1.
Eines der wichtigsten Signale für Gefahr ist Angst. Sie mobilisiert alle Reserven. Du kannst Angst fühlen. Dein Körper ist starr, aber Dein Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Angst sitzt hinter Deinem Kehlkopf. Dehnt sich wie ein Ball beim Aufpumpen. Blockiert Deine Kehle. Du atmest in immer kürzeren Abständen immer weniger Luft ein. Nun wandert die Angst in den Mund und die Nase. Sie ist wie die eiskalte Luft an einem Dezembermorgen. Klar und schneidend.
Ihre kleine Schwester ist das Herzrasen. Du-dumm, du-dumm wird zu dumdumdumdum. Hier ist Deine letzte Chance, die Angst noch unter Kontrolle zu bekommen und sie für Dich zu nutzen. Wenn Du jetzt ruhig atmest, wird auch Dein Herz seinen Tanz verlangsamen. Wenn nicht… dann ist jetzt Dein Bauch dran. Er zieht sich zusammen. In einer einzigen raschen Krampfbewegung, vom Magen bis zu den Därmen. Würdest du Dir jetzt an den Bauch fassen, er wäre bretthart.
Du bekommst schweißnasse Hände. Die Gedanken in Deinem Kopf rasen sinnlos hin und her, wie vom Wolf gejagte Schafe. Sie stolpern und überschlagen sich. Kommt es soweit, hast du im Allgemeinen Deine Chance verpasst. Nun verabschiedet sich die Angst, sie hat ihr Ziel verfehlt.
Schade für Dich. Angst übergibt an ihre Stiefschwester, die Panik. Warst Du bisher starr, kannst Du nun nicht mehr still sitzen. War Dir eben noch kalt, so wird Dir plötzlich heiß. Das Blut pulst in Deinen Kopf, rötet Deine Wangen. Hier noch einmal den Ablauf umzukehren, ist fast unmöglich. Du bist verloren. Die Panik bläst Dich vor sich her wie ein Blatt im Wind…
2.
Er sitzt auf der Bank. Unbeweglich. Er ist der Meister. Ihre Furcht seine Waffe. Er tut nichts. Er mustert sie nur. Sie reagiert wie immer, beginnt sich unter seinen Blicken zu winden. Muss wegsehen. Will sich unsichtbar machen. Fünf Jahre wie weggeblasen.
Dabei fing es so gut an. Die Sonne schien dort jeden Tag, der Himmel war von einem Blau, von dem man in Deutschland nur träumt. Die Schönheit der Kykladen tat ihr beinahe weh. Ein Paradies. In all das und in ihn hatte sie sich verliebt.
Den jungen Griechen blieb die blonde Deutsche nicht verborgen. Mascha wurde angesprochen, errötete über die Komplimente.
Stavros erinnerte sie an ihren Bruder. Auch er war schmal und langgliedrig, seine Augen waren ebenso groß wie die ihres Bruders, aber dunkle Seen.
Wenn sie mit ihm redete, wendete er nie den Blick von ihr. Nur sie schien für ihn zu existieren. Sie spiegelte sich im schmeichelhaften Bild seiner Augen. Stavros und sie suchten langsam die Worte auf Englisch um miteinander zu reden. Die Lücken der fehlenden Wörter füllten sie erst mit Lächeln, dann nur noch mit Blicken, bis sich Stavros eines Tages vorbeugte und sie küsste. Ein zarter Kuss, der sich auf ihre Wange setzte. Der Kuss war eine Frage.
Sie war anfangs so glücklich mit ihm gewesen. Hatte geglaubt, doch eine Chance zu bekommen. Hatte keine Chance verdient, aber darauf gehofft. Einige Zeit hatte sie nur noch selten an ihren kleinen Bruder und jenen goldenen Herbsttag gedacht. Die gleißende Sonne von Amorgos ließ diesen Tag immer blasser und durchsichtiger werden. Doch in dem Maße wie ihr Glück sich verflüchtigte, kehrte auch die Erinnerung an ihren Bruder zurück.
Stavros hat immer alles anders als die anderen gemacht. Viele der jungen Griechen hatten etwas mit einer Touristin, aber nur er hat eine von ihnen geheiratet, einen blonden Engel aus der fremden Welt. Bei ihrer Hochzeit regnete es. Das bedeutete Unglück. Die Alten hatten wissend genickt.
Es begann schleichend. Erst einmal im Jahr, dann alle paar Monate, dann oft, viel zu oft. Erst hielt sie es für Ausrutscher. Sie verzieh ihm. Er entschuldigte sich unter Tränen bei ihr. Küsste sie auf die blauen Flecken. War zärtlich. Sie hatte ein Bild von ihm, das sie so sehr liebte, sie wollte nicht davon lassen. Versuchte perfekt zu sein. Aber sie war anders. Sie verhielt sich nicht wie eine griechische Frau. Erst hatte er das gemocht. Sie kaschierte die Spuren. Es war nicht schwer. Keiner wollte etwas sehen. Sie war die Fremde. Ihn kannten sie schon immer. So war das in einem griechischen Dorf.
Sie veränderten sich, wuchsen beide in ihre Rollen hinein. So sehr sie sich auch anstrengte, keine Fehler zu machen, seine Erwartungen zu erfüllen, sie schaffte es nie. Es war ein Spiel, das sie nicht gewinnen konnte. Denn er machte die Regeln. Gleichzeitig war er Schiedsrichter. Das Spiel hatte eine Hauptregel: Es galten seine Regeln. Diese waren nie gleich. Das Ende des Spiels war hingegen bekannt und variierte nie. Der Verlierer erhielt seine Strafe. Die Rollen wechselten nie. Immer war sie die Verliererin. Sie wusste, sie hatte nichts Besseres verdient.
Er zelebrierte seine Strafen. Zuerst erklärte er ihr, welche Regel sie diesmal verletzt hatte. Dann welche Strafe darauf stand. Er war erfinderisch, sehr erfinderisch. Niemals dieselbe Strafe zweimal. Immer gleich, wie er ihr zuerst schilderte, welche Strafen sie im Einzelnen zu erdulden hatte. Sie begann den Schmerz zu fürchten.
Schmerz war weitaus wirkungsvoller, wenn die Erinnerung an erlittenen Schmerz in den Nervenzellen fest verankert wurde. Die Synapsen feuerten ihre Botenstoffe schon in die Blutbahn, wenn sie sich erinnerte. So währte der Schmerz ewig, auch wenn die körperlichen Blessuren längst verheilt waren.
Ihre Angst, wenn er sie nachts mit leiser Stimme ins Wohnzimmer rief! Erst hatten sie im Dorf gewohnt, wo gekalkter Würfel an gekalkten Würfel grenzte. Auch innen waren die Häuser weiß. Rotes Blut auf weißem Boden. Die Nachbarn hatten begonnen, Stavros Fragen zu stellen. Deshalb zogen sie um in die Mühle über dem Dorf. Dort hörte keiner aus dem Dorf ihre Schreie. Die Aussicht war wunderschön. Die Lage sehr einsam.
Zu Beginn war sie sein Lamm gewesen. „Mein weißes Lamm.“ Ein geläufiger, zärtlicher Kosename. Doch der Ton hatte gewechselt. Die Betonung lag nicht mehr auf „Lamm“, sondern auf „mein“. Er nannte sie immer seltener „mein Lamm“. Aber täglich sagte er ihr, dass sie ihm gehöre, ihm allein.
Wenn sie einmal pro Woche ihren Vater anrief, stand er daneben. nach drei, vier Minuten legte er ihr die Hand auf die Schulter. Erst sanft. Durch den wachsenden Druck seiner starken Hand konnte sie ahnen, was sie erwartete, wenn sie das Falsche erzählte.
Zunächst versuchte sie die Telefonate zu verlängern. Hoffte ihr Vater würde hören, was sie nicht aussprach. Doch darin war er noch nie gut gewesen. Und später wurden ihr die wenigen Minuten manchmal selbst lang. Es wurde immer schwerer, ihr nicht vorhandenes Glück am Telefon zu beschreiben. Ihre ganze Fantasie war von den Nächten im Wohnzimmer erfüllt.
3.
Der Tag, der ihr Leben entscheidend verändert hatte, war ein sonniger Septembernachmittag. Sie war neun Jahre alt und lebte in einem kleinen Dorf in der Nähe von Heidelberg. Ihre beste Freundin Anna, ihr fünfjähriger Bruder Oskar und sie selbst spielten im Garten ihres Elternhauses, das direkt an einem Wäldchen lag.
Ihre Mutter hatte vor kurzem das Studium der Kunstgeschichte aufgenommen. Bald begann das Wintersemester, sie saß über ihren Büchern. Mascha musste auf ihren Bruder aufpassen. Ihre Freundin Anna durfte zum Spielen kommen, aber nur unter dieser Auflage.
Der kleine Bruder störte am wenigsten bei einem Rollenspiel. Sie spielten Eltern und Kind. In Puppentöpfen garten schwarze Beeren. Von einem Strauch gepflückt, der am Waldrand wuchs. Obwohl die Mutter es ihnen ausdrücklich untersagt hatte. Sie, die sonst immer Folgsame, entdeckte für sich die Rebellion. Mascha fühlte sich oft von ihrer Mutter zurückgesetzt. Sie wusste, sie nahm einen geringeren Platz als ihr Bruder in deren Herzen ein.
Schlimme Bauchschmerzen sollte man bekommen, wenn man von den Beeren aß. Die Mutter hatte weder das Wort „giftig“ benutzt noch hatte sie erklärt, dass man vom Genuss der Beeren sterben könne.
Mascha fand Wege, um ihren kleinen Bruder möglichst wenig am Spiel zu beteiligen. Schließlich weinte er in der Hoffnung, dass Mutter ihn hörte, so laut er konnte.
Mascha war es leid, immer nachzugeben. Sie sagte zu ihm: „Dann spiel’ allein, Du Heulsuse.“
Es war ein banaler Satz. Doch für sie wurde er zum Mahnmal ihrer Schuld.
Denn ihre Freundin an der Hand nehmend, tat sie etwas, was sie zuvor noch nie gewagt hatte: Sie meuterte gegen die mütterliche Anordnung und verließ verbotenerweise den elterlichen Garten. Kichernd rannten sie zum Haus ihrer Freundin, wo kein kleiner Bruder störte. Mascha mit einer köstlichen Gefühls-Mischung im Bauch: große Angst vor der sicheren Standpauke und Strafe, die sie am Abend erwarten würden und dem erhabenen Empfinden, ihr eigener Herr zu sein. Ihr kleiner Bruder blieb verlassen im Garten zurück.
Später dachte sie viel darüber nach, was ihr kleiner Bruder alleine gemacht hatte. Er wusste, dass die Mutter sehr ungehalten wurde, wenn er sie beim Lernen störte. Vermutlich fühlte er eine drohende Welle der Langeweile auf sich zu rollen. Denn er war es nicht gewohnt, sich mit sich selbst zu beschäftigen.
Maschas Lieblingspuppe war im Puppenwagen auf der Terrasse liegen geblieben. Als sie weglief, war sie noch heil. Am Abend entdeckte sie, dass der linke Arm der Puppe zersplittert war.
Er war kein schlechter Kerl, ihr kleiner verwöhnter Bruder. Sicher war er über seine Tat erschrocken. Hatte die Puppe gegen seinen Oberkörper gepresst, wie er es bei ihr gesehen hatte, wenn sie sie tröstete. Langsam wiegte er sie hin und her.
Dabei stieß er wahrscheinlich den Puppentopf mit den Tollkirschen um. Am Abend wurden die Früchte von Polizeibeamten auf der Terrasse entdeckt, als sie den Tathergang rekonstruierten.
Als ihr Bruder die kirschgroßen Früchte einzusammeln begann, mochte ihm das Verbot der Mutter eingefallen sein. Und genau deshalb steckte er sich erst eine, dann immer weitere Früchte in den Mund. Wenn er nachher über Bauchschmerzen klagte, würde ihn die Mutter sicher nicht wegen Maschas kaputter Puppe schimpfen.
Bei den schwarzen kirschähnlichen Früchten handelte es sich um Tollkirschen. Sie enthalten Atropin. Die tödliche Dosis für Kinder wird oft schon durch die Aufnahme von drei oder vier Früchten erreicht.
Die Früchte schmeckten gut, aber schon bald fingen Mund und Hals zu brennen an.
Auf dem Küchentisch stand ein bereits von der Mutter vorbereiteter Imbiss. Kekse und Milch. Am Abend waren die Gläser ausgetrunken und die Kekse gegessen. Es musste der kleine Bruder gewesen sein.
Die Milch war eine wunderbare Grundlage für die Beeren. Der kleine Junge würde sich nicht übergeben. Die gesamte Giftmenge würde in seinem Körper bleiben.
Bald wurde ihm schwindelig, alles drehte sich.
Ihr kleiner Bruder liebte die Erzählungen von Rittern und Drachen. Er glaubte an eine magische Märchenwelt. Hatte er unter dem Einfluss der Droge gedacht, selbst ein Drache zu sein? Vielleicht meinte er, er könne fliegen. Denn er war nun selbst ein Drache. Seine Kehle brannte, weil er zuviel Feuer gespuckt hatte. Seine Pupillen waren stark vergrößert und er sah nur noch verschwommen, aber das lag an seinen Drachenaugen. Sie sahen verborgene Dinge. Schätze. Im Wald waren gewiss Schätze vergraben.
Halb stolpernd, halb rennend erreichte er den Gartenzaun. Das Tor zum Wald war nie abgeschlossen. Er öffnete es, und lief in den Wald.
Es dauerte noch fast eine dreiviertel Stunde, bis Maschas in ihre Bücher versunkene Mutter darauf reagierte, dass aus dem Garten keine Kinderstimmen mehr zu ihr herauf drangen. Sie rief Annas Mutter an. Diese bestätigte ihr, dass die beiden Mädchen bei ihr waren. Nicht aber der Bruder. Zunächst telefonierte die Mutter mit mehreren Nachbarn, niemand hatte ihren Sohn gesehen.
Dann rief sie die Polizei an, schilderte das Verschwinden ihres Kindes. Ihre Sorge, dass er Tollkirschen gegessen hatte. Der Beamte versprach, eine Suchmannschaft in den Wald zu schicken.
Mascha war inzwischen nach Hause gerannt. Bilder von ihrem kleinen Bruder, wie er weinend durch den Wald irrte, trieben sie an. Sie versuchte im Laufen zu beten. „Lieber Gott, bitte bitte mach…“, weiter kam sie nie. Vorsichtig steckte sie den Schlüssel von außen ins Schloss. Wenn sie die Tür öffnete, ohne dass sie knarrte, würde ihr Bruder heil nach hause kommen. Sie würde ihn nie mehr ärgern und sie würden glücklich bis an ihr Lebensende leben.
Ihre Mutter wartete schon hinter der knarrenden Tür auf sie. Mascha kannte Oskars Verstecke- die Mutter nicht. Sie eilten zusammen in den Wald. Wenn Mascha ihn fand, bevor sie bis tausend gezählt hatte, dann würde alles gut.
Sie hatte schon mehrmals bis tausend gezählt, als es dunkel wurde. Irgendwann trafen sie die Beamten, die nach Oskar suchten. Sie kamen zu einer Lichtung. Hier hatten sie schon Drache und Prinzessin gespielt.
Unter einem Strauch lag ihr lebloser kleiner Drache. Sie durfte nicht zu ihm. Sie zogen sie weg und fuhren sie nach Hause.
Wer war letztlich schuld an seinem Tod?
Darauf hatte jeder im Dorf eine andere Antwort.
(...)
Texte: Anne Reinéry
Bildmaterialien: Marion Widua
Tag der Veröffentlichung: 30.11.2009
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