Die Gärtnerin
Ich lebe für meine beiden Kinder. Sie sind das Wichtigste auf der Welt. Doch je älter sie wurden, desto mehr Fragen stellte ich mir. Was war der tiefere Sinn in meinem Leben? Zu irgen-detwas musste mich der liebe Gott doch vorgesehen haben.
Ich bin leidenschaftliche Gärtnerin. Meine Spezialität ist Unkrautvernichtung. Eine überaus befriedigende Tätigkeit. Aber welchen Nutzen hat das?
***
Vor zwei Monaten erhielt ich von einer Freundin eine E-Mail, in der sie mich einlud, an einer Demo teilzunehmen. Diese soll-te im Hof unseres Nachbarhauses stattfinden und war gegen einen Pädophilen gerichtet.
Ich hatte nicht gewusst, dass direkt neben uns ein wegen Kindesmissbrauchs verurteilter Mann wohnte. Anscheinend war er auf Spielplätzen gesehen worden, und seit seine Ver-gangenheit bekannt geworden war, machten sich Eltern Sor-gen, er könne rückfällig werden. Ich missbilligte diese Vorver-urteilung. Schließlich hatte er gebüßt und das Recht auf eine zweite Chance. Ich ging hin, um mich, falls notwendig, auf die Seite des Mannes zu schlagen.
Die Demo bestand aus einem Grüppchen Eltern, die Trans-parente hochhielten. Ein Mann öffnete sein Fenster, und ich erkannte den Nachbarn, der uns bereits unangenehm aufgefal-len war, weil er oft schon am Nachmittag betrunken durch die Straßen schwankte. Von einer Bekannten, die ihm gegenüber wohnte, hatte ich gehört, dass er abends nackt Schattenkämpfe mit einem Samuraischwert aufführte.
Er rief: »Im alten Griechenland war die Liebe zwischen Männern und Knaben die reinste Form der Liebe. In diesen kulturlosen Zeiten versteht kein Mensch mehr diese Initiati-on.«
Die bis dahin ruhigen Demonstranten wurden wütend.
Jemand schrie: »Sicherheitsverwahrung für Kinderschän-der!«
Der Mann schleuderte eine leere Whiskyflasche nach unten. Die Gruppe im Hof stob auseinander, ein erboster Vater griff nach einem großen Scherbenstück und warf es nach oben. Er traf die Stirn des Mannes, und dieser begann, heftig zu bluten.
Hier kam mein Einsatz. »Wir sind doch keine wilden Tie-re!«, zischte ich die anderen an und lief ins Haus, um dem Ver-letzten beizustehen.
Er riss gerade seine Wohnungstür auf, als wolle er nach un-ten stürmen.
Ich packte ihn am Arm. »Lassen Sie das! Ihre Wunde muss versorgt werden!«
Das Blut rann sein Gesicht entlang. Seine Brust hob und senkte sich unter heftigen Atemzügen.
Ich blickte mich in seinem dämmerigen Gang um: »Haben Sie Verbandszeug?«
»Ne, nix da.«
Sein Atem stank nach Alkohol. Schwer ließ er sich auf einen Stuhl sacken. Er rang nach Luft. Ich blickte in eine offene Tür, die Küche. Schmutziges Geschirr auf allen Ablageflächen. Da-zwischen standen leere Flaschen. Ich fand in einem Schrank ein sauber aussehendes Handtuch, das ich am Wasserhahn be-feuchtete und mit dem ich ihm die Stirn und das Gesicht ab-wischte. Frisches Blut quoll nach.
»Die Wunde muss genäht werden.«
Er griff sich an die Herzgegend, zog am Kragen seines schmutzigen Pullovers und grinste mich an, während er mich mit seinen blutunterlaufenen Augen musterte. »Na, du Samari-terin, ekelst dich nicht vor mir? Hast doch selber Gören.«
»Ich halte nichts von Lynchjustiz.«
Er prustete los. Ich wich zurück, sein Atem war ekelerre-gend. Pfeifend rang er nach Luft. Sein Gesicht wurde grau. Aber noch immer verschwand der maliziöse Ausdruck nicht.
»Dein Kleiner, der hat es mir angetan. Hab Fotos von ihm gemacht, stell ihn mir oft nackt vor.«
Mir wurde eiskalt.
»Sein blauer Gipsarm letztens passte so gut zu seinem T-Shirt. Das war richtig« – er hielt inne, suchte meine Augen – »… sexy!«
Das Wort fiel wie eine weitere Scherbe zwischen uns.
Sein keuchendes Atmen wurde mühsamer. »Ich brauche meine Tabletten, mein Herz …« Sein Finger wies auf eine Me-dikamentenschachtel, die auf einem Tischchen nur ein paar Schritte entfernt lag.
Automatisch ging ich hin, hob sie auf. Er streckte mir die Hand entgegen.
Das war der exakte Moment!
Ich blickte ihn an, den abgehalfterten Alkoholiker, den ich glaubte, schützen zu müssen, obwohl ich eine starke Abnei-gung gegen ihn empfand. Sollte ich sein Leben über das meiner Kinder stellen?
Meine bisherige Weltanschauung fiel in sich zusammen. Für Recht und Gesetz sorgte der Staat, hatte ich gedacht. Und für die höhere Gerechtigkeit sorgte Gott. Aber wer schützte meine Kinder genau jetzt vor einem wie ihm?
Nachdenklich wog ich die Tabletten in meiner Hand. Mir war, als trete eine zweite Person neben mich. Sie flüsterte mir ins Ohr: Diesem Abschaum willst du helfen?
Sein Ausdruck änderte sich, ich las Angst in seinen Augen.
»Meine Pillen, dalli!«
Ich schüttelte den Kopf. Er versuchte aufzustehen, sank aber kraftlos auf den Stuhl zurück. Entschlossen drehte ich mich um und ging. Seine Wohnungstür zog ich leise, aber be-stimmt hinter mir zu.
Der Hof war leer. Zu Hause kämpfte ich mit mir. Sollte ich zurückgehen? Würde er sterben?
Ich kochte für meinen Mann und die Kinder, um mich abzu-lenken. Ein warmes Essen mit Gemüse ist so viel gesünder als das deutsche Abendbrot.
Beim Abholen der Kinder vom Kindergarten warf ich die Schachtel in einen Abfalleimer auf der Straße. Jemand klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Ich drehte mich um, aber da war niemand.
Am Tag darauf kam ein Kripobeamter bei mir vorbei, als ich gerade im Garten Blumen goss. Der Alkoholiker hatte es noch bis zur Wohnungstür geschafft, diese geöffnet und war tot zusammengebrochen. Ein anderer Hausbewohner hatte ihn entdeckt.
Ich begann zu schwitzen.
»Ihr Nachbar ist vermutlich an einem Herzanfall gestorben. Sie sind die Letzte, die ihn lebend gesehen hat. Ist Ihnen etwas aufgefallen?«
Ich schluckte. »Nein, er war sehr aufgeregt, und die Wunde blutete. Ich habe ihm angeboten, ihn zum Arzt zu bringen. Er wollte nicht.«
»Wussten Sie, dass der Mann herzkrank war?«
Ich erwiderte, dass mir lediglich sein Alkoholismus bekannt gewesen war. Es entstand eine Pause, der Polizist sah kurz von seinem Block auf. Ich wartete, während ich spürte, wie der Schweiß meinen Rücken entlangrann. Zu meiner Verwunde-rung war das schon alles. Der Beamte dankte mir und ging.
Im Viertel war die Erleichterung über den plötzlichen Tod des Mannes groß. Ich wartete auf Schuldgefühle. Es kamen keine. Im Gegenteil: Ich war überzeugt davon, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Das erste Mal seit Langem war ich richtig stolz auf mich. Das Gefühl hielt leider nicht lange an.
Ich dachte viel nach. Wie so oft, über den Sinn des Lebens. Was wir unseren Kindern hinterlassen. Wie wir aus der Welt einen besseren Ort machen können. Und ja, ich wollte wieder diesen intensiven Stolz verspüren.
Warum machte ich nicht die ganze Stadt zu meinem Garten und rupfte Schädlinge der Gesellschaft aus? Diejenigen, die kein Gesetz fassen konnte oder – schlimmer noch – die von Gesetzen geschützt wurden.
Ich ging systematisch vor. Jeden Morgen las ich eine Stun-de die Tageszeitung. Mir fiel auf, wie viele es von seiner Sorte gab. Efeuranken, die gesunde Bäume erstickten. Wer riss sie aus, wenn nicht ich?
Ich erfuhr von einem Mann, dessen Wohnung an einen Kindergarten angrenzte. Seit Jahren überzog er diesen wegen Lärmbelästigung mit Prozessen. Die einhundert Kinder durf-ten den Garten nur noch vor- und nachmittags eine halbe Stunde nutzen, den Rest der Zeit waren die Betreuerinnen ge-zwungen, ihre Schützlinge drinnen zu beschäftigen oder auf Spielplätze auszuweichen.
Es war nicht schwer herauszubekommen, wo der Mann wohnte. Ich ging einkaufen. Erst in der dritten Gärtnerei wur-de ich fündig. Dann bastelte ich. Der Ausweis sah echt aus, Google und Powerpoint sei Dank! Im Kindergarten borgte ich mir den Apparat, um meine Karte zu laminieren. Sie sah wirk-lich professionell aus. Ich hieß nun Clarissa von Treutwein und war vom Verband der Lärmgeschädigten. Meine Haare versteckte ich unter einer blonden Langhaarperücke, die ich mir vor Jah-ren gekauft, aber nie getragen hatte, und tauschte meine ewi-gen Jeans gegen ein Kostüm mit einem knielangen Rock. Wohlgemut machte ich mich auf den Weg.
Der ältere Herr war überglücklich, von einer Leidensgenos-sin Besuch zu erhalten. Mein kleines Mitbringsel, eine Topf-pflanze, nahm er gerührt entgegen.
»Oh, was ist denn das für eine interessante Blume?«
»Ein Bilsenkraut.«
Er beäugte das wenig attraktive Gewächs ratlos. Dann schnupperte er an den schmutziggelben Blüten. Ich lächelte ihm freundlich zu. Schnell stellte er sie zu seinen Kakteen aufs Fensterbrett.
»Ich habe von der Hetzkampagne gegen Sie gelesen und dachte mir, Trost und Zuspruch tun Ihnen sicher gut.«
»Oh ja. Sie können sich nicht vorstellen, wie ich hier ange-griffen werde. Ich bin verwitwet. Niemand versteht, wie ich unter diesem Gekreische leide.« Seine Stimme zitterte.
Ich nickte verständnisvoll. Als ich meine selbst gebackenen Mohnschnecken auspackte, aß er gerne davon. Die Schnecke verschwand in seinem eilig wackelnden Mund. Als Witwer war er seit langer Zeit nicht mehr in den Genuss von Selbst-gebackenem gekommen. An meiner Schnecke klebte leider ein wenig Backpapier, das ich erst mühselig abzupfen musste, be-vor auch ich sie essen konnte. Hilfsbereit übernahm ich hinter-her den Abwasch für meinen neuen Freund.
Bevor ich ging, gab ich ihm wertvolle Tipps, wie er effizient gegen die rücksichtslose Bande des Kindergartens vorgehen konnte. »Schicken Sie einen emotionalen Brief an die Abend-zeitung! Erklären Sie, wie deprimiert Sie aufgrund der Ruhe-störung sind!«
Er nickte eifrig.
Auf dem Heimweg summte ich fröhlich. Clarissa kicherte.
Mit frischer Energie widmete ich mich meinen Lieben. Endlich war ich am Tag nicht mehr so einsam, denn Clarissa verabschiedete sich nicht von mir. Sie war gekommen, um zu bleiben. Gemeinsam probierten wir neue Rezepte aus. Wir hat-ten viel Spaß miteinander, denn wir hatten denselben ironi-schen Humor.
Am Nachmittag tanzte ich mit meinem Sohn und meiner Tochter beim Kochen in der Küche. Wenn sie beim Essen schmatzen, betrachtete ich sie gerührt, anstatt sie zurechtzu-weisen. Mein armer Mann war überarbeitet, ich verwöhnte ihn. Richtig dünn war er geworden, der Arme. Oft kam er erst um zehn Uhr abends nach Hause.
Dankbar aß er meine neuen Rezeptkreationen und tätschel-te mir die Hand. »Du hast ein ganz entspanntes Gesicht, Schatz!«
Clarissa hauchte mir ins Ohr, dass ein Mann auch Appetit auf andere Dinge habe. Sie lächelte unzweideutig. Ich ignorier-te sie. Seit den Kindern hatten wir alle ein bis zwei Wochen freundlichen Sex. Mein Mann hatte zwar vorsichtig vorge-schlagen, dass wir etwas ausprobieren könnten, aber er hatte nicht insistiert.
Es dauerte ein paar Tage, bis sich etwas über meine Tat in der Zeitung fand. Ich hatte mich schon gefragt, ob der Bilsen-krautsamen beim Backen seine Wirkung verloren hatte. Dabei hatte ich die Schnecke des Mannes doch sogar nach dem Ba-cken noch in rohen Samen gewendet!
Endlich kam die Nachricht: Ein alleinstehender älterer Mann sei erst nach Tagen vom Hausmeister tot in seiner Wohnung aufgefunden worden. Die Obduktion ergab eine Vergiftung mit verschiedenen Pflanzengiften, die in einer sel-tenen Pflanze namens Bilsenkraut vorkamen. Eine solche Pflanze hatte der Verstorbene besessen. Obwohl kein direkter Abschiedsbrief vorlag, wurde ein Selbstmord angenommen, da der Verstorbene völlig vereinsamt war und von seiner Nach-barschaft wegen einer Prozessserie gegen einen Kindergarten angefeindet wurde. Zudem fand sich ein Schreiben an eine Zei-tung, in dem der Verstorbene über Depressionen wegen des Lärms klagte.
Die Kindergartenkinder würden künftig wieder in Ruhe spielen können. Clarissa und ich waren glücklich.
Auf unsere dritte gute Tat mussten wir ein wenig warten. Wir wählten sorgfältig aus. Schließlich sollte es ja keine Un-schuldigen treffen.
Meine tägliche Zeitungslektüre war noch spannender ge-worden. In unserer Hand lag es, das Schicksal von Unbekann-ten abzuwägen.
Endlich stießen wir auf den nächsten Schmarotzer. Ein Hausbesitzer tyrannisierte seine fünfzehn Mieter, da er das Haus luxussanieren und in Eigentumswohnungen umwandeln wollte. Das Foto zeigte einen teuer gekleideten, schmallippi-gen Angeber, Lorenz v. K.
Ich bereitete den Einsatz minutiös vor. Mein Mann war auf Geschäftsreise, so konnte ich am Abend mit Clarissa üben, die sich stark verändert hatte. Diesmal vertrat sie den Verband für die freie Verfügung von Immobilieneigentum. Sie hatte sich inzwi-schen eine rosa Bluse, die mindestens zwei Knöpfe zu weit of-fen stand, ein dunkelblaues Kostüm mit Minirock und ein Paar hochhackiger Pumps, das ihre Beine vorteilhaft zur Geltung kommen ließ, zugelegt.
Clarissa und ich verbrachten einen herrlichen Abend mitei-nander. Ihre laszive Art zu gehen, brachte mich zum Kichern. Wir übten vor dem Spiegel, wie und was sie zu dem Ekel von Vermieter sagen würde.
...
Texte: Anne Reinery
Bildmaterialien: net Verlag
Lektorat: net Verlag
Tag der Veröffentlichung: 25.02.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Leseprobe, da Geschichte im März 2013 in der Anthologie
"Morde, die unentdeckt bleiben" des net-Verlages erschienen ist.