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Tränen aus Eis




Die Augen des Mädchens waren so klein und aus ihnen sprach der Schmerz. Der Glanz der Liebe und die Lebensfreude, die sich einmal darin widerspiegelten, waren verschwunden. Nichts war mehr da von all dem.

Ihre Schritte schienen leblos zu sein, als sie die Straße entlang ging. Schleppend und langsam bewegte sie sich vorwärts, Schritt für Schritt die Straße entlang, Schritt für Schritt ins Unsichtbare. Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte, wohin sie überhaupt wollte. In ihren Gedanken war nur noch der Schmerz. Nichts anderes konnte sie mehr denken oder fühlen.
Die Leute liefen so schnell an ihr vorbei, immer mit genauem Ziel vor Augen und sie schien sich auf einer Stelle zu bewegen und kein Stück vorwärts zukommen. Sie fühlte sich so allein und einsam, als wär sie unsichtbar auf dieser Straße. Niemand schien sie zu sehen oder auch nur eines kleinen Blickes, oder eines Lächelns zu würdigen. Niemand nahm sie auch nur war. Sie war allein in dieser grauen Welt.
Eine kleine Träne lief ihre weiche Wange herunter. Der Wind bließ in ihr wunderschönes Gesicht und die Träne an ihrer Wange wurde eiskalt. Das Mädchen begann ganz leicht zu zittern und ging weiter von der Grausamkeit des Schmerzes geleitet, der sie zu zerreißen schien.
Sie war nun am Ende der Straße angelangt. Hier waren kaum noch Menschen zu sehen. Sie befand sich am Ende der Stadt, wo es ruhiger war. Vor ihr war nun die große Brücke. Die Brücke, zu der sie schon, als sie noch jünger war, gern kam, um einfach nachzudenken. Sie ließ ihren Gedanken freien lauf, manchmal träumte sie und verlor sich selbst in ihrer Fantasie. Als Kind sah sie gern hinunter ins Wasser und betrachtete ihr eigenes Spiegelbild, sie lächelte ihrem anderen Ich zu und sah, wie ihr Gesicht leicht verschwamm. Ihre Mutter ermahnte sie immer, sich nicht zu weit nach vorn zu beugen.
Das Mädchen trat heran und sah hinunter. Sie sah ihr eigenes Abbild und doch sah sie ein Mädchen vor sich, dass nicht sie war. Erneut rang sie mit den Tränen und versuchte die Fassung zu bewahren, was ihr nicht so recht gelingen wollte.
Plötzlich stieg sie auf den Rand der alten Steinbrücke. Es ging steil nach unten. Sie rutsche mit ihren Füßen noch ein Stück weiter nach vorn. Unter ihr war das eiskalte rauschende Wasser. Der Abstand zwischen Brücke und Wasser war groß. Sie stand ziemlich hoch und das Wasser kam ihr sehr tief vor. Sie schaute hinunter und schien keinerlei Angst zu haben. Der Fluss unter ihr war groß und breit. Das Wasser floß wie eine schnelle Strömung hinweg und sie hörte das Rauschen dessen.
Von hier oben, wo sie stand, konnte sie über die ganze Stadt sehen. Die Augen des Mädchens waren noch immer feucht. Der kühle und doch sommerliche Wind wehte ihr die braunen Haare aus dem Gesicht. Er fühlte sich für sie kühler an als er in Wirklichkeit war.
Die grau gewordenen Wolken bedeckten den Himmel wie eine Wand und ließen die Sonne dahinter verschwinden. Es sah so aus, als ob es jeden Moment anfangen könnte zu regnen. Am Ufer des Flusses unter ihr sah sie ein paar Enten. Sie hüpften ins Wasser und schwammen los.

Sie erinnerte sich, wie sie die Enten damals mit Brotstückchen gefüttert hatte und ihnen immer wieder gern zusah.
Das Mädchen schaute nun in die weite Ferne hinaus. Die Tränen konnte sie jetzt nicht mehr zurückhalten. Wieso sollte sie es auch? Hier sah sie sowieso niemand. Es waren eisige Tränen kalter Liebe, die ihr Gesicht in ein Meer verwandelten und es überfluteten.
Tränen ihrer Seele, Tränen ihres Herzens, eiskalt und grau und voller Schmerz und Trauer. Alles in ihr weinte und sie drohte zu zerbrechen. Sie konnte vor lauter Tränen gar nichts mehr sehen, alles verschwamm. Schnell schloss sie die Augen. Sie wollte nichts mehr sehen. Sie wollte nichts mehr denken und erst recht nichts mehr fühlen.
Um sie herum hörte sie Vögelgezwitscher und den Lärm der Autos in der Ferne. Der Wind wehte durch die Bäume und sie konnte das Rascheln der Blätter hören. Ein paar davon flogen durch die Luft. Der Herbst kündigte sich an.
Ihre Füße waren nun am Rand der Brücke, ein Schritt und alles wäre vorbei, ein Schritt und der Schmerz würde aufhören, nur ein kleiner Schritt und sie würde mit ihren kalten Tränen untergehn, sie würde fallen. Es würde ihr egal sein. In diesem Moment war ihr alles egal. Sie wollte nur den verdammten Schmerz, diese angsteinflößende Leere in ihrem Herzen erlöschen. Sie wollte wieder bei ihm sein.
Seit dem Unfall war nichts wie vorher. Ihr Leben hatte sich vollkommen verändert. Dieses lustige, lebensfrohe und immer fröhliche Mädchen, dass nie einer Fliege etwas zu Leide getan hätte und das Leben genoss, so wie es war, gab es nicht mehr. Seit dem Unfall existierte es nicht mehr, da ein Teil ihrer selbst gestorben war. Ein sehr wichtiger Teil, der sie zu dem Mädchen machte, dass sie war. Ihre zweite, bessere Hälfte, die all ihre Fehler wieder gut machte, war nicht mehr da, gehörte nicht mehr zu ihr und das machte sie kaputt. Ohne ihn konnte auch sie nicht leben. Ohne ihn würde sie zugrunde gehen.
Ihr Herz zerbrach, als sie neben ihm kniete und seine kalte Hand in ihrer spürte. Als er sagte: „Bitte weine nicht!“ und sie weinte noch mehr. Ihr ganzer Körper schien vor Angst zu zittern, als er sagte: „Ich liebe dich!“ und sie sah, wie der Rest allen Lebens und der Glanz, das Licht in seinen Augen erstarb. Sie wollte schreien, war jedoch wie erstarrt. Fassungslos. Kein Ton entwich ihrer Lippen. Sie schreite innerlich vor seelischer Schmerzen. In ihr schrie es immer wieder „Nein...nein, das kann nicht sein. Das darf nicht sein...bitte nicht!!“ Sie sank auf seinen Körper nieder und wollte ihn nie wieder loslassen. Und sie schrie schließlich, als man sie von ihm weg zerrte. Allein und verzweifelt war sie gewesen, hatte um sich geschlagen und war auf dem Boden zusammengebrochen. Sie schlief keine einzige Nacht mehr, weil sie nur noch weinen konnte. Sie war es noch immer, allein und verzweifelter denn je.
Leise flüsterte sie seinen Namen in die Stille. Der Wind trug ihn fort. Sie atmete tief durch und ließ die Augen ihres tränenüberquollenen Gesichtes geschlossen, damit nicht noch mehr kalte Tränen ihre Augen verlassen konnten. Sie wollte springen und breitete ihre Arme ganz weit aus. Sie wollte fallen und dem Schmerz ein Ende setzten. In ihrem Gesicht spürte sie den Wind. Und plötzlich hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf.
„Tu’s nicht!“ Sie riss erschrocken die Augen auf und sah sich um. Niemand war da. Die Stimme war nur in ihrem Kopf. Sie ignorierte sie, schloss wieder die Augen und wollte erneut zum Fall ansetzten, da war sie wieder.
„Bitte tu’s nicht!“ Sie hielt inne. Waren das sowas wie Halluzinationen? Hörte sie jetzt Stimmen? „Dein Leben ist kostbar. Wirf es nicht weg!“ sagte die Stimme wieder.
Das Mädchen setzte sich nieder auf den Rand der Brücke und ließ die Beine baumeln. Sie sah in den Himmel, suchend nach einer Antwort. Was sollte sie nun tun? Ein Sonnenstrahl blendete sie und war zugleich wieder verschwunden. Wie hatte er es überhaupt geschafft sich durch die Wolken zu zwingen? Egal. Er war wieder fort.

Vor sich hin schweigend saß sie dort eine ganze Weile starrend in den Himmel. Was sie dort suchte wusste sie selbst nicht. Die Stimme in ihrem Kopf war verschwunden. Doch sie wusste, als sie noch ein leises gehauchtes *Ich liebe dich* hörte, das es nur die Stimme eines Engels gewesen sein konnte. Die Stimme ihres Engels.
Erneut flüsterte sie seinen Namen. Er klang so himmlisch und wenn sie ihn sagte, war es, als wäre er noch hier, bei ihr. Als könnte sie mit ihm reden und alles wäre wie immer gewesen.
Wenn es keine Lösung war zu sterben, wie sollte sie mit dem Schmerz fertig werden, ohne verrückt zu werden? War sie innerlich nicht schon gestorben? Konnte es wirklich so sehr wegtun einen geliebten Menschen zu verlieren? Es schien ihr immer unwirklich, wenn sie es von anderen hörte und doch war es wahr. Es war schmerzhafter, als alles andere.
Der Wind wurde kälter und da ihre Augen wieder geöffnet waren, hatte sie gar nicht gemerkt, wie die Tränen sich schon wieder ihren Weg über ihr Gesicht bahnten. Sie konnte nicht aufhören zu weinen und merkte gar nicht, wie es anfing zu regnen. Ein Regentropfen landete auf ihrer Nase und sie sah in den Himmel. Große schwarze Wolken bedeckten ihn. Der Regen wurde von Minute zu Minute mehr und vermischte sich mit ihren Tränen. Sie hörte schnelle Schritte. Und dann:
„Hey Lucy, was machst du denn da?“ Erschrocken drehte sie sich um.
„Sag mal, willst du dir den Tod holen?“ Wenn sie wüsste, das sie mit ihren Worten gar nicht mal so falsch lag. Es regnete nun in Strömen. Der Regen war sehr kalt und Lucy saß immer noch auf dem Rand der Brücke.
„Komm lieber da runter sonst fällst du noch.“ Ihre Freundin Melissa sah sie leicht verwirrt an. Lucy hoffte, das sie ihre Tränen noch nicht gesehen hatte. Doch durch den Regen war sowieso alles nass an ihr, da würden die paar Tränen gar nicht auffallen, hoffte sie jedenfalls. Sie drehte sich um und machte einen kleinen Sprung vom Rand der Brücke wieder auf dem Boden. Ihre Beine waren weich wie Wackelpudding und sie hatte ein wenig Angst sie könnten nachgeben.
„Sag mal, hast du geweint?“ fragte Melissa. Na das hat ja super geklappt. Von wegen durch den Regen sieht man ihre Tränen nicht. Auch wenn sie vollkommen nass war, ihr Gesicht glänzte und sie vor Kälte zitterte, war ihr Gesicht wohl trotzdem gerötet.
Sie antwortete nicht auf ihre Frage, denn Melissa konnte es schon in ihrem Gesicht lesen. Sie kam näher zu Lucy und nahm sie in den Arm. Es tat gut getröstet zu werden. Wieder brach sie in Tränen aus und ließ alles, was sie an Schmerz und Trauer in sich trug, heraus.Sie hörte auf zu kämpfen. Zum Glück regnete es, sonst hätte sie die Schulter ihrer Freundin ganz nass geweint.
„Glaub mir, irgendwann wird es besser. Wie sagt Mum immer? Wenn du heiratest, ist alles wieder gut.“ Lucy musste schmunzeln. Es war das erste kleine Lächeln seit vielen Tagen. Ein enormer Trost für sie, ein wenig verstanden zu werden. Sie war froh ihre Freundin zu haben, die ihr zur Seite stand. Und sie war froh, das sie nie erfahren würde, was Lucy auf der Brücke wirklich vorhatte. Sie schämte sich ein wenig dafür. Doch in manchen solchen Momenten wusste sie einfach nicht mehr weiter. Irgendwann reichte es nicht mehr aus, irgendwann konnte sie einfach nicht mehr dagegen ankämpfen. Doch sofern ihre Freundin es nicht schon wusste, würde sie es von ihr nie erfahren.
Vielleicht lohnte es sich zu leben. Allein schon wegen ihrer besten Freundin. Eigentlich hätte sie sie doch nie einfach im Stich lassen können und ihr den gleichen Schmerz zumuten wollen. Schon alleine dafür Freunde zu haben, die für einen da waren sollte es sich doch zu leben lohnen, oder nicht?
„Komm, gehen wir nach Hause!“ sagte Melissa. Lucy nickte. In der Ferne war ein Donnern zu hören. Es regnete immer noch in Strömen und ihre Kleider klebten nass und kalt an ihrem Körper. Der Regen prasselte von Himmel herab und schlug auf den harten Boden der Straße auf. Er war sehr laut.
Lucy versuchte, nicht mehr daran zu denken, was sie verloren hatte, sosehr es auch schmerzte. Sie sollte lieber viel mehr daran denken, was sie hatte. Nämlich die Freundschaft von Melissa, die ihr helfen würde das alles zu überstehen. Sie würde ihr helfen damit fertig zu werden und irgendwann die Liebe wieder zu finden.
Sie machten sich auf dem Weg nach Hause. Ihre eisigen Tränen wurden allmählig vom Regen weggespült. Es war, als ob der Schmerz ein wenig mit ihnen floß. Natürlich war er nicht verschwunden. Der Stich in ihrem Herzen und diese Leere waren noch genauso wie vorher. Doch sie wusste, dass sie leben musste. Er hätte es so gewollt. Und vielleicht hatte Melissa recht und es würde irgendwann aufhören. Denn ihr Schmerz war wie Tränen aus Eis. Und irgendwann musste das Eis doch schmelzen...

Impressum

Texte: Copyright by Anika B.
Tag der Veröffentlichung: 07.07.2010

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