Wachgeküsst
Ich konnte bisher all den Platz, den Walther für sich beansprucht hatte, noch nicht ausfüllen. Deshalb trieb ich oft. Wie ein nicht festgemachtes Boot. Pipo und Helen waren meine Anker. Pipo hieß eigentlich Pierre und war der Dorfpolizist. Nachdem ich mir den Kopf rasiert hatte, unterhielten wir uns sehr ausführlich über die anhaltende Hitze und den Wassermangel in der Provence. Später brauchten unsere Gespräche keine Krücken mehr.
Alleine schaffte ich es morgens nicht aufzustehen. Trotz all des gleißenden Lichts und der Hitze draußen war es in mir oft dunkel. Helen, meine englische Freundin, hatte inzwischen einen Schlüssel und kam jeden Morgen gegen neun. Leise tappte sie in mein dunkles Schlafzimmer, zog sanft die Vorhänge auf und rieb mir die eiskalten Hände, bis ich: „Ok, ok, ich tue es“, seufzte.
Helen half mir beim Anziehen. Ich konnte meinen linken Arm immer noch nicht heben. Anschließend frühstückten wir gemeinsam. Das heißt, ich nippte am Kaffee und nagte an einem Marmeladenbrot. Helen aß wie immer ein Croissant, tätschelte sich seufzend den Bauch und trank zwei große Tassen Milchkaffee. Dabei plauderte sie über die Dörfler. Helen lebte seit zehn Jahren hier und kannte einfach jeden, weil sie Kochbuchautorin war und ständig Probeesser brauchte. Da sie exzellent kochte, gab es daran keinen Mangel. Sie hatte ein Herz so groß wie ein Scheunentor. Als ich ihr das sagte, entgegnete sie mir „Und den passenden Hintern dazu!“
Wir gackerten, bis sie Schluckauf bekam und mir die Augen tränten.
Wolf küsste mir die Hände, wenn ich nach der wöchentlichen Chemo zu lange schlief. Am Abend ließ die Übelkeit nach. Pipo kam meist, wenn die Grillen am lautesten schabten. Helen brachte wenig später eine dünne Gemüsebrühe vorbei. Wenn ich mich bedankte, sagte sie: „Du tust mir einen Gefallen, ich muss die Rezepte ausprobieren, bevor ich sie in einem Kochbuch verwenden kann.“ Sie wusste, dass ich wusste, dass sie die faden Suppen, die sie für meinen Chemo-geschädigten Magen kochte, niemals in ihre Provence-Kochbücher aufnehmen würde.
Die ersten Tage nach der Abnahme des Verbands konnte ich mich nicht ansehen. Beim Duschen blickte ich an die Wand. Dann sagte ich mir: „Altes Mädchen, so kann das nicht weitergehen!“
Ich stellte mich vor den Spiegel, atmete tief durch und betrachtete lange die Narbe. Bis zur Rekonstruktion musste noch einige Zeit vergehen.
„Ein wunderbarer Moment, um endlich mit dem Bogenschießen zu beginnen!“
Helen sah mich mit offenem Mund an, als ich es zu ihr sagte. Wir lachten, bis sie Schluckauf bekam und mir die Augen tränten. Mir fiel auf, dass ich noch nie soviel in meinem Leben gelacht hatte wie jetzt, wo es nichts mehr zu lachen gab.
Als Walther auszog, beschloss ich, nicht mehr auf meine Linie zu achten. Aber ich bekam fast nichts herunter. Jetzt, wo ich dick werden wollte, nahm ich ab. Meine Haut schien zu groß und hing in losen Falten an meinem abgemagerten Gerippe.
„Du wirst schon wieder in dich hineinwachsen.“, meinte Pipo, bevor er mich vorsichtig zum ersten Mal auf den Mund küsste.
Wolf war erst mit etwa zwei Jahren zu uns gekommen. Walther hatte den Bordercollie-Mischling auf der Straße aufgelesen und trotz Annoncen beim Bäcker wollte niemand ihn wiederhaben. Er war ein echter Unglücksvogel. Seine häufigen Unfälle waren spektakulär und zogen teure Besuche beim Tierarzt nach sich. Besuch verbellte er. Er war absolut erziehungsresistent. An der Leine flog ich hinter ihm her. Doch wenn ich nach Hause kam, tanzte er vor Freude. Mein Mann nannte das „bedingungslose Liebe“. Ich wusste, dass Wolf wusste, dass ich die Herrin der Hundekuchen war. Und trotzdem ...
[Ende der Leseprobe]
Texte: Anne Reinéry
Bildmaterialien: Anne Reinéry
Lektorat: Lothar Günther
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Vielen Dank an Lothar für das Lektorat. Verbliebene Fehler sind meine!