Cover

1.


Wenn sich eine Türe schließt …


„Es tut mir so leid.“, sagte irgendjemand zu mir. Ich konnte es nicht mehr hören. Meine Eltern sind tot. Was sollen da noch die sinnlosen Worte „Es tut mir so leid“ ändern – oder auch nur lindern. Niemand konnte sie mir zurückbringen. Sie sind verloren, tot.
Es war ja ganz nett, dass die Freunde und bekannten meiner Eltern und mir, mir ihr Beileid bekundeten, aber konnten sie denn nicht verstehen, dass ich ganz einfach alleine sein wollte. Wieso erwartete man nur von mir hier auf der Trauerfeier meiner verstorbenen Eltern anwesend zu sein?
Die Frau – aus meiner Apartheid konnte ich erkennen, dass es unsere langjährige Nachbarin Mrs Newly war – starrte mich immer noch mit bekümmerter Miene an. Erwartete sie etwa eine Antwort?! Das kann doch nicht ihr Ernst sein!
Ich setzte ein gequältes Lächeln auf. Sie hat es ja nur gut gemeint, dachte ich, dann gebe ich ihr eben das, was sie wollte.
Doch jetzt wurde es mir zuviel. Mehr konnte ich nun wirklich nicht mehr ertragen. Langsam erhob ich mich von der Couch in unserm Wohnzimmer, auf der ich mich zurückgezogen hatte, in der Hoffnung man würde mich nicht sehen. Ich schob mich an den Trauergästen vorbei, in die Küche. Unzählige Platten, mit belegten Broten und verschiedene Auflaufformen waren dort. Warum bringt man zu einer Trauerfeier nur immer etwas zu essen mit? Als hätte ich nichts anderes zu tun, als mich Tag ein Tag aus von irgendwelchen Aufläufen zu ernähren, die wahrscheinlich auch noch total eklig schmeckten, nur damit sich irgendwelche Idioten, die ihre Eltern noch haben, besser fühlten?
Ich brauchte unbedingt frische Luft, nur weg von diesem grausamen Essensgeruch. Übelkeit stieg in mir hoch. War es wegen der Überflutung durch Essensgerüche? Oder einfach nur an der Situation? Das flaue Gefühl in meiner Kehle ließ nicht nach. Ich beeilte mich hier raus zu kommen. Die Hintertür stand offen, da einige Trauergäste auf der Terrasse standen und sich eine Zigarette genehmigten.
Wie aus weiter Ferne konnte ich Anekdoten mit anhören, als ich an ihnen vorbei eilte. Jemand griff mich am Arm, doch ich lief schon weiter, da ich spürte, wie sich meine Magensäure ihren Weg in die Freiheit bahnte. Ich hatte nicht viel Zeit mir Gedanken über die rauchenden Zuschauer zu machen. Alles was ich noch schaffte war, dass ich mich über die Brombeersträucher, die an der Terrasse angrenzten, beugte und der widerlichen Brühe, die sich schon in meinem Mund angesammelt hatte freien Lauf zu lassen.
Ich war froh, dass jemand hinter mir stand und meine Haare hielt. Das was mir jetzt noch fehlte waren voll gekotzte Haare. Es reichte mir schon vollkommen diesen abscheulichen Geschmack die nächsten Stunden über im Mund zu haben. Notiz an mich: Unbedingt Zähne putzen – sobald ich mich komplett entleert habe.
Als ich noch eine halbe Ewigkeit – so kam es mir jedenfalls vor – über den Büschen hing, ohne das etwas dem mit Brocken versehenen Pamps folgte, richtete ich mich auf. Meine Knie zitterten, ich hatte das Gefühl, dass sie jeden Moment dem Gewicht meines Körpers nachgaben, obwohl ich nicht gerade schwer war – und jetzt wohl schon gar nicht mehr.
Man half mir, tätschelte mir die Schulter oder den Rücken, redete mir gut zu. Ich wollte das nicht. Der Grund warum ich überhaupt hier heraus kam, war alleine zu sein. Weg von den bekümmerten Gesichtern, die mir ein halbherziges, meist missglücktes Lächeln schenkten.
Ich wurde zurück ins Haus geführt konnte aber kaum gehen. Meine Beine waren so schwer, als würden sie mit jeweils fünfzig Pfund Gewichten beschwert werden. Meine Aufmerksamkeit zog sich tief in mein Innerstes, sodass ich nicht erkennen konnte, wer mich jetzt auf den Arm nahm. Ich konnte mich nur soweit steuern, dass ich meinen Kopf an die Schulter des Unbekannten lehnte und die Augen schloss. Ich wollte niemanden sehen, am liebsten auch niemanden hören, aber mir fehlte die Kraft mir meine Ohren zu zuhalten. Als wir durch die Küche in den Flur und nach oben in den ersten Stock kamen, konnte ich aufgeregtes Stimmengewirr hören. Sie unterhielten sich über mich, über meinen „Gesundheitszustand“. Man beriet sich darüber, ob man nicht einen Arzt holen sollte. Warum nur konnten sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Alles was ich brauchte war ein wenig Schlaf. Vielleicht etwas mehr als nur ein wenig …
Es war nicht das erste Mal in den letzten drei Tagen, dass ich mir wünschte selbst tot zu sein. Ich wünschte mir, dass ich mit in dem Auto saß, in dem meine Eltern gestorben sind. Ein Autounfall … wie unglaublich banal. Wenn man in einem Film oder Roman die Geschichte eines Teenagers erzählen will und man eine Entschuldigung für die Abwesenheit der Eltern brauchte, dann kam der Altbewehrte Autounfall zum Einsatz. Es kommt mir so vor, als wäre ich dieser Teenager, dessen Geschichte in einem Film oder Roman erzählt wird. Ich fragte mich wo diese Geschichte mich wohl hinführen würde.
Ich spürte mein Bett unter mir auftauche, mein unglaublich weiches Bett – es kam mir bequemer als je zuvor vor. Ich weiß noch, wie ich mich damals, als wir mein altes Kinderbett rausgeschmissen hatten und mir dafür ein neues Bett gekauft hatten, über die neue Matratze beschwert hatte. Sie sei zu hart, hatte ich meinen Eltern an den Kopf geworfen. Jetzt war sie genau richtig.
Man hat mich also in mein Zimmer gebracht. Obwohl ein Teil des Stimmengewirrs mir hier nach oben gefolgt war, konnte ich nur meinen tiefen, durchdringenden Atem hören. Das flaue Gefühl in meiner Kehle war noch da. Doch ich wagte zu vermuten, dass es fürs erste dabei bleiben würde und ich mich heute nicht mehr übergeben müsse.
So wie es sich anhörte, würden sie wohl keinen Arzt rufen. Gut, ich brauchte keinen – hoffte ich jedenfalls. Ich drehte mich von den Menschen in meinem Zimmer weg, hin zu Wand. Ob das wohl reichen würde ihnen zu signalisieren mich alleine zu lassen? Jemand zog mir die Schuhe aus und deckte mich zu. Schlafen werde ich wohl nicht können, aber wenn die anderen denken würden, dass ich schlafe, wäre ich wenigstens alleine.
Meine Hoffnungen bewahrheiteten sich schnell. Man ließ mich alleine.
„Schlaf dich erst einmal aus.“, flüsterte man mir ins Ohr. Meine Tante Mary küsste mein Haar und schloss die Tür hinter sich.
Ich atmete tief durch. Allein. Eigentlich hatte ich gedacht, dass es schön wäre alleine zu sein. Doch jetzt wo ich alleine war, stellte sich dabei ein gewaltiger Nachteil heraus: Jetzt konnte ich ungestört nachdenken. Mit aller Kraft versuchte ich nicht an das Thema zu denken, das mir momentan am meisten Schmerzen bereitete. Was gleichwohl bedeutete, dass sich meine Gedanken nur um ein schwarzes Loch drehten, welches das Loch in meinem Herzen darstellte, das meine Eltern in mir hinterließen. Und da wären wir wieder bei meinem aktuellen Tabuthema.
Die Tür öffnete sich wieder. Ich konnte die kräftigen Schritte von Paul, meinem Onkel, hören. Er zögerte einen Augenblick, in dem er mich vermutlich genau inspizierte – oder zumindest meine langen weißblonden Haare und den reglosen Körper, der sich unter der Bettdecke abzeichnete – dann stellte er etwas auf meinen Nachttisch, möglicherweise ein Glas. Er verließ das Zimmer wieder.
Ich drehte mich um, um das Glas zu sehen, das er mir hingestellt hat. Es vergingen einige Minuten bis ich meinen Blick von den Mineralbläschen, die in dem Glas Wasser aufstiegen, abzuwenden. Ein Bläschen wurde größer und größer und stieg schließlich an seinen Kameraden auf, zur Wasseroberfläche und verpuffte.
Es sind nur achtzehn Minuten vergangen, als ich das letzte Mal unten im Wohnzimmer auf die Uhr sah. Die Zeit verging wie in Zeitlupe. Der Tag wollte einfach nicht vergehen – die Woche wollte einfach nicht vergehen. Ob es wohl noch lange dauert, bis ich wieder richtig leben könnte? Konnte ich überhaupt irgendwann wieder richtig leben? Denn im Moment fühlte es sich nicht so an.
Ich richtete mich auf, stieg aus meinem Bett. Der faule Geschmack, den das Erbrochene hinterlassen hatte, störte mich doch sehr. Ich musste mir einfach die Zähne putzen. Hier bewehrte es sich wieder, dass ich ein eigenes Badezimmer habe. So musste ich den Trauergästen nicht begegnen. Meine Beine waren immer noch ziemlich wacklig, als würde ich auf Holzstelzen durch mein Zimmer schwanken. Ich schloss die Badezimmertür hinter mir ab, falls doch noch jemand auf die Idee kommen sollte nach mir zu sehen.
Anfangs traute ich mich gar nicht in den Spiegel zu sehen und klammerte mich an beiden Seiten des ovalen Waschbeckens fest. Seit ich erfuhr was meinen Eltern zugestoßen war habe ich nicht mehr in den Spiegel gesehen. Es war mir egal wie ich aussah. Ich wollte auch gar nicht in den Spiegel sehen.
Ohne meinen Blick zu heben griff ich nach meinem Zahnputzbecher und hielt ihn unter den Wasserhahn. Ich musste zugeben, ich hatte etwas Angst die andere Hand vom Waschbecken zu nehmen. Ich hatte Angst, ich könnte fallen … Einmal tief durchatmen und ich konnte loslassen. Es war ja nicht so, als wäre ich wirklich so schwach, ich fühlte mich nur irgendwie hohl; ausgehüllt, wie ein Kürbis zu Halloween– was allerdings auch nicht viel besser war. Ich ließ den Becher halbvoll mit Wasser laufen – halbvoll … hmm, wie es aussieht, ist bei mir wohl noch nicht Hopfen und Malz verloren, ein bisschen Optimismus habe ich mir noch beibehalten. Die übliche Menge an Zahnpasta schien nicht zu reichen. Ich nahm doppelt so viel. Putzte mir die Zähne aber doch zweimal bis ich mich besser fühlte – zumindest in meinem Mundraum. Nachdem das geschafft war und die Zahnbürste vom letzten Rest der aufgeschäumten Zahnpasta befreit war, steckte ich sie wieder zurück in den Becher, den ich an seinen üblichen platz stellte.
Für viele andere war es vielleicht ein Segen, wenn man die eigenen Eltern in sich selbst erkennen konnte. Für mich nicht (im Moment jedenfalls nicht, aber wer weiß … vielleicht irgendwann in der Zukunft). Mein Spiegelbild hatte es endlich doch geschafft meinen Blick auf sich zu ziehen. Allerdings sah ich nicht mich. Ich sah meine Mutter. Ihr Gesicht, die Haare, die zierliche Figur – wenngleich ich diese nicht komplett sehen konnte. Und die Augen meines Vaters … Ich wünschte ich könnte etwas an mir verändern. Schon die kleinste Veränderung, die mich auch nur ein Stückchen weiter weg von dem Erscheinungsbild meiner Eltern bringen könnte, würde mich glücklicher machen.
Die Augen konnte ich mir schlecht auskratzen – ich hänge an meinem Augenlicht. Mein Gesicht konnte ich auch nicht zerkratzen – die würden mich sofort zu einem Psychiater schicken. Meine Figur zu verändern würde mir zu lange dauern, außerdem wäre mir das zu ungesund. Da bleiben noch meine Haare …
Ich ging zurück in mein Zimmer, zu meinem Schreibtisch. Die linke, obere Schublade war mein Ziel. Dort war alles Mögliche an Schreibmaterial enthalten: Stifte, Kleber, Radiergummi und … die Schere. Ich nahm sie und ging zurück in das Badezimmer. Einige Sekunden starrte ich in den Spiegel. Aber ich sah nicht mich an, ich sah meine Eltern, verabschiedete mich von ihnen. Dann schnitt ich mir eine lange Haarsträhne ab. Dann noch eine … und noch eine. Bis mein langes weißblondes Haar verstreut auf dem Badezimmerboden lag. Und auf meinem Kopf nur noch schulterlange Haare schlaff nach unten hingen. Den Mut sie ganz abzuschneiden, hatte ich dann doch nicht aufbringen können. Doch jetzt sah ich wenigstens nicht mehr ganz so nach meiner Mutter aus – sie hatte ihr Haar auch immer so lang wie ich, vor meiner Scherenaktion, getragen.
Die Haustüre fiel zu. Die ersten Gäste machten sich wohl schon auf den Heimweg – endlich. Hoffentlich dauerte es nicht mehr lange, bis alle anderen auch das Weite suchten. Vor meinem Fenster, das zum hinteren Garten hinausging, waren Stimmen zu hören. Da mein Name fiel, beschloss ich mich unter das Fenster zu setzen, damit mich niemand sehen konnte, und zu zuhören.
„… es ihr besser?“, fragte ein junge, männliche Stimme. Nathan, mein Freund. Wir waren gerade mal seit zwei Wochen zusammen und über das herumknutschen noch nicht hinaus gekommen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mir in dieser Zeit ohne Probleme beistehen könnte. Er war nie der gefühlsoffene, einfühlsame Typ gewesen. Nathan zeigte nie gerne Gefühle – ich eigentlich auch nicht. Bevor wir endlich zusammen kamen, liefen wir sieben Monate umeinander herum. Ich weiß gar nicht wirklich wie es passiert ist, wie es kam, dass er auf mich zukam.
„Sie schläft jetzt.“, sagte die warme, raue Stimme meiner Tante.
„Was wird jetzt mit ihr? Nehmen sie sie mit nach Harrison?“ Daisy, meine beste Freundin und Nathans Zwillingsschwester. Sie klang besorgt. Sie würde mich sicher vermissen – so wie ich sie.
Bisher habe ich mir noch keine Gedanken über die Zukunft gemacht, die mich jetzt, ohne Eltern erwarten würde. Was würde jetzt aus mir werden? Vermutlich würden meine Tante und mein Onkel das Sorgerecht für mich bekommen. Das würde bedeuten, dass ich zu ihnen ziehen müsste.
Die beiden wohnten mit ihrer Tochter, meiner Cousine, in einer kleinen Stadt in Rhode Island, sie hieß Harrison. Etwa sechs bis sieben Tausend Einwohner, ziemlich grün und bestückt mir großen, teuren Häusern, die zum größten Teil nur im Sommer bewohnt waren. Die Stadt lag direkt am Meer und eigentlich war es mehr eine Insel, nur mit zwei Brücken verbunden mit dem Festland.
Als kleines Kind war ich einmal dort. Meine Eltern gönnten sich die zweiten Flitterwochen und ich wohnte zwei Wochen bei ihnen. Trotz meines nur kurzen Besuchs, konnte ich mich noch an ihr Haus erinnern. Es war von außen her blau und nicht eines der großen, luxuriösen Anwesen. Klein war es allerdings auch nicht.
Ich sah durch das Fenster nach unten. Das Ende der Unterhaltung habe ich nicht mehr mitbekommen, sie waren verschwunden. Aber ich konnte mir die Antwort meiner Tante auch so denken. Meine Cousine – sie war gerade vierzehn Jahre alt – schaukelte auf der alten, von längst vergangenen Regenfällen schon leicht gerosteten, aber immer noch gelben Schaukel. Es hatte eine fast hypnotisierende Wirkung, wie sie hin und her und hin und her schaukelte. Hin und her und hin und her …




2.



… öffnet sich eine andere …


Den ganzen Flug über, von Minneapolis nach Warwick, schlief ich. Besser gesagt, ich tat so als ob. Mary saß im Flugzeug neben mir – Paul und meine Cousine Gwen waren schon vor fünf Tagen zurück geflogen – und wirkte, als ob sie mit mir reden wollte, aber ich hatte keine Lust auf ein Gespräch. Das letzte Mal als ich mit ihnen gesprochen hatte, habe ich ihnen gesagt, dass sie alles verkaufen sollten, was mir meine Eltern hinterlassen hatten: Das Haus, die beiden Autos, die gesamte Einrichtung. Ich wollte davon nichts mehr sehen, weshalb ich schon wieder froh über diesen Umzug war.
Ich hatte nicht vor jemals wieder nach Minneapolis zurück zu kehren. Von Nathan habe ich mich getrennt, er war enttäuscht, hat aber keine Szene gemacht. Anscheinend konnte er den Grund verstehen oder er wollte eine emotionale Last wie mich einfach loswerden – ich weiß es nicht. Ich habe ihm einen Brief für Daisy mitgegeben, in dem ich ihr erklärte:



Daisy,
Es tut mir leid, dass deine Bemühungen mich mit Nathan zusammen zu bringen jetzt umsonst waren (wir haben uns gerade getrennt). Es tut mir auch leid worum ich dich jetzt bitte: Ich will mich nicht von dir verabschieden, wenn ich nach Harrison aufbreche. Es würde nur alles noch schwerer machen. Ich will dich aber auf keinen Fall verlieren, immerhin bist du meine beste Freundin. Auch wenn ich sicher nicht jeden Tag schreiben werde, möchte ich doch wenigstens mit dir in e-Mail Kontakt bleiben. Vielleicht können wir auch über Webcams kommunizieren, sobald ich nicht mehr so verheult aussehe – hey siehst du meinen Humor habe ich noch nicht verloren. Ich habe nicht vor jemals wieder nach Minneapolis zu kommen, weshalb ich dich wohl nie besuchen komme. Aber ich hoffe und bitte dich, dass du mich irgendwann mal besuchen kommst.
Ich liebe dich,
deine Astrid



Keine literarische Glanzleistung, aber er tat seinen Zweck. Sie schrieb mir noch am selben Tag eine e-Mail (äußerst kurz, wie ihre Mails immer sind):



Ich liebe dich auch. Und natürlich werde ich dich besuchen kommen, sobald du mich dort haben willst. Und auch wenn du nicht jeden Tag schreibst, werde ich es tun. Ich vermisse dich.



… Sobald du mich dort haben willst. Sie wusste, dass ich jetzt Zeit für mich brauchte. Zeit für Gedanken über meine Eltern. Wenn ich vielleicht viel an sie denke, dann würde es hoffentlich nicht so lange dauern, bis der Schmerz aufhörte oder irgendwann abstumpfte. Ich war gewiss nicht masochistisch, aber wenn ich den inneren Schmerz nicht spürte, spürte ich nichts. Natürlich hätte ich lieber Gefühle wie Freude oder Begeisterung oder Aufregung, aber mir war im Moment alles egal.
Paul holte uns am Flughafen ab. Als er und Mary die Koffer in den Kofferraum stopften und ich mich gleich auf den Rücksitz gesetzt hatte, konnte ich sie flüstern hören. Sie machte sich Sorgen um mich. Paul versuchte sie zu beruhigen, aber ich konnte auch Sorge in seiner Stimme hören. Um ihre d´ Willen hoffte ich, dass meine Trauerphase nicht allzu lange andauern würde … oder, dass ich mich wenigstens bald vor ihnen zusammenreißen konnte.
Wir fuhren eine halbe Stunde, bis wir zur Harrisonbridge kamen. Sie war einer der beiden einzigen Fluchtwege aus der Stadt, wenn man nicht gerade ein Boot besaß. Aber ich vermute mal, dass die meisten in Harrison eines hatten. Die Stadt war ein beliebter Touristen Ort für Segelfreunde.
Als wir über die Brücke fuhren konnte ich einige dieser Segelboote sehen. Obwohl es eher Segelyachten waren. Aber bei so etwas kannte ich mich nicht aus. Die Stadt war auch schon zu sehen. Eine wahre amerikanische Kleinstadt. Schon von der Bücke aus konnte ich amerikanische Flaggen erkennen, wie sie an ihren Fahnenmasten flatterten und versuchten von diesen übergroßen weißen Zahnstochern zu entkommen.
Wir nahmen die nördliche Ausfahrt der Brücke, die durchgehend über die Insel verlief, bis sie ihren Namen in Newportbridge änderte und durch eine Mautstation verlief. Gelangweilt beobachtete ich die Straßenschilder, die an uns vorbei huschten: Conanicu Avenue, in der die Polizeistation war (gut zu wissen, dass die Polizei nicht lange braucht, falls es in diesem Nest Einbrecher oder Mörder gab), – wir bogen nach rechts ab – Narragansett Avenue, in der die Feuerwehr war (unser Haus würde wohl nicht lange brennen, da die Feuerwehr nicht weit entfernt war), – wir bogen wieder nach rechts – Ocean Avenue. Und da war es, das blaue Haus meiner Tante und meines Onkels.
Das Haus war südlich ausgerichtet, mit Blick auf das Meer – falls man über die Bäume, die hier überall so hoch gewachsen waren hinwegsehen kann. Die Fenster waren weiß eingerahmt, weiß wie das Dach – na ja, wo ich genauer hinsehe, war es schon eher grau. Auch hier war an der weiß gestrichenen Veranda eine amerikanische Flagge ausgestellt.
Paul parkte den Wagen auf der Einfahrt neben dem Haus. Ich atmete tief durch, während ich einen Blick durch das Fenster vom Rücksitz auf das Haus warf. Mein neues zu Hause, dachte ich. Ein dünner Finger klopfte an das Fenster, meine Tante lächelte mich ermutigend an. Um ihr eine Freude zu machen lächelte ich zurück. Ich wusste nicht ob es mir richtig gelungen war, aber ich hatte es wenigstens versucht.
Ich entschloss mich endlich meinem neuen zu Hause zu stellen und auszusteigen. Ich war nicht oft genug oder lange genug hier gewesen um zu sagen, ob es relativ warm oder kalt für diese Jahreszeit war. Wir hatten März und es waren gefühlte fünfzehn Grad, es wehte eine kühle Briese, vor der man allerdings weitgehend geschützt war, wenn man in der warmen Sonne stand.
„Liebes!“, rief mich Paul. „Nimmst du mal bitte!“ Er reichte mir eine meiner zwei Reisetaschen. Der Rest, der mir gehörte und nicht verkauft wurde oder wird, war schon hier. Ich ging rein – zögerte kurz an der Türschwelle. So lange war ich nicht mehr hier gewesen, aber verändert hat sich nichts – jedenfalls hier draußen nicht. Doch auch die Eingangshalle sah aus wie damals, in einem warmen sonnengelb gestrichen. Eine dunkle Holzbank stand links neben der, zum größten Teil aus Glas und Holz bestehenden, Eingangstür. Vor einer Fensterreihe, die gerade so hoch angesetzt war, wie die Bank hoch war. Eine Truhe, dessen Holz ähnlich wie das der Bank war, wenn nicht sogar gleich, stand der Türe gegenüber. In meiner Erinnerung waren dort Regenschirme, Schals und Mützen und ähnliches verstaut. Heute vermutlich immer noch.
Durch einen weißen – schon wieder weiß – Türbogen ging es in den Flur und zur Treppe, die in den ersten Stock führte. Ich beeilte mich nach oben zu kommen, denn die Tasche ließ mich so langsam ihr Gewicht spüren. Das Gästezimmer, das ich bei meinem ersten und letzten Besuch ihr bezogen hatte, wird auch jetzt wieder meines sein. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden, da es mir sowieso egal war. Und das Zimmer, das nach Südosten hinausging, war auch gar nicht so übel, es war zwar nicht sonderlich groß, aber für mich würde es allemal reichen und ich hatte mein eigenes Badezimmer.
Das Bett war frisch bezogen – ich konnte mir nicht vorstellen, dass Paul so etwas konnte, aber immerhin verdiente er sein Geld damit. Paul und Mary hatten ein kleines Hotel in der Stadt, das Sawyer Inn. So weit ich wusste, lief es ganz gut. Es war beliebt bei Touristen, die sich mal im Segeln versuchen wollten, da es nah am Hafen lag.
Paul brachte mir meine andere Tasche, er stellte sie vor die Tür, da mein Zimmer voller Kartons war. Er stand noch im Türrahmen und beobachtete mich, wie ich die Kartons begutachtete, um zu identifizieren, was sich darin befand – ich hätte sie doch beschriften sollen.
„Ich wusste nicht, wie du dein Zimmer eingerichtet haben wolltest“, sagte er, „deshalb habe ich die Kisten einfach unausgepackt reingestellt. Aber wenn du willst, helfen wir dir mit auspacken.“, bot er mir an.
„Nein, danke. Ich schaff das schon.“
Er verabschiedete sich, denn er musste zurück ins Hotel. Er ließ es ungern allein – selbst wenn es natürlich „in guten Händen ist“, wie er immer sagt. Karl, der aus Deutschland kam, vertrat meinen Onkel und meine Tante immer, wenn sie wegfuhren. Was eigentlich nur der Fall war, wenn sie uns zu Thanks Giving besuchten. Das war der einzige Urlaub, den sie sich gönnten, jetzt würde auch dieser verfallen.
Ich saß auf dem Bett und ließ meine Augen durch den Raum wandern. Bevor es zum Gästezimmer wurde, war dies das Babyzimmer meiner Cousine. Irgendwann hatte diese beschlossen, dass sie unbedingt auf den Dachboden ziehen wollte, weil dort viel mehr Platz war. Das war kurz bevor ich die zwei Wochen hier verbrachte. Also war ich diejenige, welche das Zimmer als erster Gast bezog.
Das Bett stand vor dem Fenster, das nach Südwesten hinausging. Hinter meinen gestapelten Umzugskartons versteckte sich ein Schreibtisch, rechts neben der Tür. Daneben befand sich ein Regal, das die gesamte rechte Wand für sich beanspruchte und ein Fenster, das nach Süden hinausging, hinter sich verbarg. Der Kleiderschrank, der nicht sonderlich geräumig zu sein schien, bäumte sich an der linken Wand auf. Ich konnte eine Ecke des violetten Teppichs unter den Kartons hervor lugen sehen. Die lavendellila Wände waren kahl, keinerlei Bild oder Poster. Aber meine Cousine hatte mir Hammer, Nägel und Tesafilm auf den Schreibtisch gelegt, falls ich Bilder oder Poster aufhängen wollte. Woher ich weiß, dass es meine Cousine war? Ja, woher eigentlich? Vermutlich verriet es mir die Auswahl verschiedenster Poster, die zusätzlich auf dem Schreibtisch lagen.
Es wurde Zeit meine Sachen auszupacken. Zuerst nahm ich mir meine Klamotten vor, da ich keine Ahnung hatte wo ich den Rest verstauen sollte. Ich hoffte, ich würde für alles einen Platz finden, wenn ich erst einmal ein wenig mehr Überblick gewann. Vier Kartons und zwei Reisetaschen mit Klamotten waren schnell ausgepackt und in den Schrank geräumt. Und wo sollten Bücher sonst hin, wenn nicht ins Bücherregal. Auch meine CDs, die wenigen, die ich hatte, räumte ich ins Regal. Ich bemerkte zu spät, dass ich mir als nächstes den Karton mit den Bildern meiner Eltern vorgenommen hatte. Ganz oben lag eine eingerahmte Erinnerung an einen Zoobesuch, den ich vor zehn Jahren mit meinen Eltern machte. Ich saß auf den Schultern meines Vaters und nahm ihm seine Brille von der Nase. Meine Mutter hatte sich damals kaputt gelacht, als ich sie mir aufsetzte.
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass mich wieder auf das Bett gesetzt hatte. Allerdings spürte ich jetzt, wie die Tränen meine Augen überwältigten und meine Wangen hinunterliefen. Ein dicker salziger Tropfen zersprang auf dem Glas des Rahmens, direkt auf dem grauen Koala Luftballon, den meine Mutter damals für mich gehalten hatte.
Es klopfte an der Tür. Instinktiv drehte ich mich von der Tür weg und wischte mir die Tränen aus den Augen. Eine glückliche Fügung, dass ich die Tür zu gemacht hatte, als ich meine Reisetasche ins Zimmer geholt hatte. So konnte ich mich auf dem Weg durch das Zimmer zum Öffnen der Tür kurz sammeln. Ich mochte es nicht, wenn man mich weinen sah.
„Hi.“, begrüßte mich meine Cousine. Sie hatte ein schüchternes Lächeln auf den Lippen. Ihre dunkelblonden Haare waren zusammengebunden und lange Strähnen hingen lose an ihr herunter. Sie hatte eine Flasche Wasser in der Hand, die sie mir entgegen hielt.
Ich nahm die Flasche an und ging zurück zum Bett. Gwen folgte mir und setzte sich neben mich auf das Bett. Wir sahen uns nicht an und es entstand eine fast schon peinliche Stille.
„Also…“, fing ich an, „was macht man hier denn so?“, fragte ich – nur um Konversation zu machen, ich war nicht sonderlich gut in Sachen Smal Talk.
Sie überlegte kurz – anscheinend gab es hier nicht viel zu unternehmen – und antwortete dann.
„Na ja … wir haben hier zwei Kinos, ein paar Shoppinggelegenheiten und die meisten in unserem Alter hängen am Strand oder am Hafen rum.“
Klingt ja wahnsinnig … aufregend. Und das wusste sie selbst wohl auch.
„Es ist zwar nicht Minneapolis, aber man kann hier auch Spaß haben.“, fügte sie hinzu. „Du skatest nicht, oder?“
Ich sah sie an und hob eine Augenbraue. „Nein. Wieso?“
„Also, ich bin mit ein paar Freunden zum skaten verabredet.“, erklärte sie. „Und ich dachte mir, dass du vielleicht mitkommen willst?“ Jetzt sah auch sie mich an.
Ich muss sagen, dass ich ihr dankbar war. Wir verstanden uns zwar immer gut, wenn wir Thanks Giving nebeneinander saßen, aber eine enge Beziehung hatten wir nie. Dass sie mir jetzt anbot mich mit zu nehmen, wenn sie mit ihren Freunden etwas unternahm, war … war … - nett oder freundlich war schon zu milde ausgedrückt. Denn wer wollte schon einen Trauerkloß wie mich um sich haben, wenn man Spaß haben wollte. Ich wusste nicht, ob ich zusagen sollte. Sie fragte mich doch bestimmt nur aus mitleid.
„Wir können auch nachher ins Kino gehen, wenn du willst?“, fragte sie weiter.
Vielleicht meinte sie es doch ernst.
„Ich komme gerne mit.“, beschloss ich. „Wenn du mich nicht zwingst auf so ein Skateboard zu steigen.“ Ich versuchte einen Scherz zu machen, den sie glücklicherweise mitbekam.




3.



… und wenn es nur ein Fenster ist.


Wir wollten in einer Stunde aufbrechen. Ich hatte also noch genug Zeit um mich umzuziehen. In den Klamotten konnte ich mich draußen nun wirklich nicht sehen lassen – eine alte schlabberige Jogginghose und ein einfaches schwarzes T-Shirt – passend für einen Flug, aber nicht unbedingt für den ersten Eindruck in der Stadt. Ich zog eine alte Jeans und ein rotes Sweatshirt über ein weißes T-Shirt.
Gwen wartete in der Küche auf mich. Sie erzählte Mary von unseren Plänen, was sie sichtlich erfreute. Sie hatte bestimmt erwartet, dass ich mich in den nächsten Wochen erst einmal in meinem Zimmer verkriechen würde, wie ich es in Minneapolis getan hatte. Da war sie ehrlich gesagt nicht die Einzige.
„Viel Spaß Mädchen.“, wünschte uns Mary.
Gwen lieh mir ihr Fahrrad, während sie sich mit ihrem Skateboard unter ihren Füßen am Gepäckträger festhielt und mich durch die Straßen lotste. Wir fuhren an zahlreichen Wohnhäusern vorbei, bis sie von Geschäften ersetzt wurden. Das war wohl die Innenstadt – falls man das überhaupt so nennen konnte. Einige Läden, mit den Verschiedensten Angeboten, Restaurants und Cafés und an einem der beiden Kinos kamen wir vorbei.
Als wir an einer der belebteren Straßen der Stadt ankamen, zog Gwen mit Schwung an mir vorbei und landete an der Ampel, bei der sie den Knopf betätigte, damit sie für uns auf grün umschaltete. Beim Überqueren der Straße fiel mir ein Wagen besonders auf. Ein schwarzer Mercedes Offroader, der mit quietschenden Reifen knapp vor der Haltelinie stehen blieb. Ein blondes Mädchen, etwa in meinem Alter, plus minus ein zwei Jahre, war am Steuer. Sie unterhielt sich aufgeregt mit ihrer Beifahrerin, die ihre Füße am Armaturenbrett abstützte und ein zerknülltes Stück Papier hinter sich auf einen jungen Mann warf, der sich auf den Rücksitz ausgebreitet hatte.
Eines kam mir komisch vor. Die drei in dem Mercedes starrten mich plötzlich an und folgten mir mit ihren durchbohrenden Blicken, bis ich die andere Straßenseite erreicht hatte. Die drei hatten eines gemeinsam – außer, dass sie mich auf die selbe Weise anblickten. Sie waren irrsinnig gut aussehend, sowohl die Mädchen als auch der Junge. Blasse Haut, strahlend leuchtende Augen, die fast schon unnatürlich wirkten. Trugen sie Farbkontaktlinsen?
Nachdem die Ampel für sie wieder grün aufleuchtete harrten sie noch kurz auf derselben Stelle aus, dann fuhren sie weiter – wieder mit quietschenden Reifen. Jetzt war ich diejenige, die starrte. Hatte ich mir das gerade nur eingebildet? Oder haben die drei mich wirklich gerade angestarrt? Bestimmt hatte irgendetwas anderes ihre Aufmerksamkeit erregt.
„Hey! Astrid!“, rief mich Gwen, „Kommst du?“
Aber konnte das ein Zufall sein? Wenn es nur bei den dreien geblieben wäre – dann ja, wieso nicht. Doch sie waren nicht die einzigen gewesen. Als wir die Canonicus Avenue hinunter fuhren kamen wir an einem Café vorbei. Die Kellnerin, die wirklich außergewöhnlich hübsch war und gerade etwas an der Tafel vor der Tür ausbesserte hörte mitten im Wort auf zu schreiben und drehte sich mir entgegen. Dieses Mal war ich mir Sicher, dass sie mich anstarrte, denn sie sah uns noch nach, als wir an ihr vorbei fuhren. Aus den Augenwinkeln fiel mir ihr verwirrter Gesichtsausdruck auf. Sie hatte auch diese unnatürlich wirkenden Pupillen, die man von weitem genau sehen konnte und wirklich toll aussahen.
Was für eine Merkwürdige Stadt. Was habe ich nur an mir, dass mich die Leute so anstarrten?
Die Straße zog sich jetzt direkt am Meer entlang. Zwar nicht lange, aber doch so lange, dass ich eine kühle Windbriese erwischte. Das Wasser schlug gegen den felsigen Grund der Insel. An der Stelle, an der die Straße dem Wasser am nächsten war, fingen mich sogar einige Wassertropfen ein und spritzten mir ins Gesicht. Die kühlen flecken fühlten sich besser an als die heißen Tränen, die mir noch vor kurzem die Wangen hinab rannen.
Wir mussten die die gesamte Insel hinunter fahren, was lange genug war, auch wenn wir nur von der Mitte aus gestartet waren. Wenn kein Auto auf der Straße fuhr, beanspruchte Gwen die ganze Straße für sich und fuhr in Schlangenlinien am Mittelstreifen entlang. Sie erzählte mir, dass sie ihr Taschengeld mit gelegentlichen Arbeiten im Hotel ihrer Eltern aufbesserte und schlug mir vor auch dort anzufangen. Es sei leichte Arbeit, die zwar nicht übermäßig gut bezahlt werde, aber man durchaus damit leben könne.
Der Skateboardpark war am Nordöstlichsten Teil der Insel, in der Nähe einer der vier Hafen von Harrison. Etwa ein dutzend Skater waren dort und fuhren über Half Pipes und Rampen. Musik drang aus einem Getthoblaster, worüber sich einige der Skater bei den Besitzern beschwerten. Die Musik entsprach wohl nicht ihrem Geschmack. Ich stieg vom Fahrrad ab und schob es Gwen hinterher.
„Ich muss mich entschuldigen.“, sagte sie.
„Wofür?“, fragte ich verdutzt.
„Hey!“, rief einer ihrer Freunde, als er mit seinem Skateboard auf uns zu fuhr. „Gwen hat gar nicht erzählt, dass ihre Cousine ein so heißer Feger ist.“
Das überraschte mich.
„Dafür.“, sagte Gwen. „Tut mir leid, dass Jeremy so ein Idiot ist.“ Sie rollte mit den Augen.
„Hi, ich bin Jeremy, der kein Idiot ist.“, stellte sich der dunkelheutige Junge, der ein schwarz – rot gestreiftes Poloshirt trug.
„Er ist schizophren.“, sagte ein brünetter Junge, der zu uns gestoßen ist. „Er denkt, er sei kein Idiot, obwohl er es offensichtlich ist.“
„Ha ha ha.“, gab Jeremy von sich und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.
„Das ist Steve.“, stellte Gwen den Jungen vor, der sich jetzt den Kopf rieb. „Und das da hinten“, sie zeigte auf ein Mädchen mit einem Baseballkap, deren dunkelbraunes Haar zu zwei langen Zöpfen geflochten war und gerade über eine Rampe sprang, „ist Alex.“
Wir setzten uns in den Schatten einer Baumgruppe. Steve gesellte sich wieder zu Alex und sie lieferten sich einen kleinen Wettbewerb auf einer der Half Pipes. Jeremy bot mir seine Jacke an, um darauf zu sitzen. Noch bevor ich reagieren konnte warf Gwen ihm einen Tannenzapfen an den Kopf. Ich fühlte mich hier nicht fehl am Platz, wie ich es vielleicht erwartet hatte. Was ich zum größten Teil Jeremys Aufmerksamkeiten verdankte. Er wirkte ziemlich dreist – besonders im Bezug auf Mädchen.
„Da hinten!“, sagte Jeremy. Er zeigte über den Skateboardpark, auf die Klippen. Dort waren einige Mädchen versammelt und kicherten. „Dein Liebling Hunter geht mal wieder schwimmen.“, fügte er mit einem breiten Grinsen an Gwen hinzu.
„Er ist nicht mein Liebling.“, fauchte sie ihm entgegen.
Jeremy legte sich zurück und gluckste vor sich hin. Ich versuchte diesen Hunter zu entdecken, sah aber nichts als die kichernden Mädchen. Und ich hatte so meine Zweifel, dass jemand hier schwimmen gehen würde. Die Klippen schienen mir keine sonderlich geeignete Stelle zu sein, um ins Wasser zu gehen. Zudem fand ich es auch noch viel zu kalt um schwimmen zu gehen – und das auch noch im Meer.
„Wollen die Ladys was zu trinken?“, fragte Jeremy.
„Wenn du bezahlst, nehme ich eine Coke.“, antwortete Gwen.
Ich wollte nichts. Jeremy ging den Weg zurück, den wir gekommen waren und war bald verschwunden.
„Wo holt er die Getränke?“, wollte ich wissen.
„Am Kiosk beim Hafen.“
Gwen wirkte abwesend. Sie starrte nach links ins leere. Es schien als ob sie etwas beobachtete. Jetzt konnte ich sehen, was ihre Aufmerksamkeit forderte. Ein Junge kletterte aus dem Wasser die Felsen hinauf. Er trug nichts weiter als eine Badehose. Seine nasse, blasse Haut glitzerte in der Sonne. Es fröstelte mich schon beim hinsehen. Würde ich so herumlaufen, würde ich glatt erfrieren, egal wie warm die Sonne auf uns schien. Der Wind hauchte uns dennoch die kalte Meeresluft entgegen.
War das vielleicht dieser Hunter, von dem Jeremy gesprochen hatte?
„Du magst diesen Hunter?“, fragte ich unverblümt.
Gwen eiste sich von der Erscheinung des Jungen los und starrte mich an.
„Ja.“, sagte sie schließlich. „Aber ich bin nicht die einzige und…“
„Und?“
„Er ist so was von gar nicht in meiner Liga.“ Sie sah ihn wieder an.
„Nicht in deiner Liga?“, wiederholte ich. „Was meinst du?“
Wieder sah sie mich an – diesmal völlig geschockt.
„Schau ihn dir doch mal an!“ Sie drehte sich wieder weg. „Er sieht viel zu gut aus. Außerdem ist er ein Superhirn und zu allem Überfluss auch noch eine Sportskanone.“
Klang in meinen Ohren ein wenig übertrieben. Allerdings hatte sie mit seinem Aussehen gar nicht mal so Unrecht. Er sah wirklich gut aus. Ein hübsches Gesicht, mit den selben leuchtenden, ausdrucksstarken Augen, die ich mir schon in der Stadt aufgefallen waren (ein Trend den ich verpasst habe?) – und mich, wie ich jetzt bemerkte durchbohrten, genau wie die Kellnerin und die drei im Mercedes von vorhin. Jetzt war ich mir hundertprozentig sicher, dass ich es mir nicht einbildete. Was stimmte denn mit mir nicht, dass sie mich alle anstarrten? Und warum nur einzelne und nicht wirklich alle? Kannten wir uns etwa irgendwo her und ich wusste nur nicht woher? Nein. Ich hatte ein relativ gutes Gesichtergedächtnis und ich hatte weder diesen Jungen, der meinem Blick jetzt auswich und zu den immer noch versammelten Mädchen ging, noch die anderen, die mich auf den Weg hierher so merkwürdig angesehen hatten. Da war ich mir absolut sicher.
Vielleicht wurde ich auch einfach nur paranoid. Ich musste mich ablenken.
„Du kannst ruhig gehen.“, sagte ich.
„Hmm?“
„Nimm dein Skateboard und fahr rum. Du musst nicht hier bei mir bleiben.“
„Bist du sicher?“
„Klar. Vielleicht kannst du ja mit ein paar Tricks Hunter beeindrucken.“
Wir lächelten uns gegenseitig an. Gwen stand auf, nahm ihr Skateboard und fuhr davon. Sie rollte zu der Half Pipe auf der Steve und Alex immer noch hin und her brausten. Ich hatte zwar keine Ahnung vom Skateboarden, aber die moves und slides – oder wie man so was auch immer nannte – waren für mich ziemlich beeindruckend.
Zwei Autos rauschten an. Ich erkannte den schwarzen Mercedes Offroader aus der Stadt wieder. Der andere Wagen war ein silberner Jaguar XK. Wenn ich dachte die Show von Gwen wäre beeindruckend, habe ich mich gewaltig geirrt. Ich hatte keine Ahnung wie viel so ein Jaguar kostete aber er sah extrem Teuer aus – nicht zuletzt, weil es äußerst gepflegt wirkte. Ich fragte mich, wer sich so ein Schmuckstück leisten konnte.
Meine Frage wurde schnell beantwortet. Ein junger Mann – nicht viel älter als ich – stieg auf der Fahrerseite aus. Er war hoch gewachsen und sein Körperbau sah sportlich aus. Er trug ein weißes Hemd unter einer braunen Kordjacke und eine hellblaue, ausgewaschene Jeans, in die er sein Hemd gesteckt hatte. Sein Hemd war oben nicht ganz zugeknöpft und es hing eine Fliegebrille am obersten Knopf, die er sich jetzt aufsetzte.
Aus der Beifahrerseite stieg ein brünettes Mädchen aus. Sie war genau so hübsch wie der Junge. Sie lachte und der Junge erwiderte das Lachen, als hätte sie einen Witz gemacht. Er legte den Arm um sie, als sie ihn erreichte und sie gingen gemeinsam zu den Klippen, an denen Hunter sich gerade abtrocknete. Wieder solche Trendsetter.
Aus dem Mercedes stiegen die blonde Fahrerin und die brünette Beifahrerin, die ich in der Stadt gesehen hatte. Der Junge war allerdings nicht mehr dabei, stattdessen war da ein junges Mädchen, die noch ziemlich kindlich aussah, aber mindestens so alt wie Gwen sein musste. Die drei Mercedes Mädchen folgten den Jaguar Fahrern. Im gleichen Augenblick starrten sie mich alle an und gleich wieder weg, alle im selben Moment. So langsam bekam ich Angst. Was ist hier nur los? Da fiel es mir ein. Möglicherweise sahen sie mich nur an, weil sie mich hier noch nie gesehen hatten? Immerhin bin ich erst seit heute hier, erst seit ein paar Stunden. Das musste es sein. Jetzt war ich beruhigt.
Plötzlich schrie eine mir bekannte Stimme. Und wenn mir die Stimme bekannt vorkam, konnte sie eigentlich nur zu Gwen gehören. Sie war gestürzt. Als ich zu ihr lief, weil sie nicht wieder aufstand, konnte ich erkennen, dass Hunter auch in ihre Richtung stürzte.
„Maya! Corin!“, rief die Blonde. Ihre beiden Mitfahrerinnen stürzten Hunter hinterher und hielten ihn fest. Der Junge half mit. Sie waren schnell, fast zu schnell für meine Augen. Sie zerrten ihn zurück zu den Klippen.
Ich erreichte Gwen. Sie hat sich das Knie aufgeschlagen. Es blutete ziemlich stark. Aber Gwen war tapfer, sie zog nur ein schmerzverzerrtes Gesicht und biss sich auf die Unterlippe. Mit ihren Fingern versuchte sie ihre Jeans an dem entstandenen Loch weiter aufzureißen, damit sie ihre Wunde nicht berührte und damit noch mehr Schmerz verursachte.
Als ich ihr aufhalf, damit wir zurück zu den Bäumen gehen konnten, beobachtete ich, wie die zwei Mercedes Mädchen und der Jaguar Junge Hunter ins Meer warfen. Die Mädchen sprangen voll angezogen hinterher. Die Blondine ging zurück zu ihrem Wagen und das brünette Mädchen kam auf uns zu, gefolgt von dem Jungen, der sie schnell eingeholt hat.
Ich setzte die humpelnde Gwen an den Bäumen ab und sah mir ihr aufgeschlagenes Knie an. Es sah übel aus und hörte nicht auf zu bluten.
„Wie sieht ihr Knie aus?“, fragte eine ruhige Stimme.
Ich sah auf. Es war das brünette Mädchen. Aus der Nähe war sie noch viel hübscher. Aber bevor ich mich in Gedanken über ihr Aussehen verlor suchte ich lieber nach einer passenden Antwort.
„Übel.“, beschrieb es wohl am besten.
Sie beugte sich zu uns runter und begutachtete die Wunde mit ernster Miene.
„Das sollte sich ein Arzt ansehen.“, sagte sie. „Muss vielleicht genäht werden. Wir können euch hinbringen, wenn ihr wollt.“
Das Angebot war sehr freundlich und ich war nur allzu gerne gewillt es anzunehmen, da ich Gwen nicht zumuten wollte mit blutendem Knie bis in die Stadt zu laufen oder mit dem Fahrrad zu fahren.
„Hamisch und Quentin sind bei euch zu Hause.“, sagte der Junge zu dem Mädchen. „Es ist näher als die Praxis.“
Er gab Gwens Skateboard, das er wohl mitgenommen hatte, an das Mädchen weiter und hob Gwen hoch, als würde sie nichts wiegen. Klar sie war nicht besonders groß und auch ziemlich dünn, aber so wie er sie hochnahm konnte man meinen, dass er eine lebensgroße, hohle Plastikpuppe aufhob. Er trug sie zu seinem Jaguar. Der Mercedes war verschwunden. Gwens Gesichtsausdruck war jetzt weniger schmerzverzerrt als überrascht. Sie hätte wohl genau so wenig wie ich erwartet, dass die beiden gut aussehenden Teenager ihre Hilfe anboten.
„Francis, du fährst!“, sagte er zu seiner Begleiterin. Sie fischte die Schlüssel aus seiner Hosentasche und eilte voraus um das Skateboard im Kofferraum zu verstauen und die hintere Tür zu öffnen. Während der Junge, immer noch mit Gwen auf dem Arm, sich gekonnt in den Rücksitz gleiten ließ, bedeutete mir das Mädchen, ich solle mich auf den Beifahrersitz setzen.
„Ich bin Francis.“, sagte sie und in einem Affenzahn die Straße entlang düste. „Und der Frauenheld da hinten“, sie zeigte hinter sich, „ist Reed.“, erklärte sie mit einem Grinsen in den Rückspiegel.
„Ich bin Astrid.“, sagte ich.
„Gwen.“, sagte Gwen.
Die Geschwindigkeit war mir nicht ganz geheuer, weshalb ich mich jetzt am Armaturenbrett und am Türgriff festhielt. Es entging ihr nicht.
„Zu schnell für dich?“, sagte sie und wurde langsamer.
„Ein bisschen.“, gab ich zu.
„Ich habe auch Angst.“, feixte Reed. „Aber mehr um den Wagen als um mein Leben.“
„Halt die Klappe.“, knurrte Francis.
„Sie ist der Grund warum ich den Jaguar überhaupt erst habe. Meinen Austen Martin hat sie letztes Jahr um einen Baum gewickelt … der schöne Wagen.“, seufzte er.
„Schön? Das Ding war grässlich.“
Bevor er etwas darauf erwidern konnte, hatte ich eine Frage, um mich am Gespräch zu beteiligen.
„Warst du schwer verletzt?“
Sie sah mich an. Ich wollte schon fast sagen, dass sie auf die Straßen sehen sollte, da tat sie es schon.
„Nein. Ich hatte wohl einen Schutzengel.“, antwortete sie. Francis und Reed lachten kurz auf. Den Witz hab ich nicht verstanden.
In null Komma nichts war die Fahrt zu Ende. Der Jaguar blieb vor einem großen weißen Haus stehen. Es war wirklich riesig und eindrucksvoll. Die großen Fenster mussten die Räume am Tag in herrliches Sonnenlicht tauchen. Ein Kiesweg führte zur Eingangstür, die mit buntem Glas im oberen fünftel verziert war. Der goldene Türklopfer, von einem Sonnenstrahl erfasst, blitzte auf.
Reed kletterte mit Gwen, die er immer noch fest hielt, aus dem Wagen. Nicht zu fassen wie leicht es ihm fiel auszusteigen. Francis war bereits zur Haustüre gelaufen, öffnete sie und verschwand darin. Ich folgte Reed, der jetzt Gwen ins Haus trug.
Das innere des Hauses war noch bemerkenswerter. Eine Treppe aus hellbraunem Holz schlang sich an der Eingangshalle empor. In der Mitte, auf einem Marmorboden, stand ein runder Tisch, auf dem ein bunter Strauß Blumen in einer Himmelblauen Vase stand.
Ich hatte nicht viel Zeit mir den Raum genauer anzusehen, da Reed schon wieder weiter ging, nach rechts. Also ging ich auch nach rechts. Wir kamen in die Küche, dort setzte er Gwen auf dem Küchentisch ab. Im selben Augenblick kam Francis hinter uns rein, gefolgt von drei Männern.
„Schon wieder Gwen Sawyer.“, sagte einer der Männer leicht belustigt.
„Doktor McNamara.“, grüßte sie ihn.
„Schon wieder das Knie?“
„Diesmal das Linke.“
Er sah sich das Knie kurz an.
„Quentin, würdest du meine Tasche holen?“
Einer der Männer verließ den Raum, ohne etwas zu sagen.
„Oh oh.“, sagte Francis plötzlich.
„Besser du kümmerst dich um Shane, bevor er ärger macht.“, schlug der Mann vor, der bisher noch nichts gesagt hatte. Ich hatte keine Ahnung über wen sie redeten oder wo er war und wie sie ihn bemerkt hatten. Ich konnte niemanden sehen oder hören, der nicht auch in der Küche war. Aber Francis war schon verschwunden.
„Ich würde euch ja etwas zu trinken anbieten, aber ich fürchte wir haben momentan nichts im Haus.“, sagte der Mann zu mir, der Francis weggeschickt hatte. „Außer ihr würdet euch mit Leitungswasser zufrieden geben.“
„Äh, danke, wir brauchen nichts.“

Impressum

Texte: Das Copyright des Coverbildes gehört Victoria Francis (ich hoffe ich hab ihren Namen jetzt richtig geschrieben). Die Rechte der Geschichte liegen aber durchaus bei mir :)
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Anstelle einer Widmung möchte ich lieber eine Danksagung an dieser Stelle aussprechen. Vielen Dank an Victoria Francis, deren Illustrationen mich zu dieser Story inspiriert haben :)

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