Briefe für Florentine
- meine geliebte Tochter
1
Hallo mein Schatz!
Jetzt schreibe ich schon wieder. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Briefe es nun schon sind, doch solange ich Hoffnung habe, dass du mich irgendwann verstehst und dich meldest, werde ich nicht aufhören zu schreiben.
Ich wüsste so gern, was du jetzt machst und wie es dir geht. Du musst groß geworden sein. Ich hoffe du bist glücklich und das es dir gut geht.
Was soll ich schreiben? Hier in New York ist alles wie immer. Es passiert nicht viel. Ich habe zwar einiges mit meiner Arbeit zu tun, doch es ist ein wenig langweilig, weil es immer dasselbe ist.
Ich vermisse dich. Heute, als ich in meiner Mittagspause auf einer Bank saß und auf den Spielplatz vor mir Leute beobachtete, sah ich ein kleines Mädchen, das mit seiner Mutter dort auf dem Spielplatz war. Ich musste an dich denken, obwohl du ja nun gar nicht mehr so klein bist. Doch ich habe dich in diesem Mädchen gesehen. Und ich hätte mir gewünscht, ich wäre diese Mutter und wäre mit dir dort gewesen. Du hättest bestimmt viel Spaß gehabt.
Ich schreibe dir nun schon so viele Jahre. Du musst wirklich gewachsen sein. Wie schnell die Zeit vergeht...
Weißt du noch, als ich dir den ersten Brief geschrieben hab? Ich weiß noch, es war im Sommer. Draußen wütete ein Sommergewitter und ich saß drinnen an meinem Schreibtisch und habe geschrieben was mir einfiel. Es war ein langer Brief. Aber ich wollte dir alles erklären. Und ich habe bei jedem Wort gehofft, du würdest mich verstehen, wenn du je diese Worte lesen wirst.
Das ist nun Jahre her, doch ich kann mich noch genau erinnern, wie an alles was ich dir geschrieben hab. Doch leider hab ich nie eine Antwort auf meine Briefe bekommen und die Hoffnung wird mit jedem weiteren Brief kleiner.
2
Liebe Flo,
das ist der erste Brief, den ich an dich schreibe und es wird auch nicht der Letzte sein. Ich weiß, dass du mich wahrscheinlich hasst, weil ich dich weggegeben habe und dich einfach im Stich gelassen habe. Ich weiß, ich war nie da, wenn du vielleicht Kummer hattest oder wenn du traurig warst und es dir schlecht ging. Doch ich hoffe, dass du je meine Briefe lesen wirst und mich vielleicht irgendwann ein bisschen verstehen kannst.
Ich war sehr jung, du kamst unerwartet. Dein Vater war ein Idiot. Es tut mir leid, wenn ich das so sage, aber was ist das für ein Mensch, der einen kaum, das man schwanger ist, einfach mit all den Verantwortungen und Verpflichtungen und auch Ängsten und anderen Gefühlen sitzen lässt? Es war keine leichte Zeit. Schließlich hatte ich ihn auch mal geliebt. Doch er hat mir sehr weh getan.
Was sollte ich tun? Ich war allein – ganz allein. Ich hatte kein Geld und niemanden, der mir half. Ich hatte keine Wahl. Du solltest es gut haben. Ich wollte, das du glücklich wirst und das in einer richtigen Familie, die ich dir nie hätte geben können.
Abtreiben konnte ich dich nicht. Ich konnte dich nicht töten. Du hattest ein wunderschönes Leben, wie jeder andere verdient. Und das wollte ich dir nicht nehmen.
Neun Monate gehörtest du zu mir, bist mit mir gewachsen und hast dich entwickelt.
Ich war so glücklich. Du warst so süß, als du endlich das Licht der Welt erblicktest. Ich habe dich sofort geliebt und ins Herz geschlossen.
Du hattest die Augen meiner Großmutter, also gab ich dir ihren Namen: Florentine.
Ich fand den Namen schon immer schön. Florentine bedeutet „Die Erblühende“.
Und weißt du was? Man sagt Babys weinen, wenn sie auf die Welt kommen, doch bei dir war das ganz anders. Du hast mich angelacht und sofort mein Herz erwärmt. Du hast nicht geweint. Du warst so brav und sichtlich froh, endlich auf unserer Welt zu sein. Wie eine wunderschöne, in ganzer Farbenpracht erblühende Blume, strahltest du mich voller Liebe, die nur ein Kind so geben konnte, an.
Doch du warst so klein. So winzig klein, deine Hände, deine Füße, deine Augen und dein Gesicht. Ich fragte mich, wie so ein kleines Wesen schon so viel Liebe geben konnte.
Du glaubst nicht, wie schwer es mir fiel, dich weggeben zu müssen. Du glaubst nicht, wie ich mit mir gerungen habe, wie lange ich überlegt habe, was ich tun sollte, was das Richtige für dich ist.
Glaub mir, ich habe nur an dich gedacht. Am liebsten hätte ich dich behalten. Ich wollte dich nie wieder hergeben, von dem Moment an, als ich dich in den Armen hielt. Doch mein Verstand sagte mir „Tuh das Richtige, damit es ihr gut geht“. Was hättest du für ein Leben bei mir gehabt? Mehr als meine Liebe hätte ich dir nicht geben können. Doch du warst so klein. Du brauchtest auch Sicherheit und eine angemessene Umgebung – eine Familie.
Das konnte ich dir, so leid es mir tut, nicht geben. Ich hätte allein nicht für dich sorgen können. Es tat mir so weh, dich nicht mehr bei mir zu haben. Du warst das wundervollste Wesen, das das Licht der Erde je erblickt hatte – Du bist meine Tochter.
Alles erdenklich Liebe
Deine Mum
Wenige zeit später
3
Liebe Florentine,
ich habe dir in diesem Brief eine wichtige Mitteilung zu machen.
Du hast ein kleines Brüderchen bekommen. Sein Name ist Julian. Ich hoffe du magst ihn. Ich habe ihn nach meinem Bruder benannt. Du glaubst nicht, wie niedlich er ist. Ich bin glücklich. Aber bitte sei jetzt nicht eifersüchtig. Daran, das ich dir weiter Briefe schreiben werde, wird sich nichts ändern. Ich habe dich genauso lieb wie ihn und auch wenn ich die nächste Zeit vielleicht nicht mehr ganz so viel schreiben werde, werde ich immer an dich denken.
Ich versuche, so oft wie möglich zu schreiben. Vielleicht schick ich dir im nächsten Brief ein Foto von ihm mit. Du würdest ihn bestimmt mögen.
Bis dann
In Liebe Mum
Einige Jahre später
4
Hallo meine Liebe Flo,
heute ist ein besonderer Tag. Du bist ab heute 18. Endlich volljährig was?
Ich wünsche dir alles alles Liebe zu deinem Geburtstag und schickte dir ganz viel Liebe mit dem Wind zu dir. Fang sie einfach auf und dann ist sie bei dir.
Ich hoffe, dir geht es gut und du verbringst einen schönen Tag. Vielleicht denkst du ja mal an mich. Ein kleiner Gedanke würde mir reichen. Ich wünschte, ich könnte mit dir feiern. Ich wünschte, ich würde dich lachen sehen. Ich wünschte einfach, ich wäre heute an diesem deinen wichtigen Tag bei dir.
Nun sind schon so viele Jahre vergangen, ohne das ich je eine Antwort von dir bekommen habe. Vielleicht hast du meine Worte auch gar nicht gelesen, oder vielleicht sind meine Briefe nicht angekommen.
Ich fühl mich als würde ich Selbstgespräche führen, nur das ich sie aufschreibe. Als würde ich dem Wind schreiben - etwas Vergänglichem.
Vielleicht sollte ich aufhören dir zu schreiben. Ich weiß nicht, ob du meine Briefe liest und wenn du sie nicht lesen möchtest, möchte ich dich auch nicht damit nerven. Du hast bestimmt dein eigenes Leben und möchtest nichts mit der Vergangenheit zu tun haben. Das kann ich sogar verstehen.
Also, wenn das nun mein letzter Brief sein sollte, meine Liebe zu dir – meiner Tochter wird nie erlöschen. Du bist mein Kind und wirst es immer sein.
Die besten Grüße
Deine Mum
Drei Wochen später
5
Liebe Mum,
ich habe nun all deine Briefe gelesen. Meine Adoptiveltern haben sie mir erst jetzt zu meinem 18. Geburtstag gegeben, da sie fanden, ich habe ein Anspruch darauf, zu wissen, was alles war.
Ich habe nun drei Wochen damit verbracht sie zu lesen. Tag und Nacht hab ich deine Worte gelesen.
Erst mal vielen Dank. Ich hatte ja keine Ahnung. Ich dachte, du hättest mich vergessen. Ich war sauer auf dich. Doch ich habe jeden einzelnen gelesen und ich glaube ein wenig, das ich dich verstehe. Ich habe immer an dich gedacht. Ich habe immer daran gedacht, wie es wäre, wenn du bei mir wärst. Ich habe es mit sieben erfahren, doch irgendwie wusste ich es schon immer. Ich hatte es immer gespürt. Und jetzt, wo ich dich verstehen kann, weiß ich, warum du das so getan hast. Am Anfang war ich sehr wütend auf dich und habe mich oft in den Schlaf geweint und hatte mich für eine kurze Zeit selbst verloren. Doch dann begann ich darüber nachzudenken. Ich habe alles durchgespielt, warum du das getan haben könntest. Es tat mir weh, auch den Gedanken in Betracht ziehen zu müssen, dass du mich wohl einfach nicht haben wolltest. Doch daran wollte ich nie denken. Ich habe mir immer gesagt, du hattest wohl deine Gründe.
Deine Briefe waren so berührend.
Ich weiß nun, dass du mich immer geliebt hast und mich nie vergessen hast. Das freut mich sehr. Und ich freue mich erfahren zu haben, dass ich einen Bruder habe. Sein Name gefällt mir. Er ist bestimmt ein toller Bruder.
Mir geht es sehr gut. Ich habe eine tolle Familie und super Freunde. Und auch einen tollen Freund, du würdest ihn bestimmt mögen. Im Moment arbeite ich an einer Karriere als Sängerin. Ich studiere Musik.
Ich wäre sehr froh, wenn wir uns mal treffen könnten und über alles reden. Ich möchte dich so gerne kennen lernen – du bist meine Mutter.
Auch wenn ich dich nie kannte, habe ich dich in meinem Herzen immer geliebt.
Viele Liebe Grüße
Florentine
© Anika B.
Texte: Copyright by Anika B.
Tag der Veröffentlichung: 08.06.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch meiner Mama, weil ich denke, das man für die Liebe und Unterstützung seiner Mutter dankbar sein sollte.
Vielen Dank Mum