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Hunde und Katzen

 Julie kratzt öfter als sie schnurrt. Ist Cyril nett zu ihr, sieht er sie tagelang nicht. Wenn er sie ignoriert, streicht sie um ihn herum. Mit ihr ist jeder Tag halb Sommer, halb Winter, nie lauwarm, immer heißkalt. Jeder Kerl will Julie, aber nicht so wie er. Ihm gibt das jedes Mal einen Stich Herz.

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Julie war eine der Minis, die bei Marcel unterschlüpften. Alle nannten Marcel den „Heiligen von Bel Air“. Zu Zeiten von Nicole ging er zweimal im Jahr in die Kirche. Nach Nicole jede Woche.

Seine Wohnung glich ab da einer Arche Noah- keine Tiere, sondern Kinder, in allen Größen und Farben. Seit Nicole die Fliege gemacht hatte, verging nicht ein Tag, ohne dass ein Zwerg, der zuhause Stress hatte, in der Wohnungstür stand. Wer bei Marcel schlafen durfte, musste in die Schule. Bei allem anderen war er echt cool, aber jeden Morgen begleitete er die Kleinen in die Grundschule, und die Größeren lud er am Collège ab. Manche maulten, aber sie stießen auf taube Ohren. Und bevor es am Abend was zu futtern gab, machte er Hausaufgaben mit ihnen. Naja, bei Mathe half er, da wurde er oft sogar richtig redselig und merkte nicht, wie sie kicherten, wenn er schwärmte, wie „anmutig“, wie „elegant“ Zahlen seien. Bei Französisch war er noch stiller als sonst. Cyril wusste- aber er hätte sich eher die Zunge abgehackt, als es irgendwem zu stecken- dass Marcel Stunden brauchte, um einen einzigen Satz zu entziffern.

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Nach Nicole machten Marcel und Cyril samstags oft Ausflüge. Sie nahmen den Bus nach Poissy, und von da ging es mit dem Zug in die Normandie. Dort wanderten sie die endlosen Sandstrände entlang, aßen ihr mitgebrachtes Schinken-Baguette und badeten in der Nordsee. Und zur Feier des Tages gab’s in einer Bar zwei grüne Minzsirup, quietschgrün und so kalt, dass Cyril die Zähne wehtaten, wenn er sie zu schnell trank. Spät abends waren sie wieder in den grauen Hochhaustürmen zurück, und meist saß dann schon ein Mini wartend vor der Wohnungstür und lauschte, wenn Cyril ihm vom Meer und den Riesenwellen erzählte, während sie zusammen ein Bett im Wohnzimmer machten.

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Ein paar Mal prügelt Cyril sich mit den anderen Kerlen. Julie schaut zu. Und wenn er wieder mal einen K.O. schlägt, leuchten ihre Augen. Dann springt sie ihm an den Hals. Sieht nur ihn. Ihm wird ganz heiß. War sie je kalt? Seine blutige Lippe und sein zugeschwollenes Auge sind ein niedriger Preis dafür. In diesen Nächten ist alles gut. Onkel Marcel betrachtet ihn voller Mitleid.

„Sie ist wie Nicole, lass die Finger von ihr.“

Er hat Recht, so kann das nicht weitergehen. Bel Air, die traurigen Sozialwohnungen, sind kein Ort, um eine Frau glücklich zu machen. Cyril überredet Julie, mit ihm wegzugehen. Neu anzufangen. Er hat schon eine Idee: auf dem Platz am Wald vor der Stadt findet wie jedes Jahr im Juli und August der Riesenjahrmarkt La Fête des Loges statt. In ein paar Tagen zieht er weiter. Endlich raus aus der Hochhaussiedlung, raus aus Bel Air. Jede Woche ’ne andere Stadt. Bis ans Mittelmeer soll es gehen, hat ihm einer der Typen an den Boxautos erzählt.

„Tu, was Du nicht lassen kannst. Vergiss nicht, wieder zu kommen.“

Marcel umarmt ihn, sie sind beide ein bisschen verlegen. Cyril klopft ihm auf die Schulter, dann ist er weg. Er hat eine abgeschlossene Mechanikerlehre, sie nehmen ihn mit Kusshand. Können kräftige Kerle zum Auf- und Abbau gebrauchen,und an einem der vielen Laster ist immer was kaputt. Für Julie haben sie erst keinen Job. Kassieren geht nicht, mit Zahlen hat sie’s nicht so. Cyril redet und redet, während sie ein Stück weiter in der Sonne sitzt, als ginge sie das alles nichts an. Am Ende kriegt er die vom Jahrmarkt rum. Julie ist flink, also soll sie die Chips von den Boxautos einsammeln.

Sieht hübsch aus, wenn sie von einem Auto zum anderen hüpft. Und sie verteilt Werbung in jeder Stadt. Bald drängeln sich die Kerle, um „bei ihr“ Boxauto zu fahren. Cyril steht am Rand, und wenn einer sie betatscht, dann deutet sie mit dem Kopf auf Cyril und die legen ihre Pfoten brav zurück aufs Steuer ihres Scooters. Ab und zu kommt sie zu ihm und nimmt einen tiefen Zug von seiner Kippe.

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Nicole ließ sich von Marcel am Supermarkt anquatschen. War nicht schwer. Nicole fiel auf. Jeder Kerl fragte sich, wie sich ihre Lippen anfühlen mussten, und ob ihre Haut wirklich so weich war, wie sie aussah. Cyril saß ein bisschen weiter weg auf einer Bank, damit Marcel nicht merkte, dass Nicole (Cyril sollte nicht „Mama“ zu ihr sagen) einen Zwerg im Schlepptau hatte. Er wusste gleich, dass Marcel nicht ihr Typ war, Nicole stand mehr auf Kerle, die nach Männerschweiß und kalter Wut stanken. Marcel hatte zwar beeindruckende Muskeln, aber seine Dackelaugen verrieten ihn. Nicole war grade nicht besonders wählerisch, weil ihr letzter Kerl sie rausgeschmissen hatte und sie seit drei Tagen in einer popeligen Pension in St Germain en Laye untergekommen waren. Marcel lud Nicole in die Eckkneipe ein. Als sich Nicole zu Cyril drehte und ihm einen Blick schoss, der bedeutete, „Wart hier!“, sah das Marcel. Cyril dachte noch: „Oh, das war’s dann“, da bedeutete Marcel ihm mit großen Gesten mitzukommen. Nicole prustete, als sich Marcel einen Minzsirup bestellte. Sie bestellte sich wie immer ein Bier. Auch Cyril bekam einen Minzsirup. Er lächelte Marcel an, der prostete ihm zu. Noch am selben Abend zogen sie zu Marcel in seine Wohnung in einem der grauen Betonhochhäuser in Bel Air.

Bald hatten sie ihre Gewohnheiten. Marcel lief Nicole wie ein Dackel hinterher. Selbst Cyril wusste mit neun, dass er so keine Punkte bei ihr machte. Nicole ließ es sich gefallen, eine Zeitlang schlief sie mit Marcel in seinem breiten Bett, aber lange hielt sie es nicht aus. Immer öfter, wenn Cyril von der Schule heimkam, roch die leere Wohnung nach Nagellackentferner und Langeweile.

Cyril hatte zum ersten Mal in seinem Leben ein eigenes Zimmer. Marcel kaufte ihm sogar einen Schreibtisch. Abends spielte er immer Fußball mit ihm und den anderen Zwergen. Manchmal stakste Nicole aufgetakelt an ihnen vorbei ohne sie zu sehen, eine Wolke klebrigsüßer Sehnsucht zurücklassend. Da ging mancher Pass Marcels ins Leere. Cyril hätte ihn gerne gewarnt: „Die ist nichts für dich. Für sie ist dieses heißkalt nur ein Spiel.“

Aber er hielt den Mund. Denn wenn Marcel das endlich kapierte, dann war sicher Schluss mit dem Zimmer, dem Fußball. Dann würde sich wieder keiner dafür interessieren, wie es in der Schule gewesen war, und ob er seine Hausaufgaben gemacht hatte.

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Cyril und Julie haben einen eigenen Wohnwagen. Sogar einen kleinen Fernseher gibt’s. Manchmal schauen sie abends fern, wie ein altes Ehepaar. Er füttert sie mit Chips. Einmal lacht sie mit vollem Mund. Die Krümel fliegen wie Sternschnuppen durch den dunklen Wohnwagen. Jetzt erst lebt er richtig, lebt für sie.

Lange bleibt das nicht so. Er hat nichts kommen sehen. Klar nörgelte Julie, als sie kapierten, dass sie niemals das Meer sehen würden, zumindest nicht mit diesem Jahrmarkt. Der Typ, der Cyril den Bären aufgebunden hatte, ist längst weg. Die anderen lachen nur. Klar streichen die anderen Kerle vom Jahrmarkt um sie herum. Kevin, den sie „Höschen-Kevin“ nennen, klaut ihr die Slips von der Leine. Bis Cyril ihn erwischt.

Aber anscheinend hat er nicht alles mitgekriegt, denn schon nach einem Monat kommt sie einen Abend nicht in den Wagen zurück. Er sucht sie überall. Keiner hat sie gesehen. Die ganze Nacht wartet er auf sie. Als der Morgen grau heran kriecht, heult er. Sein Herz ist wie ein kalter Stein. Er holt Nicoles Abschiedsbrief aus seinem Geldbeutel und sieht ihn lange an. Cyril schwört sich, dass es vorbei ist. Auch Julie wird sich nie ändern. Er stopft ihre Klamotten in eine Plastiktüte und schmeißt sie aus dem Wohnwagen ins taunasse Gras. Marcel hatte damals Nicoles Kram in Container vom Roten Kreuz gepackt. Cyril ruft ihn an.

„Wie läuft’ s?“, fragt Marcel.

„Hab Oberarme wie Popeye.“

Er kennt ihn, Onkel Marcel. Als die Pause ein bisschen lang wird, meint er: „Mach dir nix draus. Sie ist ’ne Streunerin. Vergiss sie.“

Julie dachte, sie könnte wie früher einfach da weitermachen, wo sie vorher aufgehört hat. Eiskalt, Heißkalt, wie immer. Nach zwei Tagen ist sie wieder da, Cyril sitzt grade in der Tür, liest die Zeitung. Verdattert sieht sie ihre Klamotten im Gras liegen. Sie schnappt sich die Tüte und will sich an Cyril in den Wagen vorbeischieben, aber er blockt die Tür mit dem Arm. Sie fällt auf ihren dürren Hintern. Blöd schaut das aus. Er lacht und sie stakst davon.

... Ende der Leseprobe

Impressum

Texte: Anne Reinery
Bildmaterialien: Anne Reinéry
Lektorat: Lothar Günther
Tag der Veröffentlichung: 05.04.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Lieben Dank an Lothar Günter für das Lektorieren. Verbliebene Fehler sind meine!

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