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Die dunklen Winterabende brechen immer früher über die Nachmittage herein. Draußen ist alles grau, die Luft, das Licht, die Häuser. Auf der Straße vor unseren Fenstern stoßstangendrängeln die Autofahrer am Feierabend nach Hause.
Draußen ist mit dunkelroten Samtgardinen ausgesperrt. Drinnen werfen die hölzernen Stehlampen mit den rosaverblichenen Stoffschirmen ihr gelbrundes Licht auf den Boden. Malen lange Schatten an die Wände mit den vielen Gemälden.
Drinnen ist es stickig und sehr warm. Die Tanten frieren nicht gern. Sommers wie winters tragen sie kurzärmelige Nylonpullover über dunklen Nylonröcken. Die Beine ebenfalls in Nylonstrümpfen. Die dünne Kunststofffaser eine der seltenen Neuerungen, die sie ganzen Herzens angenommen haben. Doch wenig Wärme spendend. Deshalb drehen sie im Winter die Heizungen so weit auf, wie es geht.
Das Leben hat den Tanten nicht viel gelassen. Sie sind steinalte Schwestern und leben seit unzählbaren Jahren zusammen. Nanna ist verwitwet, Cilly ist geschieden. Die eine hat den einzigen Sohn im Krieg verloren, die andere hatte nie Kinder.
Nach Bruno, dem toten Sohn, darf ich nicht fragen. Denn Nannas Schmerz ist auch nach so vielen Jahren noch grenzenlos. Ich bin ein weiteres in einer langen Reihe von Ziehkindern, an das die im Übermaß vorhandene Liebe mangels eigener Kinder und Enkel ausgeschüttet wird.
Hier ändert sich nichts. Beruhigend vertraute Gleichheit. Die Möbel bleiben immer am selben Ort, kein Bild wird umgehängt.
Die Tanten fallen nie aus ihrer Rolle. Alles hat seine Zeit, jede Tante ihre Zuständigkeit. Nanna ist die Verbindung mit der Welt draußen. Sie erledigt alle Einkäufe, bringt Notwendiges und Neuigkeiten mit nach Haus.
Cilly ist fürs Kochen zuständig. Ich bin ihr Assistent. Im Sommer blubbert immer Marmelade im riesigen Alutopf, vor Weihnachten backen wir Plätzchen. Am Wochenende und zu Geburtstagen backen wir Kuchen.
Immer streiten sich Cilly und Nanna, aber dieses gleichmäßige Zanken gehört zu ihnen wie der Duft nach Kölnisch Wasser.
Es hat nichts Beunruhigendes.
Cilly liest. Die ganze Wohnung ist voller Bücher. Abends liest sie mir Gute-Nacht-Geschichten vor, bis ich schon längst eingeschlafen bin. Sie ist die Zauberin der Worte. Ihr Königreich umfasst Märchen und fremde Welten.
Abends spielen Cilly und ich in meinem Zimmer. Aber für uns ist es kein Zimmer. Es ist eine Dachkammer. In einem Schloss. Dem Schloss von Dornröschen. Die Hundert Jahre sind vorbei und der mutige Prinz hat sich durch die Hecke gekämpft. Unbeachtet von ihm liegen die schlafende Dienerschaft, der König und seine Frau.
Der Prinz sucht seinen Preis. Dornröschen.
Er wird sie küssen, sie wird erwachen, dann werden sie heiraten, bevor sie glücklich bis an ihr Lebensende leben werden. So einfach ist das bei der hochwohlgeborenen Märchengesellschaft. Keine Krankheiten, kein anderer Mann, keine andere Frau, keine Langeweile. Glück als Dauerzustand bis zum Tod. Dieser selbst im Fall der Märchenkönigspaare erstaunlicherweise nicht abgeschafft.

Cilly und ich sind die einzigen Akteure. Sie ist Dornröschen und ich bin der Prinz, Cilly-Dornröschen kennt ihre Rolle genau. Sie liegt regungslos auf dem Sofa und schläft.
Nun nahe ich als Prinz, gekommen von weit, weit her, um meinen lebensspendenden Kuss zugeben.
Kaum habe ich Cilly-Dornröschen geküsst, schlägt sie ihre braunen Augen auf und haucht lächelnd:
„Mein Prinz!“
Wir spielen Der-Prinz-küsst-Dornröschen-wach wieder und wieder. Nur diesen Teil der Geschichte. Nicht den Auftritt der Feen. Zu viele Darsteller. Nicht das Stechen mit der Spindel. Uninteressant. Nicht die Hochzeit. Die wird ja nicht einmal im Märchen erzählt. Der Auftritt des Prinzen hat es uns angetan. Der Beginn des Zustandes des Dauerglücks.
Cilly ist nie in Eile. Dabei sollte ihre Zeit kostbar sein, sie ist doch so alt. Abends weine ich mich oft in den Schlaf. Aus Angst, die Tanten, diese uralten Schwestern, könnten sich in der Nacht heimlich in ihren längst überfälligen Tod davonschleichen.
Cilly geizt nicht mit ihrer keiner-weiß-wie-geringen- Restlebenszeit, nein, sie verschwendet sie.
Immer hat sie Zeit, die Spiele mit ihr sind endlos.
Cilly ist alt. Dornröschen ist eine junge schöne Frau.
Ich bin ein Mädchen. Der Prinz ist ein Mann.
Wieder und wieder. Dornröschen entdecken, Kuss, Dornröschen schlägt die Augen auf.

Glück beginnt.

Impressum

Bildmaterialien: einer der Drucke Cillys...
Tag der Veröffentlichung: 23.11.2009

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