Cover

1.
Die Sonne, die Amy ins Gesicht schien, weckte sie glücklich an diesem Morgen auf. Das war allerdings nur relativ selten der Fall. Normalerweise wurde sie von irgendwelchen Geräuschen in ihrem Zimmer aufgeweckt – oder von den Bewegungen auf ihrem Bett, wenn jemand aufstand. … Und schon war ihr Glück zerstört, denn mit den Erinnerungen an ihren üblichen Morgen, kam die Erkenntnis, dass da ein Arm auf ihrem nackten Rücken lag. Wie jeden Morgen wachte Amy mit Gesicht zum Fenster gedreht auf dem Bauch liegend auf; Und wie jeden Morgen überfuhr sie nach einigen kurzen Momenten die Realität wie ein Zug. Es war eine Art Selbstschutz. Am liebsten würde sie fliehen, irgendwohin, wo sie sie nicht finden würden.
Sie wusste nicht neben wem sie heute Morgen aufwachen würde – nur keine falschen Gedanken, sie war kein Flittchen … aber ein Spielzeug, musste sie sich selbst eingestehen. Gestern Nacht war es spät. Naiver Weise dachte sie da noch, dass sie alleine einschlafen würde. Doch sie hatte sich zu früh gefreut. Irgendwann gegen Mitternacht, nachdem Amy todmüde ins Bett gefallen war, kam jemand in ihr Zimmer – wie so gut wie jeden Abend seit zwei Jahren. Es war dunkel und sie konnte seine Stimme nicht erkennen, da er keine fünf Worte gesagt hatte. Er hatte sich nur ausgezogen, sich neben sie in ihr Bett gelegt, sie langsam ausgezogen und … und … Argh! Am liebsten würde sie das Geschehene vergessen … oder verdrängen … aber mehr als ignorieren, wollte ihr einfach nicht gelingen – irgendwo in eine der hintersten Ecken ihres Gedächtnisses einsperren.
Sein Geruch war eindeutig. Ein süßer, exotischer und verlockender Duft drang ihr in die Nase. Sie kannte diesen Duft und konnte sich jede Mal in ihm verlieren. Bis ihr wieder einfiel, zu wem dieser unwahrscheinlich unwiderstehliche Geruch gehörte. Amy wollte die Assoziation dieses Duftes mit seinem Besitzer vergessen.
Er bewegte sich jetzt. Und Amy kniff ihre Augen fest zusammen, atmete tief ein und sie konnte hören, wie sie zitterte. Es überraschte sie fast schon, dass sie nach zwei Jahren immer noch so reagierte – sie sollte längst schon daran gewöhnt sein. Er legte sich auf sie drauf. Amy konnte sein Gewicht auf ihr spüren – mit einem bitteren Lachen tief in ihrem Innersten fiel ihr auf, dass er sie sein gesamtes Gewicht spüren ließ. Seine raue Hand suchte einen Weg zu ihrer Brust und fand diesen auch gleich. Seine Lippen waren kratzig auf der Haut ihres linken Schulterblatts. Die Hoffnung war groß, dass es bald vorbei war – eine hoffnungslose Hoffnung, die sie überschwemmte – es würde nie zu Ende sein, sie war für immer hier. Seine Hand kämpfte sich zwischen ihrer Matratze und ihrem Körper seinen Weg zwischen ihre Beine. Als er sein Ziel gefunden hatte quälten dicke, salzige Tränen aus ihren Augen und sie biss sich atemlos auf die Lippe, bis sie blutete.
Wie ist sie hier nur gelandet? Natürlich wusste sie genau, wie sie hier gelandet war. Das war nur eine rhetorische Frage, die sie sich aber immer wieder aufs Neue stellte. Wusste ihre Mutter, was das hier für Menschen waren, als sie sie um Hilfe bat? Immer wieder wünschte sich Amy die Antwort auf diese Frage sie: nein. Aber war sie es wirklich? Sie konnte sich nicht sicher sein, immerhin kannte sie ihre Mutter ja kaum – genau so wenig wie ihren Vater. Amy existierte erst sieben Monate, als es Komplikationen bei der Schwangerschaft gab und ihre Mutter starb – sie selbst hatte Glück gehabt, dass sie als Frühgeburt noch lebte.
Ihr wurde immer erzählt, dass ihre Mutter sich nur Alexis, die die Rolle ihrer Ziehmutter übernahm, anvertraut hatte – der Himmel weiß warum. Und alles was Amy über ihre Eltern wusste, hatte sie von Alexis – und welchen Grund hatte sie Amy darüber anzulügen? Ja, gut, Alexis mochte sie nicht besonders – nein, das ist ziemlich untertrieben – sie hasste sie. Aber sie hasste sie erst seit etwas über zwei Jahren. Davor … naja, man konnte nicht sagen oder erkennen, das Alexis sie in irgendeiner Weise geliebt hatte – sie war nie sonderlich herzlich zu ihr … zu niemandem. Aber sie hatte nie einen Grund ein Kind über ihre Mutter anzulügen. Oder doch?
Sie erzählte Amy immer, dass sie während eines One-Night-Stands gezeugt wurde. Ihre Mutter war an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag mit ihren Freundinnen ausgegangen, um zu feiern, dass sie ab sofort legal trinken durfte. In einer Bar oder einem Club – für Amy ist das so ziemlich dasselbe, da sie nichts von beidem jemals von innen gesehen hatte – lernte ihre Mutter ihren Vater kennen. Sie hätten die ganze Nacht über getanzt und sich gut verstanden, erzählte Alexis. Kurzerhand hatte ihre Mutter ihre Bekanntschaft mit nach Hause genommen und im Alkoholrausch Amy gezeugt.
Am nächsten Morgen war er verschwunden und drei Wochen später fand ihre Mutter heraus, dass sie schwanger war. Obwohl sie schon im Wartezimmer einer Praxis saß, um eine Abtreibung vornehmen zu lassen, brachte sie es einfach nichts übers Herz das kleine Lebewesen in ihr zu zerstören – wer hätte gedacht, dass das ihr größter Fehler werden würde. Amys Mutter hatte mit dieser Entscheidung nicht nur ihr Schicksal besiegelt, sondern wie sich herausstellte auch des Wesens, das sie beschützen wollte.
Als ihre Mutter herausfand, was da in ihr heranwuchs, hat sie sich auf die Suche nach Hilfe gemacht. Alexis hat nie erzählt, wie ihre Mutter herausfand, was Amy war. Ihrer Meinung nach war das nicht wichtig und Amy konnte sie nicht davon überzeugen, dass es für sie doch wichtig war – alles was ihre Mutter betraf, war für sie wichtig. Also vermutete Amy, dass ihre Mutter es ihr nicht erzählt hätte und sie es nicht zugeben wollte. … Jedenfalls fand ihre Mutter irgendwie Randys Rudel. Ja, Rudel – Amy ist ein Werwolf, was sie offensichtlich von ihrem Vater geerbt haben musste von dem sie rein gar nichts wusste.
Jedes Rudel hatte einen Alpha – in diesem Rudel war es Randy. Und jeder Alpha hatte rechts von sich einen Beta und links von sich einen Cveta (irgendwie standen Randys Beta, Liam immer rechts von ihm und sein Cveta, Kyle endete immer links von ihm; Amy wusste nicht ob das Zufall war oder sie sich absichtlich immer so neben ihn stellten). Alpha ist immer derjenige Wolf, welcher am dominantesten war. Demnach sind der Beta und Cveta die am nächst dominantesten Wölfe im Rudel, sie sind praktisch seine Stellvertreter, wenn Randy in irgendeiner Weise beschäftigt war. Randys Rudel bestand aus neunzehn Werwölfen, wenn man die drei weiblichen Werwölfe, die keine Mates hatten, nicht mit zählte – und niemand tat das. Die weiblichen Werwölfe waren nicht viel Wert, wenn sie keinen Mate hatten.
Jeder Werwolf auf der Welt hat einen Mate, einen Partner – Amy glaubte, dass ein Mate so etwas wie ein Seelenpartner war – so richtig hat ihr nie jemand die ganze Mating-Sache erklärt. Alexis war Randys Mate und damit sogar praktisch einen halben Rang höher als sein Beta, Liam. Die weiblichen Werwölfe nahmen denselben Rang in der Rudelrangordnung ein, wie ihre männlichen Mates. Dadurch war Amy auch nicht viel Wert. Sie ist weiblich, hatte keinen Mate und war zu allem Übel auch noch die jüngste im Rudel. Selbst wenn sie kämpfen könnte, was ihr nie jemand beigebracht hatte, hätte ihr das auch nichts genützt. Denn was der Alpha befahl war Gesetz, egal ob es einem passte oder nicht, man musst das tun was er verlangte. Und eines von Randys Gesetzen war, dass die weiblichen Wölfe ohne Mate für alle männlichen Wölfe des Rudels zur Verfügung zu stehen hatten – und das nicht gerade um ihnen ein Sandwich zu machen oder ihre Wäsche zu waschen.
Es war Kyle, Randys Cveta, der sich gerade mit Amy vergnügt hatte. Mit roten und verquollenen Augen lag sie jetzt regungslos immer noch mit ihrem Bauch auf ihrem Bett und sah den Wolken zu, wie sie an ihrem Fenster vorbei zogen, als Kyle mit einem Knarzen vom Bett aufstand und sie selbst versuchte die Luft wieder ruhig und regelmäßig in ihre Lungen zu ziehen. Sie wollte ihm nicht zusehen, wie er sich seine Hose anzog und aus ihrem Zimmer stolzierte und genauso wenige, wollte sie ihm die Befriedigung geben, dass er sie jedes Mal zum Weinen brachte – es reichte ja schon, dass er sie schluchzen hören konnte, da musste er sie nicht auch noch verheult sehen. Stattdessen leckte sie sich das Blut von ihrer Unterlippe.
Dafür, dass es ihm mehr Spaß machte ihren Schmerz zu sehen, hören und zu fühlen, den er ihr zufügte, als dass er sich an ihr vergriff, hasste sie ihn noch viel mehr. Es bereitete ihm ein immenses Vergnügen, dass er sie zum Weinen brachte – mehr als den anderen. Kyle war natürlich nicht der einzige, der einen Freifahrtschein in ihr Bett und ihre Hose hatte, den Randy ihm gegeben hatte – natürlich nicht – aber er war der Grausamste.
Jedes Mal, wenn sie ihn traf und versuchte ihm nicht in die Augen zu sehen, schaffte er es doch ihr widerliche Blicke zuzuwerfen und ihr mit einem Lecken seiner Lippen zu zeigen, dass er es genoss zu zusehen, wie man sie langsam brach. Und wenn es ihm gerade passte – so wie heute, warf er ihr noch ein paar Dollar hin, wenn er morgens ihr Zimmer verließ, um sie noch mehr zu erniedrigen. Sie sammelte das Geld, auch wenn sie es hasste. Amy hatte den Traum irgendwann von hier auszubrechen und ihren Vater zu suchen – wenn er denn noch lebte – vielleicht war ein Leben mit ihm besser, als ein Leben hier – nein, ganz sicher war ein Leben mit einem ihr vollkommen fremden Vater besser, als ein Leben hier im Rudel … alles war besser als das hier.
„Hat es dir auch so viel Spaß gemacht wie mir?“, flüsterte er ihr mit einem leisen, amüsierten Ton ins Ohr. Dann verstrubbelte er ihr Haar.
Am liebsten würde sie in ihre Wolf Form wechseln und ihn Angreifen, ihm seine abscheuliche Hand abreißen. Sie wollte ihm sein Gesicht zerkratzen, zerbeißen und für immer und ewig entstellen, so dass ihn nicht einmal mehr seine Mutter – Amy wusste nicht wie alt Kyle wirklich war (Werwölfe blieben äußerlich im Alter zwischen zwanzig und Mitte dreißig stehen, damit sie in ihrer besten körperlichen Form waren) – erkennen konnte, falls sie noch lebte. Aber es war unmöglich. Er war viel stärker als sie (er könnte sie bestimmt auch in seiner Menschenform bezwingen, während sie als Wolf gegen ihn kämpfte). Außerdem lag Randy nur zwei Zimmer weiter und wie Amy das Rudel kannte, hatten Ivy und Sarahi (die anderen beiden weiblichen Wölfe ohne Mates im Rudel) die Nacht auch nicht alleine verbracht. Das würde also heißen, dass vier männliche Wölfe – und bestimmt auch Alexis (Ivy und Sarahi würden wahrscheinlich versuchen sich zurückhalten, wenn sie es schafften) sie in Stücke zerreißen – nicht das Kyle das nicht auch alleine zustande brächte.
Er verließ ihr Zimmer ohne dass sie ihm auch nur ein Haar krümmte.
Um ihm unten in der Küche nicht zu begegnen wartete sie noch zwanzig Minuten, ehe sie sich schließlich aufrichtete. Normalerweise, wenn er bei ihr war, trank er nur noch einen Kaffee und ging. Also sollte er jetzt verschwunden sein.
Mehr als einmal hatte Amy versucht sich umzubringen. Doch leider vergeblich. Es wäre ja eine tolle Sache unsterblich zu sein und unnatürlich schnell von Verletzungen zu heilen, aber nur wenn man ein glückliches Leben hatte. Amy aber war nicht glücklich und verfluchte diese Extras ihres Werwolf Lebens – nicht der einzige Aspekt ihres Lebens, den sie verfluchte – aber es wäre wohl unnötig die anderen Seiten noch einmal zu erwähnen.
Sie stopfte das übergroße T-Shirt, unter dem sie nackt war, in den Wäschekorb und stieg in die Dusche. Bis das Wasser die richtige wärme angenommen hatte konnte sie nicht abwarten, sie verpasste sich kopfüber eine minutenlange, eiskalte Dusche bevor sie erkannte, dass der Wärme- und Kälteregler an der Dusche auf Kalt gestellt war und ihn schließlich auf warm drehte. Wie jeden Tag duschte sie fast eine halbe Stunde, bis sie sich wie jeden Tag eingestehen musste, dass es nicht genug Wasser und Seife auf der Welt gab, als das sie sich von diesem schmutzigen Gefühl rein waschen zu können. Weil sie ihre Klamotten, die sie anziehen wollte in ihrem Zimmer vergessen und nur ein Handtuch um hatte, öffnete sie die Badezimmertür einen Spaltweit um nach zusehen, ob die Luft rein war, damit sie niemand so sah – nicht, dass nicht jeder im Rudel sie nicht schon nackt gesehen hätte (obwohl sie erst fünfzehn ist).
Als die Luft rein zu sein schien beeilte sie sich an den drei Türen im Flur vorbei zu huschen, ohne irgendwelche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Natürliche konnten sie sie hören – auch wenn sie auf leisen Sohlen schleichen würde. Werwölfe hatten ausgesprochen gut ausgeprägte Sinne, sie hören besser als Menschen, sehen besser und können besser riechen – sowohl in Wolf Form als auch in Menschen Form, wobei ihre Sinne in Menschen Form nicht ganz so stark ausgeprägt waren wie in Wolf Form.
Die erste (Randys und Alexis Zimmer) und zweite Tür (Ivys Zimmer) hatte sie schnell hinter sich. Bei der dritten Tür (Sarahis Zimmer), war sie dagegen nicht so begünstigt. Sie rannte in jemanden hinein und hielt den Atem an. Er hatte keinem T-Shirt an und sie berührte seinen nackten Oberkörper. An einem Tattoo in Form eines heulenden Wolfs vor einem Vollmond über seinem Herzen konnte sie ableiten, wer es war, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. Liam, Randys Beta. Er hatte sie mit seinen muskulösen Armen fest im Griff, und verhinderte damit, dass sie rücklings hinfiel, als sie an seiner Brust abprallte.
Sie konnte ihm nicht in seine leuchtend braunen Augen sehen. Sie traute sich nicht. Neil, Orson oder Ben (die drei am niedrigsten gestellten Wölfe in der Rudelhierarchie) hätte sie zwar auch nicht in die Augen sehen können – da das eine Herausforderung wäre, die sie verlieren würde (wenn sie überleben würde) – aber sie hätte ihnen wenigstens ins Gesicht sehen können.
Sie wollte ihm gerne in sein Gesicht sehen, war aber zu feige. Nicht nur, weil sie sich in Gefahr bringen könnte, sondern, weil sie fürchtete ihren Blick nicht mehr von ihm abwenden zu können. Sie musste zugeben, dass er schön war … und sexy. Er hatte perfekte und elegante Gesichtszüge. Immer wieder erwischte sie sich dabei, wie sie ihn aus der Ferne anstarrte und sich wünschte ihre Hand durch sein kurzes braunes Haar zu fahren. Sie leibte es seinen Geruch zu inhalieren. Sein Duft war nicht so perfekt wie seine Gesichtszüge, aber es war sein Duft.
Er ließ sie los ohne irgendetwas zu sagen und schob sie zur Seite um an ihr vorbei zu gehen. Erst als er die Treppe hinunter ging und dabei sein T-Shirt wieder anzog konnte sie erst wieder richtig durchatmen. Amy hätte es besser wissen müssen, aber sie beobachtete ihn, als er hinunter ging. Das ihr dargebotene Zusammenspiel seiner Muskeln in seinem Rücken und seinen Schultern raubte ihr den Atem. Sie riskierte viel, indem sie ihn so anstarrte, konnte aber nicht anders.
Es war dumm. Aber ihr Herz klopfte wilder, wenn sie ihn sah – und das lag nicht daran, dass sie vor ihm Angst hatte (was wesentlich klüger wäre). Ob sie ihn liebte wusste sie nicht. Sie wusste nicht einmal genau, was Liebe war – dazu hätte sie erst einmal Liebe in ihrem Leben erfahren müssen. Aber sie mochte ihn. Er war der angenehmste Wolf im Rudel. Dass sie das dachte lag allerdings mehr daran, dass er sie niemals nachts in ihrem Zimmer besuchte, als dass sie ihn kannte. Noch nie hat er direkt mit ihr gesprochen, wenn er ihn keine Befehle gab. Seine Befehle aber unterschieden sich von den Befehlen, die sie von den anderen Wölfen im Rudel erhielt. Er hatte nie diesen offensichtlichen Befehlston an sich, wie ganz besonders Randy und Kyle. Seine Kommandos waren in einem besonderen Ton, weicher, irgendwie versteckter.
Zu dumm, das sie von Liams Abgang so abgelenkt war, dass sie Alexis hinter sich nicht ankommen gehört hatte. Sie riss Amy an ihrem Haaren herum, damit sie ihr ins Gesicht sehen konnte.
Alexis Gesichtszüge, teilweise von ihren langen dunkelblonden Haaren verdeckt, waren von Wut verzerrt. Es war selten, dass Amy ihre ebenen Züge sah, da Alexis meistens übelgelaunt war, wenn Amy ihr begegnete. Amy konnte sich glücklich schätzen, wenn Alexis ihre perfekt manikürten Fingernägel nicht dazu einsetzte um ihr das Gesicht zu zerkratzen.
„Du sollst dich anziehen, hab ich gesagt!“, fauchte sie und zerrte Amy an ihren Haaren in ihr Zimmer. Alexis hasste es, wenn jemand außer ihr halbnackt im Haus herum rannte – nicht dass Randy ihr so etwas gestattet hätte – ziemlich territorial diese Werwölfe.
Nachdem Alexis sie getreten hatte, als sie schon am Boden lag, und die Türe hinter sich zugeknallt hatte, beeilte sich Amy sich anzuziehen und in die Küche zu kommen, ehe Alexis ihr auch noch Randy auf den Hals hetzte. Randy hätte sie nicht nur getreten.
In der Küche angekommen konnte sie nicht glauben, dass ihr schon wieder entgangen ist, dass Kyle noch anwesend war. Er saß zusammen mit Liam am Frühstückstisch und trank seinen Kaffee. Sie war nie gut darin gewesen ihren Sinnen genug Aufmerksamkeit zu schenken, dass sie unangenehmen Situationen aus dem Weg gehen konnte. Hastig senkte Amy ihren Blick, sodass sie allen nur noch auf die Füße starrte. Glücklicherweise schenkte ihr niemand auch nur die geringste Aufmerksamkeit als sie in die Küche kam. Sarahi stand am Herd und machte Rühreier zum Frühstück, während Alexis, auf der Holztheke sitzend, ihr rein redete, sie solle nicht so viel würzen und ja nichts anbrennen lassen. Ivy war wohl noch nicht auf und Randy war noch in seinem Zimmer.
So unsichtbar wie sie auch nur konnte schlich sie zum Schrank über der Kaffeemaschine, nahm sich einen Kaffeebecher und schenkte sich Kaffee ein. Als sie überlegte, ob sie es wagen sollte sich Milch und Zucker zu holen, drückte ein Körper sie gegen den Küchentresen. Er brauchte sie nicht einmal am Nacken zu küssen, damit sie wusste, dass es Kyle war. Sie musste wirklich endlich anfangen ihren Sinnen ihre Aufmerksamkeit zu schenken, um sich selbst zu schützen.
„Na, was ist“, hauchte er ihr ins Ohr, „sollen wir noch Mal nach oben gehen?“ Sie konnte sein dreckiges Grinsen in seinem Gesicht hören.
„Nein.“, sagte sie kleinlaut und atemlos. Das war entweder mutig oder dumm, aber auf jeden Fall ein Fehler. Schlage niemals einem dominanteren Wolf etwas ab, das war eine der wichtigsten überlebensregeln für einen Werwolf, der so weit unten in der Rangordnung war wie sie. Dieses Nein wird sie noch bitter bezahlen.
Er packte sie harsch an ihren Haaren, fester als Alexis es hatte oder es überhaupt hätte tun können. Sie konnte nicht anders als auf zu schreien. Er konnte es nicht wissen, vermutete es aber vielleicht, dass sie sich in diesem Moment wünschte eine Glatze zu haben.
„Nicht?“, sagte er in einem süßen aber trotzdem genauso harschen Ton wie sein Griff war, „Das ist aber schade, liebes.“ Und seine Hand glitt von ihrem Bauch weiter nach unten.
„Kyle!“ Liam. „Lass sie los. Wir haben noch zu tun.“
Kyle zögerte. Er hasste es Befehle entgegen zu nehmen, besonders wenn sie von Liam kamen, auf dessen Position, als Randys Beta, er scharf war. Aber Amy wusste – ganz offensichtlich wie auch Kyle – dass er keine Chance gegen Liam in einem Dominanzkampf hatte. Ansonsten hätte Kyle sein Glück schon längst versucht. So sehr er es auch hasste, er ließ schließlich schnaubend los, ehe Liam ihn noch einmal auffordern musste. Aber er ließ es ich nicht nehmen, Amy noch einen Kuss auf die Wange aufzudrücken und ihr zu zuflüstern, „Wir sehen uns noch, kleines.“
Den Flüsterton hätte er sich sparen können, dachte sie, alle anderen im Haus konnten ihn auch so hören – Werwolfohren.
„Kyle, du gehst alleine.“, sagte die raue Stimme von Randy (diesmal hatte Amy gewusst, dass er kam). „Liam, ich will dass du zu Finnley fährst und Ivy zur Schule bringst.“ Dann hat Ivy heute Nacht wohl nicht zu Hause verbracht, dachte Amy. „Ich will nicht, dass sie schon wieder Unterricht versäumt.“
Randy schob Amy beiseite und schenkte sich Kaffee in den Becher ein, den nur er benutzen durfte. „Und sag Finnley, wenn er Ivy noch einmal über Nacht bei sich zu Hause behält, werde ich ungemütlich.“, sagte er in dem drohenden Ton, den kein anderer imitieren konnte – dem Alphaton. „Und nimm sie gleich mit.“
Mit „sie“ war Amy gemeint. Ohne dass Randy auf sie zeigte, sie ansah oder zu ihr nickte, wusste auch Liam, dass Amy gemeint war, denn er wartete im Flur auf sie und trieb sie mit einer Handbewegung an. Amy vermutete, dass er wusste wer gemeint war, weil sie die einzige außer Ivy in diesem Haus noch zur Schule ging.
„Danach folgst du Kyle.“, konnte Amy Randy noch sagen hören, als sie ihre Schultasche aus ihrem Zimmer holte.
„Nimm Ivys Tasche mit.“ Wieder die weiche Anordnung, wie sie nur Liam richtig hinbekam.
Amy hastete in Ivys Zimmer und knipste das Licht an, obwohl sie eigentlich perfekt sehen konnte, auch wenn es stockfinster war. Ivy zog die Rollläden an ihren Fenstern niemals hoch, nicht mal zum putzen. Aber vermutlich gelang dort nie wirklich ernsthafter Dreck hin, da die Rollläden nichts durch ließen. So Unordentlich wie Ivy war ging sie eher sorglos mit ihrem Zimmer um, was wohl der Grund war, dass Finnley sie immer zu sich nach Hause holte, wenn er sie wollte. Finnley war ein Ordnungsfanatiker, hatte Amy gehört und auch schon eins ums andere mal mitbekommen. Er räumte immer Alexis Zeitschriften auf, die sie ständig überall im Wohnzimmer verstreute, wenn er hier mit Randy etwas diskutierte.
Überall auf dem Boden waren Klamotten verstreut. Amy konnte gar nicht sagen, welche schmutzig und welche sauber waren. Ein weißes T-Shirt, von dem Amy sicher war, dass sie es erst gestern aus dem Trockner geholt hatte, lag zerknittert auf dem Schreibtisch neben dem Bett. Ivy schmiss ihre frisch gewaschenen Sachen einfach immer in irgendeine Ecke und kümmerte sich nicht weiter darum. Verwundert, dass Randy und Alexis sich noch nicht dagegen ausgesprochen hatten, griff sich Amy Ivys schwarzen Rucksack. Bevor sie runter zur Haustür rannte, wo Liam auf sie wartete ging noch mal sicher, dass die richtigen Bücher laut Ivys Stundeplan darin waren.
Er war nicht allein. Er hatte Sarahi im Arm und küsste sie am Hals. Es schien ihr nicht wirklich zu gefallen, aber sie ertrug ihn mit Geduld. Was blieb ihr anderes übrig? Liam ist zwar nicht so übel wie Kyle oder so manch andrer, aber er konnte auch schon mal aus seiner Haut fahren, wenn er nicht das bekam, was er wollte. – Hätte Amy es nicht besser gewusst, hätte sie gedacht, dass für eine Sekunde seine Augen auf ihr verharrten und er sie ansah.
Er entließ Sarahi, sah aber Amy weiter an und winkte sie hinter sich her. Sarahi warf Amy einen lass-dich-bloß-nicht-unterkriegen Blick zu, als sie sich ihre schulterlangen, blonden Haare zusammen band. Das tat sie oft. Sie war die einzige Erwachsene hier, die sich um Amy und auch um Ivy kümmerte – aber auch nur soweit, dass sie sich selbst nicht in Schwierigkeiten brachte. Amy war ihr trotzdem Dankbar dafür.
Die Fahrt zu Finnley Haus war still, nur das leise surren des Wagens – eines von diesen Elektroautos – war zu hören. Keiner der beiden sagte etwas. Amy, weil sie sich nicht traute und Liam vermutlich, weil er nichts zu sagen hatte – jedenfalls ihr nicht. Die Stille schrie so laut zwischen ihnen, dass Amy ernsthaft darüber nachdachte das Autoradio anzumachen. Doch das erforderte mehr Mut als sie besaß. … Hatten die männlichen Wölfe sie schon soweit zerstört, dass sie sich nicht mal mehr traute ein einfaches Radio anzumachen? Sie wusste sogar, dass Liam gerne Musik hörte. Wenn die Wölfe bei Randy immer zusammensaßen und sich unterhielten, war es immer Liam, der eine CD in den CD Player legte und auf Play drückte oder das Radio anmachte. Auch sonst sah sie ihn immer mit Ohrstöpsel im Ohr, wenn er nichts allzu Wichtiges zu tun hatte.
Sie reichte schon zwischen den Lehnen der beiden Vordersitze (sie hätte es nicht gewagt sich nach vorne neben ihn zu setzen), bevor sie wusste, was sie da eigentlich tat. Umso mehr erschrak sie, als er ihr Handgelenk festhielt, kurz bevor sie den Radioknopf drücken konnte. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, dass er sie so hielt, ehe er ihre Hand zu seinem Gesicht führte. Er küsste ihre Hand.
„Lass es lieber.“, sagte er, seine Lippen noch immer an ihrer Hand und die Augen noch immer auf der Straße, „Das Radio ist kaputt.“ Damit ließ er sie los.
„Du musst lernen dich gegen Kyle zu wehren.“, sagte er nach einer kurzen Pause.
Er hatte wohl Kyles Handabdruck an ihrem Handgelenk gesehen. Kyle packte sie immer so fest, dass sie nach ein paar Stunden blaue Flecke davon trug. Neben dem um ihr Handgelenk, hatte sie noch einen an den Rippen und drei an ihren Beinen. Immer wenn Amy nicht sofort spurte, erntete sie dafür Schläge. Und Kyle verlangte viel, was sie einige Überwindung kostete um dem nach zu kommen.
„Das wird mir nicht viel nützen, oder?“ Oh, das hätte sie nicht sagen sollen (eine andere Überlebensregel im Rudel ist: zeige niemals einem der Wölfe, dass du mit einem anderen unglücklich bist).
„Hm, vermutlich hast du da Recht.“
Sie drehte sich zum Fenster und versteckte sich hinter seinem Sitz, damit er ihr Lächeln nicht sehen konnte. Er war nicht so wie die anderen Wölfe im Rudel, nicht so aggressiv und nicht so brutal. Er war … nett, rastete nicht aus, wenn sie Kyle so gewalttätig hinstellte wie er zu ihr war.
Erst jetzt bemerkte sie, dass sie eine andere Strecke fuhren, als die übliche zu Finnleys Haus. Bisher war sie zwar nicht oft bei Finnley zu Hause gewesen – wogegen sie auch gar nichts einzuwenden hatte; je weniger Wölfe etwas von ihr wollten, desto besser – aber sie kannte sie Strecke trotzdem. Und sie war sich sicher, dass er am anderen Ende der Stadt wohnte.
„Ähm, wohnt Finnley nicht am anderen Ende der Stadt?“ Es war ein Risiko ihn so etwas zu fragen – vor allem, da er es wahrscheinlich so auffassen würde, dass sie dachte er mache einen Fehler (eine weitere überlebenswichtige Überlebensregel: unterstelle niemals einem dominanteren Wolf, er mache einen Fehler; das könnte böse enden). Aber ihre Angst verbat ihr nicht zu fragen.
„Ja.“, antwortete er einfach.
Sie traute sich kaum zu fragen, konnte sich aber nicht helfen. Die Worte kamen einfach so aus ihr raus. „Aber hat Randy nicht gesagt du sollst Ivy zur Schule fahren?“ Und ganz eingeschüchtert fügte sie noch hinzu, „… und mich auch?“ Es vergingen einige Sekunden ohne eine Antwort und sie biss sich auf die Lippe um ihm nicht aus Versehen zu sagen, er solle ihr antworten.
„Weißt du, Randy mag zwar dominanter sein“, sagte er mit einem derben Blick in den Rückspiegel auf sie, „aber ich bin immer noch klüger als er. Das erlaubt mir seine Befehle so hinzubiegen, wie sie mir passen.“ Nach einer kurzen Pause, sagte er noch. „Keine Sorge, wir haben noch eine Menge Zeit, bevor du zu spät kommst.“
Er hatte ihr ruhig geantwortet, trotzdem bereute sie es gefragt zu haben. Jetzt wusste sie, was er vor hatte. Jetzt konnte sie es nicht mehr leugnen. Sie hatte sich in ihm getäuscht. Die letzten zwei Jahre über hatte sie gedacht, dass er anders wäre, dass er nett wäre. Aber er war nicht anders, er war genauso wie die anderen Wölfe im Rudel. Er wollte auch nur dasselbe wie die anderen.
Liam parkte den Wagen an dem Platz, an dem die Wölfe üblicherweise bei Vollmond parkten um in Wolf Form durch den Wald zu laufen. Niemand sonst kam hier her. Eine Sichere Stelle, um das zu tun, was er jetzt vor hatte, vermutete sie taub. Taub vor Entsetzen darüber, dass sie sich in ihm geirrt hatte. Sie hatte ihn wirklich gern gehabt. Und jetzt musste sie feststellen, dass er sie auch nur vergewaltigen wollte. Vermutlich hatte er es früher nie versucht, weil so noch ein halbes Kind war. Nicht jeder Wolf war so pädophile wie Kyle, von dem sie schon mit dreizehn gewaltsam entjungfert wurde.
Er stieg aus, ohne sie noch mal anzusehen. Bevor er hinten einstieg streckte er sich genüsslich. Das verriet ihr, dass er es genauso genoss wie Kyle. Es war schlimm genug, dass er so war wie die anderen Wölfe, aber dass er so war wie Kyle, traf sie umso schlimmer. Sie konnte ihm nicht zusehen, wie er auf den Rücksitz kletterte, denn dann hätte sie das Grinsen in seinem Gesicht direkt gesehen und nicht nur in der Spiegelung des Fensters, bei der es ihr noch möglich war es zu bestreiten. Amy wollte es nicht wahr haben, was gerade passierte.
Aber seine Hand an ihrer Brust und seine Lippen an ihrem Hals waren unbestreitbar.
Dann ließ er von ihr ab. „Setz dich auf meinen Schoß.“ Jetzt hasste sie diese unauffällige Instruktion. Aber sie konnte auch nichts dagegen tun, sie musste ihm gehorchen. Wenn er genauso war wie die anderen – besonders wenn er so war wie Kyle – durfte sie es sich nicht leisten ihn zu erzürnen. Also kletterte sie auf seinen Schoß, sah ihn aber immer noch nicht an, sie starrte sich an einem alten Blutfleck auf dem Polster der Rückenlehne über seiner rechten Schulter fest.
Mit seiner rechten Hand in ihrem Nacken zog er sie näher an sich heran, während seine linke Hand an ihrem Bein hinauffuhr. Noch nie war Amy so glücklich eine Jeans zu tragen. Das würde es ihm wenigstens etwas schwerer machen. Er küsste ihr wieder den Hals, was ihm zu gefallen schien. Er war nicht zärtlich aber auch nicht grob – nicht, dass es sich besser angefühlt hätte, wenn er zärtlich gewesen wäre.
Hatte sie ihn vorher gemocht, hasste sie ihn jetzt. Sie hasste ihn dafür, dass er sie zu etwas zwang, das sie nicht wollte. Sie hasste ihn dafür, dass er es genoss wie Kyle. Aber vor allem hasste sie ihn dafür, dass sie sich in ihm getäuscht hatte.
Sie konnte nicht anders als sich zwischen seiner Schulter und seinem Hals zu vergraben und wieder zu weinen. Konnte man vor lauter weinen austrocknen? Vermutlich, wenn man nichts mehr trinkt. Dann würde sie austrocknen und sterben. War es das wert? Sie wusste, dass es einige Zeit dauerte, bis man verdurstete und dass es eine Qual wäre. Aber es wäre bestimmt keine größere Qual als das hier. Nur zu dumm, dass Randy ihr befehlen konnte zu trinken. Damit wäre diese Möglichkeit auch außer Reichweite.
Er strich die Hand, mit der er sie an ihrem Nacken festgehalten hatte, durch ihr Haar und hob ihr Gesicht, sodass er in die Augen sehen konnte. Aber Amy konnte ihm nicht ins Gesicht sehen. Schlimm genug, dass er sie so verletzlich und verheult sehen konnte.
„Was ist los?“, fragte er.
Was ist los?! Was glaubte er denn, was mit ihr los war?! Hatte er denn erwartet, dass es ihr Spaß machte?! Liam verbrachte die Nacht sonst immer nur mit Sarahi – nicht mit Ivy und nicht mit ihr, immer nur mit Sarahi. Machte es Sarahi etwa Spaß, das die Wölfe sie so behandelten? Machte es ihr Spaß, dass Liam sie so behandelte? War sie in ihn verliebt? Verdenken konnte es Amy ihr nicht. Es stimmt schon, Liam war doch irgendwie anders als die anderen. Auch wenn er die drei weiblichen Werwölfe so behandelt, als wären sie nicht viel Wert – wie die anderen auch – etwas anders war er dann doch. Aber nein, sie glaubte nicht, dass es Sarahi Spaß machte – sie hatte heute Morgen ihr Gesicht gesehen, sie war nicht glücklich darüber.
„Was wohl?“, sagte Amy mit zitternder Stimme. „Denkst du etwa, dass mir das gefällt?“ Bei einem der anderen hätte sie sich nicht getraut so etwas zu sagen. Auch wenn sich herausgestellt hatte, dass Liam nicht besser war als die anderen, er ist längst nicht so aggressiv wie die anderen.
„Das sind nun mal die Regeln.“, sagte er schlicht.
Die Regeln. Pah. Nur weil Randy, der Alpha zur Regel gemacht hat, dass die weiblichen Wölfe dem gesamten Rudel gehörten, musste sie sich noch längst nicht damit abfinden – was zugegebenermaßen allerdings tat, aber sie musste nicht glücklich damit sein – was sie auch ganz bestimmt nicht war.
Sie schnaubte wütend.
Obwohl er ihr jetzt sanft über die Wange strich, behob das nicht die Wut, die Kyle heute Morgen angefacht hatte und die Liam weiter geschürt hatte. Selbst das amüsierte Lächeln, das sie aus ihren Augenwinkeln in seinem Gesicht sehen konnte besänftigte sie nicht.
Wäre sie kein Werwolf und wäre er kein (viel stärkerer und dominanterer) Werwolf würde sie ihn schlagen. Sie würde ihn Ohrfeigen, ihm ihre Faust mit aller Kraft in dieses Lächeln rammen und ihn in den Schritt tretet – und das nicht nur einmal. Dann würde sie weglauf und nie wieder zurück kommen – immerhin könnte sie sie nicht so leicht aufstöbern, hätten sie nicht die gute Nase eines Werwolfs. Wäre sie kein Werwolf, hätte sie noch ihre Mutter – ihren Vater vermutlich trotzdem nicht – aber ihre Mutter würde noch leben. Amy würde mit ihrer Mutter leben.
Er küsste sie auf den Mund. Die Überraschung, die sie empfand, galt weniger der kurzen Berührung ihrer beider Lippen, als der Zärtlichkeit seines Benehmens. Seine Augen waren geschlossen und er lehnte ihre Stirn gegen die seine. Sein Lächeln erstarb nicht.
„Wenn du mein Mate wärst, könnte das alles aufhören.“ Nein, sie hatte sich geirrt, das war überraschend. Wieso sagte er nur so etwas? Und wieso glaubte sie ein Verlangen in seiner Stimme zu hören?
Er schob sie zurück auf die Rückbank. Doch anstatt sich über sie herzumachen, wie sie einen Moment lang gedacht hatte, stieg er aus dem Wagen aus und wieder in den Fahrersitz. Amys Herz klopfte wie wild. Aber es lag nicht daran, dass sie verwirrt war wegen seiner Nähe, sondern, weil sie ihn nun wirklich nicht mehr verstand. Gehörte er zu den Guten oder den Bösen? Wollte er sie wirklich als seinen Mate? Hätte er sie dann nicht schon früher fragen können?
„Was soll das heißen?“, fragte sie, als er sich wieder anschnallte.
Keine Antwort, nicht einmal die kleinste Reaktion darauf.
„War das dein Ernst?“ Das hätte sie nicht fragen sollen. Nicht, weil es gefährlich für sie werden könnte, sondern weil er sie eigentlich gar nicht gefragt hatte, ob sie sein Mate sein möchte. Liam hatte nur gesagt, dass das alles aufhören würde, wenn sie es wäre. Hatte sie sich das Verlangen in seiner Stimme nur eingebildet – oder vielleicht sogar gewünscht?
„Setz dich nach vorne.“, orderte er kühl. „Ich mag es nicht, wenn ein Wolf hinter mir sitzt.“
Mochte er es wirklich nicht? Wollte er ihr vielleicht sogar etwas damit sagen, dass er wollte, dass sie vorne saß? Nein, unmöglich. Sie fantasierte. Amy interpretierte eindeutig viel zu viel in seine Worte und sein Handeln. Sie wünschte sich, dass er so war; dass er ihr helfen wollte. Aber das wollte er nicht wirklich. Er war ein Wolf, einer von Randys Wölfen, sein Beta; natürlich konnte er nicht anders sein. Manchmal war Amy noch ziemlich naiv für ihre fünfzehn Jahre.
„Du, äh, hast mir noch nicht geantwortet.“, bracht Amy kleinlaut hervor, als sie in den Beifahrersitz kletterte.
„Nein, das hab ich nicht.“ Sie konnte das Lächeln auf seinen Lippen sehen und hören.
„Du wirst mir nicht antworten, oder?“
„Überleg es dir einfach.“
Kann er nicht einfach klar und deutlich sagen, was er will oder meint? Amy bekam schon Kopfschmerzen vor lauter Verwirrung und massierte ihre Schläfen. Wo ist sie hier nur hingeraten?
Und wieder verwirrte Liam sie noch weiter, er nahm ihre Hand, küsste sie wieder und hielt sie fest – nicht grob, sondern sanft.
Liam verbat Amy aus dem Auto auszusteigen, als er vor Finnleys Haus parkte. Sie hatte nicht das Gefühl, dass er sie damit beschützen wollte – was sie nur weiter verwirrt. Er wollte es nur schnell hinter sich bringen. Amy wusste nicht, was auf ihn und Kyle wartete, aber es schien so, als ob er jetzt so schnell wie möglich dort hin wollte. Randy schickt oft einige seiner Wölfe los um irgendetwas zu erledigen. Aber dass er Liam und Kyle zusammen wegschickte, was selten genug vorkam, sagte ihr, dass es sich um etwas Wichtiges oder sogar gefährliches handeln musste. Zugegebenermaßen wünschte sich Amy, dass es etwas Gefährliches war und, dass wenn Kyle nicht getötet wird, er zumindest schwer verletzt wird.
Um zu erfahren, weshalb Randy seine Wölfe losschickte, war Amy nicht wichtig genug – sie war ja sogar unwichtiger als Ivy und Sarahi – außer vielleicht für Kyle, denn wen sollte er denn dann quälen oder brechen? Von Gesprächen, die sie manchmal aufschnappte, hatte sie erfahren, dass es sich meisten um wilde und junge Wölfe handelte, die durch einen Unfall zum Werwolf wurden. Oder um Angelegenheiten mit anderen Rudeln in der Nähe.
Als Liam Ivy aus Finnleys Haus zerrte, konnte Amy sehen, dass sie müde war. Sie wusste nicht was Finnley mit Ivy immer anstellte, aber sie sah jedes Mal so aus. Schon von weitem sichtbare, dunkel und tiefe Augenringe und lahme Bewegungen, die vor Müdigkeit schreiten. Ihre Hüftlangen, schwarzen Haare waren nicht gekämmt und ihre Klamotten von gestern. Vielleicht hätte sie ihr ein paar Sachen zum Wechseln mitbringen sollen.
Finnley stand angelehnt an seiner Haustür und ließ Ivy nicht aus seinen Augen. Er sah nicht glücklich aus, was vermutlich an der Überbringung von Randys Drohung lag. Doch als sein Blick auf Amy fiel schenkte er ihr ein Lächeln, auf das sie liebend gerne verzichtet hätte. Zum Glück war das auch schon alles und verschwand in sein Haus zurück. Das Haus war nicht gerade klein, aber auch nicht im Geringsten so groß wie Randys Haus.
Liam fuhr die beiden stillschweigend zur High School. Nicht einmal Ivy sagte etwas, obwohl sie sonst immer so geschwätzig ist – selbst wenn sie die Nacht nicht alleine verbracht hat. Amy drehte sich nicht um, um sie zu sehen, aber als Ivy eingestiegen ist, konnte sie sehen, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Es schien allerdings nicht so, dass etwas Unübliches in Finnleys Haus vorgefallen war. Sie wusste nicht, woher diese Sicherheit darüber kam, aber ihre Instinkte verrieten ihr, dass Ivy sich sorgen machte. Vermutlich hatte sie Angst vor der Konfrontation mit Randy, der es nicht guthieß, dass sie die ganze Nacht über bei Finnley verbracht hatte. Wobei es in Amys Augen alles andere als Ivys Schuld war. Was hätte sie denn gegen Finnley tun sollen um nach Hause zu kommen – ihn angreifen? Dann wäre sie jetzt wohl tot, oder mit Sicherheit schwer verwundet. Aber hier gingt es um Randy – ihm war es egal, ob die Schuld bei einem seiner Wölfe lag oder bei einem der drei weiblichen ohne Mate – er ließ seine Wut über etwas da aus, wo er gerade war.
Sie kamen fünf Minuten vor Schulbeginn am Parkplatz der Schule an und Amy und Ivy mussten sich beeilen, damit sie nicht zu spät in ihre Klassen kamen. Da Ivy nicht in derselben Klasse wie Amy war (noch nicht einmal im selben Jahrgang – Ivy war zwei Jahre älter) trennten sich ihre Wege gleich beim Eingang.
Obwohl es schon geklingelt hatte und Amy zweifelsohne zu spät zum Unterricht kam, war sie froh, dass sie niemandem auf dem Flur begegnete. Sie war es leid, dass sie ihre Mitschüler immer anstarrten, aber so taten, als wäre sie Luft. Sie wussten was Amy war. Die ganze Stadt wusste über die Werwölfe Bescheid. Und würde Amy öfter in die Stadt gehen, würde man sie dort auch anstarren und zugleich so tun als sei sie Luft. Alle wussten auch, dass sie ein Nichts im Rudel war, ein Spielzeug für die Wölfe. Niemand tat etwas dagegen. Und das konnte sie auch keinem verdenken. Wäre sie jemand aus der Stadt – jemand normales, kein Werwolf – würde sie wahrscheinlich auch einfach wegsehen. Immerhin waren die Werwölfe … naja, Werwölfe. Die ganze Stadt hatte Angst vor dem Rudel, aber solange sie ihr „Schutzgeld“ an Randy zahlten würden sie nichts zu befürchten haben. Natürlich war diente das Schutzgeld nur zum Schutz vor den Werwölfen, andere Bedrohungen gab es in diesem Nest in Montana nicht.
Amy wusste, dass es mehrere Städte in den USA gab, in dem die Werwölfe offen lebten – selbstverständlich nicht „Medien-offen“ sondern einfach nur „Kleinstadt-offen“. Warum die Stadtbewohner nicht einfach wegzogen? Ganz einfach, ihnen wurde versichert, dass man sie solange jagen würde, bis entweder freiwillig zurück kamen oder man sie einfach tötet, wenn sie sich weigern würden zurück zu kommen. Selten kam es vor, dass einige Familien oder einzelne Bürger versuchten abzuhauen, aber es kam schon mal vor. Die meisten kamen zurück und wurden auch von den Wölfen in Ruhe gelassen, wenn sie einige Monate extra hohes Schutzgeld zahlten. Von denen, die verschwunden blieben, hörte man nie wieder etwas.
Manchmal schämte sich Amy richtig für ihre Artgenossen. Sie fand es grausam, dass die Wölfe die Menschen in der Stadt so behandelten, sie regelrecht einsperrten – sogar den Urlaub müssen die Bürger erst bei den Wölfen genehmigen lassen – und Randy ließ sie nicht überall hin, wo sie hin wollten. Er hatte wohl Angst, dass sie ihm entwischen konnten. Doch wie er es schaffte, dass sie immer wieder aus ihrem Urlaub zurückkamen, wusste Amy nicht.
Die gesamte Klasse drehte ihre Köpfe zur Tür hin um zu sehen, wer zu spät zum Unterricht kam. Sogar der Lehrer schaltete wieder auf ignorier-Modus, als er bemerkte, dass es Amy war, die in die Klasse kam. Es war nicht das erste Mal, dass sie zu spät kam – eigentlich kam es recht häufig vor – besonders, wenn Kyle bei ihr war, also huschte sie zwischen den Bänken der Schüler nach ganz hinten, wo sie am Fenster saß.
Schulfreunde hatte Amy nicht – wer will schon mit einem Werwolf befreundet sein – vielleicht wenn sie mehr im Rudel zu sagen hatte (es könnte hilfreich sein mit einem Werwolf, der viel im Rudel zu sagen hatte befreundet zu sein). Aber Amy hatte nicht das Geringste in Randys Rudel zu sagen, sie war nichts weiter als ein Fußabtreter und die gesamte Stadt und ihre Mitschüler wussten das. Also hielten sie sich von ihr fern, damit sie nicht irgendwie in die Rudel Angelegenheiten mit hineingezogen wurden. Nicht mal Ivy oder Sarahi konnte sie ihre Freunde nennen, obwohl sie wohl das waren, was dem am nächsten kam.
Sie schenkte dem Unterricht nicht viel Aufmerksamkeit, gerade nur so viel, um Fragen zu beantworten, wenn sie an sie gerichtet waren – was äußerst selten der Fall war. Die Lehrer hatten sogar so viel Angst vor dem Rudel, dass sie nicht mal Fragen an den wertlosesten aller Werwölfe stellten.
Amy dachte über ihren Morgen nach. Nicht an Kyle – sie hatte schon lange aufgegeben über Kyle nachzudenken und eine Lösung zu suchen, die ihn von ihr fern hielt. Doch in irgendeiner Weise, dacht sie dann doch an so eine Lösung: War Liam die Lösung ihres Problems mit Kyle und den anderen Wölfen? Wenn sie sein Mate werden würde, dann würde er nicht zulassen, dass die anderen sie auch nur ansahen – Wölfe waren sehr besitzergreifend. Natürlich vorausgesetzt, dass es wirklich sein Ernst war.
Doch wie wäre Liam als Mate? Wie würde er sie behandeln? Sie kannte ihn nicht gut genug um das zu beurteilen. Sie könnte sich vielleicht ein Bild von ihm machen, wenn sie wüsste, wie er Sarahi oder Ivy behandelte. Aber konnte sie eine von beiden – oder sogar beide – über so ein Thema befragen, ohne dass sie ihr unangenehme Fragen stellten? Aufmerksamkeit auf dieses Thema und das Gespräch zwischen ihr Liam zu lenken war das letzte, was sie wollte. Sie konnte sich regelrecht ein Bild davon machen wie Randy reagieren würde – oder Kyle.
Plötzlich wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als sie einen Geruch wahrnahm. Sie roch Werwölfe, fremde Werwölfe. Was taten fremde Werwölfe hier? Randy duldete keine Fremden in seinem Territorium. Amy glaubte, dass er befürchtete, dass die Fremden ihm seinen Platz als Alpha seines Rudels streitig machen könnten. Sie hatte einmal einige aus dem Rudel über einen Alpha sprechen hören, der als stärkster und dominantester Wolf bekannt ist. Sie hatte auch gehört, dass dieser Werwolf ganz anders sein soll als Randy; Dass dieser Alpha zum Beispiel seine weiblichen Werwölfe ohne Mates gut behandelte, sie nicht unter seinen Wölfen herumreichte. Es hörte sich an wie ein Stück Himmel auf Erden – vorausgesetzt, dass die Geschichten über ihn wahr waren.
Aber zurück zu den fremden Werwölfen. Wenn sich Amys Nase nicht irrte, dann waren sie ganz in der Nähe. Sie konnte sie nicht genau orten, aber sie war sich relativ sicher, dass sie sich im Wald des Rudels befanden. Randy wird nicht glücklich darüber sein, dachte Amy. – War das der Grund, warum Randy Liam und Kyle zusammen losgeschickt hatte? Gut möglich.
Amy versuchte jetzt aus der Distanz – die bestimmt beträchtlich war, da der Geruch der Fremden nur sehr schwach war – aber Amys Nase war auch nicht sonderlich ausgeprägt oder trainiert – heraus zu finden, um wie viele Wölfe es sich handelte. Da war einer, der ziemlich streng nach Alkohol roch, aber nicht so wie Gorden (einer aus Randys Rudel), der immer nach Whiskey oder Gin oder so etwas Ähnliches roch. Dieser Wolf roch eher so, als wären Wunden mit Alkohol gereinigt worden – und das erst vor kurzem. Wenn sich Amy anstrengte, konnte sie noch etwas von dem getrockneten Blut riechen – vermutlich von einer vier bis sechs Stunden alten Wunde.
Ein anderer hatte einen feinen, kaum wahrnehmbaren rauchigen Geruch. Könnte von einer Zigarre stammen, die er vor ein bis zwei Tagen geraucht hatte – eine Kubanische Zigarre. Sie erkannte den Geruch, weil Randy hin und wieder mit seinen Wölfen kubanische Zigarren rauchte. Aber Amy zweifelte daran, dass er die Guten Kubaner kaufte – Randy war ein wenig Geizig.
Da waren noch drei andere, mutmaßte Amy – vielleicht noch ein vierter, aber sie war sich nicht sicher. Zwei der übrigen drei oder vier rochen ziemlich gleich. Sie konnte nicht ausmachen wonach, aber einer von beiden roch einen Hauch intensiver als der andere. Mehr konnte ihre Nase ihr nicht verraten.
Es klingelte zum Ende der Stunde. Amy räumte ihr Geschichtsbuch (sie hatte gerade Geschichte) in ihre Schultasche und folgte den anderen Schülern aus dem bereits entleerten Klassenraum. Die Schüler waren schnell, wenn es klingelte.

2.
„Wir sollen nach Hause kommen.“, sagte jemand zu Amy. Als sie sich umsah bemerkte sie, dass Ivy an der Wand gegenüber Amys Klassenzimmer anlehnte.
„Wieso?“, fragte Amy verwundert. Ivy zuckte nur mit ihren Schultern, stieß sich von der Wand ab und ging ihr voraus.
Amy wollte nicht nach Hause. Auch wenn sie die Schule nicht wirklich genoss, da sie immer nur aus der Ferne angestarrt wurde, entkam sie dem Rudel wenigstens für ein paar Stunden am Tag. Was würde man mit ihr machen, wenn sie nicht nach Hause kommen würde? Vermutlich würde Randy sie dafür verprügeln lassen, dass sie Befehlen nicht nachkam. Also folgte Amy Ivy wiederwillig.
Ivy war nicht mehr zu sehen. Amy hatte wohl etwas zu lange darüber nachgedacht, ob sie einfach in der Schule bleiben sollte. Sie war mittlerweile wieder alleine in den Fluren der Schule unterwegs und schlenderte durch die Gänge. Es war zu schön alleine zu sein, als dass sie sich beeilen wollte. Randy wird zwar wütend sein, wenn sie nicht gleich nach Hause kam, aber ein paar Minuten länger alleine zu sein war ihr das wert.
… Aus ein paar Minuten ließen sich auch schnell noch ein paar mehr machen, dachte sich Amy. Sie könnte einen kleinen Umweg nach Hause nehmen – ein Umweg, der sie ein Stück des Weges durch den Wald führte. Dort könnte sie sich in ihre Wolf Form begeben und ein wenig durch den Wald laufen. Randy nahm sie, Ivy und Sarahi nie mit, wenn sie als Wölfe jagen gingen.
Das letzte Mal, als Amy in ihrer Wolf Form war, war vor mehr als drei Vollmonden. Für einen Werwolf ist es schmerzhaft den Ruf des Vollmondes zu ignorieren. Aber Randy hatte ihnen immer verboten sich in Wölfe zu verwandeln – und was der Alpha befielt musste getan werden. Wer weiß, was er für Gründe hatte?
Ehe sie es sich ausreden konnte, weil ihr das bestimmt Prügel einhandeln würde, fand sie sich auf einem Weg hinter der Schule, der durch den Wald führte. Diesen Weg benutzten sonst nur die Biologieklassen, die eine Exkursion zu einem Tümpel, der sich im Wald befand, zu unternehmen, um dort seine Lebewesen zu erforschen. Die Biologieklassen waren die einzigen, die in den Wald durften und das auch nur zwei oder dreimal im Jahr. Doch auch wenn die Stadtbewohner in den Wald durften, würden sie nicht gehen – sie hatten zu viel Angst davor von einem Werwolf verspeist zu werden.
Als Amy sich außerhalb des Blickfeldes der Schule befand zog sie sich ihr T-Shirt, ihre Jeans, Schuhe und Unterwäsche aus, packte sie in ihre Schultasche und arrangierte den Henkel ihrer Tasche so, dass sie sie als Wolf umhängen konnte. Üblicherweise schmerzte die Verwandlung in ihre Wolf Form. Die Hitze, die jedes Mal in ihr hochstieg war schier unerträglich. Das Gefühl nach der abgeschlossenen Verwandlung allerdings war dann umso besser und drauf freute sie sich schon. Weshalb sie nur das Prickeln auf ihrer Haut wahrnahm als ihr Fell in Sekundenschnelle überall zu wachsen begann. Für die Schmerzen, die es ihr bereitete, als sich ihr Körper verzerrte, streckte und wuchs und sich in ihre Wolf Form umformte.
Mit ihrer Tasche umgeschlungen tappte sie den Weg entlang, verließ den Pfad allerdings bald um den unberührten, mit zerbrochenen Ästen, schon lange braun gewordenen und feuchtem Laub und Moss versehen Waldboden, unter ihren vier Pfoten zu spüren. Sie genoss jeden einzelnen Schritt, den sie jetzt in ihrer Wolf Form gehen konnte, da dies bald vorbei sein konnte. Ein Alpha spürt – sowohl in Wolf Form als auch in seiner menschlichen Form – wenn sich eines seiner Rudel Mitglieder in einen Wolf verwandelt oder zurück in einen Menschen. Sie rechnete schon damit, dass Randy jeden Moment in ihre Gedanken eindrang und ihr befahl wieder zum Menschen zu werden und nach Hause zu kommen.
Umso mehr überraschte es sie, dass sie schon die Hälfte des Weges, der sie durch den Wald führte hinter sich hatte, ohne von ihm gehört zu haben. Vielleicht hatte er momentan mit den fremden Wölfen zutun, die Amy vor einer halben Stunde gerochen hatte, dass sie sein geringstes Problem war. … Wenn sie es sich recht überlegte, könnte diese Wölfe der Grund sein warum Ivy und sie nach Hause kommen sollten. Waren diese Fremden gefährlich? Sollte sie besser nach Hause?
Sie hatte gar keine Zeit sich eine Antwort auf diese Fragen zu überlegen. Nur dreihundert Yard von ihr entfernt stand ein Wolf den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Schon wieder hatte sie nicht auf ihre Sinne gehört, die ihr jetzt ins Gesicht schrien, dass dort ein fremder Wolf stand. Was musste erst passieren, dass sie auf ihre Umwelt achtet? Dieser Frage konnte sie jetzt aber nun wirklich nachgehen. Nicht mit einem fremden Wolf in ihrer unmittelbaren Nähe.
Obwohl er es sich nicht anmerken ließ, war sich Amy sicher, dass er ihren erhöhten Herzschlag spüren konnte. Es wäre gelogen, wenn sie sagen würde, dass sie keine Angst hätte. Im Moment hatte sie fast noch mehr Angst als vor Randy, wenn er so richtig wütend war und sie verprügelte – was ihr, wenn sie so darüber nachdachte auch noch blühen konnte, immerhin ist sie seinem Befehl nicht Folge geleistet.
Im Grunde es keinen Anlass Angst vor dem Wolf zu haben, der sie jetzt anstarrte – sie sollte besser ihren Blick senken. Amy hatte keine Erfahrung mit fremden Wölfen. Die einzigen Werwölfe, die sie kannte waren die in ihrem Rudel. Amy, Ivy und Sarahi wurden immer aus den Geschäften mit anderen Wölfen raus gelassen – sie hatten anderes zu tun. Doch wenn dieser Wolf nur im Geringsten so ist wie die, die sie kannte wäre es besser wegzulaufen. Aber sie wusste es besser, es hätte keinen Sinn davonzulaufen. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass er schneller war als sie, die sowieso nicht zu den schnellsten gehörte – dafür hatte sie nicht genug Übung im Lauf auf vier Pfoten. Natürlich war sie schnell, schneller als ein normaler Wolf zum Beispiel. Trotzdem konnte sie es nicht mit einem anderen Werwolf aufnehmen – wenn sie regelmäßig auf die Jagd gehen und jeden Monat dem Ruf des Vollmondes folgten, dann konnten Werwölfe es locker mit einem Auto auf dem Highway aufnehmen ohne auch nur ins Schwitzen zu kommen. Und es war eine wirklich, wirklich dumme Idee vor einem Werwolf davonzulaufen, wenn man nicht erwarten konnte ihm auch zu entkommen. Denn ein Werwolf würde sie jagen, angreifen und vermutlich auch töten – wenn nicht sogar fressen. Es gab nichts Begehrenswerteres für einen Werwolf als eine Beute die er jagen konnte.
Nachdem sie die Möglichkeit des Weglaufens als sinnlos und dumm abgehackt hatte versuchte sie sich auf ihre Nase zu konzentrieren und heraus zu finden, was diese ihr über ihre Gesellschaft berichten konnte. Eines war sicher, es war einer der Wölfe, die Amy von der Schule aus gerochen hatte – der, der nach der kubanischen Zigarre roch. Jetzt, aus der Nähe war es ihr möglich unter den rauchigen Duft zu dringen. Sie schnupperte an ihm den Wald, vorwiegend Fichte, aber auch Pinie. Auch etwas … hm, sie war sich nicht sicher. Es roch irgendwie nach Papier, altes Papier und Tinte (vielleicht hatte er etwas mit Büchern zu tun?).
Was das wittern von Gefühlen anbelangte waren ihre Fähigkeiten noch viel dürftiger als beim Beobachten ihrer Umwelt mit ihren Sinnen. Sie konnte Wut nicht von Angst oder Erregung unterscheiden. Aber von seiner Körpersprache her zu urteilen war er nicht wütende, ängstlich (das ganz bestimmt nicht, wenn er ihr gegenüberstand) oder erregt, sondern … überrascht? Verwirrt?
Amy bemerkte das für Menschen kaum erkennbare zucken seiner schwarzen Schnauze. Er schnüffelte. Also wusste er, dass sie Angst hatte. Wenn er sie jetzt nicht angriff, dann war er vielleicht doch nicht feindlicher Natur – oder einfach nicht hungrig. Trotzdem machte der weiße Wolf jetzt ein paar Schritte auf sie zu. Er war nicht ganz weiß, sondern hatte braune bis dunkel weiße Akzente an seinem Bauch. Er hatte schwarz-braunes Fell auf seinem Rücken. Fast wie ein Mantel oder ein Umhang, der ihm um seine Schultern hing, dachte Amy. Seine weiß-blauen Augen verengten sich – oh verdammt, sie sollte ihm doch nicht in die Augen sehen.
Die anderen Werwölfe, die sie vorher mit ihm zusammen gewittert hatte, waren auch irgendwo in der Nähe. Doch wo genau konnte sie nicht sagen. Der Wind hat gedreht und sie konnte nur einen kurzen Moment die anderen riechen. Jetzt sagte ihr ihre Nase, dass nur der Wolf, der vor ihr stand da war. Aber Amy wusste, dass sie nicht verschwunden sein konnten. Der Wind drang von vorne zu ihr, also … mussten seine Begleiter irgendwo hinter ihr sein. Das war nicht gut – ganz und gar nicht gut.
Sie konnte es nicht wagen sich umzudrehen, sich von ihm abzuwenden. Doch es auch nicht zu tun konnte sie auch nicht wagen. Amy konnte es nicht riskieren sich umzingeln zu lassen. Selbst ein Werwolf, der Übung im Kämpfen hatte, hatte es schwer sich gegen fünf Wölfe zu behaupten – ja fünf. Die anderen waren jetzt ganz in der Nähe. Und Amy wünschte sich, dass sie sie jetzt nicht wittern konnte – gegen den Wind. Sie konnte sie direkt hinter sich hören, wie sie auf sie zu rannten.
Was sollte sie jetzt nur tun?
Weglaufen wäre dumm. Kämpfen wäre zwecklos. Und nichts tun … naja, was blieb ihr anderes übrig, wenn sie schon nicht wusste was sie sonst unternehmen konnte. Ungewollt sträubten sich ihre Nackenhaare. Und bevor sie etwas dagegen tun konnte fletschten sich ihre Zähne von ganz alleine – blöde Instinkte, wie konnte man die nur abstellen? …Hm … Ein gefährliches Spiel, dass sie da angefangen hatte. Das könnte sie noch Kopf und Kragen bringen.
Ducken! Das schrien ihr ihre Sinne zu. Also tat sie es auch schleunigst. Gerade rechtzeitig um den Wölfen, die von hinten über sie drüber sprangen, nicht im Weg zu sein. Einer der Wölfe – eine Wölfin – hätte Amy fast an ihren Ohren gestreift. Sie roch an der Wölfin den Alkohol und das getrocknete Blut. Als sie auf dem Boden aufkam erkannte sie, dass die Wölfin verletzt war. Sie kam bei ihrer Landung ins straucheln und humpelte winselnd mit leicht gesenktem Kopf und nach hinten gelegten Ohren zu dem weiß-braunen Wolf. Dieser ignorierte sie aber nur, seinen Blick auf Amy gerichtet.
Wer ist sie? , fragte sich eine fremde stimme in ihren Kopf, die es eigentlich dort nicht geben sollte.
Amy konnte im ersten Moment gar nicht reagieren oder auch nur atmen. Sie hatte gerade eine telepathische Stimme in ihrem Kopf gehört. Aber diese Stimme kam ihr alles andere als bekannt vor. Innerhalb eines Rudels war es üblich, dass die Werwölfe in ihrer Wolf Form über Telepathie kommunizieren konnten – sehr hilfreich bei der Jagd. Doch Amy kannte die Stimme, die in ihrem Kopf war nicht. Sie klang weit entfernt … War es seine? Die Stimme des Wolfes, der ihr gegenüberstand? Oder die Stimme eines der anderen?
Das war nicht möglich. Das konnte nicht möglich sein. Wie war es möglich, dass sie einen der fremden Wölfe in ihrem Kopf hören konnte? Sie waren immerhin nicht ihr Rudel.
Ich … ich weiß nicht, konnte sie ihn wieder hören, ich glaube ich kenne ihren Geruch.
Amy vermutete, dass sie sich unterhielten … über sie? Er kannte ihren Geruch? Woher denn, sie hatte ihn jedenfalls noch nie zuvor gesehen – naja, das galt für seine Wolf Form. Kannte sie ihn in seiner Menschen Form? Nein, unmöglich. Sie kannte nur die Menschen aus der Stadt und wenn er in der Stadt leben würde, würde sie auch seinen Wolf oder wenigstens seinen Geruch kennen, den sie ganz bestimmt nicht kannte. Da war sie sicher.
Aber …, fing er nachdenklich an.
Einer der Wölfe knurrte. Die verletzte Wölfin winselte noch einmal.
Schon gut!, hörte sie ihn aufgebracht. Schon gut.
Damit rannten sie davon. Amy atmete durch, konnte sich aber noch nicht sicher fühlen. Noch waren sie nicht weit genug entfernt damit sie sich sicher fühlen konnte. Was war das? Wieso konnte sie ihn hören? … Konnte sie ihn vielleicht hören, weil er ihr Mate war?
Hey süße, solltest du nicht nach Hause kommen? – Oh Gott! Erschrocken nahm sie Kyles Stimme in ihrem Kopf zur Kenntnis. Ivy hat erzählt, sie hätte dir Bescheid gesagt. Sag bloß sie hat Randy angelogen.
Hat sie nicht. Sie konnte nicht zulassen, dass Ivy wegen ihr bestraft wurde. Hoffentlich wurde sie noch nicht bestraft.
… Und du bist immer noch nicht zu Hause und auch noch in Wolf Form?, fragte er skeptisch … und amüsiert.
Ja.
Wo bist du? Ich soll dich nach Hause bringen. Noch amüsierter.
Würde die Entfernung zwischen ihnen – die sie nicht kannte, nebenbei bemerkt – ihr genug Vorsprung geben, damit sie Weglaufen konnte ohne dass er sie einholte? Vermutlich nicht, gab sie enttäuscht zu. Aber sie wollte ihm auch nicht in die Arme laufen – nicht Kyle.
Ohne ihm zu antworten ließ sie die Hitze wieder in sich aufsteigen, die ihr erlaubte sich wieder in ihre Menschen Form zu begeben. Diesmal aber spürte sie das gesamte Ausmaß der Schmerzen, die ihr ihre Verwandlung zufügte. Schmerzen, die tief in ihren Knochen aufglühten. Sie spürte genau wie sich ihr Knochenbau veränderte. Vom Wolf zum Menschen. Das zerren und zeihen in ihrer Haut war wenigstens nicht ganz so bohrend wie die Entwicklung ihrer Knochen.
Außer Atem dachte sie, dass er bestimmt bald hier sein würde. Er hatte zwar gesagt, dass er nicht wusste wo sie war, aber er konnte sie leicht erschnüffeln. Also beeilte sie sich, sich anzuziehen. Sie würde es ihm nicht zu leicht machen. Die Lust ihn seinen amüsierten Gedanken ist ihr nicht entgangen. Wenn er sie wieder demütigen wollte, musste er sich schon etwas anstrengen – denn mehr konnte sie auch nicht ausrichten.
Als Amy ihren BH zu hackte hielt sie eine Hand davon ab. Eiskalt lief ihr die Erkenntnis den Rücken runter. Kyles raue Hand. Er war schnell – das musste sie ihm zu Gute halten. Kyle war der schnellste im Rudel. Mit schroffem Griff hielt er ihren Arm auf ihren Rücken. Sein anderer Arm schlang sich um ihren Hals und zog sie näher zu sich bis sein Mund an ihrem Ohr war. „Du wolltest doch nicht etwa abhauen?“, fragte er sie.
„Lass mich los!“ Das hatte sie noch nie gesagt – verlangt. Sie zitterte in Erwartung der Prügel, die sie jetzt bestimmt erwarten würden.
Kyle lachte auf … ungläubig. „Hm…“, sie konnte das Grinsen in seinem Gesicht deutlich hören, „das ist ja ein ganz neuer Ton.“, gab er zu.
Da hatte er nicht unrecht. Was ist nur in sie gefahren? Sie wusste doch ganz genau, was ihr blühte, wenn sie sich gegen ihn auflehnte. Und darauf ließ sich auch nicht lange warten. Plötzlich fand sie sich mit dem Rücken auf dem schmutzigen und schlammigen Waldboden wieder (ein Ast stach ihr unangenehm in den Rücken). Ihre Arme waren wieder frei. Dafür war jetzt Kyles Gesicht so nah an ihrem, dass Amy seinen Atem spüren konnte. Er roch nach Fleisch. Es war noch früh am Morgen und er roch nach Fleisch, nach rotem Fleisch – wäre sie nicht auch ein Werwolf, würde sie sich wundern, wie man so früh am Morgen schon ein Stake essen konnte. Und wieder musste sie seinen nackten Körper auf ihrem erdulden – wenigstens hatte sie jetzt eine Hose an.
Kyle sah sich um, als sie sich endlich dazu durchringen konnte ihn an zu sehne. Er roch die Wölfe, die noch vor fünf Minuten hier waren. Kyle stand auf und nahm weiter keine Notiz von ihr. Schnüffelnd wanderte er hin und her, suchte nach einem Anhaltspunkt, der ihm verriet wer die Fremden waren. Amy fühlte sich jetzt sicher genug um auf zu stehen und sich schnell an zu ziehen.
„Wer war hier bei dir!“ Seine Bewegung hatte sie gar nicht wahrgenommen, aber jetzt hielt er sie an ihrer Kehle gegen einen Baum. Er hielt sie so fest, dass sie weder antworten noch atmen konnte. „Wer hier bei dir war, will ich wissen!“, schrie er ihr wütend ins Gesicht.
„Fremde.“, schaffte sie endlich aus zu würgen. Hustend fiel sie zu Boden, als er sie wieder los ließ.
„Wie viele …“ Er schnüffelte wieder. „-fünf, oder? Was wollten die hier?“
„Keine Ahnung.“ Als ob sie ihre Halsschmerzen damit lindern könnte, hielt sie eine Hand an ihrem Hals, als sie sich wieder aufrichtete. „Vielleicht auf der Durchreise.“
„Zieh dich aus, wir laufen zu Randy nach Hause.“ Weil sie keine Lust aus seiner Stimme heraus hörte und er sie nicht ansah, weil er wieder umherwanderte, kam sie dem nach, sie zog sich wieder aus, stopfte ihre Klamotten wieder in ihre Schultasche und verwandelte sich wieder in ihren Wolf. Er lief schon voraus, als sie ihre Tasche diesmal in ihr Maul nahm und sie ihm nach eilte. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er redete sonst ganz anders – wirkte nicht so abwesend. Lag das an den Fremden Wölfen? Beunruhigten sie ihn? … Dann hatten er und Liam heute Morgen wohl nicht mit ihnen zu tun gehabt.
Als sie nach Hause liefen sagte er nichts zu ihr. Darüber war sie ganz froh und versuchte seien Aufmerksamkeit nicht auf sie zu sehen, indem sie ihn fragte warum er so auf die Fremden reagiert hatte. Hey, vielleicht bewahrt die Anwesenheit der fremden Wölfe sie auch vor einen Wutausbruch von Randy?
Zu früh gefreut. Sie waren noch eine Meile von Randys Haus entfernt und sie konnte ihn bereits hören – obwohl er nicht in Wolf Form war. „Wo zum Teufel warst du!?“ Er sagte es nur – als ob sie direkt vor ihm stand, schrie nicht einmal in seiner gegenwärtigen Wut, die Amy ganz deutlich raus hören konnte. „Ivy hat dir doch gesagt, dass du nach Hause kommen sollst!“
Kyle aber verhinderte, dass Randy seine Wut auch physisch an ihr auslassen konnte. „Geh in dein Zimmer!“, sagte er zu ihr, als sie sich in ihre Menschengestalt verwandelten und Amy sich schnell wieder anzog.
Sie lief durch die Hintertür in der Küche rauf in ihr Zimmer, damit sie den anderen ja nicht unter die Augen treten musste. – Schon wieder zu früh gefreut. Amy konnte Randy hinter sich hören, als sie ihre Zimmertüre hinter sich schloss. „Dieses verdammte Gör.“, konnte sie ihn auf der Treppe zu sich selbst sagen hören, „Nichts als Ärger mit ihr.“ Lange musste sie auch nicht auf ihn warten. Er platzte durch die Tür, als hätte sie sie nicht abgesperrt. Von einem Augenblick zum andern hielt er sie an ihrer Kehle – wie Kyle vorher im Wald – gegen die Wand in der Ecke, in der sie sich vor ihm verstecken wollte – auch wenn sie ganz genau wusste, dass es keinen Sinn hatte.
„Wo zum Teufel warst du so lange!?“, schrie er ihr ins Gesicht, „Hat Ivy dir nicht gesagt, dass ihr beide nach Hause solltet!?“
„Doch.“ So viel Angst sie auch hatte zu sprechen und so schwer es ihr auch fiel, sie musste Ivy da raus halten. Es war nicht ihre Schuld, dass Amy so dumm war und nicht sofort nach Hause ging.
„Und wieso kommst du dann erst jetzt!?“
„Randy!“ Amy konnte nicht glauben, dass Kyle ihr zur Hilfe kam – ausgerechnet Kyle, es war doch sein größter Spaß schwächere leiden zu sehen. „Wir haben wichtigeres zu besprechen.“ Okay, in seinen Augen konnte sein Spaß wohl noch warten – die fremden Wölfe mussten ihn ja ganze schön stören.
„Ach ja?“, fragte Randy ungläubig. Sie konnte den Ärger immer noch ganz deutlich in seiner Stimme hören. „Und das wäre?“
„Die Wölfe die Harrison gesehen hat waren im Wald.“, antwortete Kyle. Und damit ließ Randy sie wieder zu Boden sinken.
„Im Wald?“
„Sag ich doch.“
„In unserem Territorium…“, murmelte Randy nachdenklich zu sich selbst.
„Sie waren bei Amy.“, sagte Kyle plötzlich. Amy stockte der Atem, als Randy ihr wieder seinen Blick zu wandte.
„Hast du mit ihnen geredet?“, fragte er ungeduldig und schlug sie ins Gesicht. Wenn sie ihn jetzt provozieren würde, dann würde Randy sie anfallen und sie so richtig blutig schlagen. Drauf konnte Amy jetzt gut und gerne verzichten. Der stumpfe und zugleich stechende Schmerz, der ihr von der Wange, an der er sie geschlagen hatte, in ihren gesamten Kopf ausstrahlte, war ihr fürs erste genug. Dazu kam auch noch ihre Wunde an ihrer Lippe von heute Morgen, die wieder aufgeplatzt war. „Was wollten sie?“, fragte er weiter ohne auf die Antwort auf seine erste Frage zu warten. Randy wirkte irgendwie … nervös – wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie sogar sagen er sei … besorgt?
„Wir waren alle in Wolf Form.“, sagte Amy hastig. Sie durfte ihn jetzt nicht weiter reizen. „Ich weiß nicht was sie wollten.“
„Erzähl mir was passiert ist.“, forderte Randy sie auf.
Also erzählte sie ihm, wie sie beschloss den Umweg durch den Wald nach Hause zu gehen und, dass sie sich dabei in ihren Wolf verwandelte. Wie Randy knurrte und seine Zähne fletschte jagte ihr noch mehr Angst ein. Sie erzählte aber weiter wie sie plötzlich diesen einen Wolf bemerkt hatte und dann auch seine Gefährten. Dabei ließ sie allerdings aus, dass sie die Gedanken des einen Wolfes gehört hatte. Amy wusste nicht, was dies zu Bedeuten hatte und hatte auch ganz sicher nicht vor Randy danach zu fragen.
Randy und Kyle verließen ihr Zimmer ohne noch etwas zu sagen. Weil die Wunde an ihrer Lippe, die sich Amy heute Morgen selbst zugefügt hatte wieder aufgeplatzt war, schlich sie ins Badezimmer und ließ kaltes Wasser darüber tropfen. Sie konnte hören, wie Randy unten im Wohnzimmer Liam her orderte und Kyle noch ein paar andere. Erschöpft setzte sie sich auf den Rand der Badewanne und atmete durch. Für ihren Geschmack ist heute schon viel zu viel passiert – und es war gerade erst halb elf am Vormittag. Amy Wange schwoll langsam an, sie spürte noch immer Randys Hand in ihrem Gesicht.
„Alexis, kümmer dich um Amy.“, hörte sie Randy jetzt sagen. Oh nein, bitte nicht Alexis, jammerte Amy in sich hinein. Es war klar, dass er nicht meinte, dass Alexis zu ihr mit einem Eisbeutel für ihre Wange kommen sollte. Amy hatte Randy (indirekten) Befehl missachtet und das bedeutete, dass sie bestraft werden würde.
Alexis´ Schritte auf der Treppe, als sie nach oben kam, kamen Amy vor wie ihre Schritte zum Schafott – nur dass sie diese Schritte nicht selbst machte. Alexis hatte es nicht eilig, aber Amy konnte ihre Wut riechen. Ein starkes Gefühl, dass selbst Amy jetzt wittern konnte – obwohl sie die Gefühle, die sie witterte normalerweise nicht zuordnen konnte.
Die Tür zum Badezimmer öffnete sich. Alexis Gesichtszüge verrieten Amy, dass sie nicht so wütend war, wie sie dachte. Besorgnis war das, was Amy gespürt hatte – naja, wütende Besorgnis. Es beschlich Amy das Gefühl, dass die fremden Wölfe mehr als nur ein schlechtes Zeichen waren. Hatte Randy Angst vor ihnen? Haben sie ihm gedroht? Dieser Gedanke erfreute Amy ein wenig und sie konnte ein leichtes Grinsen nicht zurückhalten.
„Was gibt’s denn da zu Grinsen!“, fragte Alexis, als sie Amy am Arm hochriss. Sie zerrte sie die Treppe runter, als die Wölfe (in Menschen Form), Liam, Gabriel, Frank, Lana und Harrison zur Haustür rein kamen. Nur folgten sie den fünfen nicht ins Wohnzimmer. Ihr Ziel war der Keller und Amy wusste, womit sie bestraft wurde. Sie wird eingesperrt – juhu, morgen Schulfrei, dachte sie sarkastisch. Alexis schubste sie die Treppe runter und hätte Amy sich nicht am Geländer festgehalten, wär sie mehr als einmal hingefallen.
Zu Amys Überraschung aber, gingen sie an dem Raum mit der Hauseigenen Zelle vorbei. Jeder Werwolf in der Stadt hatte eine Zelle im Keller ihrer Häuser. Darin würden Wölfe eingesperrt, die sich nicht unter Kontrolle hatte – um sich und andere zu schützen – oder wenn ein Wolf bestraft werden sollte, so wie Amy jetzt. Natürlich war dies keine normale Zelle, die hätte ein Werwolf locker auseinander reisen können. Die Gitterstäbe waren aus purem Silber, da Werwölfe etwas allergisch auf Silber reagierten.
Amy hielt erst den Atem an, als sie merkte, dass sie Kurs auf den Raum am Ende des Flurs nahmen. Dort drin war keine Zelle. Viel schlimmer. In diesem Raum waren zwei Käfige. Ein kleinerer und ein größerer, doch beide waren gerade groß genug damit ein Wolf gerade so Platz fand. Die Käfige waren aus Stahl, waren aber beide mit einer Silberlegierung versehen, einer unreinen Silberlegierung. Das verhinderte, dass die Wölfe daran starben, wenn sie die Gitterstäbe berührten – worum man bei diesen Größen nicht herum kam, nicht einmal bei dem Größeren. Wenn ein Werwolf – egal ob in Wolf Form oder nicht – mit Silber in Berührung kam, verbrannte ihnen das Silber ihre Haut. Bei zu langer Berührung mit Silber brannte es ihnen sogar das Fleisch von den Knochen, bis sie starben. Da konnte ihnen auch nicht ihre Werwolf Extras nicht mehr helfen, das übernatürliche Heilen trat dann nicht mehr ein.
„Bitte nicht!“, bettelte sie auf ihren Knien, während Alexis sich leder Handschuhe anzog. Leder konnte zwar nicht komplett verhindern, dass die Auswirkung des Silbers ihre Haut nicht beeinträchtigte, doch bei unreinem Silber würde Alexis nur eine leichte Hitze durch die leder Handschuhe fühlen. Bei purem Silber war das eine andere Sache. Das Leder war nicht dick genug, als dass das Silber nicht mit der Werwolf Haut reagieren konnte. Zuerst würde man eine immer stärker werdende Hitze spüren, bis die leder Handschuhe schließlich Feuer fingen. Amy sprach aus Erfahrung, aber das war eine andere Geschichte – in Zusammenhang mit einer von Randys Bestrafungen, die sie sich eingehandelt hatte, weil sie mit sieben Jahren (absichtlich) heißen Kaffee auf Kyle verschüttet hatte. „Bitte!“
„Das hättest du dir vorher überlegen sollen, Miststück!“, fauchte Alexis, schob und zwängte sie in den kleineren der beiden Käfige. Sie drehte den Schlüssel im Schloss um, als Alexis die Türe hinter sich zu gemacht hatte und ließ Amy vollkommen alleine.
Die Panik stieg in ihre hoch. Sie hatte das Gefühl, als ob die Wände auf sie zukommen würden. Sonst hatte keine Klaustrophobie, aber jetzt schon. Der Raum war komplett kahl, bestand nur aus Zement Wänden, Decke und Boden. Außer den beiden schwarzen Käfigen befand sich hier nur eine fluoreszierende Deckenlampe, die Alexis ausgeknipst hatte. Nicht einmal ein Fenster war hier, das ihr sagen konnte, wann es Nacht wurde. Alexis hatte nicht erwähnt wie lange Amy hier drinnen eingesperrt bleiben sollte, aber üblicherweise wurde sie höchstens für ein paar Stunden eingesperrt. Gegen Abend sollte sie hier raus sein.
Aber dieser Gedanke bewahrte sie nicht vor der Wärme, die sich jetzt in Hitze verwandelte. Als Werwolf konnte sie zwar viel aushalten – zum Beispiel konnte sie ihre Hand in offenes Feuer halten, ohne dass es ihr etwas ausmachte … naja bis auf die Brandverletzung, die ein paar Stunden brauchten um zu verheilen. Doch Brandverletzungen, von Silber verursacht waren ein ganz anderes Thema. Auch wenn nur wenig Silber in der Legierung des Käfigs war, würde es mindestens eine Woche dauern bis sie wieder gesund aussah – dass sie dann auch wirklich war, war etwas anderes.
Soweit es ihr möglich war, versuchte sie die Gitterstäbe nicht zu berühren, indem sie sich einrollte. Leider war sie nicht ganz so klein wie sie gehofft hatte. Sie fand keinen sicheren Platz für ihre Arme um sie vor dem Silber zu schützen. Auch ihren Rücken konnte sie nicht davor schützen von dem Silber angegriffen zu werden.
Amy versuchte ihre Gedanken von ihrer gegenwärtigen Situation abzuwenden, an etwas anderes zu denken. Aber es wollte ihr einfach nicht gelingen. Ihre Gedanken waren festgefahren. Doch um sich wenigstens vom jetzt und hier zu lösen, dachte sie an eine Bestrafung, die sie vor vier Jahren erhalten hatte. Damals hatte sie mit Absicht ein Fenster zerbrochen und wurde mit einer Silberstange verprügelt. Wäre sie kein Werwolf, wäre sie dabei gestorben. So hatte sie nur ein paar gebrochene Knochen und etliche Blutergüsse davon getragen, die allerdings erst nach drei Tagen vollkommen verheilt waren.
Ein anderes Mal – sie wusste nicht mehr was sie angestellt hatte – wurde sie in die Zelle gesperrt, die jetzt nur eine Tür weiter war. Das war aber noch nicht alles. In der Zelle waren Ketten aus purem Silber, die ihr um die Hand- und Fußgelenke und um den Hals gelegt worden waren. Obwohl sie nur zweieinhalb Stunden daran gefesselt war, dauerte es drei Wochen bis die Schäden vollwertig abgeklungen waren.
Um sich jetzt von dem Geruch verbrannten Fleisches – ihres verbrannten Fleisches – abzulenken, versuchte sie dem Gespräch zu folgen, dass Randy oben im Wohnzimmer mit den hochrangigsten Wölfen seines Rudels führte.
„-du ihr, dass sie nicht mit diesen Wölfen gesprochen hat?“, fragte Liam.
Sie redeten über Amy. Liam glaubte ihr wohl nicht, sonst würde er Kyle, so vermutete sie, nicht noch mal fragen. Aber wenn er es mal logisch betrachten würde, würde er gar nicht auf die Idee kommen, dass es überhaupt möglich war, das sie mit den Fremden gesprochen hatte. Randy hätte es gemerkt, wenn sie sich von ihrer Wolf Form in ihre Menschen Form verwandelt hätte, was die einzige Möglichkeit war, mit ihnen zu sprechen. … Naja, wenn sie es sich recht überlegte, war es doch nicht die einzige Möglichkeit. Immerhin hatte sie einige Gedanken von einem von ihnen hören können, aber das wussten Randy, Liam und die anderen ja nicht und Amy würde es ihnen auch nicht so einfach verraten – zumindest nicht ehe sie wusste, was es zu bedeuten hatte.
Vielleicht hieß es ja, dass er ihr Mate war und sie sein Mate? Amy wurde nie richtig aufgeklärt – im Werwolf Sinne aufgeklärt. Niemand, nicht einmal Ivy und Sarahi hatten ihr erklärt was es hieß einen Mate zu haben oder zu finden. Doch es war wahrscheinlich, dass Ivy und Sarahi auch nicht viel darüber wussten, immerhin waren sie zu wenig wert – wie Amy – als das man sie aufklären würde.
Dass er glaubte, ihren Geruch zu kennen, war nur ein weiterer Beweis dafür. Es war eine Art Magie – das Mating.
„Du riskierst zu viel, Liam.“, hörte sie Alexis zischen.
„Alexis!“, wurde sie von Randy ermahnt. „Aber sie hat recht Liam. Ich hab Amy selbst gefragt und sie hat nicht gelogen, als sie sagten dass sie nicht mit ihnen gesprochen hat.“
Soll heißen, dass er nicht riechen konnte, dass sie gelogen hatte – Werwölfe konnten das, wenn sie ihre Nase aufmerksam darauf trainierten. Und Randy, wie alle anderen aus seinem Rudel (wieder Amy, Ivy und Sarahi ausgenommen), war darauf trainiert – sehr gut sogar. Er konnte eine Lüge auf eine Meile gegen den Winde riechen (eigentlich nur, auf vielleicht zehn Yard). Aber sie hatte ja auch nicht gelogen. Er hatte ihr nur nicht die richtige Frage gestellt. Kommunizieren war das Schlüsselwort. Hätte er das Wort benutzt, hätte sie es ihm erzählen müssen.
Das brachte sie auf einen Gedanken, eine Frage: Hätte er sie auch hören können, so wie sie ihn gehört hatte? Hat er ihre Gedanken gehört? Nein, vermutlich nicht. Man musste seine Gedanken schon direkt an den Wolf richten, mit dem man kommunizieren wollte. Aber das hatte er doch auch nicht bei ihr gemacht. Oder?
Sie zuckte zusammen. Das Silber wurde immer unerträglicher. Sie konnte sich jetzt kaum noch konzentrieren. Das Atmen viel ihr schwer und sie konnte spüren, wie sich das Silber immer tiefer in ihr Fleisch einbrannte. Doch das Schlimmste stand ihr erst noch bevor. Als sie das letzte Mal in einem dieser Käfige festsaß wurde sie vor Schmerzen ohnmächtige, genau wie das Mal davor und das Mal davor. Und dieses Mal würde es bestimmt auch nicht anders sein. Ihr wurde schon schwindelig.
Plötzlich hörte sie Krach von oben. Der Unterhaltung hatte sie nicht mehr folgen können, aber offensichtlich war sie in einen Kampf ausgeartet. Bähm! Das war wohl der Couchtisch, dachte Amy. Bomm! Oh, der schöne Fernseher. Klirr! Das Fenster. Wollten die anderen denn nichts gegen diesen Kampf unternehmen?
Amy war sich nicht sicher, aber sie glaubte, dass sie in Wolf Form kämpften. Das würde es den anderen schwerer machen einzugreifen. Doch soweit sie es durch das Chaos beurteilen konnte, versuchten sie es erst gar nicht. Möglicherweise hat ihnen Randy verboten einzugreifen. Er würde Schwäche zeigen, wenn er sich von seinem Rudel bei einem Dominanzkampf mit seinem Beta helfen lassen würde. Und das wäre für ihn gefährlich, denn niemand akzeptierte einen schwachen Alpha.
Doch wie es aussah, hatte sie sich getäuscht. Sie hörte wie Alexis sich in ihre Wolf Form begab und auf die Geräusche des Kampfes zwischen Randy und Liam zu tappte – ihre Krallen waren deutlich kratzig auf dem Parkettboden zu hören. Ein überlautes Knurren sagte Amy, dass Randy es nicht gerade begrüßte, dass Alexis ihre Zähne in Liams Bein vergraben hatte. Sie konnte sein Blut riechen. Es überraschte sie auch nicht, dass Randy seinen Mate biss, damit sie sein Opfer losließ. Für einen Außenstehenden mochte es brutal wirken, aber für Amy war dies vorhersehbar. Aber sie ist ja auch in Randys Rudel aufgewachsen.
Es stellte sich als böser Fehler heraus, dass Randy Alexis gleich in die Nase biss um sie zu disziplinieren. Liam nutze die Gunst der Stunde und schaffte es irgendwie Randy durch den Raum zu werfen. Er landete auf einen der anderen, die den Kampf vermutlich beobachteten. Lana, vermutete sie aufgrund des leichten Körpers, der nur einen kurzen Moment bevor Randy auf sie fiel und sie unter sich begrub, auf den Boden knallte. Im Gegensatz zu Lana – sie war in Menschen Form und würde schwer verletzt sein – war Liam in null Komma nichts wieder auf allen vieren.
„Bringt sie hier raus!“, schrie Kyle irgendwen an, als er seine Schuhe gerade auszog. „Und bleibt draußen!“ Seinen Schuhen folgten seine Hose und sein T-Shirt. Er verwandelte sich in seinen Wolf. Im selben Moment in dem seine Verwandlung abgeschlossen war, sprang er durch das zerbrochene Fenster in den Garten, wo sich Randy gerade wieder über Liam hermachte. Kyle versuchte seinen Alpha von Liam runter zu ziehen, scheiterte aber. Er wurde von Randy durch den Garten geworfen.
Amy konnte nicht glauben, dass er sich sofort zurückverwandelte. Es sah ihm gar nicht ähnlich, dass er gleich aufgab. Er lief zurück ins Haus, runter in den Keller und wurde verfolgt. Alexis.
„Was hast du vor!“, schrie sie ihn an, als er die Tür zu einem der Kellerräume aufmachte. Es war die erste Tür auf der linken Seite, die einen Raum verbarg, der als Abstellkammer für alles Mögliche Gerümpel diente. Nachdem er einige Sachen, die Amy nicht von den Geräuschen her identifizieren konnte, durch den Raum geworfen hatte, zog er irgendetwas irgendwo heraus. „Was willst du damit?!“, fragte Alexis ihn cholerisch. „Randy schafft das alleine! Er braucht deine Hilfe nicht!“ Die beiden liefen nach oben.
„Ich mach das nicht für Randy, sonder für das Rudel!“ Kyle lief wieder in den Garten, mit dem Gegenstand, den er aus dem Keller geholt hatte. Was dann passierte, wusste Amy nicht mehr genau. Sie glaubte noch mehr Blut zu riechen und eine Mischung aus verbranntem Fell und Fleisch, das ausnahmsweise nicht ihres war. Ihr wurde schwarz vor Augen …

3.
… Ihre Augen flogen wie von alleine in dem Moment auf, in dem sie wieder zu sich kam. Es war dunkel, was allerdings nicht daran lag, dass sie noch immer in dem Raum mit den zwei Käfigen war. Von draußen konnte sie die Straßenlampen sehen, wie sie durch das Fenster ihres Zimmers schien. Doch bevor sie das realisierte, war sie gezwungen ein Gesicht zu erkennen, dass sie wünschen ließ, das Silber des Käfigs wäre reines Silber gewesen und hätte sie zu Asche werden lassen.
Kyle saß auf dem Boden neben ihrem Bett und war sichtlich zufrieden, mit der Angsterfüllten Reaktion in Amys Gesicht, die sie nur fühlen konnte. Er hatte wieder dieses derbe Lächeln auf den Lippen und Zwinkerte ihr zu. Gelähmt vor Schock, ihn an ihrem Bett zu sehen starrte sie ihm gegen den Gesunden Menschverstand – Wolfverstand – in die Augen. Es vergingen einige Augenblicke, bis sie sich zwingen konnte seinem Blick, der sie genauso anstarrte, auszuweichen – gerade rechtzeitig um zu sehen, dass er seine Hand hob und sie zu ihrem Kopf führte. Reflexartig zuckte sie zurück um zu verhindern, dass er sie berühren konnte, ihr wehtun konnte.
Die Schmerzen aber, die die Silberbrandverletzungen verursachten, sagten ihr augenblicklich, was das für eine ausgesprochen schlechte Idee war. Beinahe hätte sie ihr Bewusstsein aufgrund des gleisenden, blitzartigen Feuers, das durch ihren Körper schoss, wieder verloren. Ein fremdwirkendes Jaulen drang in ihre Ohren. Und nur das schließen ihres Mundes brachte sie auf die Idee, dass dieses Jaulen von ihr stammte.
„Du würdest mir sehr helfen, wenn du sie in Ruhe lassen könntest.“, sagte hinter ihr eine Stimme, „Sonst hält sie nicht still und ich kann sie nicht verbinden.“ Mit der Aussicht auf noch so eine Qual, durch ihre Wunden verursacht, brachte sie es nicht fertig sich umzudrehen um herauszufinden, wer noch in ihrem Zimmer war. Schon die Erkenntnis, die ihr die Stimme brachte, dass sie nämlich nicht alleine mit Kyle war, war ihr genug sich nicht bewegen zu müssen.
„Ich tu´ doch alles, damit es unserem Küken bald wieder besser geht.“, sagte Kyle und zwinkerte Amy zu, als er aufstand und zur Tür ging.
Sobald die Tür geschlossen war trat Sarahi in Amys Blickfeld – natürlich, es war ihre Stimme, dachte sie. Sarahi nahm Amys Arm, damit sie ihn verbinden konnte. Noch bevor sie die Bandage anlegte konnte Amy einen Blick auf ihre Verletzungen werfen. Wie lange war sie in dem Käfig? Sie glaubte einen vom Silber freigelegten Knochen zu sehen. Es hätte mehr als nur ein paar Stunden gedauert um sie so schwer zu verletzen.
„Tut mir leid wegen Kyle.“, sagte Sarahi, als sie die gekühlte Bandage um Amys Haut legte, „Er war leider der einzige, den ich bitten konnte dich da raus zu holen.“
Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter. „Zwischen Randy und Liam kam es zum Kampf und bis es den beiden wieder besser geht, ist Kyle der Ranghöchste.“ Was war mit Alexis? Weil sie Randys Mate war, war sie Ranghöher als Kyle. „- der dich da raus geholt hätte.“, fügte sie noch hinzu – sie hatte wohl Alexis auch für einen Moment vergessen. Ach so. Alexis hätte sie glatt in dem Käfig verrotten lassen. Selbst Kyle hatte sie bestimmt nicht einfach so rausgeholt – aber das war auch schon der einzige Vorteil, den sie davon trug Kyles Lieblings Spielzeug zu sein – falls man das einen Vorteil nennen konnte, immerhin wollte sie sich schon öfters umbringen.
„Wie lange …“, das Sprechen schmerzte sie, „war ich …“, Argh, „da unten?“, fragte Amy.
„Fünfzehn Stunden.“
Das war Amys neuer Rekord. Der letzte lag bei bitteren zehn Stunden. Fünf Stunden mehr, dachte sie. Trotzdem musste sie zugeben, dass es das letzte Mal schlimmer war. Damals war wurde sie erst nach acht Stunden ohnmächtig. Dafür waren ihre Brandverletzungen jetzt um einiges Schmerzhafter … und tiefer – sie spürte eine andere offene Stelle an ihrem Rücken, auf der sie lag, die auch einen Knochen zum Vorschein brachte. Sie versuchte sich davon abzulenken.
„Wie kam es … zum Kampf- Ouch!“ Sarahi zog die Bandage an ihrem anderen Arm einen Hauch zu straff.
„Entschuldige.“, sagte sie hastig, während sie zuckte und die Bandage schnell lockerte. „Wie es nun mal zu so einem Dominanzkampf kommt. … Liam hatte etwas gesagt, was Randy als Alpha persönlich angriff. Und randy hat Liam dann angegriffen um seinen Stand als Alpha zu beweisen.“ Als sie eine weitere Bandage geholt hatte und sich wieder neben Amy saß gab sie ihr einen kurzen Überblick über den Kampf. „Hätte Kyle nicht eingegriffen wäre wohl mehr als nur das Wohnzimmer zu Bruch gegangen.
„Liam hat ganze Arbeit geleistet – Randy liegt in seinem Zimmer und blutet immer noch. Aber wenn du mich fragst, hätte Randy trotzdem gewonnen. Er hat Liam auch ziemlich übel zugerichtet. Ivy kümmert sich um ihn.“
Ja, dafür waren die untersten in der Hierarchie gut genug, sich um die Verwundeten zu kümmern. Amy musste auch schon oft gebrochene Knochen fixieren, bevor sie in grotesken Winkeln wieder zusammen wachsen. Der einzige Nachteil, wenn man so schnell heilt. Zwar kann man die Knochen auch wieder richten, wenn man nicht rechtzeitig zur Stelle war und sie wieder in geordneter Position bringen. Aber dafür musste man die Knochen wieder brechen und das nicht ohne zusätzliche Schmerzen für den Verletzten.
Was sie allerdings verwunderte war, dass Randy noch immer blutete – sie konnte jetzt auch sein Blut riechen, ein dumpfer, schwacher Geruch unter dem Gestank ihres verbrannten Fleisches. Schnittverletzungen hätten schon längst verheilen müssen – es sei denn, die Schnittverletzungen wurden mit einem Silbermesser oder ähnlichem zugefügt. Liam würde Randy wohl kaum mit einem Silbermesser angreifen, schon gar nicht, wenn beide in Wolf Form waren.
„Wie kann es sein, dass Randy noch immer blutet?“ Diesmal konnte Amy ihre Frage ohne Pause aussprechen.
„Kyle hat ihn mit dem Silberschwert vom Keller angegriffen, damit er von Liam abließ.“
Kyle? Wieso sollte er so etwas tun? War er nicht scharf darauf Randys Beta zu sein? Hätte er Randy in Ruhe kämpfen lassen, hätte Randy, so meinte Sarahi, Liam besiegt. Und bei einem Dominanzkampf in dem der Alpha beteiligt war, konnte man nur siegen, wenn der andere tot war. Perfekt für Kyle. Er hatte Liam schon mehr als nur einmal herausgefordert und immer verloren – schwer verletzt (und Amy musste sich dann immer um ihn kümmern). Warum hat er Randy aufgehalten – und Liam damit gerettet? Für Amy ergab das keinen Sinn.
„Wieso Kyle?“, machte sie der Frage, die ihr auf der Zunge brannte Luft.
„Ich weiß, das hab ich mich auch schon gefragt.“, antwortete Sarahi. „Ich hätte gedacht, dass er genüsslich zu sieht wie Randy Liam tötet und Kyle dann automatisch zum Beta befördert wird.“
Sie dachte also genau so wie Amy. Aber es war ja auch kein Geheimnis, dass Kyle in der Hierarchie des Rudels aufsteigen wollte und Liam ihm im Weg stand. Etliche Male hatte Kyle Liam zum Kampf herausgefordert. Und etliche Male hatte er verloren. Den letzten Dominanzkampf hat Kyle vor etwa zwei Jahren angefangen. Es war kurz nachdem Kyle sich das erste Mal vergriffen hat, als er Liam aus heiterem Himmel in diesem Haus hinterrücks angefallen hatte. Weil Liam ihn übel zugerichtet hatte, hatte Randy veranlasst ihn im Gästezimmer einzuquartieren. Damals war Ivy noch nicht hier gewesen und Kyle wohnte eine Woche in ihrem jetzigen Zimmer. Amy musste sich damals um ihn kümmern, ihm Essen machen, ihn verbinden und ihn waschen. Sie konnte heute noch deutlich vor sich sehen, wie sie ihm in die Dusche half, als er gerade wieder aufstehen konnte – aber noch nicht alleine. Noch eine Erinnerung, die Amy am liebsten verdrängen wollte.
„Nicht gerade die klügste Idee. Über mich zu lästern, wenn ich noch in Hörweite bin.“
Amy hob ihren Kopf und sah ihn am Türrahmen lehnen. Kyle.
„Die Schule wird auf dich warten müssen bis die Silberwunden ausgeheilt sind.“, informierte er sie.
Niemand sagte etwas. Es war nur zu hören, wie Sarahi die übrig gebliebenen Bandagen wieder zusammen packte. Amy konnte die Angst, die aus Sarahi drang genau riechen. Auch ihr Herzschlag war schneller – genau wie Amys. Natürlich hatte sie auch angst. Kyle war für die nächsten Stunden der Ranghöchste im Rudel. Randy und Liam waren verletzt und außer Gefecht gesetzt, sie mussten sich erst erholen. Und Sarahi würde sich nur um Randy kümmern, nicht um das Rudel, obwohl sie durchaus dazu berechtigt wäre. Kyle konnte jetzt (mit ihr) machen was er wollte.
Stattdessen glitt er lachend aus ihrem Blickfeld. Seine Schritte verrieten ihr, dass er nach unten ging. Also hatte Amy nichts von ihm zu befürchten – vorerst. Eine von Randys Regeln beschützte Amy vor nächtlichen Besuchen des Rudels in ihrem Bett solange sie Silberverbrennungen hatte. Würde es nicht extrem viel Überwindung kosten sich selbst mit Silber zu verletzen, würde Amy regelmäßig das Edelmetall berühren und sich verbrennen, nur um sich vor dem Rudel beschützen. Aber Randy würde das früher oder später durchschauen – wahrscheinlich früher als später (er war gut in so etwas) –und die Regel würde für Amy nicht nur ihre Wirkung verlieren. Es würde für sie noch schlimmer enden. Vielleicht würde er sie zwingen eine Kette aus Silber zu tragen – klingt harmlos, ist es aber nicht. Nicht wenn es sich um echtes Silber handelte.
Kyle verließ das Haus und Amy Puls verlangsamte sich. Als Sarahi aus Amys Zimmer ging, um ihr Ruhe zu gönnen, schloss Amy ihre Augen und Atmete tief durch. Die gekühlten Bandagen linderten nur kurz das Brennen überall auf ihrer Haut. Jede einzelne Hautzelle ihres Körpers entflammte jetzt immer mehr von Sekunde zu Sekunde. Es würde einige Tage dauern bis Amy wieder schlafen konnte – jedenfalls ohne Schmerzmittel. Schmerzmittel, die sie eigentlich kriegen würde, wäre Dexter, der Arzt des Rudels, gerade nicht unterwegs. Sie wusste nicht wo er war – und üblicherweise war es ihr auch egal. Aber sie hoffte, er würde bald wieder kommen und ihr ein paar Tabletten oder Morphium als Souvenir mitbringen.
Neben ihrem Atem konnte sie Alexis hören, wie sie neben Randy auf dem Bett setzte.
„Ich hab Dexter angerufen. Er ist schon gelandet und wird bald hier sein.“, hörte Amy sie flüstern. Noch nie hatte sie Alexis so liebevoll reden hören.
„Ich brauch keinen Arzt.“, wehrte er sich. Es war deutlich zu hören, wie er versuchte aufzustehen, um ihr zu zeigen, dass es ihm gut ging – was offensichtlich nicht der Fall war.
„Schhh. Bleib liegen.“, sagte Amy. „Ich weiß, dass du keinen Arzt brauchst“ – nicht einmal Amy glaubte ihr das, und sie konnte keine Lügen riechen – „aber tu mir bitte den Gefallen. Ja?“
Randy knurrte nur. Das Knurren verlor sich, aber als Alexis ihn streichelte. Amy konnte hören, wie ihre Finger durch sein Haar strichen. Ihr Bett knarrte, als Alexis sich anders hinsetzte und Randy küsste. Es war ein langer Kuss und dem stöhnen nach zu urteilen steckte viel Leidenschaft dahinter.
Amy musste sich eingestehen, dass sie eifersüchtig war. Sie wollte nicht mit Alexis den Platz tauschen – Ugh, das bestimmt nicht. Sie war eifersüchtig auf ihre Situation. Randy und Alexis hatten sich. Beide hatten einen Mate. Amy nicht. Sie war alleine. Wie sehr wünschte sie sich auch einen Mate. Ein Mate, der sie beschützen würde – insbesondere vor Kyle. Ein Mate, der sich um sie kümmern würde. Und was am schönsten wäre, ein Mate, der sie lieben und respektieren würde. Aber so jemanden hatte sie nicht. Und sie fragte sich langsam, ob es überhaupt so jemanden für sie geben würde – fünfzehn Jahre als Werwolf und sie hatte noch keinen gefunden.
Sie dachte an Liam, wie er verletzt in seinem Bett lag. Er hatte ihr doch angeboten ihr Mate zu sein. Nicht wahr? Zumindest hatte er es angedeutet. „Wenn ich dein Mate wäre würde das alles aufhören.“, das waren seine Worte. Und, dass sie es sich „überlegen“ sollte. Wieder musste sich Amy fragen, ob er es ernst geme

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Tag der Veröffentlichung: 18.05.2011

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