26.04.
Ich fühle mich so müde, so erschöpft. Es ist genug. Vielleicht sollten wir uns trennen. Ihr Körper ist da, aber ich kann sie nicht mehr erreichen. Sie zieht sich immer weiter von mir zurück.
Jeden Morgen steht sie um halb fünf auf und geht genau eine Stunde joggen. Tess wartet schon an der Haustür auf sie. Immer umrundet sie erst das Gemündener Maar und von dort läuft sie weiter zum Totenmaar.
28.04.
Abends steht ein Strauß Rosen auf dem gedeckten Tisch, dunkelrote, langstielige Biester. Als ich sie frage, woher sie kommen, lächelt sie. „Jemand hat ihn mir in den Laden geschickt.“
Mir fällt die Kinnlade runter: “Irgendwer schenkt dir Blumen und du nimmst sie an?“
Sie sieht mich nicht an: „Es gab keine Karte, ich dachte, sie wären von dir.“
„Aber“, entgegne ich, „heute ist doch kein besonderer Tag, das ist ein verdammt teurer Strauß.“ Nun fixiert sie mich, ich verstumme, als ich das Glimmen in ihren Augen sehe. Den ganzen Abend wandert mein Blick immer wieder zu dem Strauß. Er klagt mich an, Beweis meiner Lieblosigkeit und meines Geizes. In der Nacht liegen wir nebeneinander im Bett und ich streichle ihr über den Bauch. Sie wird ganz steif.
Ich flüstere: „Was soll ich denn noch tun?“
Sie dreht mir den Rücken zu und sagt so leise, dass ich sie fast nicht verstehe: „Verzeihen ist so schwer.“
Noch lange lausche ich ihrem Atem, weiß, auch sie ist noch wach.
29.04.
Früher hat sie sich nicht viel aus Sport gemacht, aber seit der Geschichte vor drei Jahren ist nichts mehr wie vorher. Sie konnte nicht mehr schlafen, erst ging sie spazieren, dann begann sie zu joggen. Ihr Körper veränderte sich. Sie wurde sehnig und muskulös. Meine Kumpel haben mich beglückwünscht. „Sie sieht mit vierzig besser aus als mit dreißig.“ Sie aß fast nichts mehr, trug nur noch Miniröcke, schminkte sich. War nicht mehr sie selbst.
Ich mag es nicht, wenn sie allein im Dunkeln läuft. Man weiß nie. Wir wohnen zwar in einem kleinen Kaff, aber Bekloppte gibt es überall. Sie zuckt nur mit der linken Schulter und läuft trotzdem.
Deshalb schenkte ich ihr vor zwei Jahren einen Border Collie, Tess. Sie freute sich sehr, aber ihr Kuss war wie immer seit drei Jahren, mit angezogener Handbremse. Wir hatten eine kurze Phase, in der alles fast wieder normal wurde, vor ungefähr einem Jahr. Aber die war nicht von Dauer.
01.05.
Ich warte auf sie. Als sie zum Frühstück immer noch nicht da ist, beginnt mein Herz zu klopfen. Sie ist sonst so pünktlich. Auch Mia und Klara werden unruhig. Um halb acht rufe ich die Polizei an. Sie halten meine Sorge für übertrieben.
Meine Töchter weinen, wollen nicht in die Schule. Erst als ich sage, dass ich Mama suchen will, geben sie nach. Ich rufe unsere Nachbarn Franz und Linda an. Sie versprechen, so viele Leute wie möglich zu verständigen. Linda schlägt vor, mit Freundinnen die Wege um das Gemündener Maar abzusuchen. Ich fahre zum Totenmaar. Der runde See sieht friedlich und glatt aus, wie er in der Morgensonne daliegt. Ich rufe nach ihr und nach Tess. Ein paar Spaziergänger mustern mich verwundert. Ich beschreibe sie und den Hund. Sie haben sie nicht gesehen. Lindas Suchtrupp findet auch nichts. Mein Handy klingelt, als ich zu meinem Wagen zurückgehe. Die Polizei aus Daun will wissen, ob sie nicht verreist sein könnte. „Haben Sie nachgesehen, ob Kleider fehlen?“
Ich gifte: „Und was ist mit den Kindern? Die lässt sie da, aber den Hund nimmt sie mit?“ Der Beamte schweigt.
Ich rufe im Büro an und sage, dass ich heute nicht kommen kann.
„Verzeihen ist so schwer.“ Der Satz hat sich in meinem Kopf verhakt.
Ich finde Claudias Lieblingsrock und ihren Pulli nicht, ebenso wenig wie den Spitzen- BH und den passenden String. Auch ein Paar hochhakige Schuhe fehlen. Ich öffne alle Schubladen, schaue unter die Betten, eine kleine Reisetasche ist ebenfalls weg. Und natürlich ihre Joggingklamotten. Die Polizisten raten mir abzuwarten. Ich weiß, was sie denken.
Später rufe ich im Buchladen an und erzähle von Claudias Verschwinden. Ihre Kollegin schluckt hörbar. Ich frage nach den Rosen. Sie haucht: „Claudia sah so glücklich aus, als sie die Karte las.“
02.05.
Tess wird von Spaziergängern gefunden. Sie ist mit einer Kette an einen Baum in der Nähe der Burg Dollenstein festgemacht. Sie ist vollkommen dehydriert und erschöpft, hat aber sonst keine Verletzungen. Der Burgturm wird im Volksmund der Finger Gottes genannt. Die Polizei sucht daraufhin die Gegend um die Maare endlich mit Hunden ab. Sie finden einen Joggingschuh im Gebüsch. Claudias Schuh.
03.05.
Ich fahre um halb fünf ans Gemündener Maar. Finde mich selbst absurd. Ein Jogger kommt mir bekannt vor.
Meine Schwiegereltern kommen, um auf die Mädels aufzupassen. Als meine Schwiegermutter mit Claudias Auto zum Einkaufen fahren will, findet sie die Reisetasche im Kofferraum. Claudias Handtasche ist auch da, aber die EC-Karte fehlt. Ich lasse die Karte sperren.
05.05.
Die Bank ruft mich an und teilt mir eine Abhebung in Köln am Tag von Claudias Verschwinden mit. Ich werde zu einer Befragung bei der Polizei „gebeten“. Die Fragen wandern schnell zu meinem Verhältnis von vor drei Jahren. Wer hat ihnen davon erzählt? Habe ich Claudia oft betrogen? Hatte Claudia ebenfalls einen Geliebten? Sie wissen von dem Rosenstrauß, aber sie haben die Karte nicht gefunden. Sie glauben, Claudia sei durchgebrannt, das fühle ich. Die wieder gefundene Reisetasche überzeugt sie nicht vom Gegenteil.
Zuhause durchwühle ich das ganze Haus. Sogar die Gefriertruhe. Keine toten Babys, aber eine Tupperschüssel mit vergilbten Liebesbriefen. Ihre erste Liebe, Mark. Ich google Mark. Er hat ein Facebook Account- und er ist Claudias „Freund“. Ich wusste nicht einmal, dass sie auf Facebook war. Der Postbote klingelt wie immer, um die Post abzugeben und fragt, ob man Claudia schon gefunden hat.
06.05.
Die Polizei macht eine Hausdurchsuchung. Auch sie finden die alten Liebesbriefe, die ich wieder in die Kühltruhe zurückgestellt habe. Und Blutspuren im Bad. Meine Erklärung von der Kopfwunde meiner Tochter wird mit Misstrauen aufgenommen. Ich bin in ihren Augen der Täter, nicht ein Opfer.
07.05.
Obwohl sie das Blut unserer Tochter zugeordnet haben, werde ich verhaftet. Die Polizei hat Claudias Internetkorrespondenz mit Mark gefunden. Sie verhören ihn. Er sagt, sie waren ein Paar. Wo haben sie sich getroffen? Und wann?
08.05.
Ich nehme einen Anwalt. Von ihm erfahre ich, dass meine Schwiegereltern die Mädchen und den Hund mit zu sich nach Hessen
genommen haben.
09.05.
Claudias Leiche wird von Polizeitauchern im Totenmaar gefunden. Als mein Anwalt es mir sagt, rutscht mir heraus: „Wie passend.“ Ich lache, bis ich einen Weinkrampf bekomme. Mein Anwalt legt sein Mandat nieder.
„Es ist so schwer zu verzeihen.“ Ich bin wütend auf Claudia. Ich liege auf meiner Pritsche. Sie ist weg. Kann ich um sie trauern, wenn sie mich nicht mehr liebte? Ich vermisse sie.
01.06.
Mein Arbeitgeber hat mir gekündigt. Ich bekomme keine Besuche. Die Kinder darf ich nicht anrufen. Die Polizei glaubt meine Unschuldsbehauptungen nicht. Ich habe einen neuen Anwalt.
04.06.
Ich reiße mein Laken in Streifen und knüpfe mir ein Seil. Kurz bevor ich fertig bin, entdeckt mich ein Beamter. Ich werde auf eine Beobachtungsstation verlegt.
15.06.
Man klagt mich auch eines zweiten und dritten Mordes an. Es handelt sich ebenfalls um Joggerinnen, die in den vergangenen Jahren in der Gegend um Köln verschwunden sind. Als ich dort häufig geschäftlich zu tun hatte. Wie Claudia hatten sie lange dunkelbraune Haare. Mir ist alles egal. Sie pumpen mich mit kleinen bunten Pillen voll.
01.07.
Eine Joggerin und ihr Hund verschwinden, als sie am frühen Morgen bei Schuld im Wald joggt.
05.07.
Unser Postbote wird verhaftet. Augenzeugen haben beobachtet, wie er mit einer Schaufel aus dem Waldstück bei Schuld kam. Bei einer Hausdurchsuchung findet man Claudias EC Karte bei ihm. Er gesteht alle Joggerinnen-Morde. Und noch zwei weitere.
16.07.
Man entlässt mich. Meine Nachbarn wechseln die Straßenseite, als ich nach Hause komme. Meine Kinder wollen bei ihren Großeltern bleiben. Mein Arbeitgeber weigert sich, mich wieder einzustellen. Unser Haus wird in zwei Wochen zwangsversteigert.
17.07. 06.30
Ich verlasse mein Haus mit einem einzigen Koffer, werfe den Schlüssel bei den Nachbarn in den Briefkasten, setze mich in mein Auto und fahre los.
Ich bin weg.
Texte: Anne Reinéry
Bildmaterialien: Anne Reinéry
Tag der Veröffentlichung: 16.02.2012
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