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Teilzeitkatze

Sie kam auf leisen Pfoten in unser Leben geschlichen. Wir merkten erst hinterher, dass sie gekommen war, um zu bleiben.

Schon einmal in meinem Leben besaß ich eine Katze, doch das ist lange her: Als ich fünf Jahre alt war, bekamen meine Eltern einen jungen Siamkater geschenkt. Er war perfekt. Agil, langbeinig, mit der typischen dunklen Zeichnung der Rasse um Augen, Ohren, Beine und den Schwanz, die so elegant mit dem sandfarbenen Fell des Körpers kontrastiert. Trotz seiner blauen Augen fand ich, dass unser Kater asiatisch aussah und taufte ihn „Mikado“.
Mikado war extrem scheu. Er wollte nicht gestreichelt werden und verbrachte seine Tage unter dem Wohnzimmerschrank, unseren sehnsüchtigen Streichelversuchen ausweichend. Darüber hinaus verzierte er die Einrichtung mit langen Kratzern und schärfte seine Krallen an Teppichen und Polstern. Meine Eltern bekamen Zweifel, ob sie ihm und uns mit der Adoption eine Freude gemacht hatten.
Sein Familienaufenthalt endete abrupt, als das zweijährige Kind einer Familie, die uns besuchte, auf die originelle Idee kam, auf dem winzigen Kater zu reiten und sich auf ihn plumpsen ließ. Mikado machte „Pfrrrscht!“. Die gesamte Luft seiner Lungen war durch das Gewicht des Kleinkindes ruckartig herausgepresst worden. Der Kater verkroch sich unter einen Sessel, sobald der Missetäter von seinem entsetzten Vater hochgerissen worden war. Nur mit viel Geduld ließ sich der Kater von meiner Mutter aus seinem Zufluchtsort hervorlocken. Sie war überzeugt, dass er schwere innere Verletzungen erlitten hatte und eilte mit ihm zum Tierarzt. Wir warteten bang auf ihre Rückkehr.
Sie kam begeistert zurück. Mikado verschwand - seiner Gewohnheit entsprechend - sofort unter dem Bücherschrank. Erleichtert erzählte meine Mutter, dass der Kater sich bester Gesundheit erfreue. Der Tierarzt, ein junger Mann, hatte Mikado vorsichtig und ausführlich untersucht.
Noch Jahre danach endete meine Mutter die Erzählung dieser Familienanekdote mit dem Satz: „Eine Geduld hatte er, und sanft ist er mit dem Kater umgegangen – zu dem gehe ich künftig auch mit den Kindern!“

Trotz des glücklichen Ausgangs war dieser Unfall für meine Eltern das Signal, dass Mikado einfach nicht zu uns passte. Sie fragten im Bekanntenkreis nach und fanden eine unverheiratete und vor allem kinderlose ältere Pfarrsekretärin, die Mikado mit Begeisterung an Kindes statt annahm. Ich meine das wörtlich: Aus Mikado wurde „der Peter“ oder „der Bub“ und aus Fräulein Stein „die Mutti“.
Wir wurden zu einem Kaffeekränzchen eingeladen, damit wir sähen, wie gut es „der Bub“ bei seiner „Mutti“ hatte und saßen - es war Sommer - mit klebrigen Oberschenkeln auf dem mit Plastikplane abgedeckten Sofa. Auch die restlichen Möbel von Fräulein Steins Wohnung waren komplett mit Plastikfolien zugehängt, die Peter-Mikado als nicht bekratzenswert erachtete. Es sah aus, als solle renoviert werden, doch für die nächsten Jahre blieb dies der Dauerzustand von Fräulein Steins Wohnung.
Wenn der Bub Unsinn machte, wurde er von der Mutti geschimpft. Sie hielt uns auf dem Laufenden: Peter bekam einen Kratzbaum, der bis unter die Decke der Wohnung reichte. Natürlich schlief er in Muttis Bett. Mutti verreiste nicht mehr, weil sie den Bub ja nicht in fremder Obhut lassen konnte.
Peter wurde erwachsen, wuchs aber weiter – in die Breite. Ab und zu machten Mutti und er gemeinsam eine Diät. Und so lebten die beiden glücklich, bis Peter im stattlichen Alter von fünfzehn Katzenjahren das Zeitliche segnete, und die ihn sehr betrauernde Mutti, die deshalb auch keine neue Katze wollte, ihre zurückgewonnene Freiheit zu langen Reisen nutzte.
...Ende des Auszuges

Impressum

Texte: Anne Reinéry
Lektorat: Lothar Günther
Tag der Veröffentlichung: 13.07.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich bedanke mich herzlich bei Lothar.Günther für seine Korrekturen.

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