Prolog
Reo Akiyama sitzt ganz alleine auf der einzigen Wippe des Spielplatzes, im Garten des Waisenhauses. Die anderen Kinder um ihn herum hielten einen, nahezu ins Auge stechenden, Abstand zu ihm ein. Keiner wagte sich näher, als auf fünf Schritte, an ihn heran. Für mein Vorhaben ist es nur von Vorteil, wenn er ein Einzelgänger ist.
Gedankenverloren beobachtet der Junge einen Käfer, der versucht von seiner Hand zu flüchten. Das offensichtliche Getuschel der anderen Kinder, welches sich, obwohl ich es nicht hören konnte, eindeutig um ihn drehte, schien ihn gar nicht zu stören. Ich frage mich, was wohl gerade in seinem Kopf herumgeht. Für seine sieben Jahre ist er, laut meiner Recherchen, ein richtiges Genie. Mal abgesehen von seiner Wasserphobie, die ihn sogar daran hinderte eine einfache Brücke zu überqueren, könnte dieser Junge der perfekte Kandidat für mein Vorhaben sein.
Ob sein Bruder, der gerade aus dem Hauptgebäude des Waisenhauses zu ihm gelaufen kam, ein Problem darstelleb wird, konnte ich bei weitem noch nicht beurteilen. Aber was sich zwischen den beiden Brüdern abspielt, gefällt mir gar nicht. Wenn Reo nicht gerade alleine ist, hängt er immer am Rockzipfel seines, um vier Jahre älteren, Bruders, Akihiko.
Obwohl es unmöglich ist, dass er seinen Bruder kommen gesehen hat, blickte er in dem Moment von dem Käfer, welcher jetzt die Zeit zur erfolgreichen Flucht nutzte, auf, als Akihiko keine fünf Meter mehr entfernt war. Weil ich in dem Coffee-Shop auf der anderen Straßenseite saß, konnte ich nicht hören, was sein Bruder von Reo wollte. Aber es sah so aus, als würde er ihn ermutigen mit den anderen Kindern in Kontakt zu treten. Reo scheint aus freien Stücken ein Einzelgänger zu sein. Deshalb gefällt es mir auch nicht, dass sein Bruder versucht diesen Zustand zu verändern.
Doch glücklicherweise verrieten mir die beiden Männer in dem nachtblauen Toyota, der vor dem Coffe-Shop parkte, dass ich mich darum nicht mehr lange Sorgen brauchte. Die beiden konnten es einfach nicht verbergen. Selbst, wenn sie nicht sogar dieselben beiden Männer wären, die mich damals zu seiner Zeit beobachtet und zu van Wyk´s Waisenhaus gebracht hätten, hätte ich erkannt, dass sie zu ihm gehören. Eigentlich sollte ich mich fragen, warum Johan van Wyk erst jetzt auf Reo aufmerksam geworden ist. Immerhin sind er und sein Bruder schon seit gut zwei Jahren elternlos und hier. Aber dann müsste ich auch mich selbst fragen, warum ich auch erst jetzt auf ihn gestoßen bin. Wobei zu meinem Fall zu sagen ist, dass ich erst seit wenigen Monaten nach einem kindlichen Kombinationsgenie für mein Vorhaben suche.
Es wird sich wohl nur noch um wenige Tage handeln, bis die beiden Kerle – Seymore und Hiruaka, waren ihre Namen, glaube ich – in Aktion treten und Reo´s Transfer in van Wyk´s Waisenhaus für begabte Kinder einleiten würden. Also bleibt mir nicht viel Zeit vorher mit ihm in Kontakt zu treten. Denn wenn er erst einmal bei van Wyk war, werde ich dazu keine Gelegenheit mehr haben. Und noch schlimmer, dann könnte mir Reo auch noch gefährlich werden, sollte er einmal anfangen für van Wyk zu arbeiten.
Morgen macht das Waisenhaus mit den Kindern einen Ausflug in den nahegelegenen Zoo. Das ist die perfekte, und vermutlich die letzte, Gelegenheit unbemerkt Kontakt zu Reo aufzunehmen, um ihn für meine Sache einzunehmen. Schreiende und herumtollende Kinder, inmitten von Menschenmassen. Keine Chance, dass Seymore und Hiruaka Reo zu jeder Sekunde im Auge behalten können. Irgendwann werden sie ihn aus den Augen verlieren. Dann kommt mein Einsatz. Und da ich mich bis dahin im Hintergrund halten muss, sodass sie mich nicht zufällig doch erkennen – obwohl es schon ein paar Jahre her ist, dass sie mich das letzte Mal gesehen haben – werde ich für heute zurück in mein Hotel gehen. Ich weiß ja immerhin, dass das Waisenhaus morgen früh um neun Uhr mit einem gemieteten Bus in Richtung Zoo aufbrechen wird. Demnach werden sie zwischen neun Uhr achtundzwanzig und neun Uhr fünfunddreißig am Zooeingang ankommen – je nach Verkehrssituation.
Ich nahm also meinen Coffe-to-go Becher, zog mein Basecap wieder auf den Kopf und tief ins Gesicht, verließ den Coffe-Shop und ging, so skrupellos wie ich war, direkt an Seymore und Hiruakas Wagen vorbei. Es wehte ein kalter Wind, weshalb es nicht ungewöhnlich aussehen dürfte, dass ich den Kragen meines Mantels hochzog, damit mich niemand erkennen konnte.
Für meinen Geschmack war es viel zu kalt. Und dabei hat der Winter gerade erst angefangen. Der Schnee würde wohl auch nicht mehr lange auf sich warten lassen. Lediglich in der scheinenden Sonne wurde man noch von einer Gänsehaut unter einer dicken Felljacke verschont. Wenigstens blieb der Wind am nächsten Tag, während meines nicht ganz freiwilligen Besuchs im Zoo, aus.
Um Punkt neun Uhr dreißig traf der gemietete Bus des Waisenhauses ein. Und wie erwartet, waren die Kinder so aufgedreht wegen des Ausflugs, der eine seltene Abwechslung vom grauen Alltag von Elternlosen Kindern bot, dass sie sich wie eine Horde wildgewordener Affen zwischen die anderen Zoobesucher drängelten. Die Waisenhausmitarbeiter hatten große Schwierigkeiten die Kinder im Auge zu behalten. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass sich meine Zielperson nicht im Geringsten so aufgedreht verhielt.
Es bestätigte mich nur, dass er sich seinem Alter so gar nicht entsprechend verhielt. Er blieb sogar emotional unbeteiligt, als ihn sein Bruder mit sich den anderen Kindern hinterher zog.
Seymore und Hiruka beschatteten das Kind, wie erwartet, auch hier. Es dürfte ihnen nicht allzu schwer fallen, ihn im Auge zu behalten, da sie immerhin vier davon haben. Dennoch war ich mir sicher mit meinem Plan Erfolg zu haben, solange ich nur auf den richtigen Zeitpunkt warte und nichts überstürze. Vorsicht ist geboten. Dabei darf ich aber nicht vergessen, dass das meine letzte Chance ist. Und obwohl ich noch vier andere Kandidaten an der Hand hatte, war mir dieser so wichtig wie die anderen auch. Alle fünf musste ich testen, um mir wirklich sicher zu sein, die richtige Person gefunden zu haben.
„Wo ist er, verdammt?!“, schrie ich, um meinen Frust Ausdruck zu verleihen. Frust war noch milde ausgedrückt. Ich hatte Angst. Das letzte Mal als Reo verschwunden ist, war er weggelaufen, als man uns mitgeteilt hatte, dass unsere Eltern tot waren. Zwei Tage war er verschwunden, bevor er auf einem Polizei Revier aufgetaucht war.
„Wir sollten Usuda-senpei holen.“, schlug Kou vor. „Der wird wissen, was zu tun ist.“
„Ja, komm.“, schob Masao Kou an, „Usuda-senpei wird Reo finden. Lass ihn uns holen.“
Sie wartete gar nicht erst auf mich, sondern rannten gleich in Richtung Affengehege, bei dem wir Usuda-senpei zuletzt, auf unserem Rundgang durch den Zoo, begegnet waren. Ich wäre ohnehin nicht mit ihnen mitgegangen. Niemals könnte ich aufhören nach Reo zu suchen, wenn er verschwunden ist. Meine Suche könnte ich nicht einmal unterbrechen, auch nicht um Hilfe zu holen.
„Reo!“, rief ich nach meinem kleinen Bruder. Er ist zwar klug genug nicht mit einem Fremden mit zu gehen. Aber er ist und bleibt erst sieben Jahre alt. Zu jung um alleine durch einen Zoo voller fremder Menschen zu laufen. Er ist doch alles, was ich noch habe.
„Was ist?“
Diese Stimme! Reo!
Und tatsächlich, als ich mich umdrehte, stand er da. Mein Bruder starrte mich an, als sei nichts gewesen, als sei er nicht gerade fast eine Stunde verschwunden gewesen.
„Wo warst du? Ich hab dich überall gesucht, Reo!“ Vor lauter Panik und Erleichterung merkte ich gar nicht, wie sehr ich ihn durchschüttelte.
Reo´s Miene blieb unverändert – ganz wie ich ihn kannte. „Im Aquarium.“
„Aquarium?“ Er hat Angst vor Wasser. Was hatte er im Aquarium zu suchen? „Was wolltest du denn da? Ich hab dir doch gesagt, dass du immer bei mir bleiben sollst.“
„Eisuke wollte mit mir im Aquarium reden.“, sagte Reo.
Eisuke? „Wer ist Eisuke?“, fragte ich. Ich kannte niemanden, der so hieß. Soweit ich wusste, gab es im Waisenhaus niemanden mit Namen Eisuke. Ist er doch mit einem Fremden mitgegangen?
„Was ist los?“, wollte ich wissen. Reo benahm sich noch merkwürdiger als sonst. Hatte er Schmerzen? Er fasste sich so eigenartig an den Kopf und starrte in die Leere.
„Nichts.“, sagte er aufgeregt. „Eisuke hier“, er deutete neben sich – ins Leere, „ist mein Freund. Er wollte mir die Quallen zeigen.“, sagte er und lächelte dabei.
Oh, Mann. Musste er jetzt ausgerechnet damit anfangen einen imaginären Freund zu haben? Und ich dachte schon, er sei von irgendeinem Perversen entführt worden, der sich an kleinen Kindern vergreift.
… und Blutspritzer wurden auf dem Hochzeitsfoto gefunden, tippte ich in meinen Computer ein.
Auch wenn ich die Lösung schon längst kenne, sollte ich den Fall nachvollziehbar bearbeiten. Sonst stehe ich am Ende selber noch unter Verdacht, nur weil ich so gut bin und oft sehe, was andere nicht einmal sehen würden, wenn man sie mit ihrer Nase darauf stößt.
Doch für heute habe ich genug gearbeitet. Es ist schon weit nach Mitternacht, die Sonne ist schon länger untergegangen, als es dauern wird, bis sie wieder aufgeht. Selbst die meisten Nachteulen, die den Straßenverkehr nachts am Leben erhalten, haben bereits ihren Weg in ihre Betten gefunden, sodass die Geräuschkulisse, die von draußen her hier rein drang, so ziemlich zum Erliegen gekommen ist. Für mich wird es auch langsam Zeit das Licht zu löschen und schlafen zu gehen.
Seufzende lehnte ich mich auf meinem Bürostuhl zurück und betrachtete meine nächtliche Arbeit. Vom flimmern des Computerbildschirms brannten meine Augen, und ich rieb sie mir. In Zukunft sollte ich mir angewöhnen bei besserer Beleuchtung zu arbeiten. Mein Blick fiel auf die Akten, die über meinen ganzen Schreibtisch und den Fußboden ringsherum verstreut lagen. Ich hasse Unordnung.
Es macht keinen Sinn es noch bis Morgen aufzuschieben. Je früher ich diese Akten los bin, desto besser. Mit müden Knochen, vom langen und starren sitzen am Computer, erhob ich mich von meinem Bürostuhl und tappte im Halbdunkel über die Akten durch den Raum und holte den Papierschredder. Aber weil das nicht genügen würde, packte ich jetzt endlich den Grill auf meinem Balkon aus, den ich mir vor einem Monat gekauft hatte. Zum Glück gingen meine Nachbarn früh ins Bett. Es würde ihnen komisch vorkommen, wenn ich um diese Zeit noch ein Barbecue veranstalten würde.
Die Akten jagte ich eine nach der anderen durch den Schredder, bis er vor lauter Papier schon überquillt, nahm die Papierschnipsel legte sie behutsam, sodass der Wind auch ja keines davontragen würde, in die Feuerschale des Grills. Der Schwefel des Streichholzes entflammte sich sofort, als ich es an der Schachtel entlang zog. Vom Rauch, der mir in die Nase stieg, brachte mich zum Niesen, was das Jucken in meiner Nase aber immer noch nicht ganz linderte.
Sobald das Papier brannte, schredderte ich noch mehr Akten und warf den Müll wieder ins Feuer. Niemand wird diese Akten je wieder zu Gesicht bekommen. Die einzigen Kopien sind in meinem Computer, der, da war ich mir absolut sicher, definitiv sicher war. Niemand würde ihn hacken können. Dafür habe ich gesorgt.
(... to be continued ...)
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2011
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