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Seit zwei Wochen fällt der Regen Tag und Nacht. Der Li-Fluss, der sonst so ruhig zwischen den grünen runden Hügeln dahin fließt, hat sich in einen wilden Strom verwandelt. Alle Straßen sind überschwemmt. Die Schule ist wegen der Regenfälle geschlossen.
Auch meine Touren mit meinem funkelnagelneuen Fahrrad im Tal sind vorbei. Ich habe es zu meinem zehnten Geburtstag bekommen, und ich bin furchtbar stolz darauf. Es ist ein richtiges Mountainbike und hat 18 Gänge. Außerdem ist es rot, das ist meine Lieblingsfarbe. Ich habe es im Flur unseres kleinen Häuschens abgestellt. Immer wieder setze ich mich darauf und stelle mir vor, damit zu fahren. Ich heiße Long und wohne mit meinen Eltern und Großeltern in Yangshuo, das ist im Süden Chinas.
Mein Vorname bedeutet „Drache“. Mein Großvater, also mein Yeye, wie wir hier in China sagen, hat diesen Namen für mich ausgesucht. Er liebt Drachen und kennt alle alten Mythen und Märchen. Jetzt, während diesem endlosen Regen, sieht er aus dem Fenster und murmelt: „Dieser verwünschte Gelbe Drache, jemand muss ihn aufhalten!“
Ich steige von meinem Fahrrad und erkundige mich: „Warum, Yeye?“ Ich frage ihn nur, weil mir so langweilig ist. Die Geschichte vom Gelben Drachen kenne ich auswendig, mein Yeye hat sie mir mindestens schon hundert Mal erzählt. Mein Yeye lässt sich nicht lange bitten. Er klopft mit
seiner Hand auf den Sitz des Stuhls neben sich. Ich lümmle mich darauf, er räuspert sich und beginnt:
„Der Gelbe Drache ist der Herr der Wolken. Er ist verantwortlich dafür, uns Menschen den Regen zu bringen, damit unsere Pflanzen wachsen und gedeihen. Und weißt du, wie er das macht?“ Er macht eine Pause und schaut mich erwartungsvoll an. Natürlich weiß ich es, aber ich kenne meinen Einsatz und frage ihn mit großen Augen: „Nein, wie denn?“
Befriedigt fährt mein Yeye fort: „Er sammelt die winzigen Wolkenbabys an den vier Ecken des Himmels ein. Weißt du, wenn sie noch kleine durchsichtige Tupferchen sind. Vorsichtig bringt er sie in seine kleine Wolkenaufziehstube. Jedes Wölkchen hat ein Bettchen. Dort hätschelt er sie. Unter seiner Obhut schwellen die fipsigen weißen Wölkchen an. Sie werden dick und fett und grau. Er entlässt die Wolken in die Freiheit und beginnt sie zu jagen und mit ihnen zu spielen. Hui, wie saust er zwischen ihnen hin und her. Wirft sie hoch, fängt sie auf. Die grauen kolossalen Wolken rasen über den schwarzen Himmel und der Regen beginnt zufallen.“ Wieder hält er inne.
Ich sage: „Das ist doch gut für die Menschen, nicht wahr?“
Mein Großvater wiegt den Kopf:
„Du musst wissen, dass der Gelbe Drache wie ein Kind ist. Er liebt es, Fangen zu spielen. Die Wolken lieben den Gelben Drachen, und so amüsieren sie sich miteinander. Nie wird er müde- und uns arme Menschen vergisst er dabei. Solange er weitermacht, wird es regnen. Wir haben jetzt nur noch eine einzige Hoffnung.“
Ohne mich anzuschauen, macht er wieder eine Pause.
Rasch sage ich: „Sag, Yeye, was können wir tun?“
„Wir, wir kümmerliche kleine Menschen?“ Yeye schüttelt betrübt den Kopf, blickt aus dem Fenster in den Regen und seufzt.
„Wir können gar nichts unternehmen. Unsere einzige Hoffnung ist der Rote Drache. Er hat die größte magische Macht, denn er ist der Herrscher aller Drachen. Der Gelbe Drache muss sich ihm beugen. Normalerweise hätte der Rote Drache ihm längst Einhalt gebieten müssen. Sicher ist er anderweitig beschäftigt.“
Yeye blickt traurig aus dem Fenster. Meine Großmutter, Nainai, kommt herein und bringt Großvater einen Tee. Ihre winzige Teekanne ist nur so groß wie ihre Hand und hat die Form eines Kürbisses.
Die Eingangstür wird aufgerissen. Mein Vater, Baba, tritt ins Haus. Das Wasser tropft von seinem gelben Regenmantel auf den Boden und bildet eine Pfütze. Doch er kümmert sich gar nicht darum.
„Schnell, schnell, packt die wichtigsten Sachen in Koffer! Wir müssen alle ins Gemeindehaus auf dem Hügel. Mama wartet dort schon auf uns. Das Hochwasser hat die Stadt erreicht!“
Eine eiskalte Hand drückt meinen Bauch zusammen.
„Baba, wird unser Haus überflutet?“
Er legt mir eine nasse Hand auf die Schulter.
„Sehr wahrscheinlich ja.“
Was wird aus meinem größten Schatz? „Baba, ich will mein Fahrrad mitnehmen!“, jammere ich.
„Long, das geht nicht, es nimmt zu viel Platz weg. “Meine Großeltern sagen nichts, aber ich sehe, wie eine Träne Nainais Backe hinunterrollt. Sie geht zum Schrank und nimmt ihren Jadeschmuck heraus. Dann geht sie in ihr Zimmer um zu packen. Sie hat Glück, ihre liebsten Schätze sind winzig.
„Papa, ich kann mein Fahrrad nicht hier lassen! Es wird kaputt gehen!“
„Long, es tut mir leid, wir haben dafür jetzt keine Zeit. Das Wasser steigt, wir müssen hier weg!“
Er verlässt den Raum und ich höre, wie er in unserem Zimmer rumort.
Mein Yeye spürt meine Unruhe. Tröstend tätschelt er mir den Kopf. „Alles wird gut, der Rote Drache wird uns helfen, warte nur ab.“
„Ach, Yeye“, denke ich mir. „Wer außer dir glaubt noch an Drachen?“ Aber ich sage es nicht laut, sondern beiße mir auf die Lippen, um nicht zu weinen.
Mein Baba stellt einen kleinen Koffer in den Flur: „Long, zieh deinen Regenmantel an und komm!“
Mein Hals wird ganz eng. Beim Hinausgehen streiche ich über den weichen schwarzen Sattel meines Fahrrades. Jetzt lasse ich meinen Tränen freien Lauf. Weil es so heftig regnet, vermischen sie sich mit dem Regen und keiner sieht sie. Baba geht voraus, meine Großeltern folgen ihm. Ich trödele hinterher. Mein Baba mahnt: „Long, beeil dich, Mama wartet auf uns, sie wird sich Sorgen machen!“
Ich blicke mich nochmals nach unserem Haus um. Das schmutzige Wasser ist nur wenige Meter davon entfernt.
In den engen Gassen unseres Dorfes wimmelt es von Menschen. Alle unsere Nachbarn steigen ebenfalls den Hang zum Gemeindehaus hinauf. Einige tragen mehrere Koffer oder sogar ihre Hühner. Ich sage mir, wenn die das dürfen, dann habe ich ja wohl das Recht, mein Fahrrad mitzunehmen.
Ohne dass Baba oder meine Großeltern es merken, drehe ich wieder um. Ich komme nur langsam gegen die mir entgegenkommenden Menschenmassen an. Die Leute schimpfen, wenn ich sie anremple. Endlich erreiche ich wieder unser Haus. Das Wasser steht mir schon bis zu den Knien. Es ist sehr schwer, die Tür zu öffnen. Ich drücke und presse, endlich gibt sie nach. Mein Fahrrad treibt mitten im Flur. Ich greife danach, aber ich kann es nicht bewegen, weil der Lenker zwischen Schrank und Mauer eingeklemmt ist. Ich reiße mit all meinen Kräften.
„Bitte, bitte komm!“, murmele ich. Endlich kann ich es herausziehen. Als ich aus dem Haus komme, erreicht das Wasser schon meine Hüfte. Es ist fast unmöglich, das Fahrrad zu schieben.
Ich habe noch keine zehn Schritte gemacht, da stolpere ich und falle in dieses dreckige Wasser. Ich stoße mir den Kopf an – alles wird schwarz. Als ich die Augen wieder aufmache, bin ich in einem dunklen See. Ab und zu taucht aus der Schwärze ein Möbelstück auf, das die Flut aus den Häusern gestohlen hat. Um mich herum tanzen Stühle und Töpfe ein langsames und elegantes Ballett. Aber wo ist nur mein Fahrrad hingekommen? Ich drehe mich im Wasser um mich selbst und da sehe ich, wie es gerade außer Reichweite dümpelt. Mein Herz macht einen Sprung vor Freude. Ich versuche,
in seine Richtung zu schwimmen, aber es treibt gemächlich von mir weg. Während ich mich mühe es zu erreichen, dröhnt eine dunkle Stimme:
„Kleiner Bruder, was machst du denn hier? Meine Güte, ich kann doch nicht überall gleichzeitig sein!“
Unwillig wende ich mich von meinem Fahrrad ab und drehe mich um, um zu sehen, wer mich anspricht. Als ich begreife, wer es ist, glaube ich, vor Schreck sterben zu müssen. Meine Augen springen mir fast aus dem Kopf.
Das riesige Wesen hat den Kopf, die Ohren und die Mähne eines Wasserbüffels. Das Geweih ist das eines Hirschen. Seine Schnauze und seine Zähne sind die eines Tigers, seine Augen die eines Dämons. Sein enormer Körper ist der einer Schlange und seine Pfoten die eines Löwen, aber mit
den Krallen eines Adlers. Sein Körper ist mit Karpfenschuppen bedeckt, doch in einem leuchtenden Rot. Er hält eine Feuerperle in seinen Krallen. Mein Yeye hat ihn mir so oft beschrieben.
Der Rote Drache.
Ich schlucke.

Impressum

Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Bildmaterialien: Art & Words Verlag für Kunst und Literatur
Lektorat: Peter Hellinger, Ch. B. und B. G.
Tag der Veröffentlichung: 22.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Leseprobe. Die ganze Geschichte ist gerade in der Anthologie "Wenn die Grimms das wüssten" bei Art & Words erschienen

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