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Nur eine Stunde...


Du gingst fort, und ich sah dich nie wieder. Du gingst deinen Weg und warst einfach weg. So plötzlich, wie du in mein Leben kamst, warst du auch wieder verschwunden, wie ein glitzernder Stern am Himmel hinter einer großen dunklen Wolke. Ich hätte mir gewünscht dich noch einmal zu sehen. Als du deinen Weg fortsetztest und ich dir nachsah wusste ich nicht, was dein Fortgehen für Folgen haben würde.
Ich war genau eine Stunde und zehn Minuten Teil deines Lebens. Jetzt bist du wieder in deinem Leben und ich in meinem. Nun wünschte ich mir die Zeit zurückdrehen zu können. Wie schön das wäre.

„Soll ich ihnen helfen, Madame?“ fragte jemand und ich blickte über meine Schulter in das unbekannte Gesicht. Ich lächelte nur dankbar, denn er kniete sich nieder zu Boden und begann meine heruntergefallenen Bücher aufzuheben.
Ich war gestolpert, da die Metro nicht gerade ruhig fuhr und es immer holperte.
„Merci.“ murmelte ich und nahm ihm die Bücher ab. Er sah mich musternd an und ich schob verlegen meine Brille ein Stück weiter nach oben, wie ich es aus Gewohnheit immer tat. Ich wandte mich meinen Büchern zu, um seinem Blick, der sehr durchdringend war, zu entgehen. Ich kontrollierte, ob auch keines der Bücher einen Schaden erlitten hatte oder dreckig geworden war.
„Sind sie Bibliothekarin?“ fragte er dann und meine Aufmerksamkeit galt sofort wieder ihm. Er sah mich mit seinen großen dunklen Augen, die etwas jugendliches, abenteuerlustiges, aber auch friedvolles hatten, an. Seine Augen waren wunderschön. Karamellbraun, vielleicht ein bisschen dunkler. Ich liebte Karamell. Es hatte einen Geschmack, den ich nicht beschreiben konnte. Es war ein wenig nussig, aber auch ein sehr weicher Geschmack. Sein Blick versetzte mir ein Kribbeln durch den ganzen Körper, ein wohlig warmes Gefühl.
„Madame?“ Ich schreckte bei dem Klang seiner Stimme ruckartig auf und ich bemerkte, wie ich ihn immer noch anstarrte. Es war mir ein wenig peinlich und meine Wangen nahmen ein leichtes Rosa an. So oft kam es vor, dass ich mich in meinen Gedanken verlor und das lag nicht nur an so traumhaft schönen Augen.
„Oh..äh...ja.“ stotterte ich und hoffte, dass ich nicht allzu rot wurde, denn das wäre noch peinlicher.
„Woher wissen sie denn das?“ fragte ich verwundert nach.
„Nun sie sehen so aus.“ sagte er mit dieser weichen Stimme, die mich fast um den Verstand brachte. Er hatte einen Akzent, der nicht französisch klang, aber ihn unheimlich charmant wirken ließ.
Aber er hatte Recht. Meine seidig blonden Haare waren zu einem Knoten zusammen gebunden und ich trug diese Brille mit dicken schwarzen Rändern, die mich vermutlich etwas streng und tatsächlich nach einer Bibliothekarin aussehen ließ. Außerdem trug ich immer noch die vielen Bücher im Arm, die ich für mein Musikstudium durcharbeiten wollte. Ich überlegte, ob ich meine Haare nicht lieber doch hätte offen tragen sollen, denn dann würde ich viel besser aussehen.
„Kommen sie aus Frankreich?“ fragte ich neugierig.
„No Madame,“ sagte er. „Ich wohne eigentlich in einer Kleinstadt nahe London.“
„Darf ich anmerken, dass sie sehr gut französisch sprechen.“ sagte ich freundlich. Er lächelte mich an.
„Und was führt sie zu uns?“
„Nun, ich besuche einen Freund, der hier in der Gegend wohnt.“ antwortete er.
Es gab einen Ruck und die Metro hielt. Beinahe hätte ich wieder meine Bücher fallen lassen und musste aufpassen, dass ich nicht auf dem jungen Mann mir gegenüber fiel. Ein paar Leute verließen die Metro und gingen ihrer Wege. Ich stellte mich an die Seite bis alle an mir vorbei waren. Ein paar Sitzplätze wurden frei, aber ich erwog es doch lieber stehen zu bleiben. Noch eine dreiviertel Stunde musste ich fahren. Manchmal hatte ich das Gefühl ganz Paris zu durchqueren. Das war nun der Nachteil, wenn man unbedingt darauf bestand eine eigene Wohnung zu haben, die nur leider am anderen Ende Paris’ lag und von dort aus man eine Stunde bis zur Arbeit brauchte.
Meine Mum versuchte mir noch heute einzureden, dass ich nicht hätte ausziehen dürfen. Ich war ja auch noch so jung, gerade 20 Jahre, sagte sie immer. Und trotzdem wollte ich eigenständig leben und nicht ständig unter der Fuchtel meiner Mum stehen. Kind mach dies, Kind mach das...da lobte ich mir doch meinen Vater. Er hielt sich aus allem raus. Leider auch, wenn es um wichtige Dinge ging, bei denen ich ihn brauchte, aber das war eine andere Geschichte.



Ich unterhielt mich weiter mit diesem charmanten jungen Mann. Ich genoss die Zeit mit ihm zu reden, seine wunderschönen Augen zu sehen und mich von seinem Lächeln und seiner wundervollen Stimme durchdringen zu lassen. In seiner Gegenwart fühlte ich mich anders als sonst. Ich fühlte mich, als wäre ich ganz ich selbst, brauchte mich nicht anpassen oder verstellen. Wir redeten offen und ohne Zwang. Die Worte flossen aus unseren Mündern und keiner von beiden merkte, wie uns die Zeit davon flog. Diese eine Stunde, in der ich ihn kannte, kam mir nun nicht mehr als wenige Minuten vor.
Die Metro hielt und ich musste aussteigen. Auch er verließ sie und stieg mit mir aus. Ich spürte sofort den kalten Wind im Nacken und wusste, dass der Winter bald Einzug halten würde. Wir gingen gemeinsam eine Weile durch die Pariser Straßen. Wir schwiegen, denn wir wussten, dass wir uns gleich trennen würden. Jedes weitere Wort würde weh tun.
Als wir schließlich eine große Kreuzung überquert hatten und weitere zehn Minuten vergangen waren, blieben wir an einer Weggabelung stehen. Er musste nach rechts und ich würde in die entgegengesetzte Richtung gehen.
Wir standen still auf diesem Weg.
„Es war schön dich kennen gelernt zu haben, wenn auch nicht für lang.“ Seine Worte klangen so einfach, als wäre da nichts zwischen uns gewesen, nichts besonderes. Aber ich sah in seinen Augen, wie er mit sich kämpfte.
Ich lächelte matt, was man eigentlich nicht als Lächeln bezeichnen konnte. Kurz umarmten wir uns, dann sagte er „Au revoir“, drehte mir den Rücken zu und ging davon. Er drehte sich nicht noch einmal um. Vielleicht hoffte ich es, aber er tat es nicht. Ein wenig enttäuscht und traurig ließ ich mich auf der Bordsteinkante nieder. Ich spürte den kalten Boden.
Einmal schaute ich noch über meine Schulter hinweg und sah ihm nach. Ich dachte ich würde ihn irgendwann vergessen. Er war nur eine kurze Bekannschaft für diese eine Stunde, nicht mehr und nicht weniger. Das dachte ich. Nur leider war es anders. Es war mehr, größer, tiefer, unendlich...ein Gefühl wie kein anderes. Liebe auf den ersten Blick in seine Augen. Und ich hatte den größten Fehler meines Lebens getan. Ich hatte ihn gehen lassen ohne auch nur seinen Namen zu kennen.

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Texte: Copyright by Anika B.
Tag der Veröffentlichung: 20.09.2010

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