dachte musste er feststellen, dass er noch nie seines Gleichen hat weinen sehen.
„Henry …“, flüsterte eine leise, schwache Stimme. Hätte er ihre Lippen sich nicht bewegen sehen, hätte er nicht geglaubt, dass es seine Schwester war, die sprach.
Sie zwang sich ihm zu liebe zu einem Lächeln. In ihren Augen sah er, dass sie ganz genau spürte, dass sich ihr Leben dem Ende zu neigte. Wie sie da lag, so zerbrechlich, schwach und ausgemergelt – ausgemergelter als normal, tat ihm weh. Er wollte sie niemals so sehen müssen. Er hätte nie gedacht, sie so zu sehen.
Langsam trat er näher an das Bett, auf dem sie lag. Miryam und Eliza, die bei ihr waren, verließen den Raum. Henry setzte sich neben Daisy und nahm ihre Hand. Er streichelte ihre kalte Hand, mit seinen ebenso kalten Fingern. Er sah ihr in die Augen.
„Was ist passiert?“, fragte er.
„Du weißt … was passiert ist.“, antwortete sie.
Und sie hatte Recht. Er wusste was passiert war. Er wusste alles von Anfang an. Dass sie sich vor neun Jahren in einen ihres Gleichen verliebt. Nur dass dieser zu einer anderen Familie gehörte. Einer Familie, die der ihren schon einige Jahrzehnte lang nicht sehr wohl gesinnt war. Arthur war sein Name. Und wie sie ihn liebte, so liebte auch er sie. Doch seine Familie sah es nicht gern, dass Arthur sich mit Daisy einließ – natürlich erhob auch Wilhelm seine Einwände, doch nicht so wie Xavier, Arthurs Familienoberhaupt. Xavier stellte ihn vor die Wahl. Entweder er verließ Daisy oder er würde sterben, er sei es ihm schuldig. Er verließ Daisy, starb aber trotzdem. Auch wusste Henry, dass auch Arthur so schwach war wie Daisy jetzt, doch trotzdem hatte Xavier ihn töten lassen.
Seit drei Wochen war er jetzt tot. Und seit drei Wochen hatte Daisy endgültig ihren Lebenswillen verloren. Und auch seit drei Wochen wusste er, dass er sich bald von ihr für immer verabschieden musste. Jetzt war es wohl soweit.
„Wie geht es dir?“, fragte er sie.
„Nicht so gut.“ Ihr Lächeln behielt sie bei. Henry erkannte, dass es kein falsches Lächeln war. Sie lächelte wirklich. Nicht im Entferntesten konnte er sich vorstellen, was sie für einen Grund haben könnte zu lächeln.
„Wie lange …-“, fragte er.
„… hab ich noch?“, vollendete sie seine Frage, denn er hätte es nicht selbst fertig gebracht. „Höchstens noch … ein paar Tage.“, sprach sie weiter. „Ich spüre es …“
Er saß noch eine Weile so dar, ganz still, ohne etwas zu sagen. Auch sie sagte nichts. Sie konnten spüren, was der jeweils andere dachte. So lange lebten sie nun schon zusammen.
Irgendwann verließ er sie dann. Er konnte nicht länger bei ihr sein, zusehen wie es ihr von Minute zu Minute schlechter ging. Er schlich die Treppe runter, damit die anderen, die sich im Wohnzimmer versammelt hatten, ihn nicht hörten. Er konnte und wollte jetzt niemandem begegnen. Leise ging er durch die Küche nach draußen auf die Steinverander hinter dem Haus.
Der Morgen brach an. Die Dämmerung begann. Das Gezwitscher der Vögel setzte ein. Ein Nebelschleier hing über dem taunassen Gras. Die Morgenluft war so kalt, dass es wehtat, wenn er tief einatmete. Aber vielleicht tat es ihm auch nur weh an Daisy zu denken. In den letzten drei Wochen hatte er sich oft gefragt, ob er noch weinen konnte – jetzt wo er …
… er konnte. Ein Träne ran ihm seine kalte, hohle Wange runter. Er konnte es nicht glauben, ehe er diese eine Träne nicht auffing. Seit Jahren hatte er nicht geweint, schon so lange, dass er nicht mehr wusste wie es sich anfühlte.
„Hier bist du!“, sprach eine Stimme vom Haus hinter ihm.
Als Henry sich umdrehte erkannte er Marcus. Es war mittlerweile hell genug, dass er seinen Gesichtsausdruck genau sehen konnte. Er sah besorgt aus. So hatte er ihn noch nie gesehen. Marcus war niemals der Typ gewesen, der sich sorgen machte. Er lebte immer nur in seiner eigenen Welt, zusammen mit Eliza.
„Sag Bill ihr braucht euch keine Sorgen um mich zu machen.“, sagte Henry. „Kümmert euch lieber um Daisy. … Mir geht es gut.“, log er.
Er entfernte sich vom Haus und hörte, wie Marcus wieder zurück ins Haus ging. Henry ging und ging und versuchte an nichts zu denken. Es gelang ihm nur schwer, aber die Gedanken über seine Schwester konnte er erfolgreich zurückhalten. Wenn auch nicht für lange. Er fürchtete eine weitere Träne zu verlieren, wäre Cyril nicht plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht.
„Hat Bill dich etwa auch geschickt?“, fragte er ihn.
„Nö – wieso?“, war Cyrils Antwort. „Ist was passiert?“
„Daisy geht es schlechter.“
„Hm. Blöde Sache.“ Unsensibel wie immer. „Die Polizei hat deine Leiche ziemlich schnell gefunden.“
„ … Und?“ Was wollte er damit sagen, fragte sich Henry.
„Nichts und. Ich dachte du willst es vielleicht wissen.“
„Ist mir vollkommen egal.“
Henry ging weiter, bis das Grundstück zu Ende war und er die Steinmauer erreichte, die den Garten von einem Wald trennte, der hinter dem Haus lag. Cyril folgte ihm. Henry jedoch wäre es lieber gewesen, wenn er ihn alleine gelassen hätte. Aber er wollte nichts sagen. Cyril und er hatten nie ein wirklich gutes Verhältnis. Sie stritten sich unentwegt, wegen so ziemlich jeder Kleinigkeit. Und jetzt hatte er absolut keinen Nerv dazu sich wieder einmal mit ihm zu streiten, hatte er doch ganz andere Probleme – was ihn wieder auf das Thema brachte, dass er eigentlich aus seinem Kopf streichen wollte – wenigstens für ein Stunde oder auch zwei.
Es war jetzt schon fast sieben Uhr morgens und die Sonne stand dem entsprechend hoch. Henry setzte sich auf die Steinmauer, mit Blick in den Wald. Er konnte nichts dagegen tun, aber Cyril setzte sich direkt neben ihn. Irgendwie beschlich Henry das leise Gefühl, dass er irgendetwas von ihm wollte. Er beobachtete ihn aus seinen Augenwinkeln. Cyril tat nichts. Er saß da, wie Henry und starrte sinnlos in den Wald, wie Henry – oder zumindest, wie Henry es ihm vormachte. Was will er nur, fragte er sich. Bisher hatte er jedenfalls nie Henrys Gesellschaft gesucht.
Jetzt stand er auf – Cyril, nicht Henry. Henry sah ihn an. Er schien etwas zu sehen, hinter den Bäumen. Obwohl es mittlerweile hell genug sein musste, um problemlos in dem Wald etwas zu erkennen, konnte Henry nichts entdecken.
„Was ist denn da?“, fragte er Cyril, denn er wurde neugierig.
„Wirst du gleich sehen.“, war seine Antwort. Er spähte immer noch in den Wald, das zu beobachten, dass für Henry noch immer unsichtbar war.
Die Neugier in Henry wuchs immer weiter an. Er fühlte sich seiner Schwester gegenüber schuldig, dass er jetzt freudig erregt war.
Jetzt konnte er etwas erkennen. Die Silhouette einer Person. Es dauerte ein wenig, bis er mehr als nur eine Silhouette feststellen konnte. Den langen Haaren nach zu urteilen war es ein Mädchen. Sie trug einen Mantel und eine Mütze, soweit er es sehen konnte. War es eine neue `Freundin` von Cyril? Nein, wohl eher nicht. Willhelm mochte es nicht, wenn sie jemanden mitbrachten und Cyril wusste das. Er machte sich zwar nicht viel aus Regeln oder der gleichen. Doch wenn Willhelm etwas verbat, dann hörte sogar Cyril auf ihn. -
Ein vertrauter Geruch machte sich in Henry Nase breit. Er wusste genau, zu wem dieser Geruch gehörte. Nicoletta. Die Figur, die sich langsam auf sie zu bewegte, passte genau auf sie. Doch was tat sie hier? Wie kam sie nur hier her? Und vor allem, wie hatte sie ihn gefunden?
Vor zwei Monaten hatte er sie verlassen. Als sie umgezogen sind hatte er sich nicht einmal von ihr verabschiedet, geschweige denn ihr gesagt, wo sie hinziehen wollten. Er hatte es für besser gehalten sie einfach so zurück zu lassen. Sie hätten keine Zukunft zusammen gehabt, da er niemals gealtert wäre und ihr Leben nur ein winziger Bruchteil des seinen war. Er hätte sie altern sehen müssen, sie sterben sehen müssen und hätte sie begraben müssen. Er hätte einfach weitergelebt … oder wäre ihm dasselbe widerfahren, wie Daisy? Hätte er seinen Lebenswillen wegen der für immer verloren gegangenen Liebe zu Nicoletta aufgegeben? War ihre Liebe überhaupt so stark, so intensiv? Nein, dachte er. Er hatte nicht einmal an die Eine andere Lösung dieses Problems gedacht: Sie zu dem machen, was er bereits seit so vielen Jahren schon war.
Doch hätte er ihr so ein Leben, das im Grunde doch kein Leben war, antun können?
Er ging schnellen Schrittes auf sie zu. „Was willst du hier?“, fragte er sie, als sie in hörweite war.
„Henry.“, sagte sie nur. Sie schien sich zu freuen ihn wieder zu sehen, was man dem Gesichtsausdruck von Henry nicht zu sagen konnte. Er wollte sie nicht sehen – nicht hier, nicht bei ihm.
„Du solltest nicht hier sein!“, rief er aufgebracht.
„Henry … Ich-“, finge sie an.
„Nein! Geh zurück nach Hause!“
Er drehte sich um und ging. Als er an Cyril vorbei ging sah er ihn kurz an. „Du wusstest, dass sie hier ist?“
Cyril zuckte mit den Schultern, hatte aber ein breites Grinsen im Gesicht. Er wusste es. Henry konnte sich sogar vorstellen, dass er sie hergeholt hatte, nur um ihn zu provozieren. Er wollte Cyril anspringen und schlagen. Es wäre eine Genugtuung für ihn gewesen. Seine jetzige Wut und Frustration an ihm auszulassen, hier und jetzt. Aber nein. Wilhelm hätte es sicherlich nicht gern gesehen. Er war immer der Auffassung, innerhalb einer Familie sollte man nicht streiten, kämpfen oder hassen.
Henry sprang über die Mauer und wollte einfach nur weg. Weg von ihr, die sie einfach aus heiterem Himmel auftauchte, an einem Tag wie diesem, wo er doch besser daran tat sich um seine Schwester zu kümmern.
Nicoletta ließ sich aber nicht so einfach abschütteln. Sie lief hinter ihm her, versuchte ihn zum Anhalten zu bewegen, ihn dazu zu bringen, ihr zu zuhören.
„Bitte. Bleib doch stehen. - Hör mir einfach zu. - Es dauert auch bestimmt nicht lange.“, flehte sie.
Er aber ging weiter, ignorierte sie, tat so als würde es ihn nicht bewegen, dass sie hier war, zu so einem Zeitpunkt, an dem er durchaus etwas Nähe zu einem Geschöpf haben wollte, dass er liebte. Jemanden, der ihm darüber hinweg helfen könne, dass er bald auch den letzten Rest richtiger Familie verlieren würde.
„Ich dachte, du liebst mich!“, rief sie. Sie blieb stehen, in der Hoffnung, dass auch er stehen bleib, sich umdrehte und sie in den Arm nahm, so wie sie es sich gewünscht hatte.
Ihre Hoffnungen schienen sich zu erfüllen. Er blieb stehen. Er drehte sich um. … Aber er kam nicht auf sie zu. Umarmte sie nicht.
Ausdruckslos sah er sie an. Hinter ihr stand Cyril, beobachtete die Szene zwischen den beiden genau, blieb aber im Hintergrund.
Henrys Gedanken kreisten um ein Wort. Er wollte es aber nicht aussprechen, es nicht denken. Aber all seine Gedanken kreisten darum, dass er es gefühlt hat, es immer noch fühlte – und das gefiel ihm nicht. Er wusste auch, dass er es vermutlich noch sehr, sehr lange fühlen würde, wenn er nichts dagegen unternehmen würde.
„´Tu ich nicht!“, sagte er. Es war schlecht gelogen. Niemand würde es ihm glauben. Nicoletta nicht, Cyril nicht und er selbst glaubte er sich auch nicht. Dennoch setzte er seinen Weg fort, hinauf zum Haus. Er hatte nicht auf ihr Gesicht geachtet. Hatte nicht gesehen, dass es sie traf, dass es ihr wehtat, auch, wenn sie wusste, dass er log. Warum tat er nur so etwas, fragte sie sich, warum log er, was konnte er für einen Grund haben.
Sie ließ ihn gehen. Ihn so zu sehen, so zu erleben – so kalt und aufgebracht, verletzte sie sehr.
Zurück im Haus lehnte sich Henry gegen die Tür, die er gerade hinter sich geschlossen hatte. Er atmete einmal tief durch. Auch ihm tat es weh, sie anzulügen. Nichts wollte er so sehr, als sie in die Arme zu schließen und sie zu küssen. Aber er konnte es nicht. Es war zu kompliziert – für ihn zumindest, Nicoletta mochte es vielleicht anders sehen, aber für ihn war es klar. Eine Zukunft mit ihr gab es nicht.
Er tat sich schwer sich wieder aufzurichten. Die Küche, in die er von draußen eingetreten war, war wie gewöhnlich leer und unbesetzt. In diesem Raum konnte man immer alleine sein. Aber wollte er das? Wollte er alleine sein?
„Henry?“, unterbrach ihn eine Stimme. Es war Eliza.
„Geht es ihr wieder schlechter?“, fragte er sofort.
„Nein, es geht nicht um Daisy. … Ich wollte eigentlich nur fragen, was Nicoletta hier macht?“
„Sag Bill, sie wird gleich wieder verschwinden.“ Er kannte Wilhelm lange genug, um zu erahnen, dass er Eliza geschickt hatte. Wenigstens setzte er ihn nicht unnötig unter Druck und fragte nicht selbst nach. Auch, wenn Henry sein erklärter Liebling war, so duldete er selbst bei ihm keine Ausnahmen seiner `Regeln`, nämlich die, dass sie niemand Außenstehenden mit nach Hause bringen durften, selbst, wenn sie ihr Geheimnis kannten.
Henry und Eliza gingen zusammen in das Wohnzimmer, wo alle zusammen saßen. Niemand war bei der Kranken Daisy, weil sie alleine sein wollte. Sie wollte ihren Erinnerungen an Arthur nachgehen, was ihr aber zunehmend ihre Kräfte raubte. Doch es war ihr mittlerweile gleichgültig. Sie wusste immerhin schon, dass es bald vorbei sein würde, ihre inneren Qualen, die ihr zugetragen worden waren und sie immer noch so sehr folterten.
Wilhelm las in einem seiner Lieblings Bücher. Eliza setzte sich wieder zu Marcus, bei dem sie zuvor auch schon saß und welcher seinen Arm um sie legte. Miyam saß am Flügel, ordnete die Notenblätter und betätigte hin und wieder eine Taste. Victor war nicht da. Er war wohl immer noch unterwegs, seinen Durst stillen. In letzter Zeit hatte er immer fort Durst, es schien, dass er ihn nicht mehr stillen konnte.
Wilhelm machte sich schon sorgen um ihn. Es war nicht normal, dass einer ihres Gleichen unentwegt durst hatte. Dennoch konnte er es sich nicht erklären.
Plötzlich waren Geräusche zu hören. Ihren Ursprung fanden sich im zweiten Stock, vermutete Henry. In dem Stock, in dem Daisy lag. Er hastete die Treppen hinauf. Erst in die erste Etage, dann in die zweite Etage. Wilhelm und die anderen waren ihm auf den Fersen. Henry öffnete hastig die Tür zu Daisys Zimmer.
Dort standen zwei Fremde. Sie standen an Daisys Bett, die sich an die Wand gekauert hatte. Der eine, der die Hand zu Daisy aus streckte, hatte dunkles Haar, das ihm ins Gesicht fiel. Er trug einen langen schwarzen Mantel aus Leder. Der andere hatte kurzes, stoppeliges, rotes Haar und trug ein Muscleshirt, das seine Muskeln zeigte. Er schien sehr von sich überzeugt. Das war von seinem Gesichtsausdruck her abzuleiten. Henry wusste, wer sie waren – oder besser gesagt, von wem sie geschickt worden waren. Xavier.
Seine Augen verengten sich, als er auf sie zuschritt, Wilhelm und Marcus in seinem Nacken. Henry musste sich nicht groß anstrengen um bedrohlich zu wirken. Wenn es um seine Schwester ging war es für ihn ein einfacher Reflex so zu wirken.
„Ihr verschwindet besser von hier.“, forderte Wilhelm sie auf. Er trat jetzt vor Henry und hielt ihn zurück. Er wollte hier nicht kämpfen müssen. Hier, wo Daisy lag und zusehen musste. Er wollte es ihr in ihrem Zustand nicht zumuten, war sie doch schon seit so langer Zeit seine `Tochter`, die er liebte, als wäre es seine richtige Tochter.
Die beiden Fremden machten keine anstallten sich fort zu bewegen. Wilhelm bedeutete Daisy, sie solle den Raum verlassen. Es bedeutete eine große Anstrengung für sie dieser Aufforderung nach zu kommen, denn sie war zusehendlich schwächer geworden. Sie stolperte durch das Zimmer und wurde von Miryam an der Tür aufgefangen und raus getragen. Weder die beiden Fremden, noch Wilhelm, Henry oder Marcus rührten sich. Sie starrten sich gegenseitig in die Augen, warteten darauf, dass Daisy den Raum verlassen hatte.
Mit dem Schließen der Tür sprang der Rothaarige auf Wilhelm zu und warf ihn zu Boden. Marcus eilte ihm zur Hilfe. Er versuchte Wilhelms Gegner von ihm runter zu ziehen.
Henry hingegen starrte den Anderen, den Dunkelhaarigen nur an. Keiner der beiden rührte sich, während die anderen drei miteinander kämpften.-
Dann, plötzlich sprang der dunkelhaarige Fremde rückwärts durch das Fenster. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis Henry hinter ihm her sprang. Er wusste, was er vorhatte. Sich einfach so aus dem Staub zu machen, wie ein dreckiger Feigling, dachte er. Aber das wollte er ihm nicht durchgehen lassen. Erst griff er Daisy an und dann wollte einfach verschwinden. So ging das nicht, dachte er, so nicht.
Der dunkelhaarige eilte auf den Wald zu. In Henry keimte ein schneller Gedanke auf, eine Frage. War sie noch da? Sie war ein Mensch. Schwach. Zerbrechlich. Sterblich. Zudem ein Mensch, der ihm immer noch sehr wichtig war, auch wenn er es sie nicht wollte spüren lassen. Er hoffte sie hätte seiner Forderung folge geleistet und ist verschwunden – auch wenn sie unmöglich sehr weit gekommen sein konnte. Doch selbst wenn der Fremde auf sie treffen sollte, war nicht noch Cyril bei ihr? Er ist nicht ins Haus gekommen, als Henry mit den anderen im Wohnzimmer saß. Er ist nicht in Daisys Zimmer gekommen, als sie die Geräusche hörten. Also war es durchaus möglich, dass er noch bei ihr war.
Sie erreichten den Wald hinter dem Haus. Niemand war da. Das war schon mal ein gutes Zeichen, dachte er. Jetzt konnte er sich erst einmal darauf konzentrieren, den Eindringling zu stellen und, was noch wichtiger für ihn war, zu bestrafen. Niemand durfte seine Schwester ungestraft ängstigen.
Der Fremde blieb stehen. Er drehte sich um. Anscheinend hatte er genug davon wegzulaufen. Er stand da und wartete auf Henry, der nur knapp hinter ihm gewesen war. Henry aber blieb nicht stehen. Er griff den Fremden sofort an, rannte ihn um und warf ihn zu Boden. Der Fremde aber nutzte den Schwung, den Henry mitbrachte und rollte ihn Kopfüber, sodass er nun oben war. Mit der einen Hand packte Henry am Kragen und mit der anderen schlug er ihm ins Gesicht.
Seine Wange pochte vor Schmerzen. Er war stark. So stark wie der andere ausgesehen hatte.
Er musste noch einige Schläge im Gesicht einstecken ehe er sich von ihm befreien konnte. Henry stieß ihn von sich und stand sogleich auf, um sich zu sammeln. Sein Gesicht pulsierte vor Schmerz, aber er ließ es sich nicht anmerken. Der Fremde stand jetzt ebenfalls auf seinen Beinen und grinste ihn an. Er wusste, dass er Henry überlegen war. Henry selbst wusste es auch. Schon der erste Schlag hatte ihn verraten, dass er wohl keine Chance gegen ihn hatte.
Aber seine Wut war so groß, dass er sich nicht zurückziehen wollte. Er wischte sich das kalte Blut von seiner Nase und stürzte in sekundenschnelle wieder auf seinen Gegner zu. Er fühlte sich wie in einer Art Trance. Er fühlte sich hohl und wollte einfach nur seinem Ärger Luft machen. Wobei ihn dieser Kerl gerade recht kam.
Sie prügelten gegenseitig aufeinander ein. Ein Schlag in die Magengegend. Ein Schlag auf die Brust. Ein Schlag in sein Gesicht. Henry hatte kein erbarmen. Seine Wut war grenzenlos.
Dann erhielt plötzlich wieder sein Gegner die Oberhand. Er bäumte sich wieder auf und warf Henry mit einem gekonnten Fußmanöver zu Boden. Er benutzte sein gesamtes Gewicht, um Henry daran zu hindern, sich wieder frei zu bekommen. Er beugte sich zu ihm runter und fletschte ließ seine Reiszähne heraus wachsen.
„Was wolltet ihr von Daisy?“, fragte Henry ihn, während er versuchte sich aus seinem Griff zu befreien.
„Xavier deutete an, er wolle sie tot sehen.“, hauchte er in sein Ohr. „Er will euch alle tot sehen.“
Diese Worte verursachten, dass Henry sich noch einmal mit all seiner Kraft auflehnte, um sich zu befreien. Doch es half nichts. Der dunkelhaarige Fremde kam nur im geringen Ausmaße ins Straucheln, behielt Henry aber im Griff.
Aus seinem Mund ragten zwei lange, spitze Zähne. Wollte er Henry etwa beißen? Als er darüber nachdachte, was ihm unter den gegebenen Umständen äußerst schwer fiel, wusste er nicht, was passieren würde, wenn er noch einmal gebissen wurde. Würde es etwas ändern? Konnte man ihn damit umbringen? War es für ihn immer noch Gefährlich von einem seines Gleichen gebissen zu werden? Tja, er würde es wohl bald herausfinden, wenn nicht gleich etwas geschah.
Sein Gegner packte ihn an seinem Haar und streckte seinen Kopf zur Seite, so wie er es immer bei seinen Opfern tat. Henry konnte sich nicht wehren. Er wusste nicht, was er noch tun konnte. Er war zu schwach, das war ihm schon klar geworden. Er sah dem Ungewissen jetzt entgegen.
Plötzlich, als der Fremde nur noch Millimeter von Henrys Hals entfernt war und kurz davor war zuzubeißen, hob er seinen Kopf, als hätte er gerade jemanden in der Nähe gehört.
Nicoletta, dachte Henry. War sie noch in der Nähe? Er wusste weder wie tief sie im Wald waren, noch wusste er, wie weit sie gekommen war, geschweige denn ob sie überhaupt gegangen war. Vielleicht war sie zusammen mit Cyril bald nach ihm ins Haus gegangen. Es nützte nichts darüber nach zu denken, er konnte sowieso nicht viel unternehmen, zumindest nicht von hier aus. Er musste sich irgendwie befreien.-
Und schon war es nicht mehr nötig. Er war weg. Ganz plötzlich verschwunden. Einfach so … Doch wo war er? War Nicoletta vielleicht in Gefahr?
Henry sah sich um. Wo mag er nur hin sein? Er war so schnell, dass er nicht einmal sehen konnte in welche Richtung er verschwunden war. Jetzt blieb ihm nur noch eines.
Henry schloss die Augen, versuchte sich zu konzentrieren und strengte sich an Nicoletta aufzuspüren. Ihren Geruch hatte er immer noch in der Nase. Er erinnerte sich genau an ihren süßlichen, warmen Duft, den er schon lange vermisste. Doch was er jetzt tat, war auch sehr gefährlich, wenn er nicht aufpasste. Um den Duft eines Menschen aufzuspüren musste er seinen Jagd Instinkt einschalten. In diesem Zustand hatte er sich nicht mehr richtig unter Kontrolle, er ließ sich von seinen Trieben lenken. Oft war es so, dass er sich nicht einmal mehr am nächsten Tag, was er in so einer Situation getan hatte.
Es kostete ihn viel Energie und vor allem Konzentration die Kontrolle über sich selbst nicht zu verlieren. Er könnte es sich nie verzeihen, Nicoletta in diesem, seinen Zustand zu verletzen. Er fürchtete sich davor, dass sie ihn so zu Gesicht bekam. Aber es war die einzige Möglichkeit sie so schnell wie möglich zu finden, noch bevor dieser Kerl sie fand.
Jetzt hatte er eine Spur. Sie war nicht weit entfernt. Doch eines verwirrte ihn. Der fremde Angreifer war nicht einmal in ihrer Nähe, geschweige denn dass er sich auf sie zu bewegte. Er musste etwas anderes gehört haben, denn Henrys Sinne ließen ihn nie im Stich. Hier muss noch jemand anderes sein.
Er atmete kurz tief durch um seinen Jagdinstinkt wieder zu unterdrücken, den er hier jetzt wohl nicht mehr brauchen würde, worüber er froh war, denn er hasste es normalerweise sich nicht unter Kontrolle zu haben, außer er wollte sich selbst von irgendetwas ablenken.
Henry sah sich um. Er wollte diesen Kerl unbedingt in die Finger bekommen. Hier irgendwo musste er noch stecken, das konnte er spüren. Noch befand sich dieser Fremde in diesem Wald und solange das der Fall war, sollte es für Henry ein leichtes sein, ihn aufzuspüren, - oder zumindest leichter, als ihn bei Xavier zu suchen. Damit stünden seine Karten eher schlecht, mehr als schlecht. Würde er bei Xavier auftauchen, wäre er vermutlich in null Komma nichts tot. Wie der Angreifer zuvor schon sagte, Xavier wollte sie alle tot sehen.
Henry fragte sich, wo er so durch den Wald streifte, warum Wilhelm und Xavier sich so sehr hassten. Gehörte die Antwort darauf vielleicht sogar zu Wilhelms großem Geheimnis, worüber er nichts wusste, sich aber mehr als sicher war, das es eines geben müsse, gehörte? Die anderen hatten keine Ahnung, dass es ein Geheimnis gab, das wusste er genau. Doch Henry, dem Wilhelm am meisten vertraute, hatte schon sehr früh erkannt, dass Wilhelm ihnen irgendetwas verheimlichte. –
Wie aus dem Nichts verspürte Henry abrupt einen ungestümen Druck in seinem Rücken, der ihn wieder zu Boden stieß. Er konnte erst gar nicht atmen. Irgendetwas oder irgendjemand drückte ihn h

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Tag der Veröffentlichung: 20.05.2011

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Widmung:
Für dich, meinen Leser.

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