Dein Leben - ein Geschenk
„Warum sollte ich lachen?“ fragte sich das noch junge Mädchen. Ihre Stimme klang so leise in der Luft, dass man sie kaum hörte. Man hätte sie gar nicht wahrgenommen, hörte man nicht ihre leise traurige Stimme.
Ihre Welt war grau, grauer, als mancher es sich vorstellen konnte. Die Sonne schien schon so lang nicht mehr für sie.
Wie ein Häufchen Elend hockte sie am Straßenrand auf der Bortsteinkante. Nicht einer der vorübergehenden Leute hatte sie gesehen. Man mochte sie nicht anschauen, geschweige denn mit ihr reden oder ihr die Hand geben und sie anlächeln. Jeder hatte einfach nur Angst vor ihr, ohne auch nur einmal an sie zu denken, wie es ihr dabei ging, wenn sie mit diesen Blicken durchbohrt wurde, als wäre sie ein Außerirdischer. Oder wenn man sie einfach gar nicht mehr beachtete.
Aber sie war doch wie alle anderen auch. Nur das sie Aids hatte und schon wurde sie allein gelassen und abgelehnt. In der schwersten Stunde ihres Lebens wurde sie nicht verstanden. Plötzlich hatten alle Angst, sich von ihr in irgendeiner Weise anzustecken.
Wenn sie über die Straße ging, um sie herum so viele verschiedene Leute, jeder war anders und trotzdem etwas besonderes, schon weil er auf seine Weise eigen war. Doch sie kam sich vor wie ein niemand. Das Mädchen, das Aids hatte, das Mädchen, das sterben würde. Das Mädchen, mit der niemand sprach. Die graue Maus, in ihrer grauen Welt, in die kein Licht drang. Innerlich rannte sie vor ihrem Leben davon, in der Hoffnung irgendwo anzukommen, wo sie all das vergessen konnte.
In ihren Gedanken klangen immer noch die Worte ihrer Mum wider, die sie einmal zu ihr sagte, als sie schon nicht mehr weiter wusste:
„Mein Engel, lach einmal. Ich möchte wieder das Kind in dir sehen, das sich um nichts Sorgen machte. Du bist, wer du bist, ein besonderer Mensch, der schon deshalb besonders ist, weil ein eigener wundervoller Charakter dich prägt und zu dem Mädchen macht, das du bist. Das Mädchen, das Aids hat, das Mädchen, das sterben wird. Aber auch das Mädchen, das einmal gelebt hat, das fröhlich die Straße entlang ging und anderen Menschen zulächelte, einfach, weil es sich freute, dass die Sonne schien und es ein wundervoller Tag war. Du hast vielen Menschen Liebe geschenkt, die dir dankbar dafür waren.
Weine nicht darum, dass dein Leben zu Ende sein wird. Wir alle müssen irgendwann sterben, die einen früher, die anderen später. Wer weiß, warum es so sein soll. Lass dich auch nicht ärgern von den Leuten, die dich nicht so akzeptieren wie du bist und die dich nur deshalb, weil du Aids hast, oder weil du anders bist als sie, nicht mehr ansehen.
Geh immer fröhlich durchs Leben, auch wenn es schwer ist, versuch das Beste darin zu sehen, denn es ist ein Geschenk. Ein Geschenk, das du nicht aufgeben darfst, egal wie lange es dir vergönnt ist.
Vielleicht gehst du irgendwann in einem neuen Leben die Straße entlang und freust dich alt und glücklich zu sein.“
Das waren die Worte ihrer Mum, die sie nicht losließen und immer noch in ihrem Kopf auf und ab schwebten.
Das Mädchen erhob sich von der Bortsteinkante. Sie schlenderte die Straßen entlang. Langsam hatte sie sich damit abgefunden, dass sie bald nicht mehr da sein würde. Und trotzdem trug sie in sich immer noch einen Kampf aus. Der Kampf des Alleinseins, der Traurigkeit, dass sie diese Welt verlassen musste und trauernde Eltern zurückließ. Den Glauben an das Leben hatte sie verloren.
Gegenüber der Straße befand sich ein Kindergarten. Sie schaute hinüber und blieb stehen, als sie sah, wie ein paar der Kleinen ihr zuwinkten, einfach so, obwohl sie sie nicht kannten. Ihre Augen wurden ein wenig lebendiger, als sie ihnen leicht zulächelte.
Die Sraßen von New York waren voll und es gab immer etwas zu sehen. Das Mädchen hatte es einmal sehr gemocht einfach durch die Straßen zu gehen und die verschiedenen Menschen zu beobachten. Man sah so viele Leben, die in dieser Welt alle einem Platz hatten.
Genau dies tat sie nun auch wieder, in der Hoffnung, die alte Freunde daran wiederzufinden. Sie lief an einem kleinen Mädchen vorbei, das damit beschäftigt war, den Tauben nachzujagen und sie zu fangen, natürlich ohne Erfolg, aber eines brachte es ihr: Freude.
Das Mädchen war so vertieft darin der Kleinen dabei zuzusehen, wie sie lachte, so dass sie gar nicht merkte, wie es hinter ihr klingelte und ein paar Radfahrer an ihr vorbei wollten. Erschrocken drehte sie sich um und sprang zur Seite, als sie sie sah.
„Passen sie auf, schöne Frau!“ rief der eine ihr zu und war sogleich mit den anderen Fahrern in die nächste Straße eingebogen.
Das war das Leben. Vielleicht war die Welt des Mädchens gar nicht so grau wie sie schien. Vielleicht verkroch sie sich nur zu sehr in ihrem traurigen Schicksal.
„Vielleicht wird das Leben doch weitergehen, auch wenn ich nicht mehr hier bin.“ dachte sie. Und vielleicht hatte ihre Mum recht und sie würde in einem anderen Leben alt und glücklich über diese Straße gehen, die sie nun überquerte. Das Leben war etwas, dass nie enden würde, wie ein Rad dreht es sich immer weiter und sie war nur ein klitzekleiner Bestandteil dessen, der es zu etwas Besonderen machte.
„Vielleicht sollte ich lachen...“ sagte sich das junge Mädchen und setzte ihren Weg fort weiter durch die Straßen New Yorks...
Texte: Copyright by Anika B.
Tag der Veröffentlichung: 12.08.2010
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