Zwei Jahre und einen Monat danach
Ina Bauers Zeit war um. So sehr sie auch nach einem Ausweg gesucht hatte, sie fand keinen. Es war schade um Ina. Ihre Unauffälligkeit war viel wert gewesen. Sie hatte Ina gemocht – nicht nur, weil sie ihr sehr nützlich gewesen war. Aber nach dem Brand würde Ina Bauer auffliegen.
2 Jahre und 28 Tage danach (die lange Nacht 1)
In der Nacht war sie mit einem Schrei aufgewacht. Sie hatte von Uwe rauer Männerhand geträumt, die es nicht interessierte, ob andere ihre Berührung mochten oder nicht. Die begrapschte, Widerstand mit Schlägen zerbrach und sich nahm, was sie wollte. Sie drängte den Alptraum weg und versuchte einzuschlafen.
Es ging nicht. Gefangen zwischen den alten Geschichten und den neuen Sorgen wälzte sie sich im Bett.
Wenn es Belle traf? Wie sollte sie das ertragen? Belle war alles, was ihr blieb.
Entschlossen schlug sie die Bettdecke zurück und sprang aus dem Bett. Selbst ihre Angst vor der Dunkelheit hielt sie nicht zurück. Sie schlüpfte in die unordentlich vor dem Bett liegenden Kleider vom Vortag, zerrte den Schlafsack aus dem Schrank, riss die Daunenjacke von der Garderobe, stopfte eine Packung Kekse in die Tasche und schloss die Tür mit zitternden Fingern ab.
Draußen war es kälter, als sie erwartet hatte. Der Vollmond tauchte die Straße in ein unwirkliches Dunkelgrau, alle Farben waren wie ausgeblichen. Der japanische Zierkirschbaum wirkte wie ein Schwarz-weiß-Photo. Wie immer im Dunkeln vermied sie, nah am Gartenzaun vorbeizugehen. Ina stieg in ihren Wagen und fuhr mit zu viel Gas an. Sie legte den Weg bis zum Stall in der Rekordzeit von zehn Minuten zurück.
Der Stall lag im Dunkeln. Ihr Herz klopfte. Rainer hatte versprochen, das Licht anzulassen. „Als ob das hilft, wenn...“, schalt sie sich im Kopf, während sie zu Belles Box ging. Ihre Reitstiefel knirschten auf dem Kies.
Ina schrie gellend auf, als eine schwielige Hand sie an den Schultern packte und ein muskulöser Fuß ihr ein Bein stellte und sie zu Fall brachte.
Der Tag X
Das Schlimmste war, dass Helena hinterher nicht mehr wusste, worüber sie im Auto gesprochen hatten. Über das Abendessen? Sie hatte ihren Gedanken nachgehangen. Leo hatte sie angelächelt. Er ritt auch. Gespräche mit ihm waren so einfach. Sie hatte mechanisch auf die Fragen ihrer Mutter geantwortet. Warmer Sommerwind hatte Heuduft ins offene Autofenster geweht. Ihre Zwillingsschwester Carla hatte „Leo, Leo, Leo!“ wie eine Litanei vor sich hingesummt. Dafür hatte Helena sie in den Oberarm geboxt.
Ihr Vater fuhr wie immer ein wenig zu schnell auf den Parkplatz des Reiterhofs. Als er bremste, wurde das Auto in eine Staubwolke gehüllt.
„Tschüss, bis nachher!“, sie hatte die Autotür zugeworfen und war –ohne sich noch einmal umzudrehen- zum Stall gerannt. Die Gedanken bei Leo und der neuen Friesenstute, die niemanden an sich heran ließ.
2 Jahre und 28 Tage danach (die lange Nacht 2)
Ihr Kopf schlug auf den Kiesweg. Sie spürte einen brennenden Schmerz an der Stirn. Jemand drehte sie mit mitleidlosen Händen auf den Rücken und leuchtete ihr mit einer Taschenlampe ins Gesicht. Ina hob instinktiv die Hände vors Gesicht. „Uwe, Uwe hat mich gefunden,“ war ihr erster Gedanke, bevor ihr klar wurde, wie unsinnig er war.
„Mensch Ina, bist du bekloppt, hier unangekündigt in der Nacht aufzukreuzen?“, schnauzte Rainer, der Inhaber des Stalls, sie an.
Er und Kurt, der Stallbursche, schauten mit mürrischer Miene zu, als Rita, die Reitlehrerin, Ina wie eine Polizistin abtastete.
„Sie ist sauber!“
Die beiden Männer verzogen sich auf ihre Posten und Rita eskortierte Ina mit einer Taschenlampe zu Belles Box. Ina protestierte:
„Jetzt reicht es, Rita, ich lasse mich nicht einschließen!“
„Dann mach, dass du hier wegkommst! Entscheid dich schnell und mach nicht so viel Lärm!“
„Ich will nur meine Stute beschützen! Ihr tut, als wäre ich der Feuerteufel!“
„Dass Du hier mitten in der Nacht aufkreuzt, ist auch merkwürdig! Sei leise! Rein in die Box oder weg!“
Ina hatte ihren Schlafsack an sich gepresst und genickt. Sie biss die Zähne zusammen. Die Tür schwang leise hinter ihr zu. Mit einem metallischen Klicken sicherte Rita hinter ihr den Riegel mit dem Vorhängeschloss.
Ina legte ihren Kopf in der vollkommenen Finsternis an Belles Hals und streichelte sie. Die Stute schnaubte. Lange hielt Ina Belle umschlungen, bis sie das Gefühl hatte, vor Müdigkeit zu Boden zu fallen. Sie rollte den Schlafsack aus und streckte sich an der hinteren Wand aus. Hoffentlich nicht in Pferdeäpfeln, eine Taschenlampe hatte sie vergessen. Trotz ihrer Müdigkeit konnte sie nicht wiede einschlafen.
Nachts war ihre Einsamkeit besonders real. Vor zwei Jahren war sie ein ganz normaler Teenager gewesen. Hatte die Augen verdreht, wenn ihre Mutter wissen wollte, mit wem sie ständig SMS schrieb. Hatte mit Carla geprustet, wenn sie sich ausmalten, wie es wäre, als Model zu arbeiten. Ein paar Jahre nur, um genügend Geld zu verdienen. Dann wollten sie sich einen Bauernhof kaufen. Mit Pferden. Das war ihr Traum. Zusammen auf einem abgelegenen Gut. Jede wollte mindestens drei Pferde. Sie würden sie züchten. Sonst brauchten sie niemanden. Als sie sich in Leo verliebt hatte, war sie sich nicht mehr so sicher gewesen. Aber das hatte sie für sich behalten.
Aber all das würde niemals wahr werden.
Wenn sie sich sehr anstrengte, konnte sie sich noch an den Geruch ihrer Mutter erinnern. Oder wie ihr Vater immer auf seiner Backe herumgekaut hatte, wenn er nachdachte. Wie sie und Carla aneinandergekuschelt auf dem Sofa gelesen hatten.
Sie begann ihre Litanei der „wenns“: Wenn Carla keinen Bänderriss gehabt hätte. Wenn ihr Vater nicht an diesem Tag frei genommen hätte. Wenn der Lastwagenfahrer nicht versucht hätte, in der Kurve seine Zigarette anzuzünden. Wenn ihre Mutter zu Hause geblieben wäre.
Damals war sie es gewohnt, dass alle sie und Carla angestarrt hatten. So hübsch und dann auch noch Zwillinge. Damals war es einfach, die Wünsche und Sehnsüchte der anderen zu ignorieren. Damals hatten ihre Eltern sie geschützt. Damals kannte sie die Uwes dieser Welt nur aus der Zeitung und den Warnungen ihrer Mutter. Unvorstellbar, dass sie damals in einen Jungen verliebt gewesen war. Heute ließ sie nur noch Belle an sich heran.
2 Jahre und 28 Tage danach (die lange Nacht 3)
Irgendwann musste Ina eingeschlafen sein. Sie wurde von lauten Rufen geweckt. Belle schnaubte ängstlich. Andere Pferde wieherten. Sie hörte, wie Hufe gegen die Boxentüren hämmerten. Einen kurzen Moment wusste sie nicht, wo sie war.
Während sie lauschte, drang ein beißender Geruch in ihre Nase. Feuer! Sie schlug mit beiden Fäusten gegen die Stalltür. Belle wieherte voller Panik.
„Rita! Kurt! Rainer! Hilfe! Lasst uns raus! Hilfe!“
Nichts. Ängstlich lauschte sie mit ans Holz gelegtem Ohr, sie hörte die wachsende Panik der Pferde um Belles Box herum. Die Luft war voller Rauch. Hustend und würgend sank sie auf die Knie. Am Boden war das Atmen deutlich einfacher. Mit beruhigenden Worten brachte sie Belle dazu, sich neben sie hinzulegen. Einer Eingebung folgend, legte sie sich auf den Rücken und trampelte mit beiden Füßen gegen die Tür.
Außer dem ängstlichen Wiehern der Pferde glaubte sie Prasselgeräusche zu hören. Wurde es nicht heiß?
Belle rappelte sich auf die Beine. Ina konnte sich gerade noch in Sicherheit bringen, als die Stute begann, mit beiden Hinterhufen machtvoll gegen die Tür auszuschlagen.
Diese flog mit einem Mal auf, Licht flutete in die Box. Sie hörte Rita: „Schnell, schnapp dir Belle und bring sie in Sicherheit!“
2 Jahre und 29 Tage danach (der Morgen nach der langen Nacht)
Eine Stunde später, es dämmerte gerade ein strahlend schöner Aprilmorgen, wurde das ganze Ausmaß der Zerstörung offenbar: Die Reithalle war abgebrannt, mehrere der an sie angrenzenden Boxen ebenfalls. Ein paar rußgeschwärzte Mauern waren wie Trauermale stehen geblieben. Das Dach war komplett eingestürzt.
Das furchtbarste war der Kadaver der Stute Gaia, den sie in einer der vom Feuer verwüsteten Boxen gefunden hatten.
Die Feuerwehr setzte die Brandwache fort, während die Brandermittler der Polizei ihre Arbeit aufgenommen hatten.
Kommissar Eike Hagen suchte nach dem Besitzer, Rainer Eichwald, um ihn nach dem genauen Ablauf des Geschehens zu befragen.
Er fand ihn, als dieser einer ungewöhnlich hübschen jungen Frau mit einer fuchsfarbenen Mähne mit zusammengepressten Zähnen zu zischte:„Das ist alles Deine Schuld!“
Die Schönheit der jungen Frau wurde nicht wesentlich dadurch gemindert, dass ihre Stirn durch eine blutverkrustete und bläulich gefärbte Beule verunstaltet war. Sie drehte sich wortlos um, und stapfte weg.
Hagen stellte sich mit einem Satz beim Stallbesitzer vor und fragte den ihn, weshalb er der jungen Frau- wie war ihr Name?- die Schuld am Tod der Pferde und am Brand gebe.
„Ina Bauer“, Eichwald spuckte den Namen aus, als habe er einen schlechten Geschmack. Er erzählte von Inas Auftauchen in der vergangenen Nacht. Als Hagen Ina Bauer suchte, war sie weggefahren.
Am Abend erfuhr Hagen von einem erbosten Rainer Eichwald, dass ein Pferdeanhänger gestohlen worden war. Belle war von der Weide verschwunden. Er fuhr zu Ina Bauers Wohnung. Die Vermieterin der möblierten Wohnung öffnete ihm. Ina Bauers Habseligkeiten waren weg. Sie hatte seit einem Jahr hier gewohnt. Die Vermieterin wusste nicht, woher sie kam. Im Stall wusste es auch niemand. Freunde hatte sie keine gehabt. Avancen hatte sie im Keim erstickt. Sie hatte alle auf Distanz gehalten. Ihre Stute liebte sie abgöttisch.
Die junge Frau hinterließ unbezahlte Stallrechnungen. Als Hagen „Ina Bauer, und das Geburtsdatum, dass sie auf dem Mietvertrag eingetragen hatte, überprüfte, stieß er auf die Meldung eines gestohlenen Ausweises ein Jahr zuvor in Heidelberg. Bisher hatte es keine Hinweise auf einen Identitätsdiebstahl gegeben.
2 Jahre und 30 Tage danach
Der gestohlene Anhänger und der Wagen der falschen Ina Bauer wurden zur Fahndung ausgeschrieben.
Zwei Tage später geriet Eichwald mit seinem Pferdeanhänger in eine Kontrolle. Er hatte nicht bemerkt, dass man die Kennzeichen seines gegen die des gestohlenen Anhängers vertauscht hatte.
Hagen musste lachen. Die Kleine war schlau - und rachsüchtig. Wofür hatte sie sich gerächt?
Texte: © Anne Reinéry
Bildmaterialien: Anne Reinéry
Tag der Veröffentlichung: 30.06.2012
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