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Widmung

Für Lia und Tina,

die ganz bestimmt nicht Olivlia und Tinan sind,

aber trotzdem.

Auch für Linus und Falk,

die immer noch Linus und Falk sind,

nicht Lilus und Falko.

 

Prolog

Er strich ihr über die Haare und legte ihr eine Hand auf die Stirn. Sie glühte regelrecht vor Fieber. Besorgt sah er in den Topf mit den Nudeln auf dem Nachtkasten.

„Bitte iss etwas!“, stand in seiner Handschrift auf einem Zettel daneben, und tatsächlich schien sie etwas gegessen zu haben. Es war vermutlich nicht viel gewesen, vielleicht ein Löffel voll, aber auch das Glas war noch mit Tropfen benetzt. Er drückte ihr noch einen Kuss auf die Stirn und verließ das Zimmer. Sie war jetzt schon seit eineigen Tagen in diesem Zustand, lange konnte es nicht mehr dauern, aber er sorgte sich um sie. Eigentlich hätte sie öfters wach sein müssen und auch Nahrung brauchte ihr Körper jetzt dringend. Nur neulich hatte er Wassertropfen im Waschbecken gefunden. Vielleicht war sie auf Toilette gewesen. Er verfluchte seinen Boss, der ihn sich nicht die Tage freinehmen ließ.


Kapitel 1

Tinan's Sicht

Langsam ging ich die Treppe herunter. Unten wartete mein Kumpel Damien bereits auf mich. Besorgt und fragend blickte er mich an.

„Sie schläft“, gab ich ihm zu verstehen, „aber scheinbar war sie vorhin wach, sie hat etwa einen Löffel Nudeln gegessen und auch etwas getrunken. Es sollte nicht mehr lange dauern, aber wenn sie nicht mehr Nahrung zu sich nimmt stirbt sie. Sie hat ziemlich hohes Fieber, noch höher als Leo.“ Damien seufzte.

„Bleibt uns wohl nichts anderes übrig als sie an den Tropf zu hängen“, erklärte er entschieden. Es gefiel uns beiden nicht, und wir hatten gestern zum ersten Mal darüber geredet, aber wir sahen beide keine andere Möglichkeit mehr. Damien war Arzt und hatte das richtige Mittel schon besorgt, für alle Fälle. Das heißt, ich hatte auch Medizin studiert, aber das war vor … ach, ich weiß nicht mehr. Das ist so lange her, dass ich jetzt tot sein müsste. Leise schlichen wir wieder nach oben. Ich hielt ihren Arm während er die Armbeuge säuberte und desinfizierte. Vorsichtig stach er mit der Nadel hinein. Das Mädchen zuckte im Schlaf. Olivlia hieß sie, das wusste ich von ihrem Ausweis. Ein normaler Name, nur leicht abgewandelt. Olivlia Miller. Damien befestigte den Tropf richtig und tastete vorsichtig ihren Körper ab. Manchmal zuckte sie.

„Tinan, sie ist gefährlich mager. Und sieh mal, diese Narbe an ihrer Schlagader. Sie hat versucht sich das Leben zu nehmen. Vielleicht hättest du das nicht tun sollen“, redete er mir ins Gewissen.

„Ich weiß, aber jetzt ist es zu spät. Ausserdem, sieh doch nur, ihre ganzen blauen Flecken. Sie hatte bestimmt kein schönes Leben, und ich möchte ihr zeigen, was es heißt, Spaß zu haben. Ich konnte einfach nicht anders, ich hatte Mitleid“, flüsterte ich beschwichtigend zurück.

„Ich weiß. Aber ich denke, es gäbe noch etwas, was du für sie tun könntest.“ Flüsternd erklärte er es mir. Ich verstand sofort. Ich besorgte mir einen sterilen Plastikbeutel, der für Infusionen vorgesehen war. Mit einem Messer schnitt ich mir das Handgelenk auf und ließ Blut in ihn fließen. Als die Wunde sich wieder verschloss war er halb voll. Das wäre mehr als genug. Ich benetzte ihre Lippen mit dem Blut und brachte sie dazu, einige Schlucke zu trinken. Den Rest ließ Damien mit einem weiteren Tropf-Einsatz in ihre Ader an der Hand fließen. Es würde nur tröpfchenweise durchkommen und für Tage reichen, bis sie wieder stark war.


Olivlia's Sicht

Als ich wieder aufwachte bemerkte ich einen neuen Topf auf dem Nachtkasten. Ich hatte keinen Hunger. Der Gedanke an die Typen, die mich zusammengeschlagen hatten, ließ jedes Hungergefühl verstummen. Ich sollte längst tot sein, warum war ich nicht gestorben? Als ich mir die Schlagader aufgeritzt hatte, hatte mich ein Lehrer wenige Minuten zu früh gefunden und „gerettet“. Ich hatte die Schule gewechselt, doch einige kannten mich, und wussten, dass ich das Opfer war. Ich war verprügelt worden. Immer wieder. Zuletzt hatten sie mich in eine dunkle Gasse gezogen. Ich hatte Angst vor Männern und älteren Jungen, ich hasste die oberflächlichen Zicken, die mich auf übelste beschimpften. Aber seit neustem war ich in diesem Zimmer. Immer ein Topf, Wasser und ein Zettel:

„Bitte iss etwas!“ Wollten sie mich vergiften? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass es mir egal war. Und das ich jetzt aufs Klo musste. Als ich aufstehen wollte, fielen mir die beiden Infusionsständer auf. Aus einem rann klare Flüssigkeit in meinen Arm, aus dem anderen eine dunkle, rötliche Flüssigkeit in meine Hand. Sie sah aus wie Blut, gruselig. Ich überlegte. Ich war an keine anderen Geräte angeschlossen, und die Infusionsständer konnte man rollen. Aber ich hatte kein Interesse daran, dass es mir besser ging, also zog ich die Nadeln aus meinem Arm und aus meiner Hand und hängte die Schläuche hoch. Als ich unter der Bettdecke hervor kroch, merkte ich, dass ich wieder frische Kleidung trug, ein weißes Top und eine dunkelblaue Jogginghose mit einem weißem Streifen. Irgendjemand zog mich regelmäßig um, und ich hatte Angst davor, zu erfahren, wer es war. Derjenige hatte anscheinend auch meine langen dunklen Haare zu einem Zopf geflochten. Normalerweise trug ich sie in einem unauffälligem Pferdeschwanz, zu mehr hatte ich mich nie getraut, zu groß war die Angst, Aufsehen zu erregen. Ich wusste nicht, wie ich zum Opfer geworden war. Als mein Vater starb, war alles noch „in Ordnung“, ich zog mich nur ein wenig zurück. Meine Freunde verstanden das. Als meine Mutter einen Säufer heiratete, gingen alle auf Abstand, ich stank nach Alkohol. Als meine Mutter starb, setzte sich keiner mehr für mich ein. Ich nehme an, ab da wurde die Diskriminierung mehr, aber mein Leben wurde mir gleichgültig. Ich zog die Spülung und wusch meine Hände, trocknete sie langsam ab. Im Spiegel sah ich meine dunklen Augenringe über meinen grünen Augen, meine magere Gestalt. Hmmpf. Als ich das andere Zimmer wieder betrat, zuckte ich zusammen. Auf meinem Bett saß ein junger Mann von etwa 20 Jahren, also etwa drei Jahre älter als ich. Er hatte schwarze kurze Haare und dunkle Augen, war ziemlich groß und muskulös gebaut. Er lächelte mich freundlich an, aber ich wich zurück.

„Schön, dass du wach bist“, begrüßte er mich, „hast du Hunger?“ Hastig schüttelte ich den Kopf. „Aber es ist alles in Ordnung, oder?“, fragte er und musterte mich besorgt. Es war mir unangenehm. Ängstlich nickte ich. Wer war der Typ? Er schien ganz nett, aber der Schein konnte auch täuschen, dessen war ich mir bewusst. Er kam auf mich zu geschlendert.

„Die Infusionsständer kann man auch rollen, du hättest sie nicht abmachen müssen. Naja, komm, wir sollten uns unterhalten.“ Er bedeutete mir, wieder in das Bett zu steigen, und ich kam der Aufforderung nur ungern nach. Er rieb die Einstichstellen an meinem Arm und an meiner Hand mit Desinfektionszeug ab und steckte den zugehörigen Tropf jeweils zurück. Vorsichtig ließ er sich auf der Bettkante nieder und deckte mich zu. Verwirrt sah ich ihn an.

„Ich bin Tinan, und du bist Olivlia, oder?“, stellte er sich vor.

„Nur Lia“, erwiderte ich leise und erschrak vor meiner eigenen Stimme. Sie war heiser, so lange hatte ich sie nicht benutzt.

„In Ordnung. Du hast bestimmt viele Fragen. Mein Kumpel Damien und ich haben dich gefunden, nachdem dich ein paar Jugendliche zusammengeschlagen haben. Wir haben Fotos von ihnen und sie auch angezeigt. Du lagst halbtot in einer Sackgasse. Wir haben auch deinen Ausweis gefunden, aber die Polizei konnte keinen von deiner Familie erreichen, deshalb bist du bei uns.“ Wie nett von ihnen, aber ich sah in seinen großen, fast schwarzen Augen, dass das nicht die ganze Wahrheit war.

„Wie lange bin ich schon hier?“, hakte ich nach. Ich wusste es ungefähr, und als er antwortete, ich sei schon seit eineinhalb Wochen hier, wusste ich, dass er – zumindest diesmal – die Wahrheit sagte.

„Wo sind wir?“, wollte ich wissen.

„Auf Barren Island, in der Nähe von Brooklyn, New York. Ich wohne in diesem Haus mit Damien und noch einem anderen, Finley. Aber Finley ist momentan auf Dienstreise“, erklärte er.

„Und wann kann ich wieder raus?“

Er fuhr sich durch seine glänzenden Haare. „Ich weiß es nicht, aber wenn Damien von der Arbeit kommt, können wir ihn fragen. Er ist Arzt. Finley sollte heute auch wieder kommen.“

Ich nickte und deutete auf die Infusionen. „Was ist das eigentlich für Zeugs?“

„Das eine ersetzt Nährstoffe, da du so wenig gegessen hast. Das andere … gute Frage, die kann dir Damien beantworten“, schob er die Antwort auf.

„Wann kann ich nach Hause?“

„Ähm … ja, da gibt es ein Problem“, stotterte er, „dein Stiefvater ist irgendwie … abhanden … gekommen. Sozusagen. Er ist unauffindbar, aber die Polizei wollte dich nicht in ein Waisenhaus stecken. Da wir schon volljährig sind, haben wir uns dazu bereit erklärt, dich aufzunehmen, so lange wie du willst.“ Also wusste er über meine Familienverhältnisse bescheid. Und ich sollte mit drei Jungs unter einem Dach wohnen? Na Danke. Aber immerhin war es hier sauber. Zuhause hatte ich putzen müssen, aber mein Stiefvater hatte in seinem Suff meist sowieso alles wieder zugemüllt und verdreckt, vollgekotzt und ähnliches. Essen hatte es auch nur wenig gegeben. So gesehen war es vielleicht ganz gut, hier zu sein und hier zu bleiben. Auch wenn ich eigentlich nicht leben wollte.

„Wie alt seid ihr denn? Und als was arbeitet ihr?“ Um ein Haus mit so einem großen Zimmer zu haben, musste man ziemlich gut verdienen. Und er sah noch ziemlich jung aus.

„Damien ist 24, Arzt, wie gesagt, Finley ist 26 und macht irgendwas mit IT und Computern, ich selbst bin mit 21 ein Police Captain.“ Zerknirscht sah er mich an. Soso, die Polizei wollte mich nicht in ein Waisenhaus einweisen. Dabei war er ja ein relativ wichtiger Polizist, oder? Konnte ich einem Polizisten vertrauen?

„Was ist mit der Schule?“, wechselte ich schnell das Thema. Ich wollte zwar nie auffallen, war aber immer Klassenbeste gewesen.

„Du kannst zurück auf deine alte Schule, wenn du möchtest, oder auf eine andere, aber eigentlich haben wir überlegt, eine Privatschule zu suchen. Es gibt ganz in der Nähe eine recht gute. Wir können aber auch einen Hauslehrer einstellen.“ Die Möglichkeit, auf eine Privatschule zu gehen, hatte ich angesichts der Preise nie gehabt. Und ich wusste, von welcher er redete, von der Fox Privat School, die wirklich hohe Standards hat.

„Vielleicht bekomme ich ja ein Stipendium“, murmelte ich.


In dem Moment trat ein weiterer junger Mann in das Zimmer.

„Na ihr beiden, schön das du wach bist“, begrüßte er uns. „Ich bin Damien.“ Er hatte braune verwuschelte Haare und blaue Augen, war ein wenig kleiner als Tinan und kam offensichtlich von der Arbeit. Er stellte sich zu uns und fragte mich über meinen Zustand aus. Dann maß er Fieber.

„Fast kein Fieber mehr“, erklärte er und hielt Tinan das Thermometer hin. Ich konnte einen kurzen Blick darauf erhaschen, und mir fiel auf, dass meine Temperatur eigentlich unter der normalen Temperatur war.

„Trink das.“ Ich musterte die dunkele Flüssigkeit. Gehorsam nahm ich einen Schluck und leerte das Glas dann schnell. Damien drehte sich kurz um, als müsste er sich beherrschen und Tinan bedachte ihn mit einem amüsiertem Blick, dann horchte er auf.

„Wir sind oben!“, brüllte er in Richtung Treppe. Kurz darauf kam ein dritter Mann herein, der Damien sehr ähnlich sah. Finley, vermutlich. Er schien nicht so besorgt wie die beiden anderen, und als er sich vorstellte, strahlte er mich an.


Als ich nachts aufwachte, standen die drei nachdenklich über mich gebeugt.

„ … abgeschlossen, ich kann nichts mehr hören“, meinte Finley leise. Damien nickte. Es war dunkel, aber ich konnte alles genau sehen. Langsam richtete ich mich auf.

„Was ist los?“, wollte ich wissen. Die drei wichen zurück. Was machten sie mitten in der Nacht an meinem Bett?! Tinan stand ganz vorne, die anderen hielten sich zurück.

„Alles in Ordnung“, entwarnte Finley schließlich. War ich etwa eine Gefahr? Fragend blickte ich ihn an.

„Lass uns runter gehen“, schlug er vor, und Damien nahm die Infusionsnadeln aus meinem Körper und ich folgte den dreien. Sie machten kein Licht an, als sie das Wohnzimmer betraten, aber ich erkannte alles. Es war so groß, wie die Wohnung, in der ich früher gelebt hatte. Ein schwarzes Sofa und Sessel standen um einen Tisch. Ich setzte mich in einen der Sessel, gegenüber von Tinan. Unruhig kaute ich auf meiner Lippe und auch Damien und Tinan sahen nervös aus, Finley war wieder der, der locker anfing.

„Weißt du, warum du hier bist?“, erkundigte er sich.

„Naja, ich wurde zusammengeschlagen, Damien und Tinan haben mich gerettet …“, begann ich unsicher. Tinan nickte.

„Ja, aber nicht durch irgendwelche normalen Heilmittel, sondern mit Gift und Blut. Vampirgift und Vampirblut, um genau zu sein. Damien ist den Schlägern hinterher gelaufen, während ich versucht habe, dich wieder zu beleben. Ich habe um 1600 und 1800 auch Medizin studiert … Jedenfalls half nichts, also habe ich mich entschlossen, dich zu beißen und zu einem Vampir zu machen“, rasselte er herunter. Das kann doch nicht wahr sein, schoss es durch meinen Kopf. Ihr könnt doch keine Vampire sein, oder?

„Doch, sind wir“, antwortete Finley auf meine unausgesprochene Frage. Seine Augen glühten auf, änderten die Farbe, und warfen Licht durch den Raum, als wären sie die Lichter eines U-Boots, die das dunkle Wasser in tiefen Gräben unter dem Meeresspiegel erhellten. Er bleckte die Zähne, und ich konnte beobachten, wie seine oberen Eckzähne immer länger wurden.

„Oh“, machte ich. Die Jungs starrten mich erwartungsvoll an. „Ist irgendwas? Hab ich was im Gesicht?“

„Nein, nur … du glaubst es, aber du flippst nicht aus“, bemerkte Finley. 'Türlich nicht, Deppi. Was sollte das denn bringen?, dachte ich bei mir, und er grinste.

„Würde wirklich auch nichts bringen“, sagte er. Ich legte den Kopf schief. „Oh, tut mir leid, aber wenn du in deinen Gedanken mich, oder jemanden anders adressierst, kriege ich das leider mit“, erbarmte er sich endlich. „Ich kann auch einfach Sachen denken, die du dann hörst, wenn du willst.“

„Okaaay … Noch irgendwelche Fähigkeiten, wie Zukunftsvisionen oder unsichtbar machen, Wetter beherrschen, oder sonst etwas, was ich wissen müsste?“

„Schuldig“, meldete Tinan sich und ich starrte ihn an. „Ich kann Gewitter kontrollieren“, gestand er und ließ zum Beweis Blitze über unseren Köpfen toben. Interessiert sah ich Damien an. Er verschmolz mit den Schatten bis er nicht mehr zu sehen war.

„Vielleicht kannst du auch etwas, du musst es erst herausfinden“, beantwortete Finley meine unausgesprochene Frage. „Aber deine Verwandlung ist noch nicht abgeschlossen, du musst Menschenblut trinken.“

„Blut? Nein – ich kann doch nicht … von wem überhaupt, ich will keinen töten“, stammelte ich und wurde merklich blass, aber Tinan flitzte bereits in der bekannten Vampirgeschwindigkeit aus dem Raum und kam mit einem Glas Blut wieder.

Ich schüttelte den Kopf. „Oh nein!“ Damien schien mit sich zu kämpfen. Ich reichte ihm das Glas.

„Du scheinst es nötiger zu haben.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich werde es nicht trinken“, erklärte ich entschieden.

„Zeig ihr wie es geht“, forderte Tinan Damien auf. Damien's Zähne Eckzähne wuchsen, bis sie lange Fangzähne waren, und er trank das Glas aus. Neugierig betrachtete ich ihn. Er schien sich jetzt nicht mehr beherrschen zu müssen.

„Wie alt seid ihr?“, wollte ich wissen.

„Ich bin 20, seit siebenhundert Jahren. Damien, ebenfalls seit siebenhundert Jahren, 19, Tinan …“, beginnt Finley,

„ … ich bin 17, seit fünfhundert Jahren. Es gab noch Jaspis, meinen Bruder, 26 seit fünfhundert Jahren, aber … jemand hat ihn vor etwa zwei Jahrhunderten gepfählt“, fährt Tinan mit belegter Stimme fort.


Tinan's Sicht

Seit zwei Wochen ging sie jetzt auf die Fox Private School, als Voll-Stipendiatin, und sie weigerte sich weiter hin, Blut zu trinken. Finley konnte ihre privaten Gedanken nicht mehr hören wie bei Menschen, aber ihre Haut war noch wärmer als bei einem Vampir. Ich hörte, wie sie von der Schule zurück kam und trat in den Flur.

„Na, wie war's?“, fragte ich sie.

„Gut, ich habe eine eins in der Englischklausur“, freute sie sich.

„Cool. Damien meint, ich soll zusehen, dass du entweder Blut trinkst oder wenigstens Nährstoffflüssigkeit bekommst“, kam ich zur Sache. Sie blinzelte.

„Ich werde nichts trinken, und mir geht es auch ohne Nährstoffe gut“, wehte sie ab. Damien hatte als Alternative zum Blut-trinken ein Mittel mit Nährstoffen entwickelt, die allesamt aus dem Blut gefiltert und in Wasser gelöst waren. Die Flüssigkeit war durchsichtig, sie wusste nicht, dass einige Bestandteile aus Menschenblut kamen, trotzdem hasste sie es. Schnell leerte sie das Glas, dass ich ihr reichte. Ich hatte diese Flüssigkeit selbst probiert und sie schmeckte überhaupt nicht nach Blut, oder auch nur annähernd so gut, sondern einfach nur ekelhaft. Finley trank regelmäßig Blut von seiner Freundin. Wenn jemand Blut von einem trank, erregte es einen, sodass Vampire häufig voneinander tranken, wenn sie miteinander schliefen. Damien trank hauptsächlich Spenderblut (aber nur Blutgruppe AB, fragt mich nicht warum), während ich Tiere bevorzugte. Am liebsten hatte ich das Blut von Rehen oder Raubkatzen, Bären gingen auch, auf jeden Fall Tiere, von denen ich trinken konnten, ohne dass sie hinterher an Blutmangel starben. Lia kam jetzt gut eineinhalb Monate ohne Blut aus, keiner von uns hatte es je so lange ausgehalten, auch mit Damien's Blutersatz nicht. Ich schaffte es maximal eineinhalb Wochen. Jetzt sitze ich hier und denke darüber nach, bis hier her sind wir gekommen. Lia scheint Angst vor uns zu haben, ich weiß nicht warum und sie versteckt es gut. Aber wenn jemand unangekündigt hereinkommt oder sie anspricht, zuckt sie zusammen oder fängt an zu zittern. Sie ist mehr als Schreckhaft, wenn ihr jemand näher als bis auf drei Schritte Abstand kommt, weicht sie immer zurück. Jetzt denke ich nach, werde aber nach einer Weile angefunkt, ich soll einige Officer an einem Tatort anleiten. Ich schaue bei Lia rein. Sie zuckt zusammen, natürlich. Sie lernt und ich sage ihr, dass ich noch mal zur Arbeit muss. Ich glaube sie ist froh, dass wir eine (menschliche) Haushälterin haben, sie verwendet ihre ganze Zeit aufs lernen.

Am Tatort besehe ich kurz die Opfer. Beide nahezu blutleer, vergewaltigt, erwürgt. Eindeutig Vampir, und zwar nicht einer alleine. Das waren mindestens fünf. An einem kleinen Schnitt am Hüftknochen erkenne ich die Handschrift der Täter.


Kapitel 2

Tinan's Sicht

Als ich nach Hause komme, versucht Damien wieder, Lia zum trinken zu bewegen. „Die Fastenzeit beginnt, wenn du ebenfalls fasten willst musst du jetzt trinken, und die Ersatzflüssigkeit reicht nicht“, erklärt er resigniert. Er hat ihr das schon so oft erzählt. Finley kichert. Anscheinend sind die Gedanken der beiden überaus … interessant.

„Sag Damien, ich regele das“, denke ich an Finley und ziehe Olivlia am Arm aus dem Raum.

„Lia, bitte. Morgen um Mittagszeit werden wir alle für eine Woche kein Blut mehr trinken. Ich finde es anständig von dir, dass du das ebenfalls durchziehst, auch wenn deine Gründe vermutlich andere sind, aber wir alle trinken davor etwa fünf Liter Menschenblut. Wenigstens einen Liter Nährstoffe und ein Glas Blut, bitte. Du bist immer noch kein richtiger Vampir weil du kein Blut trinkst“, flehe ich sie an.


Olivlia's Sicht

Oh mann, er ist echt süß, und jetzt bittet er auch noch. Ich weiß, dass sie nur Spenderblut oder Tierblut trinken.

„Meinetwegen Nährstoffe, aber kein Blut“, willige ich widerwillig ein. Er reicht mir eine Flasche Nährstoffe aus dem Kühlschrank. Ich leere sie. Ekelhaft. Wenn Blut genauso schmeckt, wohlmöglich noch schlimmer, wie können sie das nur aushalten? Ich halte es mit dem Nährstoff-Zeugs ja auch nur aus, weil ich kein Blut trinken will.


Am nächsten Morgen stehe ich auf und mache mich für die Schule fertig. Kurz bevor ich gehe, laufe ich in die Küche, um mich von den dreien zu verabschieden. Ein Glas Blut steht auf dem Tisch.

„Ich gehe jetzt, Chiao“, sage ich und will zur Haustür laufen, aber Damien und Finley versperren mir den Weg. Damien sieht das Glas an.

„Oh nein“, wehre ich ab.

„Hör zu, Lia. Wir wissen, dass du Blut ekelhaft findest, aber du brauchst es einfach, um die nächste Woche zu überstehen“, versucht Finley mich zu beschwichtigen. Ich zittere unkontrolliert und schüttele den Kopf. Ich setze zu einer Argumentation an, aber plötzlich umklammert mich Tinan mit eisernem Griff von hinten.

„Die Zeit zum Diskutieren ist vorbei, Süße“, knurrt er. Ich winde mich, aber er greift einfach nach dem Glas und zwingt meinen Kiefer auseinander, indem er leichten Druck auf den Kiefer-Seiten ausübt. Meine Eckzähne werden spürbar länger und er leert einige Tropfen Blut in meinen Mund. Ich habe es im Mund und rieche es auch. Er bringt mich zum Schlucken. Eigentlich gar nicht so übel. Ich höre auf mich zu wehren. Sein Griff wird sanfter und ich trinke den Rest fast freiwillig. Tinan lässt mich los und ich stürme raus. Ich zittere am ganzen Körper, aber ich merke, dass ich stärker bin als vorher, mein immerwährender brennender Durst, den die Nährstoffflüssigkeit nicht löschen konnte, ist vorerst gestillt.


Ich bin nicht mehr sauer, als ich nach Hause komme. Ich glaube, so kann man das jetzt nennen. Zu Hause. Ich habe noch ein wenig Angst, aber gute Benotung und zwei Stunden Ausfall haben meine Laune deutlich gehoben. Zufrieden mache ich Hausaufgaben und gehe dann joggen. Die Fox Private School ist ganztägig, daher bin ich immer spät zu Hause, auch wenn die letzten Stunden entfallen. Als ich vom Joggen zurück komme, ist es bereits halb sieben Uhr abends. Tinan erwartet mich und sieht mich besorgt an, sagt aber nichts.

„Ich bin nicht sauer“, erkläre ich schließlich. Er strahlt.

„Hast du Lust, mit uns und ein paar anderen vampirischen Kollegen Baseball zu spielen?“, lädt er mich ein.

„Ihr entsprecht einem wandelnden Klischee“, nehme ich grinsend an.

„Das liegt nur an unserem guten Aussehen“, meint Finley zwei Stockwerke über uns. Ohne zu zögern springt er über das Treppengeländer und landet sanft neben mir. Vorsichtig mache ich einen Schritt zurück.

Damien klopft gegen den Türrahmen, an dem er lehnt. „Leute, nicht trödeln, wir kommen noch zu spät!“, mahnt er amüsiert.

Wir steigen in den Landrover. Damien fährt eine Strecke, die mir völlig unbekannt ist. An einem abgelegenen Ort hält er schließlich an. Mehrere Autos und kleine Grüppchen von Menschen stehen herum. Okay – Vampire, schätze ich mal. Ich folge den anderen, als sie aussteigen und auf eine der kleinen Gruppen zulaufen. Sie begrüßen die anderen Jungs mit einem Handschlag und einem Schulterklopfen, die Mädchen mit einer herzlichen Umarmung. Ich halte mich vorsichtig im Hintergrund. Tinan winkt mich zu ihm und vorsichtig komme ich näher.


„Das ist Lia, eine Jungvampirin. Sie wohnt bei uns“, stellt er mich vor. „Lia, das sind Sarah, Mia, Benji, Jonathan, Lilus und Falko.“ Schüchtern nicke ich ihnen zu.

„Und, wie findest du das Leben als Tote?“, fragt Lilus.

„Ganz okay“, antworte ich leise. Ich weiß, dass sie es trotzdem gehört haben.

„Wie viel?“, möchte Falko wissen. Verwirrt sehe ich ihn an.

„Gar nichts“, antwortet Tinan an meiner Stelle.

„Ist ja langweilig. Du hast nicht ein einziges Auto zerstört?“ Langsam verstehe ich. Also stimmt es, dass Vampire nach der Verwandlung eigentlich in eine Art Blut-Rausch verfallen. Ich schüttele den Kopf.

„Ich hab in den Nachrichten auch nichts von neuen Serienmorden gehört. Die drei scheinen dich ja gut zu überwachen. Oder ihr verwischt die Spuren gut. Komm schon, wie vielen Leuten bist du zum Verhängnis geworden?“, hakt Lilus nach.

„Ah … keine Ahnung“, erwidere ich leise. Bin ich jemandem zum Verhängnis geworden?

„Du hast nicht gezählt?“, fragt er enttäuscht.

„Sie hat nicht getrunken“, erklärt Damien. „Wir haben sie über Bluttransfusion mehr oder weniger verwandelt. Danach hat sie sich über zwei Wochen lang geweigert, Blut zu trinken, hat nur die Nährstoffflüssigkeit, die ich 1946 entwickelt habe zu sich genommen. Keine Ausraster, obwohl sie sich unter Menschen befand. Heute Morgen war dann das erste Glas Blut.“ Andächtig starren mich die anderen an. Besonders Benji scheint überaus neugierig:

„Wie hast du das geschafft?“

„Mir war nicht mal klar, dass das ungewöhnlich ist“, bringe ich hervor. Er zuckt mit den Schultern.

„Ist, soweit ich weiß, noch nie passiert.“ Mia nickt zustimmend.


„Lasst uns loslegen!“, ruft ein eher kleiner Junge, der aus einem Ford springt. Er kann maximal 8 sein. Ein paar ältere folgen ihm. Wie alt der Kleine wohl wirklich ist?

„Das ist Little John mit seinen Geschwistern Hannah, Mary und dem stummen Ben“, raunt Tinan mir kaum hörbar zu. Ich komme mit Little John und Benji in eine Mannschaft, kurz darauf schließen sich uns Sarah, Mia, Damien und Tinan an. Jonathan ist der Schiedsrichter. Ich kenne die Regeln kaum, weiß aber so viel, dass Damien den Pitcher spielt, also den Ball wirft, und Finley der Batter ist. Er muss den Ball schlagen. Ohne Schläger. Interessant.

„Uns sind zu viele Schläger zerbrochen“, grinst Little John, „manchmal platzen auch Bälle. Wir haben es mit Steinbrocken versucht, aber die Haufen an ramponierten Autos waren nicht sehr produktiv.“ Ich rase dem Ball hinterher, als er über mich hinweg fliegt und erwische ihn als ich hochspringe. Ich werfe ihn Sarah zu, aber viel mehr bringe ich während dem Spiel nicht zustande, weil Little John und ich ständig herum blödeln. Fast geht ein Autofenster zu Bruch, weil ich vor Lachen nicht schnell genug dem Ball hinterher komme, aber Tinan steht in der Nähe und der Ball prallt an seiner Schulter ab. Er tut so, als würde er tot umfallen und auch Jonathan weiß hinterher nicht mehr, wie viele Runs Mary hingelegt hat. Sauer ist sie nicht.


Tinan's Sicht

Das einzige, was mich daran stört, dass Olivlia wieder lacht, ist, dass sie mit Little John lacht. Ok, er hat keine Chance bei ihr und sie hat Spaß an dem Unsinn, den die beiden Veranstalten, aber wo bleibe ich? Zwischendurch kommt Finley zu mir.

„Verdammt, auch wenn ich nichts von den Gedanken die du ihm hinterher pfefferst sehen könnte, würde ich doch merken, dass du eifersüchtig bist. John ist fast so alt wie wir, aber er kehrt seine kindliche Seite hervor. Früher hast du das mit Mary doch auch gemacht. Lass doch einfach mal ein bisschen los, Police Captain“, zischt er und ich zeige ihm einen Vogel, und springe vor ein Auto, bevor der Ball durch die Scheibe fliegt. Wie erschossen lasse ich mich zusammen sacken. Lia lacht noch mehr, Jonathan sieht mich komisch an, bevor er weiter lacht. Ich nehme es kaum wahr. Lia lacht … wegen mir? Heute ist das erste mal, dass ich sie lachen sehe. Und das hat dieser kleine Hosenscheißer geschafft. Und jetzt lacht sie, wegen mir?! Wegen mir!

Impressum

Texte: Annisoli
Bildmaterialien: Cover: Bookrix
Lektorat: /
Übersetzung: /
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Lia und Tina, die ganz bestimmt nicht Olivlia und Tinan sind, aber trotzdem. Auch für Linus und Falk, die immer noch Linus und Falk sind, nicht Lilus und Falko.

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