Neapel
Donnerstag, 18. Juli 1647
„Man hätte den Fischer liegen lassen sollen, wo der Pöbel ihn verscharrt hat.“ Der Sekretär des spanischen Vizekönigs zog die Mundwinkel verächtlich nach unten. Er warf einen letzten Blick auf den Trauerzug, der den Platz vor dem Schloss überquerte. Ein Dutzend Männer mit phrygischen Mützen führten die düstere Menge an, als wollten sie alle daran erinnern, dass Masaniello einer der ihren gewesen war. Die Rufe der Menschen auf dem Largo di Palazzo kamen nur gedämpft an – aber immer noch deutlich genug: „Viva il Re di Spagna; mora il malgoverno.“
Der Sekretär zog die schweren Vorhänge zu und hüllte den Raum in Dämmerlicht. Eine Öllampe ließ Herzog de Arcos, Vizekönig Seiner Katholischen Majestät in Neapel, das nötige Licht zum Schreiben. Sein Besucher dagegen, der Erzbischof von Neapel, wurde zu einem Schemen im Hintergrund des Arbeitszimmers.
„So lange sie ihrem König treu sind, mögen sie schreien.“ Rodrigo de Arcos steckte unbeeindruckt die Feder ins Tintenfass zurück und streute Sand über das Dokument, das er gerade unterzeichnet hatte.
„Ich teile Eure Meinung nicht, Don Rodrigo.“ Ascanio Filomarino ließ den Rosenkranz in den Falten seines Kardinalsrocks verschwinden und erhob sich. „Mit Masaniello hat die Revolte zwar ihren Anführer verloren, aber nicht ihren Kopf.“
„Dafür tragt Ihr die Verantwortung, Monsignore.“ Filomarino hatte die Rolle des Mittlers zwischen den Aufständischen und dem Vizekönig inne gehabt; nun konnte de Arcos ihm das Ergebnis vorwerfen. „Der Trauerzug hat ihnen die Gelegenheit gegeben, sich zusammenzurotten.“
„Ihr habt auf die Privilegien geschworen, die der Rat Euch vorgelegt hatte.“ Filomarino trat an die Fensterfront und zog einen der Vorhänge wieder auf. Halb Neapel musste sich dort draußen in Reue über die Ermordung ihres Generalleutnants versammelt haben. Wer auch immer jetzt das Kommando übernahm, er würde keinen Frieden bringen. „Doch nun, da ihr die gabella wieder erhebt, fühlt sich das Volk betrogen.“
„Wir werden damit fertig werden. Sobald Seine Majestät Entsatz schickt. Bis dahin ...“ De Arcos zuckte die Achseln. „Der König hat mir einen Auftrag gegeben und ich werde ihn ausführen!“
„Macht Kompromisse, Don Rodrigo! Gebt den Menschen das Gefühl, dass Ihr ihre Nöte versteht.“
„Lassen wir die Gäste nicht länger warten.“
Der Sekretär holte ein in Seide geschlagenes Päckchen aus einer Schublade des Bücherschranks, bevor er die Tür öffnete und dann den beiden Männern folgte. Entlang des lichterfüllten Korridors, der zum Thronsaal führte, hielten an jeder Tür zwei Alabarderos des Tercio de Nápoles Wache. Die Soldaten zogen ihre federgeschmückten Hüte und salutierten; aber der Vizekönig winkte ab.
Wegen der sommerlichen Hitze standen die Fenster in der Galerie offen und wieder klangen die Stimmen der Neapolitaner zu ihnen. Einer der Alabarderos öffnete die Saaltür; Musik übertönte nun den Gesang des Trauerzugs und war gewiss auch auf der Straße zu hören.
„Macht die Fenster zu!“
Der Soldat gehorchte, aber schon blieben die ersten unter den erleuchteten Fenstern stehen und blickten hoch. Männer reckten ihre Fäuste; die Frauen stemmten die geballten Hände in die Hüften. „Es lebe der König von Spanien; Tod der Missregierung!“
Filomarino sah mit verkniffener Miene hinunter. „Ihr habt von Entsatz gesprochen.“
„Allein mit den Soldaten der Garnison können wir den Aufruhr nicht beenden.“
„Ihr hattet ihn schon beendet, Don Rodrigo! Das Volk war der Exzesse überdrüssig geworden.“
Der Hofmeister neben der Saaltür klopfte zwei Mal mit seinem Zeremonienstab; die Musik setzte aus. „Seine Exzellenz Rodrigo Ponce de Léon y Álvarez de Toledo, Herzog de Arcos, Markgraf de Zahara, Graf de Casares, Herr de Marchena, Vizegraf de Bailén und Herr de Villagarcia, Vizekönig Seiner Katholischen Majestät König Philipp IV. von Spanien.“ Er schnappte nach Luft. „Monsignore Ascanio Filomarino Della Torre, Erzbischof von Neapel.“
Der Vizekönig schritt das Spalier seiner Gäste ab und grüßte manche mit einem flüchtigen Nicken, andere mit ein paar Worten. Niemand aus dem Patriziat der Stadt Neapel hatte es gewagt, diesem Ball fernzubleiben. Unter den Adligen waren sogar mehrere Barone aus der Provinz.
Vor einem jungen Mädchen in fliederfarbenem Seidenkleid blieb de Arcos stehen. „Ihr werdet mit jedem Tag bezaubernder, Signorina.“ Er nickte den beiden Männern zu, die hinter ihr standen. „Ich freue mich, dass Ihr meiner Einladung gefolgt seid, Signor Scandore.“
„Es ist uns eine Ehre“, antwortete der Ältere.
„Ihr werdet bald zu uns gehören.“ De Arcos wandte sich wieder dem jungen Mädchen zu. „Mein Neffe hat Euch etwas schicken lassen.“
Sein Sekretär, der ihm mit einigen Schritten Abstand gefolgt war, überreichte Mirella Scandore das Päckchen.
Feine Röte stahl sich auf ihre Wangen. „Ich bin ... Er ist so großzügig.“
De Arcos wedelte ungeduldig mit der Hand. „Ach was; nur keine falsche Bescheidenheit. Das passt nicht zu Euch.“
Sie errötete noch mehr.
„Ihr habt Euch doch etwas dabei gedacht, als Ihr Euch von Felipe den Hof machen ließt.“
Aus nächster Nähe kam unterdrücktes Kichern; eine dunkelhaarige Frau hielt sich schnell ihren Fächer vors Gesicht.
Mirella krampfte die Finger um das Päckchen und reckte das Kinn, während der Vizekönig weiterging.
„Was denkt er sich eigentlich?“, zischte der junge Mann hinter ihr.
Enzo Scandore legte ihm die Hand auf den Arm. „Nimm dich zusammen, Dario.“ Er neigte sein Gesicht zu ihm. „Wir brauchen ihn noch.“
So leise er auch gesprochen hatte, Mirella hatte es doch gehört. Sie drehte sich um. „Nicht mehr lange. Wenn ich erst die Herzogin de Toledo d’Altamira y Leon bin ...“
Darios Gesicht verfinsterte sich noch mehr. „Den erstbesten Pfau musstest du dir aussuchen.“
„Er ist fast so reizend wie du.“ Mit einem koketten Augenaufschlag hängte Mirella sich an seinen Arm. „Tanz mit mir. Du bist der einzige junge Mann, mit dem ich mich noch amüsieren kann, ohne Anstoß zu erregen.“
„Siehst du; schon sitzt du im goldenen Käfig.“ Aber er geleitete sie doch in den Ballsaal, nachdem das Orchester sein Spiel wieder aufgenommen hatte.
Nach Pavane und Gagliarda winkte Maestro Giovanni Trabaci die Flöten und das Tambour zu sich; das Orchester begann eine Tammuriata zu spielen. Das war ihr Tanz und Mirella warf sich Dario mit einer übermütigen Drehung in die Arme.
Nach kaum einer Minute wichen die anderen Paare eines nach dem anderen an den Rand des Ballsaals zurück. Dario ließ Mirella los und überließ ihr alleine die Tanzfläche. Sie reckte den Kopf noch höher, raffte ihre Röcke bis über die Knöchel und gab dem Kapellmeister einen Wink. Maestro Trabaci nickte mit einem breiten Grinsen und ließ ein wenig schneller spielen.
Die ersten Locken rutschten aus Mirellas kunstvoll hochgesteckter Frisur auf ihre Schultern und eine silberne Haarnadel fiel leise klirrend auf den Marmorboden.
Dann war der Tanz zu Ende. Mirellas lachte vergnügt und drehte sich noch einmal. Ihre Wangen hatten sich erhitzt, aber ihr Atem ging gleichmäßig wie zuvor.
Der Vizekönig kam auf sie zu. „Signorina, Ihr werdet am Hof Seiner Katholischen Majestät eine neue Mode einführen, wenn der König Euch tanzen sieht.“
Mirella lachte. „Das wäre mir bedeutend lieber denn als Hexe verbrannt zu werden.“ Sie strich ihre Locken zurück. „Oder gedenkt man endlich, das Autodafé abzuschaffen?“
„Ich fürchte, in diesen unruhigen Zeiten ist es notwendiger denn je.“ Er reichte ihr seinen Arm, um sie von der Tanzfläche zu geleiten. Auf seinen Wink spielte das Orchester weiter.
„Bedeutet das, Ihr wollt die Inquisition nach Neapel zurückholen?“ Mirella schluckte. „Das Volk ist schon jetzt geschlagen genug.“
„So steht Ihr auf der Seite der Aufrührer?“
„Exzellenz!“, hauchte sie. Sie bekam eine Gänsehaut; das hätte sie wohl nicht sagen dürfen. „Ich bin eine treue Untertanin der Krone.“
„Das solltet Ihr auch sein. Ihr setztet sonst Eure Verlobung aufs Spiel.“
Mit dem Thema sah Mirella sich wieder in sicheren Gewässern. „Die Liebe zu Eurem Neffen geht mir über alles.“
Da zwinkerte de Arcos. „Tatsächlich?“
Mirella fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. „Eure Exzellenz zweifeln an meiner Aufrichtigkeit?“ Sie lächelte kokett, um ihre Worte notfalls als Scherz erscheinen zu lassen,
„An deiner Aufrichtigkeit nicht, mein Kind. An deiner Erfahrung.“ Er ließ sie mit einem Kopfnicken stehen.
Mirella griff sich mit beiden Händen in die Haare, um sie wieder zu bändigen. „Was bildet der sich ein?“ Unausstehlich arrogant war dieser Mensch. „Erfahrung!“
„Warum schimpfst du so, Schwesterchen?“ Dario stand in ihrem Rücken und lehnte seine Stirn auf ihre Schulter. „Hat er dich geärgert?“
„Ja.“ Am liebsten hätte sie ihrem Zorn freien Lauf gelassen und mit dem Fuß aufgestampft; schon zuckten ihre Muskeln. „Er scheint zu glauben ... Er zweifelt an meiner Erfahrung.“
Dario lachte unfroh. „Wenn du sie hättest, wärest du untragbar als Braut eines spanischen Granden.“
Sie nahm seine Hand. „Lassen wir uns etwas zu trinken geben.“
Als sie an einem der Fenster vorbeigingen, blickte Mirella hinaus. In der beginnenden Dämmerung leuchteten die ersten Fackeln in der Gasse, die zur Basilica del Carmine führte. „Er sprach vom Aufruhr. Und von der Inquisition.“
„Die Inquisition brauchen wir nicht zu fürchten. Die hält uns der Erzbischof vom Hals.“
Sie starrte noch immer hinunter auf den Largo. „Wenn ich mir vorstelle ...“
„In Neapel wird kein Scheiterhaufen mehr brennen. Darin ist Filomarino sich mit dem Heiligen Stuhl einig, glaub mir.“ Er wandte sich ab und sah sich suchend um. „Wir erschlagen unsere Feinde.“
„Wir haben doch gar keine.“
„Doch.“ Dario deutete nach draußen. „Der Pöbel kennt kein Gesetz. Und in einem rechtlosen Zustand verlieren wir alle.“ Er griff nach ihrer Hand und zog sie weiter zum nächsten Saal.
Auf langen Tischen war das Büfett aufgebaut – Pasteten und Geflügel vor allem und üppige Mengen an spanischem Zuckergebäck; dazu spanischer Süßwein, der in Mode gekommene prickelnde Blanquette de Limoux und der rote Anglianico aus der Basilikata, den der Vizekönig zu seinem Hauswein erkoren hatte.
„Aber das stimmt doch gar nicht. Sie wollen bloß weniger Steuern zahlen und die alten Privilegien zurück.“
„Und das Gemetzel der letzten Tage? Glaub mir, es ist noch nicht zu Ende.“ Dario wies zurück zum Thron des Vizekönigs am Ende des anderen Saals. „Hast du sie nicht gehört während des Trauerzugs? Ich fürchte, Don Rodrigo hat einen großen Fehler gemacht.“
Er ließ sich von einem der Lakaien ein Glas Blanquette reichen. Als auch Mirella ihre Hand ausstreckte, hielt er sie fest. „Alkohol ist nichts für kleine Mädchen.“
„Ich bin bald verheiratet.“
„Aber noch nicht einmal fünfzehn.“
Sie blitzte ihn an und hob die Brust zu einer zornigen Entgegnung.
Dario lachte amüsiert. „Geb Er der künftigen Herzogin de Toledo d’Altamira y Leon auch ein halbes Glas davon.“
Der Lakai beeilte sich einzuschenken und Mirella prostete Dario mit einer beschwingten Drehung zu. „Übers Jahr trinke ich so viel ich will.“
„Das möge Felipe verhüten. Du bist schon jetzt außer Rand und Band.“
Mirella trank in zwei Schlucken aus und gab das Glas zurück. „Lass uns tanzen. Wenn du recht haben solltest, mag dies der letzte Ball für lange Zeit ...“
„Eigentlich ...“
„Nun komm! Mit Stefania kannst du noch oft genug tanzen.“
Seufzend folgte er ihr, aber dann wurde er von einem älteren Mann angehalten, dessen taubenblaue Jacke sich zum Platzen über seinem Bauch spannte. „Scandore, kann ich mit Ihm reden?“
Dario blickte zwischen Mirella und ihm hin und her. „Besser nicht jetzt.“
Der Mann musterte Mirella mit zusammengekniffenen Augen. „Ich verstehe.“ Mit einer Kopfbewegung, die ein Gruß genauso gut wie ein Wink für Dario sein konnte, ging er weiter.
„Der ist nicht von hier. Wer war das?“
„Einer von Vaters Kunden, wer sonst?“
Mirella drehte sich um und betrachtete ihn ungeniert genauer. „Er hat viel Geld.“
Dario zuckte die Achseln. „Er liebt es, mit dem Familienschmuck zu protzen.“
„Dann sind die zehn Ringe an seinen Fingern vermutlich alle, die er besitzt.“ Sie kicherte.
„Du bist jetzt schon betrunken.“
Statt wieder mit ihr zu tanzen, wie sie erwartet hatte, brachte er sie zu Enzo zurück. „Ich habe jemanden getroffen ...“
Mirella zog einen Flunsch. „Dies ist ein Fest, kein Kontor.“
„Ich habe ihr erlaubt, einen Schluck zu trinken.“ Er hielt den Kopf schräg. „Es tut mir leid, Vater.“
Enzo klopfte ihm auf die Schulter. „Du kannst sie nicht ewig von allem fern halten.“
„Ich bin auch nicht ewig die kleine Schwester.“
Dario zog sie an einer ihrer losen Strähnen. „Was denn? Die große?“
Alle drei lachten.
„Hättest du denn gerne eine große Schwester?“
Dario schüttelte den Kopf. „Mirella ist schon richtig, so wie sie ist.“ Zielstrebig ging er davon; er wusste offensichtlich, wo der Taubenblaue ihn erwartete..
„Geh tanzen, mein Kind. Wer weiß, wann du wieder Gelegenheit dazu hast.“
Die Unkerei der beiden begann ihr die Festlaune zu verderben; Mirella zog die Nase kraus. „Jetzt redet Er schon genau so. Aufruhr ... Gemetzel ... Inquisition ...“
„Wer redet von der Inquisition?“ Enzo klang alarmiert.
„Niemand.“ Sie wedelte nervös mit ihrem Fächer. Tatsächlich war sie es gewesen, die davon angefangen hatte. „Jedenfalls nicht in Neapel.“
Enzo sah ihr prüfend ins Gesicht. „Hast du das auch richtig verstanden?“
„Dario sagt, der Erzbischof wird es nicht zulassen.“
„Wir gehen unruhigen Zeiten entgegen. Wer weiß, wie lange er sich durchsetzen kann.“
„Aber der Papst ...“
„... stellt sich vielleicht auf die Seite Frankreichs, nachdem er seinen Streit mit Mazarin begraben hat.“
„Was haben die gabelle mit Frankreich zu schaffen?“
„Viel, mein Kind.“
Sie sah ihn groß an; meinte er den Krieg in Flandern? „Aber wir gehören doch zu Spanien.“
„Das war nicht immer so.“
Mirella lauschte einen Moment nach draußen; aber auf dem Largo war es still geworden. Die Menschen waren in der Kirche – oder nach Hause gegangen. „Niemand stellt es in Frage.“
„Bis jetzt. – Nicht in der Öffentlichkeit.“
„Dario sagt, Don Rodrigo habe einen Fehler gemacht. Meint Er, wenn er sich stur stellt ...?“
Enzo tätschelte ihren Arm. „Geh dich amüsieren; das sind keine Themen für ein junges Mädchen.“
Sie starrte ihm hinterher, als auch er den Thronsaal verließ. Immer ließ er sie stehen, wenn sie versuchte, etwas zu begreifen.
Ihr Blick traf den eines jungen Patriziers; Bewunderung lag in seinen Augen. Aber als sie ihm zulächelte, wandte er sich schnell ab. Wohl auch einer von denen, die seit ihrer Verlobung nicht mehr wagten, mit ihr zu tanzen. Doch den jungen spanischen Adligen galt sie immer noch als Bürgerliche. Nur die Alten, die wollten sich mit ihr schmücken – und traten ihr dabei ständig auf die Füße.
Missmutig ließ sie sich in einen Sessel fallen; sie hatte es satt, nirgendwo dazuzugehören.
Aus der Ferne kam ein Knall – fast klang es wie eine Arkebuse. Mirella wandte den Kopf. Dann folgte ein anderer. Dies war eindeutig ein Schuss. Dario hatte wohl recht; die Revolte ging weiter. Neugierig stand sie auf und spähte aus dem Fenster.
Der Largo lag verlassen im Dunkeln. Aber über Santa Lucia war es heller geworden; ein Feuer begann dort, sein Licht zu verbreiten. Rasch wurde es größer.
„Es brennt!“ Mirellas Stimme hatte einen hysterischen Klang; unangemessen – es war doch weit weg. Aber ihr schauderte.
„Was ist los?“ Stefania d’Oliveto, ihre adlige Freundin aus der Klosterschule, stand plötzlich hinter ihr.
Mirella deutete nach draußen. „Man hat schon wieder ein Feuer gelegt.“ Sie drehte sich um.
„Was für eine Dummheit. Sie schaden doch sich selbst.“ Stefania legte ihren Arm um Mirellas Taille. „Warum geben die Menschen keinen Frieden?“
„Sie sind arm und unwissend.“
„Unwissend – das gilt leider auch für den Vizekönig. Er hat nichts begriffen von Neapel in diesen eineinhalb Jahren. Cabrera wusste schon, warum er sich ablösen ließ.“
„Denkst du auch, dass der Aufstand noch nicht zu Ende ist?“
Stefania deutete zum Fenster zurück. „Du siehst es doch selbst. Sie hatten genug von dem verrückten Fischer; aber noch mehr haben sie genug davon, ausgepresst zu werden.“
Mirella sah sie bewundernd an. „Du bist genauso klug wie Dario. Mein Vater redet nie mit mir über Politik. Wenn ich Dario nicht hätte ...“
Stefania lachte. „Dein Bruder ist ein Feuerkopf. Schade, dass er keinen Adelstitel hat.“
„Du meinst ....“ Mirella starrte die Freundin an. Stefanias strahlende Augen ließen keinen Zweifel. „Seit wann ...“ Sie schnappte nach Luft.
Stefania drückte ihr die Hand. „Wir warten nur darauf, dass du heiratest; dann ist er immerhin der Schwager eines Granden.“
Mirella wurde es heiß. Dass das Glück ihrer Freundin von der Hochzeit mit Don Felipe de Toledo d’Altamira y Leon abhängen könnte; darauf wäre sie nie gekommen. Sie starrte zu Boden; hoffentlich ging alles gut. „Wie schön wäre es, wenn wir ohne Standesdünkel leben könnten.“ Dann würden alle Männer mit ihr tanzen, dessen war sie sicher.
Stefania nickte. „So wie wir beide. – Aber wer ist schon wie wir gemeinsam in die Schule gegangen.“ Sie zog Mirella vor den nächsten Spiegel. „Wir ähneln uns sogar: die gleichen dunklen Locken, die gleichen grünen Augen.“ Sie drückte ihre Nasenspitze nach oben. „Und die gleiche himmelwärts strebende Nase.“
Sie lachten sich im Spiegel zu.
Eine der Spanierinnen öffnete das nächstgelegene Fenster und beugte sich hinaus. Dann drehte sie sich um und fuchtelte mit den Händen. „Fuego ...“ Die folgenden Worte kamen zu hastig, um verständlich zu sein. Mehrere Frauen eilten auf sie zu und begannen heftig zu debattieren.
Mirella fing einen feindlichen Seitenblick auf, der ihr einen Schauer über den Rücken jagte.. Sie wechselte ins Neapolitanische. „Die Spanierinnen scheinen ihren Truppen wenig Vertrauen zu schenken. Sie fürchten sich.“
Erstaunlicherweise fand Stefania das nicht amüsant. „Sie haben nicht genug Soldaten. Falls Vater recht hat ...“
Dario trat zu ihnen; Stefania reichte ihm die Hand. „Wo hat Er den ganzen Abend gesteckt?“
„Ich habe mit meiner schönen Schwester getanzt.“ Aber nicht den ganzen Abend – warum mochte er Stefania nichts von dem Fremden sagen? Mirella beobachtete ihn mit wachsamen Augen. Dario lächelte sparsam. „Gibt Sie mir die Ehre?“
Wie gut er sich verstellte. Nicht einmal sie hatte etwas geahnt. Ob Stefania sich von Dario küssen ließ, wenn sie unbeobachtet waren? Sie würde Stefania fragen und ihr keine Ausflüchte zugestehen. Unvermittelt kicherte sie: Erfahrung – hier bekäme sie sie zumindest aus zweiter Hand.
„Wenn Er meine Tritte ertragen mag. Er weiß, dass ich nicht halb so begabt bin wie Mirella.“ Stefania zwinkerte ihr zu; dann reichte sie Dario den Arm.
Er neigte demütig den Kopf. „Ich werde tapfer sein.“ Seine Augen glänzten begehrlich.
So verriet er sich doch. Mirella lachte ihnen triumphierend hinterher.
Sonntag, 11. August 1647
Aus der Küche schlug Mirella penetrant der Geruch von Kohl entgegen, als sie das Haus betrat. Angewidert rümpfte sie die Nase. Gab es selbst am Sonntag nichts Anderes mehr?
Gina stand am Tisch in der Mitte der Küche und schöpfte aus einem hohen Topf Weißkraut zum Abtropfen in ein Sieb. Sie arbeitete konzentriert, als bereite sie ein aufwändiges Gericht vor.
Mit einem klagenden Mauzen schlich der alte Kater an Mirella vorbei und schlüpfte in den Hof, bevor sie die Tür wieder schloss. Anscheinend hatte er die Hoffnung auf sein Hühnerbein aufgegeben und würde sich jetzt einen lebenden Vogel suchen. Vielleicht hatte er mehr Glück als sie.
Im Flur kam ihr Dario entgegen; er flämte nach dem Kohlgeruch und öffnete dann achselzuckend die Tür zum Esszimmer. „Fährst du zur Andacht heute Nachmittag?“
„Das tue ich doch jeden Sonntag.“
„Gut.“ Er legte den Kopf schräg. „Ich setze dich an der Kirche ab.“
„Wo willst du hin?“
Mit einem wachsamen Blick zu den Eltern legte Dario einen Finger auf den Mund. Als ob das weniger verfänglich wäre als ihr zu antworten.
Mirella schmunzelte; er musste doch nicht alleine zu Stefania fahren; sie konnte den beiden die Anstandsdame ersetzen.
Enzo stand neben Rita und öffnete gerade eine Flasche Tarausi.
Dario blieb überrascht stehen. „Gibt es etwas zu feiern, Vater?“
„Dass Sonntag ist.“ Seine ernste Miene sprach aber nicht davon, dass er etwa feiern wollte. „Hoffen wir, dass Filomarinos Predigt die Gemüter beruhigt hat.“ Er schenkte ein Glas halb voll hielt es hoch. Als er es langsam schwenkte, zauberte das Licht granatrote Reflexe in den Wein.
Mirella verfolgte irritiert seine übertriebene Hingabe an den Wein. „Ich begreife es nicht. Was wollen die Leute denn noch?“
„Narrenfreiheit.“ Enzo verkostete den Wein und schnalzte genießerisch mit der Zunge. „Die Briganten nutzen die Unruhen für ihre Zwecke.“
„Und welche sind das?“ Sollte sie bei Wasser bleiben? Kurz entschlossen hielt auch Mirella ihm ihr Glas hin. „Darf ich? Einen Schluck, um am Ende den Geschmack des Kohls zu vertreiben.“
„Gina hat sich Mühe gegeben; sie hat Fisch kaufen können.“ Rita presste die Lippen zusammen.
Dario band sich seine Serviette um den Hals. „Seit Masaniellos Tod gibt es niemanden mehr, der die Leute führen kann. Genoino ist unglaubwürdig geworden.“
„Er hat unklug gehandelt; aber er hat wirklich nicht an sich gedacht.“
„Doch“, widersprach Dario heftig. „Dies alles ist die Rache eines alten Mannes, der seine Stunde gekommen sah. Bevor er ins Grab sinkt, musste er sich noch schnell einen Namen machen.“
„Den hat er nun, unbestreitbar. Man wird ihm ein Denkmal auf den Trümmern der Reggia errichten.“
„Nun ist es genug.“ Rita streckte die Hand nach Enzo aus. „Keine Politik bei Tisch. Mir reicht, dass uns das Essen beständig an die Zustände erinnert.“
Gina kam ins Esszimmer, die große silberne Platte aus Ritas Familienerbe balancierend. Kohlgeruch breitete sich aus. Sie setzte die Platte auf der Mitte des Tisches ab. Zwischen üppigen Mengen von Wirsing und Weißkohl lagen vier kleine Makrelen auf hauchdünnen Scheiben Brot.
„Sehr schön!“ Enzo nickte Gina beifällig zu. „Deine Mühe hat sich gelohnt.“
Gina knickste mit leuchtenden Augen und legte ihm eine der Makrelen auf den Teller. Dann servierte sie Rita einen Fisch und häufelte beiden Wirsing und Kohl daneben. Mirella hielt die Hand über ihren Teller, als Gina um den Tisch herumging. „Nur ein wenig Weißkohl bitte.“
„Kein Fisch?“ Dario klang belustigt.
„Eigentlich nur Fisch. Doch ich fürchte, davon werde ich nicht satt.“
„Iss, Mirella“, befahl Rita. „Sei froh, dass es noch so viel gibt.“
„Wir haben den ganzen Keller voller Kohl!“ Der intensive Geruch verursachte ihr Übelkeit. „Was den betrifft, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Der reicht bis zum Winter.“
„Bis zum Winter. Eben. Weißt du, was dann kommt?“
Rita griff schon wieder nach Enzos Hand. „Aber was sagst du da?“ Sie sah ihn sichtlich erschrocken an. „Fürchtest du, dass sie die Felder anzünden?“
„Wer kann schon wissen, was draußen auf dem Land passiert.“ Dario drehte die Gabel durch den Wirsing, den Gina ihm inzwischen auf den Teller getan hatte.
Enzo zog die Augenbrauen hoch. „Wenn du es nicht weißt ...“
„Niemand kann sagen, wie lange es so weitergeht“, beharrte Dario. „Es gibt keinen mehr, der den Pleb beherrscht.“
„Dieser Waffenschmied, der dafür gesorgt hat, dass die Männer ihre Waffen nicht abgegeben haben, obwohl Don Rodrigo nun die alten Privilegien akzeptiert hat ...“
Dario schnaubte. „Annese ist gefährlich. Er hetzt gegen die Spanier.“
„Der König treibt Neapel in den Ruin!“ Enzo hieb mit der Faust auf den Tisch. „Eine Million Dukaten!“
„Es kostet nun einmal, eine Armee zu unterhalten und uns zu beschützen.“
„Uns! Neapel hat keine Feinde.“
Dario legte den Kopf schräg. „Ich kann Ihm eine ganze Hand voll nennen: Venedig, die französischen Truppen in der Toskana ...“
„Schluss mit der Politik bei Tisch!“ Rita sprach sehr viel leiser als zuvor. Jetzt war sie ernsthaft erbost. „Geh in die Bibliothek. Dort kannst du den Rest des Tages mit deinem Vater räsonieren, sobald wir mit dem Essen fertig sind.“
Dario verstummte und presste die Lippen zusammen; seine Gabel fuhr weiter durch den Wirsing.
Enzo langte über den Tisch und nahm ihm die Gabel weg. „Gehorche!“
Dario sah Enzo schockiert an; dann blickte er zu Rita. „Hat Sie das im Ernst gemeint?“, flüsterte er.
„Sehe ich aus, als ob ich spaße?“ Nein, so sah sie wirklich nicht aus.
Dario sah noch einmal von einem zum anderen; dann stand er auf und nahm sein Glas mit.
„Heißt das, er hat jetzt Ausgehverbot?“ Mirella war ebenso schockiert wie Dario. Dass Rita selbst jetzt so eisern auf ihrer Tischregel bestand: Fand sie es denn nicht wichtig zu begreifen, was mit Neapel geschah?
„Das ist nicht deine Sache, Kind.“ Rita klang wieder warm und herzlich. „Wolltest du denn noch einmal fort?“
Sie nickte.
„Fabrizio wird dich begleiten.“
Als Mirella die Bibliothek betrat, saß Dario auf der gepolsterten Fensterbank und drehte sein Glas zwischen den Fingern; es war noch genauso voll wie zuvor.
„Ich werde Stefania sagen, warum du nicht kommst.“
Er sah auf; sein Blick war eine einzige Frage. „Wie kommst du auf Stefania?“
Mirella lächelte verschmitzt und setzte sich neben ihn. „Tu nicht so! Sie hat mir von euch erzählt.“
Ein Licht stieg in Darios Augen und für einen Augenblick sah er jung und verletzlich aus. Dann schüttelte er den Kopf. „Stefania würde in ein Kloster verbannt, wenn die Marchesa etwas erführe.“ Er gab ihr einen zärtlichen Stups auf die Nase. „Schlaues Mädchen; aber du denkst in die falsche Richtung. Wir treffen uns nicht heimlich.“
„Aber wohin wolltest du dann?“
Er schüttelte schon wieder den Kopf; das wurde entschieden eine neue Angewohnheit von ihm. „Das kann ich dir nicht sagen.“
Sie rückte von ihm ab. „Du hattest noch nie Geheimnisse vor mir. Und jetzt gleich zwei.“
Dario lachte lauthals.
„Was ist so komisch daran?“
„Schwesterchen, ich glaube, du bist eifersüchtig.“
„Gar nicht. – Wer wartet heute Nachmittag vergeblich auf dich? Ich kann doch wenigstens Bescheid sagen.“
Dario lächelte über ihren Eifer. „Es wäre gewiss höflicher, wenn ich mich entschuldigen ließe.“ Er senkte den Kopf. Gab es da noch etwas zu überlegen? „Nein, dich kann ich nicht schicken. Nicht dorthin. So gern ich es auch täte.“
„Du vertraust mir nicht!“
Er beugte sich zu ihr und küsste sie auf die Stirn. „Ich sollte meiner eigenen Schwester nicht vertrauen? Wem sonst, wenn nicht dir!“
Enzo trat ein. die Weinflasche in der Hand. „Du bist auch hier?“ Er ging zum Schreibpult und nahm seine Pfeife heraus. Während er sie stopfte, musterte er beide. „Habe ich euch unterbrochen?“
Mirella zögerte; sie wartete auf Darios Entgegnung. Aber der drehte bloß sein Glas zwischen den Fingern. „Ich möchte nach der Andacht zu Stefania und auch die alte Giuseppina besuchen.“ Auch wenn Dario ihr nicht sagen mochte, was er vorhatte; vielleicht konnte sie ihn aus dem Hausarrest befreien. „Es schickt sich nicht, dass nur Fabrizio mich begleitet. Was sollen die Leute denken! Es sähe aus, als ginge ich mit einem Kutscher spazieren. Oder soll ich das letzte Wegstück ohne Begleitung zurücklegen?“
„Sei nicht kindisch.“ Enzos Stimme war ungewohnt scharf. „Wenn es dir nicht passt, dann bleib zu Hause.“ Er ging zum Bücherschrank und nahm mehrere in Leder gebundene Folianten heraus. Schließlich reichte er Dario einen davon. „Lies das. Vielleicht wirst du dann ein bisschen klüger.“
Mirella schielte auf den Buchrücken. „Dante?“
„Ich habe ihn mehr als einmal gelesen. Er sagt mir nichts.“
„Dann lies ihn noch einmal. Und denk nach dabei.“
Dario verzog das Gesicht, schlug aber folgsam das Buch an der von Enzo angegebenen Stelle auf.
„Lies uns vor.“
Dario trank einen Schluck, stellte das Glas ab und gehorchte mit einem Seufzer.
„O töricht Sorgen Sterblicher, wie sind nur
So mangelhaft die Syllogismen alle,
Die deinen Flügelschlag nach unten richten! ...“
Nach einer halben Stunde stand Enzo auf. „Genug für heute.“
Nachdem er die Bibliothek verlassen hatte, sahen sich Dario und Mirella verblüfft an.
„Was sollte das?“
„Eine Lektion.“ Dario stieß den Atem aus. „Ich habe wirklich gedacht, anschließend lässt er mich gehen.“ Er trank sein Glas leer, stand auf und nahm die Flasche, die Enzo stehen gelassen hatte. „Auf bessere Zeiten! Möchtest du auch einen Schluck?“
„Du bist komisch heute! Was ist nun?“
„Geh zu deiner Andacht. Und zu Giuseppina!“ Bevor er die Bibliothek verließ, drehte er sich noch einmal um zu ihr. „Sag Fabrizio, er soll zu mir kommen, bevor ihr fahrt.“.
Enzo ging am Fenster vorbei in den Rosengarten, eine Schere in der Hand. Dort schnitt er welke Blüten aus; zuweilen bog er ein paar Zweige auseinander und betrachtete die Blätter. Wahrscheinlich hatten die Rosen wieder Läuse. Um seine Blumen machte er sich mehr Gedanken als um seine Kinder. Obwohl ...
Mirella nahm den Folianten und las noch einmal, was Dario vorgelesen hatte. Er schien verstanden zu haben, was Enzo ihm damit sagen wollte. Warum war sie zu dumm dafür?
Als der Kies vor dem Fenster knirschte, sah Mirella auf. Enzo kam zurück. Was würde er dazu sagen, dass sie nun doch mit Fabrizio fort wollte?
Sie öffnete das Fenster, das Buch in der Hand. „Vater, warum sollte Dario den Dante lesen?“
Er reichte ihr den Korb mit den Rosen. „Damit er sich nicht in unnützen Dingen verliert.“
„Aber ...“
„Lass die Rosen in die Vasen verteilen.“
Mirella steckte ihre Nase in den Korb. „Wie sie duften! Darf ich Giuseppina welche mitbringen?“
„So hast du es dir anders überlegt?“
„Jeder weiß doch ...“ Dann gewann die Lust, ihn zu provozieren. „Es ist Sein Name, dem ich schade, wenn ich mit unserem Kutscher durch die Wälder des Vesuvs spaziere.“
„Bring ihr Blumen, so viele du magst.“ Er grinste sie an. „Du brauchst sie nicht einmal selbst zu tragen.“ Enzo ging, ein Spottlied pfeifend, weiter. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass er es kannte.
Fabrizio stand neben den Pferden und steckte eben ein versiegeltes Papier in seine Hosentasche, als Mirella später den Hof betrat.
„Wie lange wird Sie in der Kirche bleiben, Signorina?“
„Das weiß ich noch nicht.“ Mirella ärgerte sich noch immer über Darios Geheimnistuerei. „Du wirst es wissen, wenn ich wieder herauskomme.“
Ein Schatten fiel über Fabrizios Gesicht und seine Lippen bewegten sich einen Moment, als wolle er etwas erwidern. Stattdessen zog er die Knebel an seiner Weste durch ihre Schlaufen und zog die aufgerollten Hemdsärmel herunter; dann half er Mirella in die Kutsche.
Als sie dann vor der Basilica del Carmine hielten, schalt Mirella sich als ungehörig: Da ging sie in die Kirche und war gleichzeitig garstig zu einem Dienstboten.
Die Piazza del Mercato lag verlassen in der gleißenden Sonne. Und eben das war bedenklich. Zu einem richtigen Sonntag gehörten die Komödianten und anderer Zeitvertreib.
„Warum wolltest du wissen, wie lange ich zur Andacht bleibe? Hast du etwas zu besorgen?“
Fabrizios Hand glitt zu seiner Jackentasche. „Gina ...“ Er stockte, als sei ihm eingefallen, dass sie es herausfände, wenn er ihr etwas über Ginas Aufträge vorlöge.
Sie sah ihn auffordernd an; mit einem Lächeln, dass ihn hoffentlich ermutigte zu sprechen.
„Ihr Bruder hat mich gebeten, einen Brief zu überbringen.“
„Du kannst einen Umweg machen auf dem Heimweg, wenn es dafür nötig sein sollte.“ Sie wandte sich ab und betrat die Kirche.
Mirella liebte die Basilika der Santa Maria del Carmine Maggiore, weil gleich zwei Kapellen Namenspatronen ihrer Großeltern gewidmet waren. Aber als sie nun auf dem Weg zur Kapelle des heiligen Gregorio am Grab Masaniellos vorbeikam, überlief sie ein Schauer. Statt für die Seelen der Großeltern sollte sie besser für Neapel beten; die Lebenden waren in größerer Not.
Mirella wandte sich nach rechts zur Madonna del Carmine. Während sie vor dem Bild der braunen Jungfrau kniete, ging ihr die Frage nicht aus dem Kopf, wohin Fabrizio nachher mit ihr fahren würde. Sie sprach ihre Gebete hastig wie selten und eilte nach draußen.
„Du musst nicht bis zum Heimweg warten. Gib den Brief gleich auf dem Weg zu Giuseppina ab. Man soll nicht umsonst auf Dario warten müssen.“
Fabrizio nickte; war er erleichtert?
Fabrizios Ziel lag nicht auf dem Weg. Statt in Richtung des Vesuvs bog er zum Pizzofalcone ab und fuhr dort in eine der schmalen Gassen. Er hielt vor einer Trattoria; aber nicht dort ging er hinein, sondern klopfte an die Tür des Nachbarhauses.
Die Haustür versperrte Mirella zu ihrer Enttäuschung die Sicht auf den Menschen, mit dem Fabrizio sprach. Die Vorhänge im Parterre des Wohnhauses waren geöffnet und eines der Fenster auch, aber von der Kutsche aus war trotzdem nicht zu erkennen, was dort vor sich ging.
Fabrizio drehte sich um; sein Blick suchte den ihren. „Einen Augenblick nur, Signorina.“ Dann betrat er das Haus.
„Gallo bianco“ – „Zum weißen Hahn“. Gewiss hieß hier keine zweite Trattoria so; sie würde wieder hierher finden.
Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis Fabrizio herauskam und aufstieg. Die Gasse endete hinter der nächsten Ecke; er musste wenden. Mirella rückte schnell auf die andere Seite der Kutsche und blickte hinaus.
Laute Männerstimmen drangen aus dem Gallo bianco, während sie sich wieder näherten. Sie klangen alt. Und aufgeregt. Oder zornig. Aber die Räder ratterten viel zu laut über das Pflaster, um etwas zu verstehen.
Gerade wollte Mirella sich in die Polster der Kutsche zurücklehnen, als die Tür geöffnet wurde. Zwei Männer traten heraus. Einer von ihnen trug teures Tuch im modischen Grün und ein Hemd mit breiten venezianischen Spitzen an den Manschetten, die er über die Jackenärmel geschlagen hatte. Das Gesicht hatte sie schon einmal gesehen. Dann drang sein meckerndes Lachen zu ihr und sie erkannte ihn. „Der Ziegenbock!“ Was tat einer der Maddaloni an einem solchen Ort? Konnte Darios Brief etwas mit ihm zu tun haben? Freilich hatte Fabrizio ihn im Nachbarhaus abgegeben, aber das musste nichts besagen.
Mirella kicherte. Sie würde Darios zweites Geheimnis genauso herausfinden wie das erste.
***
Zu Hause stürmte sie die Treppe hoch zu Darios Zimmer und riss die Tür auf, ohne anzuklopfen.
Dario stand an seinem Sekretär über einen Stapel Papiere gebeugt und fuhr erschrocken herum.
„Fabrizio hat deinen Brief beim Gallo bianco abgegeben.“ Sie weidete sich einen Augenblick an seinem schockierten Gesichtsausdruck. „Im Haus links davon, meine ich damit. War das richtig so?“
Dario nickte. „Woher weißt du das so genau?“ Er legte ein weißes Blatt auf den Papierstapel und trat auf sie zu, als wolle er verhindern, dass sie darauf schaute.
„Ich habe aus dem Fenster geguckt; was denkst du?“
Er runzelte die Stirn; aber er sagte nichts.
Sie setzte sich auf die Kante seines Betts und ließ die Beine baumeln. Dario stand immer noch mitten im Raum.
„Habe ich dich gestört?“ Sie deutete zum Sekretär. „Arbeite nur weiter. Du weißt, dass ich dir gerne zusehe.“
„Es hat keine Eile.“ Er setzte sich endlich neben sie und nahm ihre Hand. „Wieso hat Stefania dir von uns erzählt?“
„Ich bin ihre beste Freundin; weißt du das nicht? Unter Freundinnen gibt es keine Geheimnisse.“ Sie entzog ihm die Hand und stemmte sie in ihre Hüfte. „Anscheinend aber unter Geschwistern. Neuerdings.“ Sie seufzte. „Ich kann dir nicht helfen, wenn ich nicht weiß, was du vorhast.“
„Ich brauche keine Hilfe.“
„Nein?“ Sie rückte von ihm weg, als sei sie gekränkt. „Tatsächlich? Für deinen Brief hast du doch auch nicht selber sorgen können.“
Er schüttelte den Kopf. „Das ist Männersache.“
„Freilich ... Weißt du, wen ich gesehen habe? Den neuen Herzog de Maddaloni. Er kam aus dem Gallo bianco, gerade als ich vorbeifuhr.“ Täuschte sie sich oder wurde Dario wirklich blass? „Aber warum auch nicht? Der Durst wird ihn übermannt haben. Merkwürdig war eher, dass er von einer etwas finsteren Gestalt begleitet wurde.“ Sie grinste. „Ich habe ihn an seinem unverwechselbaren Lachen erkannt. Maddaloni, nicht den anderen.“
Dario lehnte sich gegen den Bettpfosten. „Warum sollte das merkwürdig sein? Die lazzari sind durchaus ehrenwerte Männer.“
„Wie kommst du jetzt auf die?“
„Du sagtest eben ...“
„Ich sprach von einer finsteren Gestalt, nicht von einem lazzaro.“
„Wen sonst solltest du damit gemeint haben?“
„Briganten? Es scheint eine finstere Ecke zu sein. So abgelegen.“
Er grinste. „Du bist wohl auf Abenteuer aus! Hast du noch nicht genug Aufregung gehabt in den letzten Wochen?“
„Aber du lässt mich ja gar nicht.“ Sie würde schon dafür sorgen, dass er sie brauchte.
„Du führst etwas im Schilde, Schwesterchen.“ Er hielt den Kopf schräg, als er sie aufmerksam musterte; aber dieses Mal lächelte er nicht.
Sollte er schmoren. „Ich habe noch etwas zu tun. Mutter wartet auf mich.“
Er legte den Finger auf seine Lippen. „Sag ihr nichts von Stefania.“
Mirella blieb in der Tür stehen. „Es würde sie freuen. Und sie könnte deine Verbündete sein.“
Für einen Augenblick schien es, er habe ihr nicht zugehört; sein Blick war irgendwo in die Wolken gerichtet, die es an seiner Zimmerdecke gar nicht gab. „Nicht jetzt. Wenn wir dies alles hinter uns haben.“
Sie ging zu ihm zurück und setzte sich wieder. „Wird es dann nicht eher schwieriger?“
„Was meinst du damit?“
Sie wand sich. „Stefania hat mir gesagt, dass ihr auf meine Vermählung setzt. Aber wird sie noch etwas bedeuten, wenn ich in Madrid bin und Don Rodrigo nicht mehr Vizekönig ist?“
„Dann gibt es eben einen anderen. Felipe muss nicht Neffe des Vizekönigs sein.“
Und wenn die Hochzeit gar nicht mehr stattfinden könnte? Nein; besser, sie beunruhigte ihn nicht mit solchen Gedanken. „Woher wusste Fabrizio, wem er den Brief geben muss? War er dort schon öfter?“
„Mein Gott, bist du heute neugierig.“ Dario klang tatsächlich ungehalten.
Dann würde sie eben alleine herausfinden, was es mit dieser Trattoria auf sich hatte. „Wenn dir das nicht gefällt, dann bitte mich nicht darum, dir einen Gefallen zu tun.“
„Ich hatte Fabrizio den Auftrag gegeben, nicht dir.“
In der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Und es hat auch nicht gestimmt, dass du mich nicht dorthin schicken konntest. Es ist ein ganz normales Haus neben einem ganz gewöhnlichen Wirtshaus.“
***
Am nächsten Morgen ließ Mirella sich von Fabrizio erneut zum Pizzofalcone bringen.
Es waren ungewöhnlich viele Menschen auf den Straßen, die in Gruppen beieinander standen und in aufgeregte Gespräche verwickelt waren. Nachdem auch Salerno sich erhoben hatte, blieb offensichtlich selbst die Predigt eines Kardinals ohne Einfluss.
Je näher sie dem Zentrum kamen, desto mehr Passanten schienen alle demselben Ort zuzustreben. Bald darauf ertönten zwei Schüsse. Erschrocken ließ Mirella Fabrizio anhalten; aber da keine weiteren folgten, war es wohl ungefährlich weiterzufahren. Er bog dennoch von ihrem Weg ab und machte einen großen Bogen um die Piazza del Mercato.
Auf dem Pizzofalcone dagegen herrschte der Alltag. Zwei Mal musste Fabrizio einen Umweg fahren, weil Fuhrwerke mit Sand und Tuffstein in den engen Gassen ausgeladen wurden und ihnen den Weg versperrten. Selbst in diesem abgelegenen Viertel wurden mangels freier Flächen innerhalb der Stadtmauer Häuser aufgestockt.
Vor dem Gallo bianco stieg Mirella aus. Nun spiegelte sich die Sonne in den Scheiben des Wirtshauses und verwehrte ihr den Blick hinein. Sie drückte langsam die Klinke hinunter. Aber die Tür war verschlossen.
Gegenüber klapperte ein Fenster. Kurzentschlossen ging sie über die Straße und klopfte dort.
Nach einer Weile wurde das Fenster geöffnet und eine zahnlose alte Frau blickte zu ihr herunter. „Was ist?“
„Sie verzeihe mir, aber ... Wann hat der Gallo bianco auf?“
„Was will Sie dort?“ Die Alte strich ihre dünnen Haare zurück. Sie kniff die Augen zusammen und deutete auf Fabrizio. „War Sie nicht gestern schon hier?“
Mirella fühlte sich ertappt. Sie versteifte sich; doch dann wurde ihr klar, dass sie die Gelegenheit nutzen konnte. Wenn sie harmlos genug wirkte, bekäme sie bestimmt genug Antworten. „Aber ich habe etwas vergessen und darum ....“ Wie absichtslos hörte sie auf zu sprechen und sah scheinbar verlegen zu Boden. „Ich bin manchmal ein bisschen schusselig.“
Die alte Frau klang plötzlich sehr viel freundlicher. „Aber das macht doch nichts, Kindchen. Der Wirt wohnt links daneben. Geh Sie nur und klopfe.“ Sie reckte sich weiter aus dem Fenster. „Um diese Zeit ist er meist schon wach. Ich denke doch, dass er an einem Tag wie diesem ...“ Also gehörten der Gallo bianco und das Nachbarhaus tatsächlich zusammen. Bestimmt gab es eine Tür, die beide Häuser miteinander verband.
Bevor die Alte sie mit ihrem Redefluss überschwemmen konnte, verabschiedete Mirella sich schnell mit einem höflichen Knicks. Sie raffte ihre Röcke und lief mit einem Tanzschritt los, während sie die Straße überquerte.
„Fabrizio, wem hast du gestern Darios Brief gegeben?“
Fabrizio sah irritiert aus. „Habe ich etwas falsch gemacht? Der Signore sagte, es sei in Ordnung; er würde ihn weitergeben.“
„Aber du warst doch im Haus.“
Er nickte. „Sicher. Sollte ich den Brief etwa dem Kind geben, das mir geöffnet hatte?“
„Nein; es war alles ganz richtig.“
„Was tun wir dann hier?“
„Dario erwartet eine Antwort“, fiel ihr ein zu sagen. „Aber wir wollen uns doch nicht lange aufhalten lassen. Wenn du also wüsstest, nach wem ich fragen soll?“
Fabrizio wiegte bedauernd den Kopf. „Frag Sie, ob der Edelmann eine Nachricht hinterlassen hat.“
„Der Edelmann?“ Sie hatte gedacht, er wüsste besser Bescheid.
Fabrizio wurde ganz Eifer. „Hat Sie ihn nicht selber gesehen?“
Der Ziegenbock.
Mirella ging zum Haus des Wirts und zog an der Glocke. Es war so still hier – ob alle auf die Piazza gegangen waren? Am Ende gab es dort Wichtigeres zu erfahren.
Schließlich wurde die Tür geöffnet. Eine Frau in einem verblichenen Kleid aus grobem Hanfleinen musterte sie mit griesgrämigem Gesicht. „Die Signorina will zu uns?“
„Mein Bruder hat gestern einen Brief abgeben lassen und ich soll fragen, ob es eine Antwort gibt.“
„Ich weiß von keinem Brief.“ Sie drehte sich um und rief in den Flur: „Giacomo! Giacomo, hast du gestern einen Brief bekommen?“
Irgendwo scharrte ein Möbelstück über Steinboden. Dann quietschte etwas und ein Vogel zeterte. Am Ende des Flurs trat ein Mann mit Bartstoppeln auf den Wangen und einem Ziegenbart unterm Kinn aus einer Tür.
Hier wimmelt es von Ziegen, kam Mirella in den Sinn. Sie hielt sich schnell die Hand vor den Mund, um ihr Lachen zu verbergen.
„Ich habe keinen Brief bekommen!“ Er gähnte ungeniert, während er den Flur entlangschlurfte. Seine Zähne waren von dunklen Flecken übersät; ein Eckzahn fehlte.
„Scandore. – Unser Kutscher hat hier gestern einen Brief ausgehändigt. Dem Edelmann, der bei Ihm zu Gast war.“
„Davon weiß ich nichts.“
Mirella versuchte, ihre Ungeduld mit einem verbindlichen Lächeln zu verbergen. „Ist er wieder da?“
„Wer?“
„Der Edelmann. Er ging kurz darauf weg.“
Der Wirt kam näher und schnürte sich im Gehen die Hose zu. „Wann soll das gewesen sein?“
„Am Nachmittag.“ Mirella trat von einem Fuß auf den anderen. War der Mann so dämlich oder wollte er nicht mit der Sprache herausrücken? „Bitte, es ist wichtig. Mein Bruder erwartet eine Antwort.“
„Am Nachmittag war ich in meinem Wirtshaus.“
„Eben.“ Sie holte tief Luft. „Und der Duca de Maddaloni war am Nachmittag bei Ihm.“
Er riss die Augen auf, als sie den Namen nannte. Aber nur eine Sekunde; dann wirkte er wieder so verschlafen wie zuvor. „Der Herzog hat meine bescheidene Trattoria beehrt wie immer, wenn er sich mit seinen Leuten trifft.“ Das klang schon freundlicher. „Aber von einem Brief weiß ich trotzdem nichts.“ Er zog die Hose ein Stück höher. „Ist Sie sicher, dass der Herzog den Brief in Empfang genommen hat?“
„Wer sonst, wenn nicht er?“
„Ich werde ihn fragen, wenn er wiederkommt.“ Wenigstens hatte er jetzt mit seinen Gegenfragen aufgehört; vielleicht würde er ihr doch etwas erzählen. Das, was Dario ihr verschwieg.
„Wann?“
Giacomo musterte sie von oben bis unten, während er nachdachte; so lange, bis seine Frau ihn in die Seite stieß. Hoffentlich hielt die Alte sie für ein harmloses Kind; sonst würde sie ihm nach ihrem Weggehen den Kopf waschen und es wäre vorbei mit seiner Hilfsbereitschaft. Solche Männer standen immer unter der Fuchtel; entweder ihrer Frauen selber oder der Schwiegermütter.
„Käme Sie morgen Abend wieder, dann könnte ich Ihr die Antwort des Herzogs geben. So er eine für Ihren Bruder hat.“ Er bohrte sich in der Nase und betrachtete dann den Popel zwischen seinen Fingern. „Aber ein junges Ding wie Sie sollte abends zu Hause bleiben. Warum kommt er nicht selber?“
Sie reckte den Kopf. „Er hielt es für zu verfänglich.“
Die Andeutung eines Lächelns ging über sein Gesicht. „Vorsichtiger Mann, Ihr Bruder.“ Er trat noch einen Schritt näher und blickte hinaus. „Aber dann sollte Sie auch vorsichtiger sein und nicht mit einer Kutsche kommen, die jemand wiedererkennen könnte.“
Mirella nickte. „Er hat wohl recht. Ich werde morgen Abend das letzte Stück zu Fuß kommen. In dieser Gasse wohnen gewiss nur ehrbare Leute.“ Wie Er, verkniff sie sich zuzufügen.
***
Auf dem Rückweg waren die Straßen anfangs alle frei. Kurz vor der Piazza del Mercato wurde die Kutsche jedoch von einem Mann mit einer Hellebarde aufgehalten.
„Sie kann hier nicht weiterfahren, Signorina!“
„Aber warum denn?“
„Auf der Piazza findet ein Tribunal statt. Kehrt um.“
In diesen Tagen mochte alles wichtig sein, was in der Stadt passierte. Die Glocken der Santa Maria del Carmine hatten eben erst die elfte Stunde geschlagen; Zeit genug, rechtzeitig zum Mittag nach Hause zu kommen.
Mirella stieg in der Gasse neben der Kirche des Sant'Eligio Maggiore aus. Sie tippte einem älteren Mann auf die Schulter. „Was geschieht hier?“
„Die Seidenweber fordern den Erlass der Steuern.“
„Und? Bekommen sie ihren Willen?“
„Dem einen erlässt der Vizekönig die Steuern und dafür setzt er sie den anderen hoch. Oder erfindet neue.“ Er schüttelte den Kopf. „So geht das doch nicht.“
Er drängte sich in Richtung der Piazza durch die Menge. Mirella folgte ihm geschwind, ehe sich der Weg vor ihr wieder schloss. Sie erntete manchen misstrauischen Blick; in ihrem feinen Brokat fiel sie auf. In dem Gedränge auf der Piazza verlor sie ihren Führer und kam nicht mehr voran; niemand mochte ihr Platz machen. Aber die Nachdrängenden schoben sie mit Ellenbogen und Fußtritten weiter; einer packte sie gar um die Taille, als ob sie dadurch dünner würde. Nun konnte sie nicht mehr zurück; sie musste darauf setzen, dass vielen ihr Essen wichtiger wäre als das Spektakel.
Seit den Tagen Masaniellos stand ein Podest neben dem Delphin-Brunnen auf der Piazza. Dort krächzte der alte Genoino mit ausgebreiteten Armen zur Menge hinunter. Doch gegen deren Geschrei kam er mit seiner heiseren Stimme nicht mehr an.
Ein junger Mann, der die rote Mütze der Fischer trug, sprang zu ihm hoch. Er packte Genoino am Arm und versuchte, ihn herunterzuzerren.
„Nach Hause. Geh nach Hause!“, brüllten einige um Mirella herum.
Sie zuckte zusammen, aber natürlich galt es nicht ihr, sondern denen auf dem Podest. Oder einem der beiden.
Ein dritter Mann sprang hoch. Er stellte sich an den Rand und zog eine Pistole aus seiner Schärpe. Ein Schuss in die Luft; die Menge verstummte.
„Wir lassen uns nicht länger betrügen.“ Der Mann hielt den Menschen seine Hände hin. „Wir arbeiten sieben Tage in der Woche von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang; und doch reicht es nicht, um unsere Familien zu ernähren. Schluss damit!“
Sie brüllten Zustimmung; viele schwenkten Knüppel, Äxte und manch einer auch eine Schusswaffe.
„Aber es wäre kaum besser ohne die gabelle! Wir müssen verhindern, dass die Preise weiter sinken.“
„Wie willst du das erreichen?“ Genoino hinter ihm hatte seine Stimme wiedergefunden.
Der Mann drehte sich zu ihm um. „Du wirst es sehen.“ Er schwenkte beide Arme und wies zum Hafen. „Kommt mit!“ Dann sprang er herunter und verschwand in der Menge.
Mehr und mehr Menschen verließen die Piazza. Mirella wurde beiseite gedrängt. Die meisten schienen ausgerechnet an ihr vorbeigehen zu wollen. Schließlich gelangte sie zum Portal der Basilika und blieb in dessen Schutz stehen.
Dann tauchte der Mann vor ihr auf, der die Menge zum Mitkommen aufgefordert hatte. Einen Moment kreuzten sich ihre Blicke; er grinste sie herausfordernd an. Kannte er sie?
Mirella betrat die Kirche und ging auf der anderen Seite durch einen Seiteneingang hinaus. Auch in der Gasse, in der die Kutsche stand, drängten sich aufgebrachte Menschen. Sie würden Mühe haben fortzukommen.
Fabrizio hielt die Pferde am Kopfzeug fest und sprach beruhigend auf sie ein. Sein Blick leuchtete auf, als er sie sah. „Ich war in Sorge, Signorina. Lasst uns fort von hier, bevor man Sie erkennt.“ Er riss den Schlag auf und streckte ihr die Hand entgegen.
Sie lächelte. „Einer hat mich wohl erkannt.“
Fabrizio sah sie erschrocken an.
„Was ist schlimm daran?“
„Sie ist die Tochter Scandores.“ Natürlich war sie aufgefallen; aber man tat doch einem jungen Mädchen nichts. Im Nachhinein konnte sie über die scheelen Blicke schmunzeln.
Nachdem sie eingestiegen war, sah er sich wachsam um. „Hat Sie nicht begriffen, was sie vorhaben?“
„Doch. Sie wollen mehr Geld für ihre Familien.“
Er schüttelte den Kopf. „Sie wollen sich die Konkurrenz vom Hals schaffen.“ Bevor sie nachfragen konnte, was er damit sagen wollte, sprang er auf den Bock.
Nachdem sie das Gewühl hinter sich gelassen hatten, jagte er die Kutsche in einem Tempo durch die Gassen, wie Mirella es noch nie erlebt hatte. Vor dem Haus bremste Fabrizio so abrupt, dass die Pferde zornig wieherten. Er sprang ab und rannte die Stufen zum Eingang hinauf. Dort warf er sich regelrecht gegen die Tür statt anständig zu klopfen.
Als er im Haus verschwunden war, raffte Mirella ihre Röcke und kletterte allein aus der Kutsche.
Dario stürmte an ihr vorbei, gefolgt von Fabrizio. Dann kam auch Enzo.
„Bleib Er zu Hause, Vater. Ich mach das schon.“ Dario stieg in die Kutsche und Fabrizio jagte davon, bevor Enzo alle Stufen hinuntergegangen war.
„Vater!“
Er drehte sich zu ihr um. „Sag Gina, sie soll nicht mit dem Essen auf uns warten!
„Was ist denn los?“
„Tu, was ich dir sage.“
Gleich darauf stand Enzo im Hof und rief die Dienstboten zusammen. Die beiden Gärtner, die Stallburschen und der alte Hausdiener griffen sich jeder einen Eimer und rannten hinaus. Enzo sattelte selbst sein Pferd und folgte ihnen.
Gina beobachtete sie durch die offene Küchentür und zerrte an dem Handtuch, das sie zwischen den Fingern hielt. „Sie werden nichts ausrichten. Sie kommen zu spät!“
„Aber was ist denn los?“
Gina starrte sie fassungslos an. „Du warst doch selber dort! Hast du es denn nicht begriffen?“
„Aber ...“ Mirella sah den Mann von der Piazza vor sich und jetzt fiel es ihr ein: Sie hatte ihn im Kontor gesehen; er war einer von Enzos Lieferanten. Zum Karneval hatte er ihr einmal chiacchiere mitgebracht, die seine Frau gebacken hatte.
Gina hackte mit solch grimmigen Gesicht auf die Zwiebeln ein, als wolle sie sie totschlagen. In ihren Augen standen Tränen. Sie wischte sich die Hand an der Schürze ab und dann mit der Schürze übers Gesicht. „Madonna, sind die Zwiebeln scharf!“
Argwöhnisch sah Mirella ihr zu. „Lass mich das machen.“
„Das gehört sich nicht.“
Mirella nahm ihr das Messer weg.
Gina schluchzte auf, während Mirella das Hackbrett zu sich heranzog. „Du ruinierst dir das Kleid.“
Unwillkürlich blickte Mirella an sich herab. „Es ist doch bloß ...“ Florentiner Stoff. Das hatte Fabrizio mit der Konkurrenz gemeint!
Entsetzt sah sie Gina an. „Die Seidenweber brennen unser Lager ab!“ Sie sprang auf. „Wir müssen den Männern beim Löschen helfen.“
Gina schluchzte lauter. „Bleib hier! Es ist gefährlich!“
„Eben!“ Mirella griff nach dem Eimer, der unter dem Waschtisch stand. Einen Moment zögerte sie; dann nahm sie den Ausgang über den Hof, um Rita nicht zu begegnen. Die Mutter würde sie womöglich aufhalten wollen.
Mit dem Eimer in der Hand lief sie auf die Straße. Der Glashändler von gegenüber, Antonio Varese, ließ gerade seine Kutsche auf die Straße rollen. Während der Kutscher ihm die Tür aufhielt, wollte Mirella an ihnen vorbeirennen.
„Langsam!“ Varese erwischte sie an einer Schleife ihres Kleides.
Mirella packte seine Hand. „Lasst mich!“
„Steig ein, wir haben den gleichen Weg!“ Er griff nach ihrem Eimer.
In der Kutsche saßen drei von Vareses Dienstboten, Eimer auf dem Schoß oder zwischen den Füßen. Mirella stieg ein und der Nachbar zwängte sich neben sie.
„Ich fürchte allerdings, wir werden zu spät kommen. Warum hat uns Ihr Vater nicht gleich zu Hilfe geholt?“
Die Straßen waren immer noch voller Menschen. Sie brauchten lange, bis sie den Kai erreichten, an dem das Lagerhaus stand. Der Geruch von Rauch stieg Mirella in die Nase. Die Gesichter der Dienstboten wurden grimmig, verbissen.
Metall klirrte auf Metall. Männer brüllten; dann gab es einen lang gezogenen Schrei, der ihr einen eisigen Schauer den Rücken hinunterjagte.
Varese schob den Vorhang beiseite und warf einen Blick nach draußen. „Sie bleibt hier, Signorina!“
„Aber ...“
„Keine Widerrede. Ihr Bruder bringt mich um, wenn Ihr etwas passiert.“
Er stieg aus, noch ehe die Kutsche ganz angehalten hatte, und winkte seinem Kutscher. „Cesare, sorg dafür, dass die Signorina hier bleibt.“ Die anderen Männer folgten ihm.
Mirella stand auf.
„Signorina, bitte.“
Sie schenkte Cesare ein Lächeln. Er war kaum älter als sie; sie sollte ihn bezaubern können. „Er kann mich doch aussteigen lassen. Ich möchte sehen, was dort passiert.“
Cesares Miene blieb starr. „So schau Sie aus dem Fenster.“ Er legte die Hand auf den Türgriff.
„Wollte Er nicht auch helfen?“
Er nickte. „Das hat Sie vereitelt.“
Mirella schlug einen Moment wie beschämt die Augen nieder und senkte ihre Stimme. „Das tut mir leid.“ Sie blickte wieder auf. „Aber geh Er nur. Nehm Er Seinen Eimer und helfe. Mir wird schon nichts passieren.“
Er nahm tatsächlich seinen Eimer hoch; aber dann krallte er beide Hände um den Henkel und drückte die Arme steif an den Körper. Er sah sie nicht an, als er antwortete. „Ich gehorche dem padrone.“
Mirella stemmte die Ellenbogen auf den Fensterrahmen und streckte den Kopf hinaus.
Vor den Lagerhäusern am Ende des Piers blitzten im Feuerschein Messer und Säbel auf. Wo waren Dario und Enzo?
Sie fasste nach dem Türgriff, aber Cesare hielt ihn von außen fest. Blitzschnell beugte sie sich heraus und biss ihn in den bloßen Arm. Er wich zurück und ließ los; sie riss die Tür auf und schlug sie ihm an den Kopf. Er taumelte und sie sprang hinaus.
Aber als sie sich aufrichtete, war er neben ihr und packte sie. „Sie bleibt hier!“ Er presste sie fest an sich, umklammerte sie mit beiden Armen. Sie trat nach ihm und strampelte, aber es half nichts. Er war stärker, hob sie hoch und zwang sie in die Kutsche zurück.
Ihre Köpfe stießen aneinander. In seinen Augen blitzte es auf – und dann küsste er sie. Zuerst lag sein Mund hart auf dem ihren, dann wurden seine Lippen sanft und so weich, als wären sie aus Samt.
Er ließ sie abrupt los. „Vergeb Sie mir, Signorina, wenn Sie kann. Ich habe mich vergessen.“
Sie starrte ihn mit halb geöffnetem Mund an. Jetzt musste sie ihn ohrfeigen.
Langsam hob sie die Hand. Dann legte sie die Fingerspitzen auf ihre Lippen und starrte weiter.
In Cesares Augen glomm immer noch ein Licht; und es war nicht der Widerschein des Feuers.
Mirella atmete durch. „Es geschehen viele Dinge in diesen Tagen, die nicht schicklich sind.“
Ihr Blick ging hinüber zu den Lagerhäusern. Die Männer schienen zur Vernunft gekommen und hatten ihre Zweikämpfe beendet. Sie formierten Ketten und begannen, Eimer zum Löschen weiterzureichen. Aber sie kämpften nicht mehr um das Lagerhaus der Scandore, sondern versuchten, ein Übergreifen des Feuers auf die angrenzenden Gebäude zu verhindern.
„Wir sollten beide helfen. Sie schlagen sich nicht mehr.“
Cesare drehte sich nach dem Feuer um. Dann nickte er. „Wir stellen uns ans Ende der Wasserkette.“
Erleichtert ließ Mirella sich von ihm aus der Kutsche helfen. Wieder waren sie sich ganz nahe. Aus seinem Haar strömte ein süßlicher Duft und überdeckte für einen Moment den Geruch des Rauchs, der zu ihnen herüber wehte. Ob Felipe sie auch so küssen würde?
Sie packten ihre Eimer und liefen zu den Helfern an die Kaimauer.
Immer wieder blickte Mirella sich suchend um, während sie Eimer um Eimer weiterreichte, die Cesare und ein zweiter Mann aus dem Meer hochzogen. Aber sie sah weder Varese noch Dario oder Enzo.
Dann gab es einen dumpfen Schlag wie bei einer Explosion. Cesare riss Mirella zu Boden und warf sich über sie. Die brennende Fassade des Lagerhauses stürzte nach vorn; laut prasselte eine Stichflamme hoch. Eine Hitzewelle fegte über sie hinweg.
Als Cesare sich zur Seite rollte und ihr auf die Beine half, brannten ihre Knie; aber sie scheute sich, die Röcke zu heben und nachzusehen.
„Es ist gefährlicher als ich dachte. Ich bringe Sie zur Kutsche zurück.“
Nun hatte sie nichts dagegen einzuwenden; es war eh alles verloren. Sie gab ihm ihre Hand und bemühte sich, nicht zu hinken, als sie neben ihm her ging. Er sollte sich keine Vorwürfe machen. Aber als sie dann das Knie beugte, um in die Kutsche zu steigen, entfuhr ihr doch ein Stöhnen; er schien es jedoch nicht zu bemerken.
Cesare lehnte sich an die Kutsche, den Blick zum Brandherd.
Vorsichtig lupfte sie den Rock, damit der Stoff nicht an den aufgeschundenen Knien festklebte. Ihre Schultern schmerzten von der ungewohnten Last der unzähligen Eimer. Und sie war müde; sie wünschte sich nur noch, auf der Stelle in ihr Bett kriechen zu können.
Es war Nacht, als die Männer schließlich ihre Eimer absetzten. Der Mond beschien einen rauchenden Trümmerhaufen, aus dem das Skelett einzelner Balken in den Himmel ragte.
„Ob sie etwas von den Waren retten konnten?“
Cesare drehte sich zu Mirella um. „Kaum. Was nicht verbrannt ist, wird das Wasser ruiniert haben.“
Kurz darauf kam Varese mit seinen Männern zurück. Er musterte erst Cesare, dann Mirella und zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. Aber er sagte nichts, als er einstieg.
„Hat Er Dario gesehen? Und Vater?“
Er nickte. „Sie räumen auf, um Brandnester zu finden.“
Mirella schluckte; dann wagte sie die Frage, die ihr auf dem Herzen brannte. „Was ist übrig geblieben?“
Varese strich mit dem Zeigefinger ihre Wange entlang. „Wo kommt die Rußspur her?“
„Er hat meine Frage nicht beantwortet.“
„Nichts, Kind.“
***
Im Morgengrauen kamen Dario und Enzo nach Hause. Sie schienen zu streiten, als sie die Treppe hoch kamen.
Mirella rutschte aus dem Bett und bückte sich nach ihren Pantoffeln. An ihren Armen hingen Bleigewichte und jede Bewegung der Knie jagte ihr einen stechenden Schmerz durch den ganzen Körper. Sie schlurfte zur Tür und öffnete sie.
„Es muss ein Ende haben!“ Dario hieb mit der Faust aufs Geländer.
„Wir werden den Schaden irgendwie verschmerzen. Seien wir froh, dass es keinen Toten gegeben hat.“
„Das nächste Mal wird es einen geben. Oder das übernächste Mal.“
Enzo blieb am Treppenabsatz stehen. „Wenn du so denkst, dann müsste dir daran gelegen sein, den Kompromiss mit dem Vizekönig durchzusetzen. Statt ...“
„Vater?“ Mirella lehnte sich in den Türrahmen. „Geht es euch gut?“
„Wir sind in Ordnung.“ Dario kam mit drei schnellen Schritten auf sie zu. „Hast du auf uns gewartet?“
Sein Gesicht war voller schwarzer Flecken; zögernd streckte sie die Hand aus und strich darüber. Bloß Ruß. Erleichtert atmete sie auf. Aber dann sah sie den Riss in seinem rechten Ärmel; der Rand war blutverkrustet. „Du bist verletzt.“
Er legte seine Hand auf den Riss. „Es ist nichts. Nicht jeder war damit einverstanden, dass wir das Feuer löschen wollten.“
„Das habe ich gesehen.“ Erschrocken presste sie sich die Hand auf den Mund.
„Wie?“ Enzo trat auf sie zu und musterte sie. „Du warst dort?“
Erst nickte sie eingeschüchtert; dann reckte sie das Kinn. „Eimer schleppen kann ich auch! Signor Varese hat mich mitgenommen. Und wieder nach Hause gefahren.“ Hitze stieg ihr ins Gesicht bei der Erinnerung an Cesares Lippen auf ihrem Mund. „Einer seiner Leute hat auf mich aufgepasst und dafür gesorgt, dass ich weit genug weg bleibe.“
„Meine tapfere Kleine. Dann musst du jetzt todmüde sein.“ Enzo gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Geh wieder ins Bett.“
Gina kam mit zwei dampfenden Wasserkrügen die Treppe hoch. „Ich habe auf Euch gewartet, padrone.“
Sie ging zuerst in Enzos Schlafzimmer, dann in Darios. „Soll ich mehr Wasser heiß machen?“
„Nicht jetzt.“ Enzo bewegte die Schultern langsam vor und zurück. „Morgen werden uns alle Knochen weh tun. Bereite die Badestube vor.“ Er wedelte Mirella in ihr Zimmer zurück. „Schlaf weiter.“
Gehorsam schloss sie die Tür von innen und blieb dann lauschend stehen. Als die Scharniere von Enzos Tür quietschten, begann sie zu zählen. Bei Hundert schlüpfte sie hinaus und schlich mit zusammengebissenen Zähnen zu Dario.
Er stand mit nacktem Oberkörper vor dem Spiegel und wusch sich vorsichtig die Armwunde aus.
„Ich helfe dir.“ Mirella nahm ihm das Tuch ab und tauchte es ins warme Wasser. „Wie ist das passiert?“
Dario verzog das Gesicht, als sie das Tuch auf die Wunde drückte. „Die Seidenweber. Sie glauben, wenn sie uns ruinieren, könnten sie ihre Stoffe teurer verkaufen.“
„Aber es ist doch so.“
„Im Gegenteil! Wenn der Zwischenhandel ausgeschaltet ist, werden die Spanier ihre Stoffe direkt aus Florenz beziehen. Dann wird der Druck noch größer.“
„Ich verstehe.“ Aber sie verstand nicht wirklich. Sie zog eine Schublade der Kommode auf, um nach einem Leinen zu suchen, mit dem sie ihn verbinden konnte.
Er hielt sie fest. „Hier findest du nichts.“
Schnell schloss er die Lade wieder, aber sie hatte doch gesehen, dass zwischen der Wäsche zwei Briefe lagen, die eine Wappenkrone trugen.
Sie grinste. „Du hast Stefanias Liebesbriefe schlecht versteckt.“
Einen Moment lang wirkte er verblüfft; dann nickte er lächelnd. Aber er blieb angespannt. „Mag sein. Aber Gina würde niemandem ein Wort sagen und Mamma betritt mein Zimmer nicht mehr.“
Irgend etwas kam ihr merkwürdig vor; er krächzte nicht nur vor Müdigkeit. „Oder sind diese nicht von Stefania?“
„Dann hätte ich einen wirklichen Grund, sie zu verstecken; meinst du nicht?“ Er öffnete den Schrank und holte ein Laken heraus. „Nimm das.“
Mirella riss zwei breite Streifen ab und faltete sie zusammen, sodass die ausgefransten Kanten nach innen zu liegen kamen. Dario streckte den Arm aus und sie begann, einen Streifen über die Wunde zu wickeln.
Die Enden des Leinenstreifens verknotete sie über der Schulter. Dann nahm sie einen zweiten Streifen und probierte aus, ob er lang genug war, dass Dario den Arm in einer Schlinge tragen konnte.
„Zieh etwas über.“ Das zerrissene Hemd lag zusammengeknüllt auf dem Fußboden; Mirella drehte sich um und ehe Dario sie daran hindern konnte, hatte sie die Kommode geöffnet und zog mit einer flinken Bewegung ein neues heraus. Einer der Briefe fiel dabei zu Boden. Das Wappen auf dem Brief war nicht das der Oliveto. Sie legte ihn wieder in die Kommode.
„Du solltest ihn doch verstecken.“
„Warum? Nach dem Überfall auf unser Kontor wird in diesem Haus niemand mehr auf Seiten der Aufständischen stehen.“ Er zog sich das Hemd über den gesunden Arm und ließ sich von Mirella in den anderen helfen.
„Aber mit Vater hast du dich eben gestritten: Zumindest er teilt deine Meinung nicht.“
Er seufzte. „Wann sind wir uns schon einmal einig gewesen?“
Sie setzte sich mit ihm aufs Bett und schnürte ihm das Hemd zu. „Der Herzog von Maddaloni – was tut er in Pizzofalcone?“
Er sah ihr schweigend zu, als wüsste er darauf keine Antwort.
„Er scheint im Gallo bianco ein und aus zu gehen.“
Wieder sagte Dario nichts dazu.
„Du und Maddaloni, ihr plant etwas. Die Briefe sind nicht von Stefania.“
„Du musst nicht alles wissen.“
„Ich kann dir helfen.“ Sie berührte vorsichtig seinen Arm. „Es wird eine Weile dauern, bis du ihn wieder gebrauchen kannst.“
„Ich fechte mit der Linken fast ebenso gut.“
Erschrocken ließ sie das Bändel los, das sie gerade verknoten wollte. „Fechten?“
Dario nickte. „Auf den Vizekönig können wir uns nicht verlassen. Seine Truppen sind fett geworden und überdies längst mit den Neapolitanern verbrüdert. Die Barone dagegen wollen und können dem Spuk ein Ende bereiten.“
„Und du machst mit?“ Ihr stockte der Atem. „Aber die Menschen haben doch Recht, wenn sie sich gegen die Steuern wehren.“
Er hob ihr Gesicht zu sich empor und sah sie forschend an. „Bist du nicht mit einem Spanier verlobt?“
Sie stieß seine Hand beiseite. „Was hat das damit zu tun?“
„Haben sie auch Recht, wenn sie Vaters Lager anzünden?“
Mirella senkte den Kopf.
„Als nächstes vielleicht unser Haus?“
„Nein.“
„Ohne die Spanier ... Ohne sie haben wir keine Zukunft.“
„Wer weiß, ob wir mit ihnen eine haben. Du und ich vielleicht.“ Mirella ballte die Fäuste. „Aber Neapel verhungert.“
„Das tut es jetzt auch. Ist dir nicht klar, dass Vater vor dem Ruin steht? Fischer und Waffenschmiede kaufen kein Florentiner Tuch. Und die Seidenweber wollen mehr Geld für ihre armseligen Stoffe.“ Er hielt ihr die losen Bündel hin und Mirella band sie mit zornig zusammengepressten Lippen zusammen.
„Du warst sehr mutig heute Nacht. Vielleicht kann ich deine Hilfe tatsächlich brauchen. So weit es dich nicht in Gefahr bringt.“ Er schob sie von der Bettkante. „Nun lass mich endlich schlafen.“
***
Mirella blinzelte gegen die Sonne, die ihr voll ins Gesicht schien. Später Vormittag schon. Sicher waren Dario und der Vater längst wieder am Lagerhaus. Gewiss könnte sie auch helfen.
Behutsam kroch sie aus dem Bett; jeder Muskel tat ihr weh.
Sie rief nach Gina und dann suchte sie im Kleiderschrank nach einem Kleid, das alt genug war, um nicht Ritas Ärger heraufzubeschwören, falls sie es ruinierte.
Misstrauisch betrachtete Gina den Rock, für den sie sich schließlich entschieden hatte. „Was hast du vor?“
„Weißt du, wie lange Vater und Dario fort sein werden?“
„Sie werden nicht zum Mittagessen kommen; ich habe ihnen Gemüsekuchen backen müssen.“
Sie trat näher ans Fenster und zog Gina, die eine halb gebundene Schleife zwischen den Fingern hielt, mit sich. Über dem Vesuv türmten sich die Wolken ambossförmig in die Höhe. „Das sieht nach einem Gewitter aus. Aber ich will zu den Oliveto heute Nachmittag. Sag mir Bescheid, falls Fabrizio zurückkommt.“
„Und dann ziehst du dich so an?“ Gina sah ihr von der Seite ins Gesicht. „Du warst doch gestern früh schon bei Stefania. Oder nicht?“ Ihre Stimme klang argwöhnisch.
„War ich nicht. Ich wollte zuerst herausfinden, was der Tumult auf den Straßen zu bedeuten hatte. Und danach ...“
„Dann habe ich Fabrizio wohl falsch verstanden.“
Was war sie doch dumm: So hatte Fabrizio dicht gehalten und nun hatte sie sich selber verraten. Und ihn kompromittiert. Zu ärgerlich. „Du wirst wohl alt, meine Gute.“
Gina seufzte. „Wohl wahr; ich spüre meine Knochen immer mehr.“ Sie streckte ihre knotigen Finger aus. „Das Nähen fällt mir von Tag zu Tag schwerer.“
Niemand im Haus hatte bislang daran gedacht, dass sie sich mehr um Gina kümmern sollten; sie würde es Rita sagen. „Dann lass doch das Mädchen die Arbeiten machen, die dir zu schwer werden. Du hast immer noch genug zu tun.“
Gina schloss mit einer heftigen Bewegung den nächsten Haken. „Du führst etwas im Schilde. Oder hast etwas angestellt.“
„Aber Gina!“ Mirella schob ihre Hände beiseite und drehte sich um. „Ich bin kein Kind mehr. Und du ... Ich mache mir wirklich Gedanken.“
„Schon gut.“ Gina nahm ihre Tätigkeit in Mirellas Rücken wieder auf.
„Wie komme ich in die Stadt?“
„Gar nicht. Deine Mutter wird es nicht erlauben. Du hättest sie sehen sollen, als dein Vater davon erzählte, dass du auch am Kai warst.“
„Mutter fällt immer gleich in Ohnmacht.“ Mirella rümpfte die Nase. „Mir ist doch nichts passiert. Mir nicht.“ Aber was erzählte sie Gina das? Für Rita musste ihr etwas einfallen. Oder auch nicht. Es war noch eine Weile hin bis zum Abend.
Nach dem Frühstück nahm Mirella im Salon ihr Stickzeug und setzte sich ans Fenster.
Plötzlich kam ein merkwürdiger Ton von draußen; dumpf, grollend. Das war nicht das Gewitter.
Mirella öffnete das Fenster. Da war der Ton wieder. Er kam von der anderen Seite des Hauses. Aus der Stadt.
Es knallte mehrmals hintereinander. Das waren Schüsse aus Arkebusen oder Musketen. Also war der andere Ton Kanonendonner. Aber wer schoss dort auf wen? Und wo? Vielleicht sah sie vom Hof aus etwas.
Mitten im Flur stand Gina und rang die Hände. Buchstäblich. Dabei murmelte sie ein Ave Maria.
„Was hast du denn?“ Sie waren hier doch sicher; so weit reichten die Geschütze der Spanier nicht.
Rita kam aus ihrem Zimmer, perfekt frisiert und gekleidet. „Wo willst du hin, Kind?“
„Nach draußen. Vielleicht kann ich von dort etwas sehen.“
Rita seufzte. „Sie schießen aufeinander. Hast du die Kanonen gehört? Es scheint, die Meute will die Garnison erobern, um sich besser auszurüsten.“ Erst Gina; nun Rita: Sie musste ernsthaft besorgt sein, dass sie wusste, was unten in der Stadt vorging; es passte so wenig zu ihr.
„Aber wozu denn? Don Rodrigo hat doch alles getan, was sie wollten.“
„Das verstehst du noch nicht, Kind.“ Rita nahm sie an der Hand. „Was machst du gerade?“
„Dann erklär Sie es mir.“ Mirella hakte sich bei ihr ein.
Aber Rita schüttelte den Kopf. „Das ist Politik; frag deinen Vater. Oder Dario.“
„Dario sagt, bei Politik denkt jeder nur an sich selbst.“
Während des Mittagessens kam Fabrizio doch zurück. „Der padrone will Essen für alle Helfer.“
Wie zu erwarten, schlug Gina die Hände über dem Kopf zusammen. „Warum erfahre ich das erst jetzt? Und woher soll ich das alles nehmen?“
Mirella erhob sich; das war die Gelegenheit fortzukommen. „Ich helfe dir.“ Ritas Blick sagte ihr, dass sie ihr für dieses Mal das schlechte Benehmen verzieh.
Gemeinsam mit Fabrizio plünderte sie die Speisekammer: Käse, Speck und Salami; dazu ein Korb mit Pfirsichen und ein zweiter mit Melonen. „Wir kaufen unterwegs Brot.“
„Wir?“ Gina sah sie verwundert an.
„Ich fahre mit. Es braucht schließlich jemanden, der das Essen verteilt.“
Hoffentlich würde Rita es nicht zu gefährlich finden. Aber in der letzten halben Stunde war nicht mehr geschossen worden; vielleicht war es für heute zu Ende. „Fabrizio, was war heute Vormittag los in der Stadt?“
Er packte die Körbe in die Kutsche, dann kam er zurück und ließ sich die Käse auf die Arme laden. „Es wird jetzt eine richtige Miliz aufgestellt. Ein Waffenschmied hat die Führung übernommen. Der weiß, was man braucht und kann den Leuten das Schießen beibringen.“
„Und seine Waffen verkaufen.“ Was Dario über Politik gesagt hatte; das war ja wohl ein gutes Beispiel.
Fabrizio feixte. „Von was sollten die Leute die bezahlen?“
Das war auch wieder wahr. Sie hatte wirklich wenig Ahnung.
Die Mittagszeit war noch nicht vorüber, als sie sich auf den Weg machten. Nicht nur die Frauen, auch Männer standen in kleinen Gruppen zusammen. Den heftigen Gesten nach zu urteilen, waren sie aufs Höchste in Aufregung.
Mirella öffnete das Fenster und beugte sich heraus, um im Vorbeifahren etwas von den Gesprächen aufzuschnappen.
Zwei Namen fielen immer wieder. Annese: Das musste der Waffenschmied sein; Dario hatte den Namen am Sonntag genannt. Und der Name von Genoino; in den Gruppen der Männer oft mit einem Fluch verbunden. Warum nur? Verdankten sie nicht ihm alles, was sie erreicht hatten? Die neue Freiheit, die Erneuerung der Privilegien.
Fabrizio musste bei zwei Bäckern halten, um ausreichend Brot zu kaufen. Wenn das so weiterginge, würden sie bald gar nichts mehr zu essen haben.
Aus dem abgebrannten Lagerhaus stieg an einzelnen Stellen noch immer Rauch auf. Dort standen Männer mit Eimern und schütteten Wasser darüber. Andere räumten den Schutt beiseite, stapelten die angekohlten Balken, schippten die Asche in Karren und schütteten sie ins Hafenbecken. An die zwanzig Mann hatten sich zur Hilfe eingefunden.
Der größte Teil des Gebäudes war bis auf den Erdboden niedergebrannt. Dem Kai zugewandt stand noch eine Ecke; diese Wände waren mit Ziegeln aufgemauert gewesen. Das Kontor hatte sich dort befunden.
Enzo legte gerade eine eisenbeschlagene Truhe frei; sie schien das Feuer einigermaßen unversehrt überstanden zu haben. Dario hatte den Arm aus der Schlinge genommen und benutzte mit verzerrtem Gesicht beide Hände, um ihm zu helfen.
Mirella hieß Fabrizio, das Essen abzuladen, und ging zu den beiden. Darios Ärmel war blutdurchtränkt. So viele Helfer; wie konnte Enzo da zulassen, dass er mit anpackte? Aber wenn sie jetzt etwas sagte, würde Dario ihn verteidigen.
„Wir wussten nicht, dass Er so viele Leute hat. Es wird nicht reichen.“
Enzo sah nur kurz auf. „Wenn nur jeder etwas bekommt ...“ Er zog einen Schlüssel aus der Jackentasche. „Gut, dass ich den nie im Kontor lasse.“
Als Enzo nach einem Griff packte, schob Mirella Dario beiseite und fasste mit an. Sie stellten die Truhe einigermaßen aufrecht, dann kniete sich Enzo davor. Er schien Mühe zu haben, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Als er versuchte, ihn zu drehen, bewegte er sich nur um Millimeter. „Verzogen!“
„Umso besser!“ Dario klang sarkastisch. „So ist wenigstens noch alles da.“
Enzo wandte sich an Mirella. „Sag Fabrizio; er soll sie nach Hause bringen.“
„Was ist da drin? Geld?“
Dario schüttelte den Kopf. „Die Bücher. Aber das ist so gut wie Geld, was die ausstehenden Zahlungen betrifft.“
„Nur, dass wir sie derzeit kaum eintreiben können.“ Enzo schlang ein Seil um die Truhe und zog sie zusammen mit einem der Helfer ganz aus den Trümmern. „Einer der Nachbarn soll euch beim Ausladen helfen. Lasst sie nur im Hof stehen; die ist später eh nicht mehr zu gebrauchen.“
Sie luden die Truhe zu dritt in die Kutsche. Keiner achtete darauf, dass sie dabei die Polster mit Ruß und Dreck beschmierten. Dann ließ Enzo Mirella das Essen verteilen, das Fabrizio auf der Kaimauer abgestellt hatte.
Dario nahm sein Brot von ihr entgegen und setzte sich neben Enzo auf die Kaimauer. „Sei vorsichtig, wenn du nach Hause fährst. Fahrt über den Pizzofalcone; es ist zwar ein Umweg und die Pferde werden zu schaffen haben mit der schweren Truhe. Aber so weicht ihr sicher der Miliz aus.“
Mirella glaubte zu begreifen, was er ihr sagen wollte. Aber in Enzos Gegenwart tat sie besser daran, den Schein zu wahren. Konzentriert schnitt sie weiter den Käse auf. „Warum sollte die Miliz mir gefährlich werden? Ich bin doch kein gabelliere.“
„Vater ist auch keiner; dennoch haben die Seidenweber unser Lager angezündet.“
„Annese hat mehr vor als nur die Steuern abzuschaffen.“ Der Mann neben Dario grinste breit. „Unsere Söhne werden nicht länger in Flandern in einem Krieg sterben, der nicht der unsere ist.“
Mirella ließ das Messer sinken und starrte ihn erschrocken an. „Soll das heißen, er kämpft gegen die Spanier?“
„Es wird darauf hinauslaufen.“ Enzo sah nicht so aus, als ob ihm das gefiele. „Freilich habe ich eh nichts mehr, was ich ihnen verkaufen könnte.“ Er ging mit müden Schritten zu den Trümmern zurück.
„Wir werden es wieder aufbauen. Größer als zuvor“, rief Dario ihm nach. „Wenn erst dieser Spuk zu Ende ist. Und wir werden weiter Florentiner Stoffe verkaufen.“
Enzo reagierte nicht darauf. Wahllos schob er Teile des Schutts hin und her. Es war genauso zwecklos wie ein Gespräch über seine Sorgen. Wie viel Geld mochten sie überhaupt noch haben?
Mirella lud die leeren Körbe ein. Dann quetschte sie sich selber in die Kutsche. „Du hast Dario gehört: Wir fahren über den Pizzofalcone nach Hause.“
Fabrizio nickte mit finsterem Gesicht. „Ich glaube nicht, dass es weniger gefährlich ist. Aber sehr viel schwieriger für die Pferde.“
Doch der Weg war tatsächlich frei, während in anderen Teilen der Stadt die Schießerei wieder begonnen hatte. Zwei Straßenecken vom Gallo bianco entfernt ließ Mirella halten und stieg aus.
Ihr Rock war voller Ruß. Sie versuchte, den Dreck abzuwischen, machte es aber nur noch schlimmer, denn das Löschwasser hatte den Ruß in eine widerliche Schmiere verwandelt. Hoffentlich war nicht so viel Wasser in den Schrank eingedrungen, dass die Bücher unlesbar geworden waren.
„Wo will Sie hin, Signorina? Wir können die Kutsche nicht unbewacht hier stehen lassen.“ Natürlich; Fabrizio wollte sie begleiten.
„Wer sollte den Schrank mitnehmen können? Aber du hast recht; bleib hier.“
„Es ist gefährlich, allein herumzulaufen.“
Was für ein Angsthase! Sie hätte nicht gedacht, dass ein erwachsener Mann so furchtsam sein könnte. „Hier? In diesem Wohnviertel? Hier wohnen ehrbare Leute.“ Nun ja; er hatte den Wirt gesehen.
Mirella raffte ihre Röcke und beeilte sich.
Der Gallo bianco lag im Dunkeln wie am Vortag. Sollte er nicht um diese Zeit schon geöffnet haben?
Knarrend öffnete sich gegenüber ein Fenster. „Sie werden gleich zurück sein. Sie kommt zu Fuß heute? Will Sie so lange bei mir warten?“
Mirella drehte sich um. Die Alte winkte sie zu sich herüber. Anscheinend hing sie Tag und Nacht am Fenster; wer weiß, was sie ihr alles erzählen konnte. Dankend nahm Mirella das Angebot an und verschwendete keinen weiteren Gedanken an den wartenden Fabrizio.
Neugierig betrat sie das schmale Häuschen. Es gab nur einen Raum; Küche und Zimmer zugleich. Eine Stiege führte ins Dach; vermutlich war dort die Kammer. Durch ein schmales Fenster drang vom Hof spärliches Licht; vermutlich war er winzig und dunkel. Die Sonne schien dagegen durch das geöffnete Fenster, das zur Straße ging, und ließ die Beschläge der Uhr auf dem Kaminsims glänzen.
„Sie ist sehr freundlich, Signora.“
„Cristina. Darf ich Ihr etwas bringen? Eine Schokolade?“ Sie wies auf einen gepolsterten Stuhl mit breiten Armlehnen neben dem Fenster. „Das ist der bequemste Platz; dort sitze ich immer.“
„Dann will ich ihn Ihr nicht wegnehmen. Und die Schokolade will ich Ihr auch nicht wegtrinken.“
„Aber Sie sieht dort gleich, wenn der Giacomo nach Hause kommt. – Der Wirt.“ Sie schürte das Feuer im Küchenherd. „Es ist noch Glut vom Mittagessen da. Ich koche immer noch so wie früher, als mein lieber Mann lebte.“
Mirella setzte sich auf den Platz am Fenster. Von hier entging der Frau tatsächlich nichts. Man blickte bis zur Einmündung in die Gasse; niemand konnte unbemerkt kommen oder gehen. „Wäre es nicht viel bequemer“, sie deutete nach draußen, „gegenüber zu essen?“
„Mag sein. Aber die Leute dort ...“
„Warum?“ Mirella lehnte sich zurück; sie wollte nicht zu neugierig erscheinen. „Was ist mit denen?“
„Fremde. Alles Männer von außerhalb. Ich traue ihnen nichts Gutes zu.“ Sie setzte einen Topf mit Milch auf den Herd und holte eine kleine Holzkiste und eine Schale mit Zucker aus dem Schrank neben dem Hoffenster. „Freilich wird es bald schwer werden, Schokolade zu kaufen. Also genießen wir, so lange wir es können.“ Sie schob einen Stuhl neben Mirella. „Ich bin alt; es bleibt mir keine Zeit, etwas für später aufzuheben. Mein Adriano starb von einem Tag auf den anderen. Ein Unfall am Hafen. Er war immer sehr sparsam. Und was hat er davon gehabt?“
„Nichts?“ Mirella nickte verständnisvoll. „Sie hat ganz recht. Darum würde ich mir an Ihrer Stelle auch keine Gedanken machen, wer sonst noch in dieses Gasthaus geht.“
„Es ist aber zum Nachdenken. Vielleicht sollte ich sogar die Reggia informieren.“
„Wegen ein paar Briganten?“ Mirella lachte. „War nicht vor kurzem ein Schmuggler sogar Herr der Stadt?“
„Aber diese sind anders. Masaniello war einer der Unseren. Und neuerdings tauchen immer öfter feine Herren auf. Die ein Wappen an ihren Kutschen führen.“
„Was für Wappen?“
Cristina hob die Schultern. „Ich weiß es nicht. Einer hat eine Krone darüber. Ein Graf oder ein Herzog.“ Sie sprang auf, erstaunlich behände für ihr Alter. „Die Milch.“
Sie zog den Topf an den Rand des Herds und löffelte Kakao aus dem Holzkistchen; dann schob sie den Topf wieder mitten auf den Herd und rührte. Der Duft von Schokolade breitete sich in der Stube aus.
„Was sucht so einer hier?“ Cristina löffelte Unmengen Zucker in den Topf. Sie stellte zwei Tassen auf den Tisch und dazu die Zuckerschale. „Falls es Ihr nicht süß genug ist.“
„Bestimmt könnte der Wirt Ihr die Frage beantworten.“
„Gewiss. Aber der schweigt wie ein Grab. Und seine Frau hält sich für was Besseres; eine ganz Hochnäsige.“ Was wohl hieß, dass die Wirtin keine Zeit für Klatsch hatte.
Mirella ließ sich eine Tasse reichen und nippte vorsichtig an der dampfenden Schokolade. Widerlich süß; sie hatte es befürchtet. Sie schluckte schwer; dann trank sie tapfer die halbe Tasse aus, bevor sie sie absetzte.
Cristina hatte sie aufmerksam beobachtet und hielt ihr nun den Zucker hin. „Ich tue immer zu wenig Zucker hinein. Schon mein Adriano hat sich darüber beklagt, dass die Schokolade zu bitter wäre.“
Mirella lächelte. „Mir ist es genug Zucker. Im übrigen ...“ Was pflegte Gina ihr zu sagen, wenn es einmal Schokolade gab? „Vielleicht muss man ihn zusammen mit dem Kakao kochen?“
Cristina machte ein grimmiges Gesicht; ihre Stimme bekam einen keifenden Klang. „Meint Sie, ich wüsste nicht, wie man Schokolade kocht? Ich habe schon in der Küche des Vizekönigs gearbeitet, als Sie noch in die Windeln gemacht hat.“
Mirella wurde rot. „So ... habe ich das nicht gemeint. Was ich sagen wollte ...“ Sie biss sich auf die Lippen. Was hatte sie eigentlich sagen wollen? Dass ihr die Schokolade viel zu süß war? Die Alte wäre tief gekränkt.
„Warum trinkt Sie sie dann nicht aus?“
Mirella unterdrückte einen Seufzer und nahm die Tasse wieder in die Hand; da hallte das Rattern von Rädern durch die Gasse.
„Da kommt der Wirt.“
„Sie erkennt seine Kutsche am Klang der Räder?“
„Das ist ein Karren; wie sollte er eine Kutsche besitzen!“
Mirella stellte die Tasse ab. „Ich danke Ihr sehr für Ihre Gastfreundschaft.“
Die Alte stand auf und trat ans Fenster. „Er hat wieder ein paar aufgesammelt.“ Sie zischte missbilligend.
Mirella knickste vor ihr und verabschiedete sich dann eilig, damit sie nicht den Rest der Schokolade trinken musste.
Als Mirella auf die Straße trat, stand das Fuhrwerk verlassen da. Sie würde hoffentlich in der Trattoria sehen, wen der Wirt mitgebracht hatte. Die Tür zum Wirtshaus war einen Spalt breit geöffnet und es schimmerte ein wenig Licht heraus.
Mirella stieß die Tür so weit auf, dass sie in die Schankstube blicken konnte. Die Hälfte der Tische war zum Essen eingedeckt, ganz fein mit bunten Leinentüchern; erstaunlich. Und sie hatte die Trattoria für schäbig gehalten. Aber es war niemand da, auch nicht hinter dem Schanktisch.
Sie schob die Tür weiter auf. Im Dunkel am Ende des Raums gab es eine weitere Tür. Sie hätte doch aus dem Fenster schauen sollen, bevor sie gegangen war; dann wüsste sie jetzt, welches Haus die Männer betreten hatten.
Leise durchquerte sie die Schankstube und öffnete. Dahinter lag ein dunkler Flur, von dem drei Türen abgingen. Eine führte sicher in die Küche, die zweite mit der Glasscheibe in den Hof. Aber rechts die dritte? Das Haus des Wirts lag auf der linken Seite des Gebäudes. Hier vom Flur aus ging es nicht dorthin. Eine schmale Stiege führte in einen Keller und mit einer Wendel hoch in den oberen Stock.
Über Mirella knarrte es; erschrocken wich sie zur Schankstube zurück. Aber die Neugier siegte und so blieb sie an der Tür stehen.
Die Dielen über ihr knarrten lauter; dann kamen auf der Treppe zwei nackte Füße zum Vorschein, die in ausgefransten Hosen steckten. Ein stämmiger Mann kam herunter. Er trug einen dunkelblauen Rock, aus dessen Ärmel die schmutziggrauen Rüschen eines einstmals eleganten Hemdes ragten. In seiner roten Seidenschärpe steckte ein kurzer Säbel.
Er lächelte freundlich. „Hat Sie sich verlaufen, Signorina?“
Fast hätte Mirella ob der höflichen Anrede einen Knicks gemacht. „Ich suche den Wirt.“
Der Mann deutete hinunter. „Er wird wohl im Keller sein. Zumindest wäre es ihm zu raten.“
„Warum?“
Der Mann sah sie überrascht an; dann kratzte er sich hinterm Ohr. „Weil wir etwas Besseres trinken wollen als er gewöhnlich verkauft.“
Ein intensiver Geruch nach Knoblauch stieg ihr in die Nase, als er dann vor ihr stand. Er griff nach ihrem Arm. Sie zuckte zusammen; niemand war da, der ihr helfen würde, wenn er jetzt ... Wie leichtsinnig, ganz allein hierher zu kommen.
Er schob sie durch die Tür in den Schankraum zurück. Dort hob er ihr Gesicht zu sich empor und betrachtete sie. „Sie ist was Besseres; Sie hat kluge Augen.“
Verblüfft über diese Bemerkung ließ sie sich seine Behandlung gefallen statt sich zu wehren.
Er lächelte wieder. „Wenn ich eine Tochter hätte, müsste sie aussehen wie Sie.“
„Wer ist Er?“, brachte sie schließlich hervor.
Wieder kratzte er sich hinterm Ohr. „Hat Ihr Bruder Sie geschickt?“
„Was weiß Er von meinem Bruder?“
„Ein Kind wie Sie. Was sollte Sie hier wollen, wenn niemand Sie geschickt hat?“
War es doch nicht der Herzog von Maddaloni gewesen, dem Darios Brief gegolten hatte? Aber er hatte ein Schreiben mit einer Adelskrone in seiner Kommode. Verwirrt setzte sie sich auf den nächstbesten Stuhl. Sollte sie ihm antworten? „Ich suche den Wirt.“
„Das sagte Sie schon. Wenn Sie nicht auf ihn warten will, muss Sie sich in den Keller bemühen.“ Er feixte; dann ging er hinter den Schanktisch und kam mit einer Flasche und zwei Gläsern wieder hervor. Die Flasche stellte er auf den Schanktisch, eins der Gläser auf den Tisch vor Mirella. Dann hielt er das andere gegen das Licht. „Mäßig.“ Er sah sie an. „Sie darf bestimmt noch keinen Wein trinken. Was möchte Sie?“
Mirella schüttelte den Kopf. „Nichts, danke. Ich hatte eben eine Schokolade.“
Sein Lächeln wurde breiter. „Die dürfte es hier kaum geben.“ Er schenkte sich das Glas bis zum Überlaufen voll. Dass er sich dann mit dem Rotwein begoss, als er es in die Hand nahm, schien ihn nicht zu bekümmern.
Aus dem Flur kam ein rumpelndes Geräusch; der Mann setzte das Glas ab und riss die Tür auf. Gemeinsam mit dem Wirt rollte er ein 50-Liter-Fass quer durch den Schankraum bis zum Ausgang, wo sie es aufrecht stellten.
Der Mann begutachtete zu ihrem Erstaunen das Fass von allen Seiten. Er trat sogar dagegen. Und Mirella wunderte sich noch mehr: Wieso gluckerte der Wein nicht? So schwer, wie es zu sein schien, konnte es nicht leer sein.
Er zog den Stopfen aus dem Fass. Dann nahm er eine Kerze von einem der Tische und zündete sie an.
„Wahnsinnig?“ Blitzschnell packte der Wirt zu und schlug ihm die Kerze aus der Hand.
Mirella begann, sich über den Mann zu amüsieren. „Vielleicht sollte Er den Wein probieren, bevor er ihn mitnimmt?“
„Den Wein?“ Er machte ein ziemlich dummes Gesicht.
Da mochte sie nicht darauf verzichten nachzusetzen. „Am Ende hat Er bloß Essig.“
„Vielleicht will ich das ja.“ Er kam zu ihr und schien sie noch einmal zu mustern. „Sie ist sehr aufmerksam.“
Ging sie das eigentlich etwas an? Es wurde Zeit, hier wegzukommen. „Mein Bruder ...“ Sie blickte zwischen ihm und dem Wirt hin und her, unsicher, ob sie in Gegenwart des Fremden reden könnte.
„Pastina ist einer der unseren. – Wieso schickt Dario Sie schon jetzt?“
„Ich hoffte, Sein Gast von vorgestern ...“
„Welcher Gast?“, unterbrach Pastina sie. Er stemmte die Fäuste in die Seiten und kniff die Augen zusammen.
„Ich habe ihn gesehen, als er das Wirtshaus verließ.“ Sein misstrauischer Blick hatte dem Wirt gegolten. Dennoch schüchterte er sie ein; so musste es sein, wenn man verhört wurde.
„Ich habe trotzdem etwas für Ihren Bruder.“ Der Wirt verließ den Schankraum; es dauerte eine Weile, bis er zurückkam. Er stellte eine lederne Schatulle auf den Tisch und zog einen kleinen Leinenbeutel aus seinem Hemd.
„Das gibt Sie Ihrem Bruder.“ Er holte eine Stange Siegellack aus seiner Hosentasche und zündete eine der Kerzen an.
Pastina rollte den Beutel zusammen und der Wirt ließ den Lack auf die offene Kante tropfen. „Nicht öffnen.“ Eigentlich überflüssig zu sagen angesichts der aufwändigen Prozedur.
„Er traut mir nicht.“ Sie zog einen Schmollmund.
„Die Sachen könnten in unbefugte Hände fallen, bevor Sie sie Dario aushändigt.“
„Dann nützt auch das Siegel nichts.“ Mirella lachte ihn aus. Natürlich wollte er vermeiden, dass sie sich den Inhalt ansah. „Denkt Er, dass man mich in dieser Gasse überfällt, bevor ich die Kutsche erreiche?“
„Nein, denn ich werde Sie begleiten.“ Pastina imitierte eine elegante Verneigung. „Ich hoffe, ich geniere Sie nicht allzu sehr mit meinem Anblick.“
Plötzlich scherte ihn sein Aussehen? Mirella gluckste amüsiert.
Der Wirt packte beide an den Armen. „Genug jetzt. Sicher wird die Signorina zu Hause erwartet.“
***
Wieder kamen die Männer erst nach Anbruch der Dunkelheit nach Hause. Enzo ging in den Hof zu seiner Truhe; Dario nach oben, weil Mirella ihn mit einer Kopfbewegung dorthin geschickt hatte.
Wie am Vorabend stand er mit nacktem Oberkörper vor dem Waschtisch, als sie eintrat. Sie stellte sich hinter ihn und strich mit ihren Händen über seine breiten Schultern. Wie mochte Felipe unbekleidet aussehen?
„Hast du eine Nachricht von Maddaloni für mich?“
„Das wohl nicht. Ich habe etwas Anderes.“ Sie trat an die Kommode und holte die Schatulle und den Beutel unter seiner Wäsche hervor. Sie „Ich dachte, ich verstecke es besser. Wer weiß, wann Gina einfällt aufzuräumen.“
„Kluges Mädchen. Leg es aufs Bett.“
Mirella biss sich auf die Lippen; zu gerne hätte sie gefragt, ob er nicht öffnen wolle. Aber nachdem er so ärgerlich über ihre Neugier gewesen war, unterließ sie es lieber.
„Hilfst du mir wieder?“ Er zog an dem Bändel, mit dem sie den Verband über der Schulter verknotet hatte.
„Ich hole sauberes Leinen.“
Als sie zurückkam, war das Siegel an dem Beutel erbrochen; ein versilberter Schlüssel steckte im Schloss der Schatulle.
Sie nahm Dario den Verband ab, den er inzwischen heruntergewickelt hatte, und begutachtete die Wunde. Die Ränder waren gerötet. „Wir sollten sie behandeln. Ich hole Gina.“
Er hielt sie fest. „Nein; es geht schon.“ Er lächelte. „Es tut auch überhaupt nicht weh.“
Also begann sie, ihn wieder zu verbinden. „Was ist da drin?“
„Wo?“ Er folgte ihrem Blick zum Bett. „Das ist nichts für dich, Schwesterchen.“
Aber sie musste doch nachfragen. „Was hast du mit diesen Leuten zu schaffen? Einer war da, der sah aus wie ein Brigant aus der Provinz.“
„Dann wird es wohl auch einer gewesen sein. Es ist schließlich ein Wirtshaus am Rande der Stadt.“ Er langte ihr unters Kinn und hob ihr Gesicht zu sich. „Hat er dich belästigt?“
Unwillkürlich kam ihr ein Lächeln. „Er war nett. Höflich. Er schien dich zu kennen.“
Dario nickte. „Pastina.”
„Wer ist das?“ Endlich bekam sie etwas in Erfahrung.
„Er hat den Aufstand in Salerno angeführt. Ein guter Stratege.“
„Du redest, als sprächest du von einem General.“ Sie verknotete den Verband.
Dario zog sich ein frisches Hemd über und sie half ihm beim Zuknöpfen.
„Er täte wohl dazu taugen.“
Mirella hörte auf zu knöpfen und starrte ihm ins Gesicht. „Was bedeutet das? Dario, stehst du plötzlich auf der Seite der Aufständischen?“
„Das tue ich nicht.“
„Gott sei Dank!“ Sie ließ sich auf sein Bett fallen. „Sie können doch nichts ausrichten gegen die Spanier. Nicht auf die Dauer.“ Sie kuschelte sich an seine Brust, als er sich neben sie setzte. „Versprich mir, dass du nichts tust, was dich in Gefahr bringt.“
„Das kann ich nicht.“
„Meinetwegen! Bitte!“ Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas passieren würde.“
„Dann hilf mir.“ Er strich ihr über die Haare. „Du hast den Brand gesehen. Es liegt nicht an mir, ob es gefährlich wird.“
„Was hast du vor?“ Sie begriff nicht, wie Pastina und der Duca di Maddaloni zusammenpassten; aber das wagte sie nicht zu fragen. Sie standen doch auf verschiedenen Seiten; so glaubte sie zumindest.
Er sah sie lange an; dann stand er auf, ging ans Fenster und wandte ihr den Rücken zu. „Der Vizekönig macht einen Fehler nach dem anderen. Erst gibt er nach und dann ... So kann er die Ordnung nicht wiederherstellen.“
„Ich dachte...“
„Was dachtest du?“ Er setzte sich wieder neben sie. „Kleines, zerbrich dir nicht den Kopf. Du kriegst deinen Prinzen. Der König ist klüger als Don Rodrigo. Vielleicht schickt er sogar Cabrera wieder zurück. Der hat gewusst, dass man die Kuh nicht schlachten darf, die man melken will.“
„Aber das Volk will nicht mehr gemolken werden.“ Sie sah den Seidenweber vor sich. „Und mehr als das.“
„Aber das ist Anarchie.“
Sie seufzte. „Gina traut sich kaum noch auf die Straße. Und Mutter würde mich am liebsten einsperren, wenn sie von irgendwoher Schüsse hört.“ Sie zog einen Flunsch.
„Hast du Stefania gesehen in den letzten Tagen?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Du wolltest doch zu ihr.“
Sie hätte nicht lügen sollen; nun musste sie noch etwas erfinden; hoffentlich bekäme er keine Gelegenheit, das zu überprüfen. „Sie war nicht da.“
Er ging an seinen Sekretär, holte einen Federkiel und ein Blatt heraus und zog den Stopfen aus dem Tintenfass; alles mit der linken Hand. Das würde unlesbar werden; er konnte überhaupt nicht mit Links schreiben.
„Hat sich etwas geändert?“ Sie stand auf und schielte über seine Schulter.
Da legte er die Feder wieder weg statt sie in die Tinte zu tauchen. „Das hoffe ich nicht.“ Er griff hinter sich nach ihrem Arm. „Sei nicht so neugierig!“
Sie maulte. „Wenn ich dir doch helfen soll.“
Er drehte sich um und schob sie einen Schritt von sich weg. „Sprich mit der Marchesa. Sag ihr, sie und Stefania sollen die Stadt verlassen. Auf dem Landsitz sind sie sicherer.“
„Die Marchesa wird ihren Mann niemals allein zurücklassen. Das ist eine wirkliche Ehe. Mamma würde das auch nie tun.“
Er grinste. „Eben. Sie werden Stefania alleine aufs Land schicken. Mit ihrer Gouvernante vielleicht.“
„Sie hat keine mehr.“
Er grinste noch breiter. „Ich weiß.“
Mirella gab Dario einen Stoß. „Du ziehst mich auf.“
„Aber nein. Ich helfe dir, mögliche Einwände vorauszusehen.“
„Ich kann alleine denken.“ Sie war noch nicht versöhnt. „Allerdings Gedanken lesen kann ich nicht. Und wenn du mir vorenthältst, was du im Kopf hast ...“
Er zwinkerte ihr zu. „Warte es nur ab; eines Tages kannst du auch das.“
Mirella war sicher, dass er schon wieder etwas anderes sagte als er meinte.
Donnerstag, 22. August 1647
Grollender Donner weckte Mirella im Morgengrauen. Nach einem Moment des Lauschens begriff sie, dass dies kein Gewitter war. Es war ungewöhnlich hell und das Licht nicht so kalt und weiß wie sonst in der Dämmerung. Vermutlich brannte es wieder irgendwo.
Sie setzte sich auf und tastete nach dem Zunder neben der Öllampe. Dann verzichtete sie aber doch aufs Anzünden und stand auf. Auf bloßen Füßen tappte sie zum Fenster und öffnete es.
Unter ihr sang der Kater einen getigerten Rivalen an; einen Augenblick später schlug er fauchend auf ihn ein. Dann raste der Rivale davon; der Kater hinterher.
Am Hafens hob sich zischend ein brennendes Geschoss in den Himmel und überstrahlte für einen Moment alles. Santa Lucia antwortete mit Kanonenschlägen; begleitet vom trockenen Klang vieler Arkebusen. Inzwischen konnte sie die Waffen unterscheiden.
Wieder ein Tag, an dem die Mutter ihr das Ausgehen verböte. Sie setzte sich neben das Fenster und starrte hinaus, bis die Sonne sich gemächlich über den Horizont in einen wolkenlosen Himmel schob.
Mirella rief nach Gina und ließ sich beim Ankleiden helfen. Dann lief sie zu Dario.
„Mir ist das langsam zuwider. Kannst du Vater überreden, mich zu Stefania rausfahren zu lassen?“
„Du willst mich allein lassen?“
„Dann komm mit; Stefania würde sich freuen.“
Dario nahm ihre Hände und küsste ihre Fingerspitzen. „Schwesterchen, ich brauche dich hier in der Stadt, verstehst du?“
„Aber wozu?“
Er nahm den Arm aus der Schlinge, „Hilfst du mir, den Verband zu wechseln?“
Mirella knurrte; das konnte ebenso gut jemand anderes machen.
Dario grinste über ihr zorniges Gesicht. „Das ist immer noch erst der Anfang. Annese hat das Kommando übernommen; und er macht Ernst.“
„Aber er wird nichts erreichen. Der König wird einfach mehr Truppen schicken.“
„Mag sein – aber bis dahin ... Und Stefania hat mich noch oft genug um sich.“
Mirella fiel ihm um den Hals. „Heißt das, du hast um ihre Hand angehalten? Warum sagst du das denn nicht? – Wann heiratet ihr?“
„Langsam!“ Er nahm ihre Hände von den Schultern. „Nichts dergleichen.“ Dario zog warnend die Augenbrauen hoch. „Und sag um Himmels willen kein Wort zu ihrer Mutter; sie würden sie sofort in die Stadt zurückholen.“
Mirella schnappte nach Luft. „Du fährst heimlich zu ihr. Dort gehst du hin, wenn du dich nachts aus dem Haus schleichst.“
Zu ihrer Verwunderung sagte Dario nichts dazu. Weil er sie nicht belügen wollte?
Als sie zum Frühstück hinunter gingen, kam der Geschützdonner plötzlich aus einer anderen Richtung; das waren nicht die Kanonen von Santa Lucia.
„Genoino hat uns verraten! Ich habe es gewusst!“ Enzo stürmte ins Esszimmer. „So ein Dummkopf.“
Rita hob müde den Kopf. „Keine Politik beim Essen. Bitte.“
Enzo ließ sich auf seinen Stuhl fallen. „Das hat nichts mit Politik zu tun, meine Liebe. Das ist Krieg. Genoino hat sich mit dem Vizekönig im Castelnuovo verschanzt.“
Dario knirschte zornig mit den Zähnen. „Also hat er Anneses Pöbel das Feld überlassen. Was habe ich gesagt? Genoino hat den Spaniern einen Bärendienst erwiesen.“
„Was bedeutet das?“, flüsterte Mirella.
Rita funkelte sie böse an, aber Enzo ließ sich nicht beirren. Er legte seine Hand auf Mirellas Arm. „Dass du deine Hochzeit nicht hier, sondern in Madrid feiern wirst.“ Er zog die Augenbrauen hoch, als missfiele ihm, was er in ihrem Gesicht las. Aber er sagte nichts weiter zu ihr, sondern wandte sich wieder an Rita. „Meine Liebe, fällt das für dich auch unter Politik?“
Mirella rührte so heftig in ihrer Tasse, dass die Milch überschwappte. Die eklige Schokolade fiel ihr ein, die sie in Pizzofalcone getrunken hatte. „Dann ... dann müssen meine Brautjungfern eben mit uns nach Madrid fahren.“ Sie sah Enzo herausfordernd an. „Felipes Palast ist gewiss großartiger als der Castelnuovo und der Palazzo Reale zusammen.“ Eine Hochzeit in Madrid: Nein, das war undenkbar. Sie hatte sich immer im Kreis ihrer Freundinnen gesehen.
„Und als unser Haus.“ Dario hatte seine Mundwinkel zu einem Grinsen verzogen, das nicht zu seinem sorgenvollen Blick passen wollte. Gewiss bedachte er jetzt die Folgen für ihn und Stefania. Er sollte sie jetzt bloß nicht fragen, ob sie Felipe liebte.
„Unser Haus ist das großartigste von allen“, rief sie schnell.
„Hoffen wir, dass es das auch bleibt.“ Enzos Miene war düster, als traue er seinen eigenen Worten nicht.
„Fürchtest du, sie sind nicht zufrieden damit, das Warenlager abgebrannt zu haben?“
Mirella wurde bei Ritas Frage ganz beklommen zumute. Nun brauchte sie erst gar nicht zu fragen, ob sie aus dem Haus durfte. „Sie zünden doch nur die Häuser der gabelliere an.“
„Bis jetzt. So lange sich der Aufstand gegen die Steuern gerichtet hat. Aber Annese will die Spanier los werden.“
Rita stand auf und schob ihren Stuhl an den Tisch. „Ich habe keinen Hunger mehr.“
„Aber Mamma, Sie hat doch gar nichts ....“
Dario stand gleichfalls auf. „Wir sind weder gabelliere noch Spanier. Man wird uns in Ruhe lassen, so lange Er Sein Geschäft nicht wieder aufnimmt. Und dann ...“
„... dann werde ich mit den Seidenwebern ein neues Abkommen treffen.“
Dario schüttelte den Kopf. „Das wird nicht funktionieren, Vater. Sie wollen das Monopol; und darauf kann Er sich nicht einlassen. Er verdiente nicht genug mit den übrigen Stoffen.“
„Aber wozu brauchen wir denn so viel Geld? Wir haben doch alles!“
Dario strich Mirella über die Haare. „Für deine Hochzeit zum Beispiel, Schwesterchen. Und eines Tages ...“ Er richtete den Blick ins Weite, als blicke er in die Zukunft.
„Dario wird eines Tages eine eigene Familie mit dem Geschäft ernähren müssen.“
„Wird er nicht!“ Mirella schlug sich die Hand vor den Mund, als Dario sie urplötzlich an den Haaren zog. „Ich meine, er kann doch auch etwas anderes machen.“
„Was denn? Fischen gehen? – Ja, wenn er sich nicht geweigert hätte zu studieren.“
„Ich bin ein guter Buchhalter; das war Ihm immer genug.“
„Das war mir nie genug für dich, mein Sohn.“ Enzo lächelte plötzlich. „Ich habe dir immer mehr gewünscht als ein Leben lang Tag für Tag über staubigen Büchern zu sitzen.“
Mirella starrte Enzo atemlos an. Hatte er einen geheimen Traum, den er aufgegeben hatte? Den er an Dario weitergeben wollte?
„Buchhalter!“ Rita setzte sich wieder hin. „Wenn nicht bald Geld ins Haus kommt, wird es knapp. Es wird immer teurer auf dem Markt.“ Sie deutete auf den Speck. „Manche Händler versteigern ihre Waren bereits.“
Enzo nickte. „Ich weiß. – Da siehst du, Kind, wozu man Geld braucht.“
„Heute früh hat Gina keinen Fisch kaufen können. Die Fangflotte ist von Giannettino Doria beschossen worden.“
„Es wird noch schlimmer werden.“ Enzo griff nach seiner Tasse, stellte sie aber gleich wieder ab. „Dario hat recht. Meine Liebe, du musst mit dem auskommen, was wir haben.“
Am nächsten Tag beendete Mirella gerade ihre Cembaloübungen, als es merkwürdig still geworden war: Es wurde nicht mehr geschossen.
Sie ging ans Fenster. Unterhalb des Monte Echia loderte ein Feuer; in der Nähe von San Elmo qualmte es; aber sonst wirkte alles friedlich. Die Pinien, über denen der Kegel des Vesuvs aufragte, sahen aus wie immer.
Sie lief hinaus; vom oberen Stock aus mochte sie mehr sehen. Auf der Treppe begegnete ihr Gina.
„Warst du auf dem Markt? Hörst du, wie still es ist? Was bedeutet das?“
Gina seufzte. „Es hat wieder keinen Fisch gegeben. Und um das Fleisch haben sich die Köchinnen des Marchese d’Oliveto und des Conte di Sarno geprügelt.“
„Warum schießen sie nicht mehr?“
„Die Spanier wollen verhandeln.“
Mirella ließ sich aufatmend auf die Stufen fallen. „Gott sei Dank. Dann hat das alles endlich ein Ende.“
Gina grunzte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Doktores in dreiundfünfzig Stunden neue Kapitel schreiben können, die alle zufrieden stellen.“
„Das ist mir egal!“ Wenn nur Dario seine gefährlichen Unternehmungen beendete. Und seine nächtlichen Ausflüge aufs Land. Sie konnte nicht verstehen, dass er ständig so viel wagte, nur um Stefania zu sehen. Überhaupt ...
„Meinst du, Stefania kommt dann wieder in die Stadt zurück?“
„Das wäre zu wünschen.“ Ginas Miene besagte, dass sie Darios Ausflüge gleichfalls bemerkt hatte. Sie nahm ihren Korb wieder auf und ging in die Küche.
Mirella lief ihr hinterher. „Ich helfe dir.“ Bestimmt würde Gina ihr dann noch mehr erzählen.
Während sie auspackten, klangen die erregten Stimmen von Dario und Enzo über den Hof.
„Aber Vater, Er braucht mich doch jetzt nicht.“
„Wir müssen die Feuerpause nutzen.“
„In den zwei Tagen wird Er nicht einmal in der Lage sein, Bauholz liefern zu lassen. Wo soll es denn herkommen? Die Straßen nach Nocera und Aversa sind noch immer gesperrt.“
„Du musst es ja wissen.“
Hufe klapperten auf den Steinplatten; Darios Pferd schnaubte.
Mirella lief hinaus. „Dario!“
Enzo verfolgte mit sorgenvollem Gesicht, wie Dario die Satteltaschen packte und die Steigbügel um ein Loch verlängerte.
Sie ging zu Enzo und hängte sich an seinen Arm. „Wo will er hin, Vater?“
„Er nutzt den Waffenstillstand auf seine Weise.“
Mirella holte tief Luft, um nicht herauszuplatzen. Keiner sagte ihr etwas.
Dario stieg auf und winkte. „Ich bin bald wieder da.“
Doch er kam auch nicht zurück, nachdem der Waffenstillstand abgelaufen war und der Vizekönig die neuen Kapitel unterschrieben hatte. Niemand wusste, was er tat.
Montag, 30. September 1647
Mirella und Rita saßen im Hof und bestickten Tischdecken und Servietten für Mirellas Aussteuer.
Als sie einen neuen Faden brauchte, hielt Rita inne und sah Mirella zu, bis diese den Kopf hob. „Es geht dir wieder gut von der Hand.“
Mirella nickte. „Nun, da meiner Hochzeit nichts mehr im Wege steht ... Felipe wird demnächst in See stechen. Er kommt wohl zusammen mit Don Juan d’Austria. – Es fehlt nur Dario.“
„Wir werden den Hochzeitstermin nicht festlegen, bevor er zurück ist.“
„Ich möchte im Frühling heiraten. Ich hoffe, Felipe ist bereit, so lange zu warten.“
Rita lächelte. „Wenn nicht ... So feiern wir deine Hochzeit danach.“
„Nach was?“ Mirella blinzelte verwirrt. Dann ging ihr auf, was Rita meinen könnte. „Aber Mamma ... “ Felipe würde es niemals wagen, ihr zu nahe zu treten, als ob er einer aus dem gemeinen Volk wäre. Der Gedanke an Cesares Kuss ließ ihr einen Schauer den Rücken hinunterlaufen: Sie würde Felipe erlauben, sie zu küssen. Vielleicht sollte sie ihn sogar ermutigen?
Rita tätschelte ihre Wange. „Warum denn nicht? Du bist alt genug. Nur schwanger solltest du nicht werden, bevor ihr verheiratet seid. Das Kind könnte in den Ruch eines Bastards gelangen. Und in diesen unruhigen Zeiten ...“
„Es ist doch vorbei. Die einzigen, die nicht zufrieden zu sein scheinen, sind die Barone. Aber was wollen sie hier in Neapel mitreden? Haben sie nicht genug an ihren eigenen Städten?“
Rita nickte. „Mir scheint, du verstehst mehr davon als ich. Enzo war ein guter Lehrer.“
„Weil Sie sich nicht dafür interessiert hat, Mamma. Aber es ist wichtig.“
„Warum?“
„Sogar meine Hochzeit war in Gefahr.“
Rita nahm die nächste Serviette vom Wäschestapel und stichelte mit so heftigen Bewegungen, dass Mirella sie erstaunt ansah. „Mamma, was hat Sie?“
„Ich frage mich ... Du warst schon immer ehrgeizig. Aber diese Hochzeit! Du kennst ihn kaum, weißt nichts vom Leben am spanischen Hof. Er soll ein äußerst strenges Zeremoniell haben; wie wirst du damit zurechtkommen?“
Felipe würde gewiss dafür sorgen, dass sie nicht aneckte. Wie so oft sorgte Rita sich um die falschen Dinge. „Die meisten Frauen der besseren Stände kennen ihre Männer kaum, bevor sie sie heiraten.“ Mirella lächelte sie zärtlich an. „Stefanias Eltern. Sie waren sich auch fremd und doch sind sie einander genauso zugetan wie Vater und Sie.“
Rita lachte schallend. „Du sprichst wie eine Matrone. Solche Worte stünden eher mir an. Und doch denke ich sie nicht einmal.“
„Ich weiß wohl, dass Sie mich nie verschachern würde.“
„Und auch Dario soll glücklich werden mit deiner Freundin.“ Sie lachte wieder, als Mirella überrascht nach Luft schnappte. „Meinst du, eine Mutter merkt das nicht?“ Sie legte ihr Stickwerk beiseite. „Und deshalb habe ich auch gemerkt ... Du hast Felipe gern.“ Sie kaute an ihrem Fingerknöchel. „Aber es gibt noch mehr. Und ich habe dir so gewünscht, dass du es kennen lernst. Das große Leuchten.“ Sie zuckte die Achseln und nahm die Serviette wieder zur Hand. „Aber vielleicht kommt es ja noch. Felipe liebt dich sehr.“
Das große Leuchten – das war es wohl, was sie bei Stefania gesehen hatte. Und in Darios Augen. In denen von Felipe auch; und es hatte ihr Herz gewärmt. Er würde ein wunderbarer Ehemann sein.
Mirella senkte die Lider und hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen, die eben an der Hausecke auftauchte: Bald wäre dieser Sommer vorbei. Ein Sommer, dem der Aufstand alle Schönheit geraubt hatte.
Würde sie etwas vermissen? Nein, dafür hätte sie gewiss keine Zeit. Nicht am Hof von Madrid. Als Gemahlin eines Granden würde sie Zugang zu den Gemächern der Königin haben und vielleicht sogar zur Hofdame ernannt. Sie malte sich aus, wie das Kleid aussehen müsste, das sie trüge, wenn Felipe sie den Majestäten vorstellte; aus Enzos schönsten Florentiner Stoffen und venezianischen Spitzen. Versonnen lächelte sie. Es würde großartig werden.
„Die Principessa d’Oliveto.“ Gina stand höchst zeremoniell im Rahmen der Küchentür und lud Stefania mit einer ausholenden Handbewegung in den Hof.
Stefania lachte und ging übertrieben gesetzten Schrittes die Stufen hinunter, machte einen Knicks vor Rita und streckte dann die Arme nach Mirella aus.
„Endlich bist du wieder zurück!“ Mirella legte das Nähzeug beiseite, stand auf und sie küssten sich auf die Wangen. „Das ist schön, dass du so schnell den Weg zu mir gefunden hast.“
Stefanie hielt sie fest und raunte ihr ins Ohr: „Ich habe etwas für dich.“
Rita legte ihre Handarbeit in den Nähkorb und Mirellas dazu. „Ich nehme doch an, du wirst nicht sticken, solange deine Freundin hier ist.“ Mit dem Korb über dem Arm ging sie ins Haus.
In der Tür kreuzte sie Ginas Weg, die ein Tablett mit Milch, mustacciuoli und zeppole balancierte. „Gebäck! Die Principessa verwöhnt uns.“
Stefania beobachtete Gina, die das Tablett auf den nächsten Gartentisch stellte und die Milch einschenken wollte. „Danke Gina, wir machen das schon.“ Ganz offensichtlich wollte sie sie los werden.
Gina sah Mirella fragend an; als sie nickte, ging sie in die Küche zurück.
„Habt ihr euch offiziell verlobt?“
Stefanias Gesicht verdüsterte sich. „Derzeit ... Dario wird mit Erlaubnis von Mutter das Landhaus weiter nutzen. Er hat eine Nachricht für dich; verbrenne sie, sobald du sie gelesen hast.“
„Was macht er denn? Warum kommt er nicht nach Hause?“ Mirella war konsterniert. „Du weißt es, nicht wahr?“
„Sicher. Und was du wissen sollst, hat er dir aufgeschrieben.“
„Warum diese Heimlichkeiten?“
„Eigentlich war es auf dem Land viel schöner als hier.“ Stefania sprach plötzlich sehr laut. „Ein bisschen langweilig; aber Neapel ist auch nicht in Festlaune, wie mir scheint.“
Dann knarrte die Angel des Hoftors; Fabrizio kam zurück – und das zu Fuß. Wo hatte er die Kutsche gelassen?
„Guten Tag, Principessa.“ Er lüpfte seine Kappe vor Stefania. Dann nahm er ihre Hand und drückte sie mit seinen Pranken.
Sie verzog das Gesicht und entzog sie ihm schnell. „Ich freue mich, dass niemandem von euch etwas passiert ist.“
Fabrizio winkte heftig ab. „Dorias Kanoniere sind unfähig. Man konnte glauben, sie wollten den Vesuv zur Explosion bringen.“
„Aber gefährlich war es doch. In unserem Viertel hat es mehrere Einschläge gegeben.“
„Und Tote, ich weiß.“ Fabrizio nickte und presste die Lippen aufeinander; er hatte einen seiner Freunde verloren. „Ich muss an die Arbeit, Principessa.“
„Wo hast du unsere Kutsche gelassen?“
„Beim Stellmacher. Das ist es; ein Rad ist gebrochen. Es wird zwei oder drei Tage dauern, bis sie fertig ist.“
„So lange?“ Stefania klang schockiert. „Soll Mirella vielleicht zu Fuß gehen?“
Fabrizio zuckte die Achseln. „Es wird wohl nichts anderes übrig bleiben. Oder sie bleibt zu Hause.“
„Das macht doch nichts; ich muss ja nicht fort. Und ein Ball steht auch nicht in Aussicht.“
Stefania machte immer noch ein bedenkliches Gesicht. „Aber bis zu mir ist es weit.“
Mirella fand nichts dabei; sie war schon mehr als einmal zu Fuß bis nach Montecalvario gelaufen. Stefania starrte Fabrizio hinterher, der zum Stall ging, eines der Pferde herausholte und sattelte. „Du könntest reiten.“
Dass es ihr so wichtig war. Stefania konnte doch zu ihnen kommen so wie jetzt ... Es musste etwas mit Dario zu tun haben. „Ich habe ein neues Kleid. Komm es dir anschauen.“ Mirella stand auf und lief voraus.
Oben blieb Stefania an der Tür stehen und zog ein klein zusammengefaltetes Papier aus ihrer Rocktasche.
„Setz dich doch.“
„Ich passe lieber auf, dass niemand hereinkommt.“
Mirella riss hastig das Siegel ab und faltete den Brief auseinander. „Du hast Pastina im Gallo bianco kennen gelernt. Vertraue ihm; er ist der Mittelsmann. Er wird dir sagen, was du tun sollst.“
Mirella blickte auf. „Weißt du, was er geschrieben hat?“
„Ich kann es mir denken.“ Stefania griff nach dem Zunder auf dem Nachtschrank und reichte ihn Mirella. „Verbrenne ihn.“ Als Mirella zögerte und weiter auf den Brief starrte, nahm sie ihn ihr kurzerhand ab und zündete ihn selber an. Dann legte sie das brennende Papier in die Waschschüssel. „Es ist besser, es gibt nichts Schriftliches.“
„Aber warum denn? Hat Dario ... Ist Dario dabei, etwas Unrechtes zu tun?“
„Manch einer könnte es so sehen“, antwortete Stefania zu Mirellas Schrecken.
„Aber du nicht.“
Stefania blickte an die Decke, als sähe sie die Fresken dort oben zum ersten Mal. „Ich stehe zu ihm, was auch immer er tut.“ Sie setzte sich und zog Mirella neben sich aufs Bett. „Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt.“ Als ob Dario nicht mit Stefania darüber geredet hätte. „Aber wir müssen ihm helfen. Sonst ....“
„Es ist gefährlich!“ Enzo hätte Dario nicht gehen lassen dürfen; sie hatte es geahnt. Und nun, da Stefania zurück war, gab es niemanden mehr, der ihn mäßigen konnte.
Stefania nickte. „Er hat sich den Baronen angeschlossen. Sie sammeln eine Armee in Aversa; aber ich kann mir nicht vorstellen, wozu das gut sein soll.“
„Natürlich sind sie dagegen, dass der Vizekönig ihrer Entmachtung zugestimmt hat. Erwarten sie denn, dass der spanische König sich auf ihre Seite stellt?“
Stefania verzog den Mund. „Dario sagt, ja: Wenn er es als weniger schädlich betrachtet als dem Vizekönig freie Hand zu lassen.“
„Aber was hat Dario mit all dem zu tun?“ Es gab doch nichts, womit er den Baronen von Nutzen war. Oder doch? Und Stefania nahm alles hin, was er tat. Mirella nagte nachdenklich an ihrer Unterlippe und versuchte, ihren wachsenden Unmut zu verbergen.
„Das Landhaus ist sein Stützpunkt, aber nicht einmal meine Eltern wissen, was dort geschieht. Vater wäre auch dagegen.“
„Unser Vater wohl auch.“ Mirella schüttelte den Kopf. „Warum tut er das?“
„Für uns. Für dich und mich, Liebste. Du sollst deinen Prinzen kriegen, damit wir auch heiraten können.“
Der Aufstand würde Felipe gewiss nicht hindern, sie zu heiraten; Dario wusste das. Mirella schnaufte entnervt. „Was soll ich jetzt tun?“
„Pastina wird es dir wohl sagen.“
„Wie treffe ich ihn?“ Mirella schüttelte noch einmal den Kopf. „Fabrizio wird sich wundern, wenn ich ständig zum Pizzofalcone fahre. Er würde mich irgendwann verraten; und sei es ohne Absicht. “
„Wir müssen Fabrizio auf unsere Seite ziehen.“
„Dann hat Dario einen Mitwisser mehr. Das ist nicht gut.“ Aber Fabrizio wusste eh schon viel; vielleicht war es doch egal.
Mittwoch, 2. Oktober 1647
Mirella saß bei Enzo im Souterrain, das ihm immer noch das Kontor ersetzte. Vor ihr lag ein Kontorbuch, in das sie eintrug, was er ihr aus den angesengten und verquollenen alten Unterlagen diktierte. Es war eine mühselige Arbeit, die schier kein Ende nahm.
Enzo hielt ein Buch in der Hand, dessen Kanten sich teilweise wölbten. Vorsichtig schlug er die nächste Seite um; trotzdem löste sich ein kleines Stück angebranntes Papier. „Lieferung: Einhundert Perche dunkelroten Brokat. Empfänger Schneiderei Matteo Ri...“ Er runzelte die Stirn. „‚Rivera’ könnte das gewesen sein.“ Er hielt die Seite gegen das Licht, als würde sie dann besser lesbar.
Mirella tauchte die Feder ins Fass und setzte zum Schreiben an; dann blätterte sie in ihrem Buch zwei Seiten zurück. „Ist Er sicher? Zwei Wochen vorher hat Er ebenfalls Brokat an Rivera geliefert.“
Er seufzte. „Ich werde Dario fragen.“
Mirella schluckte. Hatte er etwa vergessen, dass Dario unerreichbar war? „Ist das denn so schlimm, wenn wir nicht alles richtig abschreiben können?“
Fabrizio riss die Tür auf. „Die Spanier!“ Er keuchte und wischte sich mit dem Ärmel über die schweißnasse Stirn. „Die Spanier sind gelandet.“
Enzo senkte das Buch. „Jetzt werden wir deine Hochzeit planen.“ Er zwinkerte Mirella zu.
Mirella konnte seine spontane Begeisterung nicht teilen; Fabrizios Aufregung verhieß nicht Gutes. Sie sah unsicher von einem zum anderen. „Aber ... Fabrizio, was sind das für Schiffe, dass du dich so aufregst?“
„Es ist eine ganze Flotte, Signorina.“ Er blickte zu Enzo. „Padrone, es sind Kriegsschiffe; ganz viele.“
Enzo zuckte die Achseln. „Wenn schon. Jetzt haben wir die neuen Kapitel.“ Er klopfte Fabrizio auf die Schulter. „Jetzt braucht der Vizekönig die Flotte nicht mehr.“ Er nahm Mirella das Schreibzeug aus der Hand und streute Sand über die halb beschriebene Seite. „Schluss für heute! Lass uns zum Hafen fahren. Bestimmt ist dein Felipe dabei.“
Dann stand Mirella mit Enzo am Kai. Sie trug ihr schönstes Tageskleid mit einem Einsatz aus flandrischen Spitzen und eine schlichte silberne Kette, die Felipe ihr zur Verlobung geschenkt hatte.
Die Fläche des abgebrannten Lagerhauses war freigeräumt; am Rand des Kais lagerten angekohlte Balken. Zwei Schreiner sägten sie zurecht und stapelten, was davon noch zu gebrauchen war.
„Ich werde einen Keller anlegen.“ Enzo ließ Mirella stehen, die sich mit dem guten Kleid nicht näher an den Bauplatz traute.
Sie versuchte, die Schiffe zu zählen, während sie wartete. Es waren mindestens hundert Mastspitzen, die sich bis an den Horizont des Golfs stauten.
Fabrizio hatte recht gehabt: Dies war tatsächlich eine Kriegsflotte. Das Flagschiff wirkte harmlos in seinem farbenprächtigen Schmuck und mit den bunten Fahnen. Aber die beiden Schiffe, die es eskortierten, hatten die Stückpforten geöffnet und in den dunklen Schlünden drohten ihre Kanonen.
Enzo sprach mit den Maurern; dann ließ er ein Boot holen, dass sie zum Flagschiff brachte.
Eine Gänsehaut lief Mirella über den Rücken, als sie an einer der beiden Karavellen vorbei gerudert wurden. Dorias Schiffe waren harmlos gewesen gegen diese.
„Gut, dass es vorbei ist.“ Enzo ergriff ihre Hand, als ahnte er ihre Gedanken. „Gegen diese hätten wir keine Chance gehabt.“
„Hoffentlich.“ Den Baronen würde es nicht gefallen, wenn die Flotte wieder abfuhr und sie ihre alten Ratsposten nicht wiederbekämen.
Der hohe Ton einer Signalpfeife erklang auf dem Flagschiff und dann wurden sie angerufen.
Enzo richtete sich halb auf. „Die künftige Herzogin de Toledo di Altamira y Leon.“
Es war sehr wirkungsvoll: Sofort erschien ein Offizier an der Reling und salutierte. „Ich werde Euch Seiner Hoheit melden.“
Mirella presste sich die Hand auf den Mund, um nicht lauthals loszuprusten.
Eine Strickleiter und ein gepolsterter Korb wurden herabgelassen. Enzo half Mirella in den Korb und während sie hochgezogen wurde, kletterte er die Strickleiter empor.
Der Korb schwenkte über das Schanzkleid. „Bitte an Bord kommen zu dürfen“, sagte Mirella artig und der Offizier half ihr aus dem Korb.
Felipe tauchte an Deck auf. Er ergriff ihre Hände und drückte sie. „Meine Liebe!“ Seine Augen glänzten. „Welche Freude, Euch endlich wiederzusehen. Ich habe Tag und Nacht an Euch gedacht.“
„Ich auch, mein lieber Felipe. Und die Erwartung, Ihr wäret an Bord, trieb mich zur Eile, hierher zu kommen.“ Sie senkte den Blick; es klang so übertrieben, was sie da sagte. Musste er nicht denken, sie täusche ihm etwas vor, was sie nicht empfand?
Felipe wandte sich zu ihrer Erleichterung Enzo zu, um ihn zu begrüßen. Er strahlte dabei eine Herzlichkeit aus, die Mirella beschämte. Sie kam sich vor wie eine Betrügerin. Nur wusste sie nicht, inwiefern.
Ein junger Mann mit langen schwarzen Haaren kam an Deck. Felipe nahm Mirella an der Hand und führte sie zu ihm.
„Eure Hoheit, darf ich Euch meine geliebte Braut vorstellen? Mirella Scandore.“
So war dies der Prinz von Österreich, Don Juan d’Austria? Vorsichtshalber raffte Mirella ihre Röcke und versank zu einem tiefen Hofknicks in ihnen.
Er reichte ihr die Hand. „Es ist mir eine große Freude. Aber das Vergnügen, Euch mein Schiff zu zeigen, muss ich wohl meinem Cousin überlassen. Er wäre mir sonst gram.“ Felipe sein Cousin? Dann würde sie noch höher heiraten als sie geahnt hatte.
„Wart Ihr schon einmal auf einem solchen Schiff?“ Felipe winkte Enzo, sie zu begleiten.
Mirella verneinte voll gespannter Erwartung. Aber Felipe führte sie nicht lange herum, sondern bald in eine Kajüte, die in Größe und Ausstattung einem Salon in nichts nachstand. Im Vorbeigehen hatte er einem der Seeleute den Befehl gegeben, für Getränke zu sorgen. Felipe war nervös. Etwas überlagerte sein Strahlen, aber in Enzos Gegenwart mochte sie nichts sagen.
„Wird Don Rodrigo einen Ball für Don Juan geben?,“ fragte sie schließlich. „Oder einen Empfang? Ein richtiges Fest ...“ Sie blickte Enzo an, nicht Felipe.
„Neapel leidet immer noch.“
„Don Rodrigo wird in dieser Stadt kein Fest mehr ausrichten.“ Felipe zögerte einen Augenblick, presste die Lippen zusammen. „Juan ist der neue Vizekönig.“
Darum also war Felipe so bedrückt. Aber war er nicht der Verwandte des einen so gut wie des anderen? „So wird er bleiben. Und Ihr?“ Sie hoffte, ihr Blick wäre leuchtend genug, um erwartungsvoll zu wirken.
„Wir werden unsere Hochzeit hier in Neapel feiern, Liebste. Sobald dies alles vorüber ist.“ Wieder sah er eher besorgt als glücklich aus. Er stand auf. „Ich lasse Euch an Land bringen.“
So lange sie im Boot saßen, sprach Enzo kein Wort und blickte zu Boden; so schwieg auch Mirella. Aber in der Kutsche hielt sie nicht mehr an sich. „Vater, worüber hat Er sich geärgert?“
Er sah sie an, als kehre er aus tiefen Gedanken zurück. „Ich habe mich nicht geärgert; wie kommst du darauf?“
„Er macht ein solch finsteres Gesicht.“
Er nickte. „Sorgen, ja. Du hast Felipe doch gehört.“
Sie runzelte die Stirn, versuchte zu erraten, was an Felipes Äußerungen so kritisch gewesen war. „Es klang, als fände die Hochzeit nicht so bald statt?“
Ein kurzes Lächeln glitt über Enzos Gesicht. „Wenn das nur unsere Sorge sein müsste ... Die Ablösung Don Rodrigos bedeutet, dass der König die Kapitel nicht anerkennt.“
„Krieg?“ Sie ächzte. Sie würden allesamt verhungern, wenn das noch lange so weiterging. „Die Neapolitaner werden eine Zurückweisung nicht akzeptieren.“
„Nein, das werden sie nicht.“ Enzo reckte das Kinn, als sei er auch noch stolz auf diese Dummheit.
„Aber sie haben keine Chance gegen eine ganze Flotte!“
„Das werden wir sehen.“ Er beugte sich zu ihr und senkte seine Stimme, als könne Fabrizio oder sonst jemand sie trotz des Ratterns der Räder draußen hören. „Was weißt du von Dario?“
Sie wich erschrocken zurück, aber er ergriff ihre Hände und drückte sie. „Ich bin sicher, dass Stefanie dir etwas erzählt hat.“
„Aber ...“ Sie mochte ihn nicht belügen und senkte den Kopf. „Vater, Er vergebe mir.“ Sollte er sie doch schlagen; sie würde nichts verraten.
Enzo seufzte. „Schon gut, Kind. Aber sag es mir, wenn er meine Hilfe braucht.“ Er ließ sie los und sah hinaus. „Lass ihn wissen, dass er mir vertrauen kann. Auch wenn ich vielleicht nicht gut heißen darf, was er tut. Wir sind eine Familie.“
Donnerstag, 3.Oktober
Mirella fuhr hoch. Draußen knackten Zweige unter ihrem Fenster. Gleich darauf klirrte ein Stein gegen die Schreibe; dann noch einer. Sie stand auf und warf einen Schal über ihr Nachthemd.
Einen Moment überlegte sie, ob sie Licht anzünden sollte; dann entschied sie, zuerst nachzuschauen.
Wieder klackerte es gegen das Glas.
Sie öffnete das Fenster. Unten standen zwei dunkel gekleidete Gestalten; eine etwas weiter weg im Hof, die andere direkt an der Pergola.
Mirella beugte sich vor; sollte sie pfeifen oder was?
Die Gestalt unter ihr hob den Kopf und raunte: „Ich komme hoch.“ Sie griff nach dem Spalier und stieg die Sprossen hoch. Dario – endlich! Aber warum kam er heimlich?
Mirella trat zurück.
Es krachte mehrmals im Geäst und sie befürchtete schon, er könne abstürzen. Mehr noch; sie machte sich Sorgen, er könne andere wecken mit diesen Geräuschen. Sie tastete nach dem Zunder und zündete die Öllampe auf dem Nachttisch an.
Gleich darauf griff eine behandschuhte Hand über die Fensterbank.
Pastina!
Mirella starrte ihn an und wickelte ihren Schal enger um sich.
„Mach das Licht aus, Mädchen.“ Er schwang sich ins Zimmer. Barfuß wie im Gallo bianco; dieses Mal mit einer grünen Schärpe für seinen Säbel. „Warum bist du nicht in den Gallo bianco gekommen?“
Sie wurde wütend. „Was fällt Ihm ein ...“
„Wenn Sie nicht zu mir kommt, muss ich zu Ihr.“
„Was will Er?“ Wenn sie jetzt nach Enzo riefe, würde Pastina ihn umbringen. Sie ging zwei Schritte rückwärts.
„Dario schickt mich, wie hätte ich sonst hierher finden können?“
Das war wohl richtig. Sie bezähmte ihre Wut. „Jedes Mal, wenn wir uns begegnet sind, hat Er so getan, als sähe Er mich nicht.“
„Natürlich.“ Er setzte sich auf die Fensterbank und warf einen Blick nach draußen. „Sie hat Zugang zum Vizekönig. Wir müssen wissen, was er jetzt plant.“
„Welcher Vizekönig?“
„Welcher?“
„Don Rodrigo ist nicht mehr Vizekönig von Neapel.“
„Sondern?“
Sie hatte schon wieder nicht bedacht, was sie sagte. Wenn es nun noch niemand wissen durfte? Um Felipes Willen mochte sie die Frage nicht beantworten. „Es scheint, der König lässt ihn ablösen, weil er die neuen Kapitel nicht anerkennen will. Oder denkt, Don Rodrigo mache zu viele Fehler.“
Pastina stieg von der Fensterbank herunter. „Dann ist der neue Vizekönig an Bord des Flagschiffs. Wer ist es?“ Er kam auf sie zu und hob ihr Gesicht, um ihr in die Augen zu sehen. „Sie muss es wissen. Sie war dort.“
Er wollte ihr ansehen können, ob sie die Wahrheit sagte. Sie schob seine Hand weg. „Der Prinz von Österreich befehligt die Flotte.“
„Das ist bekannt.“ Er starrte sie immer noch an. „Ach so. Natürlich.“
Sie hatte es nicht verraten, versuchte sie ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Er war allein darauf gekommen. „Ich weiß nicht, was die Spanier vorhaben.“ Sie setzte sich hin; flüchtig kam ihr der Gedanke, dass das Bett kein sicherer Ort sein könnte in Gegenwart eines Mannes. „Sie verhandeln doch mit Genoino.“
„Aber nicht mit Annese. Genoino spricht nicht mehr fürs Volk.“ Er setzte sich wieder auf die Fensterbank und blickte nach unten. „Niemand fragt mehr danach, was er aushandelt.“ Das mochte ja sein; aber sie begriff nicht, welche Schlussfolgerung Dario daraus zog. „Sonst noch etwas?“
„Sag Er Dario, dass Vater auf seiner Seite steht.“ Aber Enzo wusste genauso wenig wie sie, welche das war. Und was tat Pastina bei all dem?
„Das ist eine gute Nachricht. Je mehr Leute wir im Geheimen haben ...“ Er schwang das andere Bein hinaus und dann sprang er hinunter.
„Dario.“ Er war dabei, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Was hatten diese Leute vor? Gegen eine Flotte von vierzig Schiffen konnten sie nicht gewinnen. Stefania musste ihn überzeugen zurückzukommen.
Samstag, 5. Oktober 1647
Das erste, was Mirella hörte, war Geschützdonner. Wieder einmal. Sie starrte in die Morgendämmerung; dann zog sie die Bettdecke über den Kopf. Es nützte nichts, aber was sonst sollte sie tun als abzuwarten?
Kurz darauf öffnete Enzo ihre Tür.
Schockiert fuhr Mirella hoch.
Enzos Gesicht war grau von einer schlaflosen Nacht. „Dieses Mal ist es Ernst. Zieh dich an und komm herunter.“
Bevor er die Tür wieder schloss, sah sie Rita in Reisekleidung aus ihrem Schlafzimmer kommen. So schnell es ohne Ginas Hilfe ging, begann sie sich umzuziehen. Dann kam Ritas Mädchen in ihr Zimmer gestürmt. Wortlos stellte Concetta sich hinter Mirella und schnürte ihr das Mieder zu.
„Weißt du, was los ist?“
„Der padrone will uns alle aufs Land schicken.“
„Aber wohin denn?“ Und wenn Dario sie hier bräuchte? Sie schob das Mädchen zur Tür. „Sag Vater, ich will nicht. Ich bleibe hier.“
Concetta sah sie erschrocken an. „Das kann Sie nicht. Die Spanier bombardieren die ganze Stadt.“
„Geh!“ Sie hielt das Mädchen fest. „Nein, zieh mich fertig an. Geschwind. Ich sag es ihm selber.“
Noch unfrisiert, die Haare offen über den Schultern, lief sie dann hinunter, um Enzo zu suchen.
Er packte im Souterrain seine Kontorbücher in eine schwere Truhe.
„Vater, ich habe keine Angst. Felipe wird ...“
„Du kommst mit.“ Behutsam klopfte er Asche von einem der noch nicht kopierten Bücher. „Dario will ...“
„Dario“, unterbrach sie ihn aufgeregt. „Dario hat das gesagt? Woher weißt du das?“
„Er ist im Stall, nehme ich an.“
Sie starrte ihn ungläubig an, dann rannte sie hinaus.
Dario stand an der Kutsche und half Fabrizio, einen Schrankkoffer aufs Dach zu hieven.
Sie lief auf ihn zu und zupfte ihn am Ärmel.
Er blickte sich um. „Du bist ja noch gar nicht frisiert. Beeil dich.“
„Aber Dario.“ Sie stockte, sah zu Fabrizio hoch. Wie konnte sie erfahren, was geschehen war? „Wieso? Wohin fahren wir? Ich dachte ...“
Er lächelte. „Mach dir keine Gedanken. Die Oliveto erwarten uns in ihrem Landhaus. Sie sind gestern Abend schon angekommen.“
„Bleiben wir alle dort, bis es vorbei ist? Alle?“
„Wir werden sehen. Ich denke schon.“
Sie verzog das Gesicht, worauf er ihr einen Stups auf die Nase gab. „Wir müssen abwarten, wie es weitergeht.“ Er reichte Fabrizio Stricke hoch, damit er die Koffer festbinden konnte. „Mach dich fertig.“
Beschwingt ging sie zurück. Wenn sie wieder alle zusammen wären und Stefania auch dort, dann würde Dario seine gefährliche Tätigkeit beenden. Das war wichtiger als die gabelle und alles andere, was die Reggia erreichen wollte. Oder die Barone. Wozu noch etwas riskieren, wenn die Spanier sowieso in der Stadt aufräumten.
***
Aber die Spanier räumten nicht auf; die Aufständischen hielten Stand.
Nachdem die Neapolitaner den Prinzen von Massa, Francesco Toraldo, aufgehängt hatten, weil sie ihn des Verrats verdächtigten, wählten sie Gennaro Annese zum neuen Generalleutnant der Stadt. Und Annese erklärte Provinz und Stadt Neapel zur unabhängigen Republik.
Enzo war noch übernächtigter und bleicher als sonst, als er danach aus Neapel zurückkam. Er rief Mirella in Ritas Schlafzimmer und schickte Gina, der Köchin der Marchesa zu helfen. Dann verschloss er die Tür sorgfältig.
In Mirella wuchs die Beklemmung, während sie ihm zusah. Nie zuvor hatte Enzo Geheimnisse gehabt.
Er lief murmelnd auf und ab; dann riss er plötzlich die Tür auf und schaute in den Flur. „Gut!“ Er schloss sie wieder. „Hört gut zu: Niemand, niemand darf erfahren, dass Dario nicht die ganze Zeit über hier im Landhaus geblieben ist.“ Er hob die Hand, um sie am Reden zu hindern. „Ab heute ist es Hochverrat!“
„Aber ...“ Mirella schaute von ihm zu Rita. „Aber das wissen doch viele: Fabrizio, die Oliveto ...“
„Der Marchese wird schweigen. Stefanie würde es ihnen niemals vergeben, würden sie Dario ausliefern.“
Mirella begann zu schluchzen. Sie hätte Dario nicht nachgeben dürfen. Vielleicht hätte er sich besonnen, wenn sie ihm nicht geholfen hätte. „Wir müssen etwas tun.“
Enzo sah sie streng an.
Sie wischte sich die Tränen ab. „Ich ...“
Enzo lächelte mitleidig. „Nein, Kind, du hättest es nicht verhindern können. Er ist für sich selbst verantwortlich.“
„Ich verstehe es aber nicht.“ Mirella schluchzte weiter. „Pastina ist Darios Mittelsmann gewesen; und jetzt ist er Anneses General. Wie kann Dario dann in Gefahr sein?“
„Weil Pastina kein Ehrenmann ist, obwohl er ein Brigant ist.“ Enzos Gesicht drückte seine ganze Verachtung aus. „Pastina ist einer, der seine Fahne in den Wind hängt. Du wirst sehen, wie schnell er sich aus dem Staub macht, wenn es nicht mehr glatt läuft.“
„Aber trotzdem ...“
„Sie haben den Prinzen von Massa gehängt; sie werden auch den nächsten hängen, den sie des Verrats verdächtigen. Ohne Prozess. Das ist keine Republik; das ist Anarchie. Ihr hättet dabei sein sollen heute Nacht.“ Er dämpfte seine Stimme. „Stefania soll Dario zur Vernunft bringen. Annese setzt auf die Hilfe der Franzosen; dagegen kommen die Barone nicht an.“
Dario kam erst zwei Wochen später zurück, nachdem sie wieder nach Neapel zurückgekehrt waren. Er war einfach wieder da, sagte weder Mirella noch Enzo, was er in der Zwischenzeit getan hatte. Und auch Stefania schien dieses Mal nichts zu wissen.
Enzo war es ausnahmsweise zufrieden. „Je weniger wir wissen, umso weniger Schwierigkeiten haben wir.“
Samstag, 16. November 1647
Mirella erwachte frierend. Das Feuer im Kamin war zu einem glimmenden Aschehaufen zusammengesunken; sie kroch tiefer unter ihr schweres Plumeau und rollte sich zusammen.
Von draußen kam die trällernde Stimme eines jungen Mannes; was fiel ihm ein so früh am Morgen?
Die Franzosen waren gekommen! Mirella sprang mit einem Satz aus dem Bett: Der Junge da draußen hatte guten Grund zu singen.
Sie riss die Tür auf. „Gina, hilf mir beim Anziehen!“
Die Treppe knarrte, während Mirella ein Kleid nach dem anderen aus dem Schrank nahm und aufs Bett warf. Mit einem dunkelgrünen Baumwollkleid stellte sie sich vor den Spiegel. „Nein.“ Sie hielt sich das rote Samtkleid mit dem schwarzen Pelzbesatz an den Ärmeln an. „Das ist gut!“
Gina trat mit dem dampfenden Wasserkrug ein und musterte sie mit missbilligend gekrauster Stirn. „Willst du damit in die Kirche gehen? In einem Kleid, rot wie die Sünde?“
Mirella drehte sich lachend um. „Aber es ist kalt. Ich werde meinen Umhang darüber tragen.“
„Und warum willst dich so fein machen, wenn es doch niemand sieht?“
„Wer weiß!“ Sie zog sich das Batisthemd über den Kopf. „Bestimmt werden die französischen Demoisellen zum Gottesdienst erscheinen. Sollen wir ihnen nicht zeigen, dass eine Neapolitanerin ihnen in nichts nachsteht?“
„Für deine Hoffahrt wirst du in die Hölle kommen.“
„Dort ist es wenigstens warm.“
Gina goss das Wasser in die Waschschüssel. Eine Dampfwolke beschlug den Spiegel und das Fenster, während Mirella sich zu waschen begann. Sie fuhr mit der Hand über den Spiegel, aber er war gleich wieder blind.
„Es gibt keine französischen Demoisellen. Der Herzog ist zum Krieg gekommen, nicht zum Ball.“
„Zum Kriegführen?“ Empört fuhr Mirella herum. Während sie sich umwandte, fegte sie mit dem Ellenbogen die Schüssel zu Boden. Unbeeindruckt blitzte sie Gina an. „Wir haben ihn gerufen, damit endlich Frieden herrscht. Man kann sich ja gar nicht mehr auf die Straße trauen.“
„Ach Kind!“
„Ich bin kein Kind mehr!“ Mirella langte nach einem Handtuch.
Gina legte die Scherben auf die Kommode und nahm ein zweites Handtuch. „Lass mich das machen.“
„Ich bin kein Kind mehr! Wisch auf!“
Kaum war die Magd draußen, legte Mirella das Handtuch fort, schlüpfte in die Unterkleider und streifte vorsichtig das rote Kleid über den Kopf. Wenn sie es erst anhatte, würde Gina sich geschlagen geben.
Als Gina mit dem Wischlappen zurückkam, saß Mirella auf dem Bett und rollte den ersten Seidenstrumpf auf.
„Das ist kein Wetter für Seidenstrümpfe.“ Gina ging auf die Knie und nahm das vergossene Wasser auf, dass noch nicht zwischen die Dielen gesickert war.
Mirella seufzte. War die Anarchie jetzt schon bis zu ihnen in den Palazzo vorgedrungen, dass Gina so respektlos war?
Nachdem Mirella den zweiten Strumpf angezogen hatte, trocknete Gina sich ihre Hände ab, schnürte mit viel Gebrumme und Gemurre Mirella das Mieder und schloss die Haken am Kleid.
Mirella hob den Rock an und drehte sich vor dem Spiegel. „Jetzt wird es bald wieder Bälle geben.“ Sie ließ sich aufs Bett zurückfallen. „Das war das Ärgste!“
Gina murrte wieder. „Das Ärgste ist, dass es kaum noch Fleisch gibt. Und die Spanier werden sich von den paar Mann nicht beeindrucken lassen.“
Mirella stellte sich vor den Spiegel und blies die Backen auf. „Ja, vernünftig essen stünde mir auch gut zu Gesicht.“
Enzo öffnete die Tür und schaute zu ihr herein. „Warum bist du noch nicht fertig! Es wird voll werden. Alle wollen dabei sein, wenn wieder ein Anjou den Schutz unserer Stadt übernimmt.“
Mirella sprang die Treppe hinunter. Sie nahm den schwarzen Wollumhang aus dem Flurschrank und zog sich die Kapuze übers Haar. Dann lief sie nach draußen zu Dario.
Karossen und Fuhrwerke zuckelten in einer langen Reihe die Straße entlang und stauten sich an der Kreuzung zum Hafen. Die Menschen, die an ihr vorbeieilten, hatten ein Lachen im Gesicht. Fabrizio stand neben dem Schlag und pfiff ein Spottlied auf die Spanier.
Varese trat gegenüber aus der Tür, begleitet von seinen beiden Töchtern. „Guten Morgen, Enzo! Hat Er gesehen?“ Er deutete mit seinem Spazierstock zum Himmel. „Die Sonne drängt sich durch den Nebel. Wenn das kein gutes Omen ist.“
Dario knurrte. „Vor allem wird es bedeuten, dass die Spanier wieder sehen können, wohin sie schießen.“ Wieso schien er die allgemeine Freude nicht zu teilen?
Es brauchte eine halbe Stunde, bis sie in dem dichten Verkehr zur Kathedrale gelangten. Die letzten Meter gingen sie zu Fuß zu einem der Seiteneingänge nahe ihrer Kirchenbank.
Die Menschen unterhielten sich quer durch das Kirchenschiff, als seien sie auf dem Marktplatz. Im hinteren Teil standen sie dicht gedrängt; auf den Bänken saßen sie zusammengequetscht wie Thunfische in einer zu vollen Kiste. Die kleineren Kinder quengelten auf den Schößen ihrer Eltern. Dies würde keine geordnete feierliche Messe werden.
Sie drängten sich durch die Besucher, die im Seitenschiff standen. Die Oliveto saßen schon in ihrer Bank. Die Marchesa hatte ein weißes Spitzentuch zwischen den Fingern und betupfte sich die Augen. Weinte sie etwa?
Stefanie drehte sich um, als Mirella sich hinter ihr hinkniete, und zwinkerte ihr zu.
Mirella faltete ihre Hände dicht vor dem Gesicht und flüsterte. „Hast du sie schon gesehen?“
„Nein.“ Stefania grinste. „Suchst du immer noch einen Bräutigam für mich?“
Sie glucksten vor Vergnügen, bis die Marchesa Stefania mit ihrem Fächer auf den Arm schlug.
Mirella setzte sich hin. Nicht einmal zur Ostermesse hatte sie die Kirche jemals so voll gesehen. Sogar einige der spanischen Familien waren gekommen; dabei war nicht einmal Sonntag. Don Rodrigo saß auf seinem angestammten Platz. Also war er ein viel noblerer Verlierer als Dario ihm zugetraut hatte. Ihr künftiger angeheirateter Onkel; sie nickte ihm zu, als sich ihre Blicke trafen. Er erwiderte den Gruß mit einer Kopfbewegung, doch auf diese Entfernung konnte sie im Halbdunkel der Kirche seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.
Dann flutete Tageslicht durch das Hauptportal. Mirella richtete sich halb auf, sodass sie an Enzo vorbei bis zum Eingang sah.
Jeweils zwei Männer von Pastinas Miliz stellten sich rechts und links der Kirchentüren auf. Einer mit gezogenem Schwert, der andere mit einer Standarte: Zwei aufrecht stehende Löwen, ein Wappenschild in den Pfoten, zierten das Banner des Herzogs. Diese Löwen waren der einzige Unterschied zur Fahne Neapels, die das Kreuz des Königs von Jerusalem und einen Turnierkragen mit drei Brückenpfeilern trug. Und die goldenen Lilien des Hauses Anjou, auf dessen Nachfahren die Neapolitaner nun all ihre Hoffnungen setzten.
Kardinal Filomarino trat aus der Sakristei, begleitet von zwei Messdienern, die Kreuz und Weihrauch trugen. Sie gingen an den nun leiser tuschelnden Menschen vorbei zum Portal.
Mirella reckte sich noch höher.
Da stand Enzo mit einem Lächeln auf. „Setz dich an den Rand, Naseweis.“
Von draußen erklangen Rufe der Begeisterung; die ersten in der Kirche schlossen sich an. Filomarino brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Dies war das Haus Gottes.
Henri, Duc de Guise, betrat die Kathedrale.
Er war unglaublich jung; Mitte Dreißig vielleicht – wie hatte er in seinem kurzen Leben all die Dinge untergebracht, von denen sie gehört hatte? Erzbischof in Reims, zwei Ehen, eine Verschwörung gegen den König von Frankreich, eine Aussöhnung und eine erneute Verschwörung. Und nun hier für die Interessen Frankreichs. Oder für seine eigenen?
Der Herzog küsste den Bischofsring, wie es sich gehörte; anschließend schüttelten die beiden Männer sich die Hand. De Guise zog sein Schwert und gab es einem der Milizionäre. Dann schritt er an Filomarino vorbei zum Altar.
Seine Soldaten, die hinter ihm die Kirche betreten hatten, folgten ihm einer nach dem anderen. Filomarino begrüßte jeden einzelnen von ihnen mit Handschlag, nachdem sie gleichfalls seinen Ring geküsst hatten.
„Verräter!“, zischte Dario.
Mirella wandte sich überrascht zu ihm um.
„Sie scheinen sich gut zu kennen.“
Enzo legte ihm die Hand auf den Arm. „Filomarino hat ihn sicher gestern schon empfangen.“
Einer der jungen Soldaten ging so dicht an Mirella vorbei, dass er sie mit seinem angewinkelten Ellenbogen streifte. Dieser hatte sein Schwert nicht abgelegt, sondern umklammerte den Griff, als sei er bereit, es jeden Moment zu ziehen. Trauten sie den Neapolitanern nicht? Dario hinter ihr knurrte aufgebracht. Sie drehte sich zu ihm um, kreuzte seinen finsteren Blick. Vielleicht hatten sie so unrecht nicht.
Der junge Soldat ging die Stufen zum Altar hoch und stellte sich neben den Herzog. Immer noch die Hand am Schwert.
Die zwei Dutzend Männer des Gefolges setzten sich auf die vorderen Kirchenbänke, die der Küster freigehalten hatte. Filomarino begann die Messe zu lesen.
Mirella kniete sich zum Schuldbekenntnis. Da lehnte sich Stefanie zurück. „Adrett sieht er aus, der Herzog.“
„Nicht nur der“, flüsterte Mirella, die Augen auf den Mann neben ihm gerichtet.
Stefania folgte ihrem Blick. „Der gefällt dir? Der ist höchstens zwanzig; bestimmt ein Grünschnabel. Ein Milchbart.“
„Er hat doch gar keinen!“ Mirella unterdrückte das Glucksen in ihrer Kehle. „Der Herzog ist schon verheiratet.“
„Seine letzte Ehe ist gerade annulliert worden.“
Mirella prustete los, was ihr von Enzo einen heftigen Stoß in den Rücken einbrachte und von der Marchesa d’Oliveto einen zornigen Blick. Aber im weiteren Verlauf der Messe hörte sie dennoch kaum zu; sie hätte hinterher nicht zu sagen vermocht, worüber der Kardinal gepredigt hatte. Den Augenblick zur Kommunion hätte sie auch verpasst, wenn Enzo sie nicht aus der Kirchenbank geschoben hätte.
Mirella konzentrierte sich und sprach das vorgeschriebene Amen. Dann ging ihr Blick wieder zu dem jungen Soldaten an der Seite des Herzogs. Er hatte den Blick auf die Menge gerichtet, seine Augen schienen wachsam hin und her zu gehen. Dass sein spärlicher Bart kaum den unteren Teil seiner Wangen bedeckte, ließ ihn tatsächlich sehr jung erscheinen; höchstens Mitte Zwanzig. Nein, weniger; er war gewiss jünger als Dario. Aber er trug zwei Ordenssterne. Und schien die persönliche Wache des Herzogs zu sein.
Dann war die Messe zu Ende.
De Guise stand auf und trat an den Rand des Altarraums. Er schien den Blick jedes einzelnen einfangen zu wollen, so lange stand er regungslos da und ließ seinen Blick durch die Reihen der Kirchenbesucher gehen.
Einer der Messdiener brachte eine schwere Bibel aus der Sakristei, deren lederner Einband mit Gold beschlagen war. Kardinal Filomarino nahm sie ihm ab und ging zum Herzog.
De Guise legte die Hand auf die Bibel und sprach den Schwur der Dogen Neapels. Seine schöne volle Stimme füllte ohne Mühe das ganze Kirchenschiff. Er sprach das Neapolitanisch mit einem schweren Akzent, aber er kam keinen Augenblick ins Stocken; vermutlich hatte er die Worte auswendig gelernt. Dann kniete er sich vor dem Kardinal auf eine mit rotem Samt beschlagene Bank.
Filomarino nahm aus der Hand eines zweiten Priesters die Königskrone von Neapel und setzte sie dem Herzog auf. Dann trat er einen Schritt zurück und hob die Hände, um ihn zu segnen. Aber bevor er dazu kam, stand de Guise auf und wandte sich wieder der Menge zu.
„Ich danke Euch für die Ehre, mir den Schutz Eurer jungen Republik anzuvertrauen. Ich gelobe, sie bis zum letzten Atemzug zu verteidigen und die Rechte eines jeden Bürgers zu achten und zu bewahren.“
„So sieht er aus!“ Dario stieß ein unwilliges Grunzen aus und erhob sich halb von seinem Platz. „Geck!“
„Du hast Vorurteile!“ Enzo hielt ihn fest. „Warte es doch erst einmal ab.“
„Dafür ist keine Zeit.“ Dario hatte seine Stimme erhoben und mehrere Leute drehten sich zu ihnen um.
„Still!“, zischte der Marchese d’Oliveto von vorne.
Dario schnaufte noch einmal voller Empörung; dann setzte er sich wieder hin.
Gennaro Annese stieg die Stufen zum Altar hoch, auf einem schwarzen Samtkissen eine überdimensionale Kopie des Stadtschlüssels.
Er ließ sich vor de Guise auf ein Knie nieder. „Seigneur, im Namen des Rats überreiche ich Euch den Schlüssel der Stadt, die der Mittelpunkt des Königreichs Neapel ist.“ Aber er stand wieder auf, bevor er ihm den Schlüssel hinhielt. Filomarinos Bewegung, mit der er Annese auf den Knien halten wollte, kam zu spät.
Dann verließen die französischen Soldaten ihre Plätze und stellten sich zu beiden Seiten des Gangs auf, bevor de Guise, die Krone auf dem Kopf, die Kathedrale verließ.
Die Soldaten hielten die Kirchenbesucher zurück, die ihre Bänke verlassen wollten, während der neue Doge noch vor der Kathedrale stand. Er sprach zu den Menschen, die draußen geblieben waren. Seine Worte mussten ihnen gefallen, denn er wurde immer wieder von Beifall unterbrochen.
„Sie werden sich noch wundern“, fauchte Dario.
„Mäßige dich!“ Enzo klang zornig. Wie oft hatte er an diesem Morgen schon eingegriffen, um Dario im Zaum zu halten?
Mirella drehte sich zu den beiden um. „Dario, du bist ein Miesepeter. Was soll er denn anstellen können mit seinen paar Männern?“
Die Soldaten verließen endlich die Kathedrale und die Kirchenbesucher folgten ihnen nach draußen.
Auch Mirella wollte zum Hauptportal hinausgehen, aber Enzo hielt sie auf. „Fabrizio wartet in der Nebenstraße.“
„Dort sehe ich aber nichts mehr.“
Enzo schob sie zum Seiteneingang. „Wenn dir so viel daran liegt, dann nehme ich dich mit, wenn ich in den Palazzo Reale fahre.“
Draußen rollte die Kutsche des Kardinals an ihnen vorbei; neben Filomarino saß de Guise mit angespanntem Gesicht. Sie wurden von Reitern der Stadtmiliz flankiert. Anschließend folgte der neue Prinz von Massa, danach die Männer des Herzogs.
„Wo haben sie eigentlich die Pferde her? Ich dachte, sie sind mit einer Schaluppe gekommen.“
„Rate, wessen Pferde das sind.“ Dario schnaubte verächtlich.
Mirellas Blick traf sich mit dem des jungen Soldaten. Ihre Wangen wurden warm, bestimmt errötete sie.
Stefania tauchte mit ihren Eltern hinter ihnen auf. „Vater sagt, Filomarino hat für heute Abend eingeladen, damit der neue Doge die Adligen und Patrizier der Stadt kennen lernt. Kommt ihr auch?“
„Nein!“, sagte Dario.
„Ich hoffe es.“ Mirella sah Enzo an. „Haben wir denn eine Einladung?“
„Sicher. Und wir werden hingehen. Auch du, Dario.“
„Es wird todlangweilig“, sagte die Marchesa. „Man wird über Krieg und Geschäfte reden und wir Frauen dürfen die Tafel zieren. Und vielleicht uns endlich wieder satt essen.“ Sie fächelte schwungvoll vor ihrem Gesicht herum. „Aber das sind die neuen Herren.“
„Sie schützen uns vor den Spaniern, meine Liebe.“
„Pah!“ Die Marchesa rauschte davon.
D’Oliveto grinste Enzo an. „Sie ist beleidigt, weil sie gehofft hatte, dass Stefania so viel Glück wie Seine Mirella hat.“ Er nahm Stefania an der Hand und folgte seiner Frau.
An der Kutsche wartete auch Gina. Sie zwinkerte Mirella zu. „Keine Demoiselle, hast du gesehen? Und niemand hat dich beachtet.“
„Doch,“ war sie versucht zu widersprechen. Sie biss sich auf die Lippen. „Was gibt es zum Mittagessen?“ Mit hochmütig gerecktem Kopf stieg sie hinter Dario in die Kutsche, während Gina auf dem Bock Platz nahm.
Auf dem Weg nach Hause schaute Mirella gegen ihre Gewohnheit die ganze Zeit aus der Kutsche. Die ersten Händler hatten ihre Läden geöffnet und brachten einen Teil ihrer Waren zum Verkauf nach draußen. Vor der Tür eines Schneiders flatterten Leinenröcke im Wind. Ein Schuster hatte sich gar mitsamt seinem Handwerkszeug auf dem Gehweg niedergelassen. Er unterhielt sich mit einer jungen Frau, während er an einem Stiefel arbeitete.
„Die Stadt summt“, stellte Enzo nach ein paar Minuten fest. „Als ob sich sofort etwas geändert hätte.“
„Das hat es auch.“ Dario mochte seinen Sarkasmus nicht verbergen.
„Wenn du dich heute Abend nicht zügelst, dann gnade dir Gott. Und uns!“
„Vater! Will Er etwa Geschäfte mit denen machen?“
„Sicher. Willst du die Florentiner Stoffe künftig an die Fischer verkaufen?“ Enzo lehnte sich zurück. „Es ist eine unschätzbare Gelegenheit, den Seiden des Monsieur Colbert Konkurrenz zu machen.“
„Mir gilt die Ehre mehr als das Geschäft.“
„Davon kannst du dir nichts kaufen.“
„Aber ...“ Mirella war sich nicht sicher, ob sie weitersprechen sollte. Sie blickte von einem zum anderen; Dario sah sie aufmunternd an. Doch sie schüttelte den Kopf.
***
Zu Hause lief Mirella als Erstes in ihr Zimmer, holte Kleider aus dem Schrank und ging damit zu Enzo in die Bibliothek. „Vater, welches rät Er mir?“
Er sah sie verblüfft an. „Das musst du deine Mutter fragen.“
„Mutter versteht nichts von Geschäften.“ Sie legte den Kleiderstapel auf den Boden und zog drei heraus. „Diese sind aus unseren Stoffen.“
Enzo lachte. „Das sehe ich.“
Er grinste immer noch, als sie eines nach dem anderen vor sich hielt. Dann nahm er ihr alle aus der Hand. „Zieh dein fliederfarbenes Ballkleid an. Die Marchesa hat sich geirrt. Maestro Trabaci wird heute Abend dirigieren.“
Enzo kam um den Schreibtisch herum. „Komm mit.“ Er führte sie in Ritas Ankleidezimmer. „Felipes Schmuck solltest du nicht tragen; mancher würde ihn erkennen. Und wenn einer eine Bemerkung machte ...“ Er öffnete eine Schatulle aus Ritas Kommode. „Man könnte es als Affront verstehen.“
„Aber alle wissen, dass ich Felipe heiraten werde.“
Enzo sah sie lange an. „Liebst du ihn eigentlich?“
Mirella erglühte. “Wieso?” Sie leckte sich über die Lippen. „Was ist das für eine Frage.“
„Also nein. Das dachte ich mir.“ Schnell legte er ihr einen Finger auf den Mund. „Widersprich mir nicht. Ich weiß sehr wohl, wie ein verliebtes Mädchen aussieht.“ Er strich ihr übers Haar. „Du bist noch so jung.“
Was das nun heißen sollte! „Mutter war auch erst fünfzehn, als ihr geheiratet habt.“
„Sicher!“ Er legte ihr eine schmale Silberkette um den Hals, in deren Band mehrere Smaragde eingearbeitet waren. „Als ob sich deine Augen darin spiegelten. Und dennoch nicht zu protzig.“
Mirella tastete danach und stellte sich vor den Spiegel. „Meint Er, Mamma wird sich nicht ärgern? Es ist ihr Lieblingsstück.“
„Eben darum gehört die Kette jetzt dir, meine Kleine.“ Rita kam aus dem Schlafzimmer. „Ich werde in schwarzer Spitze gehen wie eine Matrone.“
„Ihr macht so viel Aufhebens.“ Mirella schüttelte den Kopf. „Und dabei ...“
„De Guise garantiert uns die Freiheit.“ Enzo sah sehr zufrieden aus.
„Ist es nicht gleich, ob wir einem Spanier oder einem Franzosen untertan sind?“
„Wenn es das wäre ...“ Enzo ging zur Tür. „Du bist noch jung. Mit der Zeit wirst du es verstehen.“
Mirella sah ihm verwundert hinterher. „Was hat Vater denn?“
Nach dem Mittagessen, das keinen Deut besser war als in den letzten Monaten, schickte Rita ihr eigenes Mädchen, um Mirella zu frisieren. Sie wunderte sich noch mehr als zuvor über den ganzen Aufwand.
Während sie vor ihrem Spiegel saß und Concetta beim Bürsten der Haare zusah, kam Dario. Erst lief er ungeduldig hin und her; dann befahl er Concetta hinaus. „Ich muss mit dir reden.“
Aber Mirella hielt das Mädchen fest. „Das kannst du auch, während Concetta mich kämmt. Wo warst du überhaupt beim Essen?“
Er setzte sich auf die Bettkante.
„Also?“
Er warf einen Blick auf das Mädchen. „Komm in zehn Minuten wieder.“
Concetta ließ die Bürste sinken; Mirella nickte resigniert. „In zehn Minuten.“
Als Concetta draußen war, setzte sie sich neben Dario. „Ich begreife überhaupt nichts mehr!“
„Vielleicht ist es gar nicht so falsch, was Vater macht.“ Er nahm eine ihrer Locken zwischen die Finger und drehte sie auf. „Sag, wie sehr liegt dir an Felipe?“
„So etwas Ähnliches hat mich Vater heute auch schon gefragt. Was habt ihr nur?“
Er lehnte sich zurück, stützte die Hände auf. „Es ist dir klar, dass die Hochzeit nicht mehr zur Debatte steht, so wie die Dinge jetzt liegen. Außer du gingest nach Madrid und kämest nie zurück.“ Er stand auf, nahm die Bürste und begann selber, sie selber zu kämmen. „Richtig so?“
„Ich werde doch sowieso in Madrid und Barcelona leben, wenn ich die Herzogin de Toledo d’Altamira y Leon bin.“ Sie genoss den Klang der vielen Namen. „Aber warum sollte ich nicht nach Neapel zurückkommen?“
„Weil man dich als Spionin verhaften würde.“
Mirella verschluckte sich an ihrem Lachen. „Dario, du spinnst.”
„Glaubst du nicht?” Er legte die Bürste beiseite. „Aber darüber wollte ich nicht mir dir reden.“ Wieder lief er auf und ab. Nun war Concetta fort und Dario schien gar nicht zu wissen, was er ihr wirklich sagen wollte. Am Fenster blieb er stehen und blickte hinaus. „Ein freundschaftlicher Kontakt zu den Franzosen könnte nützlich sein ... für deine Pläne.“
Was sollte sie nun dazu sagen? Sollte eine die Gedankengänge der Männer verstehen. Es kam ihr absurd vor.
„Ich habe eben den Duca di Nocera getroffen. Er will wissen, was die Franzosen vorhaben.“
Sie zuckte die Achseln. „Sie werden es ihm erzählen heute Abend.“
„Er ist nicht eingeladen. Und wenn er käme, dann würden sie ihn sofort festnehmen. Denkst du, Annese und der Prinz von Massa haben nicht für klare Verhältnisse gesorgt?“
„Dann müssten sie manch einen festnehmen heute Abend.“
„Vielleicht tun sie es ja.“ Dario feixte ganz unerwartet.
„Um mir das zu erzählen, hast du Concetta weggeschickt?“ Sie rief das Mädchen zurück. „Mach mir die Haare fertig.“
„Du hast mir nicht richtig zugehört.“ In der Tür drehte Dario sich noch einmal um. „Denk nach; du bist doch sonst gewitzter.“
Concetta steckte die Haare mit silbernen Spangen hoch; dann zog sie rundherum ein paar Strähnen heraus und drehte sie zu Locken. „Sie wird heute Abend alle beeindrucken, Signorina.“
Du bist die beste Tänzerin ... freundschaftlicher Kontakt könnte nützlich sein ... heute Abend alle beeindrucken ... Was luden sie ihr da auf? Misstrauisch verfolgte sie Concettas Bewegungen, als sie den Frisiertisch abräumte und Bürsten, Kämme und Haarnadeln in der Kommode verstaute. Hatte Mutter einen tieferen Grund gehabt, dass sie ihr heute das Mädchen überlassen hatte?
Als sie vor dem hell erleuchteten Palazzo Reale aus der Kutsche stieg, verscheuchte Mirella alle Fragen aus ihrem Kopf. Endlich gab es wieder ein Fest und bald war Weihnachten.
Von außen sah der Palazzo aus wie immer. Nur standen keine Spanier am Tor, sondern Männer der städtischen Miliz. Keine fremden Soldaten – das war wohl die Freiheit, die Enzo gemeint hatte. Als sie an den Soldaten vorbeigingen, wurden sie nicht wie sonst angehalten. Stattdessen nickte einer von ihnen Mirella zu: Pietro, der Sohn des Gemüsehändlers im Vicolo del Vo`. Er hatte ein stolzes Lächeln im Gesicht.
Die Reihe der Gäste vor ihnen war lang und sie mussten fast eine Viertelstunde warten, bis sie das Schloss betreten konnten.
„Die Suppe wird kalt“, bemerkte Dario zwischendurch.
Enzo warf ihm einen zornigen Blick zu, Mirella einen überraschten. Hatte sie seine Bemerkungen beim Frisieren doch nicht richtig verstanden?
Der Doge selber stand in der Eingangshalle, neben sich Annese und Soldaten aus seinem Gefolge. Er begrüßte die Männer der Stadt mit einem Handschlag und die Frauen mit einem freundlichen Nicken. Manch eine versuchte sich an einem Hofknicks, aber stets wehrte er ab.
„Buona sera.“ De Guise lächelte Mirella an. Gennaro Annese an seiner Seite stellte die Familie vor.
„Très enchanté, Madame. – Ich habe Euch heute in der Kathedrale gesehen, Mademoiselle.“ De Guise gab Enzo die Hand und hatte für Dario ein Nicken. „Signor Scandore, ich will morgen Mittag die Kaufleute der Stadt bei mir sehen.“
Das war ein Befehl, unzweifelhaft. Und Enzo würde gehorchen – das war ebenso unzweifelhaft. Zum ersten Mal im Leben seine Gewohnheit brechen, vor dem Sonntagsessen zum Spielen zu gehen.
Die Lakaien im Speisesaal waren dieselben, die zuvor den Spaniern gedient hatten. Sie trugen sogar die gleichen Livreen. Aber auf den Wandbespannungen gab es große helle Flecken. Die Insignien Spaniens waren noch nicht durch die Neapels oder derer von Anjou ersetzt worden.
Einer der Diener geleitete sie zu ihren Plätzen, erstaunlich nahe der Stirnseite der Tafel. Im Vorbeigehen schielte Mirella auf die Tischkarten neben den Gläsern: Adel und einfache Patrizier wurden abwechselnd platziert. Noch mehr allerdings überraschte sie, zwischendurch französische Namen zu lesen. Ihr eigener Platz war zwischen Enzo und Dario.
Die Tafel war üppig mit Orangen, Äpfeln und Weintrauben dekoriert; sie mussten die Stadt zuoberst gekehrt haben, um das alles aufzutreiben. Und den Keller des Schlosses hatten sie geplündert – neben Weinen aus der Basilikata und Kampanien standen Flaschen aus Spanien.
„Ob denen unser Wein schmecken wird?“ Dario feixte. „Man behauptet, die Franzosen seien verwöhnt.“
Mirella deutete auf die Wasserkaraffen. „Vielleicht trinken sie überhaupt keinen Alkohol heute Abend. Ich habe den Eindruck, sie sind wachsam.“
„Wie kommst du darauf?“ Er klang überrascht.
„Hast du nicht gesehen, dass der Herzog sein Gefolge zwischen uns platzieren ließ? Sofern sie Neapolitanisch sprechen, verstehen sie alles, was wir sagen.“
„Und ich wette, manch einer versteht es. Du bist sehr aufmerksam.“ Er nickte ihr anerkennend zu.
Ein hochgewachsener blonder Franzose mit dunklem Schnauzer stellte sich Mirella gegenüber hinter den Stuhl. „Ich bin Albert de Grignoire, Chevalier de Verzy.“ Es klang, als müssten sie wissen, wer er war.
Mirella nickte ihm mit einem sparsamen Lächeln zu; noch einer, der kaum erwachsen war. Wie wollte de Guise mit solchen Soldaten den Tercio de Nápoles besiegen, der als eine der besten Armeen der Welt galt?
An der Tür wichen die Gäste plötzlich zur Seite. Zwei Soldaten betraten den Saal, dann folgte de Guise. Sie flankierten ihn, während er zu seinem Platz an der Stirn der Tafel ging.
Mirella spähte nach den Händen der Männer: Tatsächlich umklammerten sie die Griffe ihrer Schwerter. „Sie scheinen uns nicht zu trauen.“
Enzo bedachte sie mit einem Blick unter hochgezogenen Brauen.
„Mademoiselle, Euch traut gewiss jeder. Aber wir wissen sehr wohl, dass sich manche nach der Rückkehr der Spanier sehnen.“ Albert de Grignoire sah sie mit einem Funkeln in den Augen an.
„Da hat er Recht“, knurrte Dario auf Neapolitanisch.
Während die übrigen Männer de Guises den Saal betraten, musterte Mirella sie einen nach dem anderen. Manche waren in de Guises Alter, viele um einiges jünger. Gewiss war die Fahrt nichts für Greise gewesen. Wo war der Soldat aus der Kirche? Kopfschüttend fragte sie sich, warum sie das interessierte.
Freundschaftliche Kontakte, hatte Dario gesagt. Sie lächelte ihrem Gegenüber zu. „Ich habe gehört, ihr seid über See gekommen, Chevalier. War das nicht ein Risiko zu dieser Jahreszeit?“
De Grignoire schien einen Moment zu zögern. „Eure Sorge ehrt Euch, Mademoiselle. Der Landweg wäre jedoch ein ungleich größeres Risiko gewesen.“
„Was hattet ihr zu befürchten?“ Dario belauerte den Franzosen unverhohlen.
Der musterte ihn ebenso unverhohlen. „Ihr mögt uns nicht sonderlich, Signore; habe ich Recht?“
Dario schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was ich von all diesem halten soll.“ Mit einer weit ausholenden Bewegung umfasste er den ganzen Saal. „Die Spanier mochte ich nicht; dessen bin ich sicher.“ Er tätschelte Mirellas Arm. „Meine Schwester kann ein Lied davon singen.“ Er ließ sie wieder los. „Ich traue erst dann jemandem, wenn ich ihn kennen gelernt habe.“
De Grignoire nickte. „Ihr habt so Unrecht nicht, Signore ...“
„Scandore. Dario Scandore.“ Er streckte dem Franzosen über dem Tisch die Hand entgegen. „Meine Schwester Mirella. Unser Vater handelt mit Tuch.“ Dario deutete auf Mirellas Kleid. „Vorwiegend aus Florenz, dem Ottomanischen Reich und den Barbaresken–Staaten.“
„Ich wusste nicht, dass die in der Lage sind, gute Tuche herzustellen. Colbert verkauft seine Lyoner Stoffe dorthin.“
„Sofern die Piraten ihn lassen.“
Albert nickte. „Sofern … Doch unsere Flotte ist besser als ihr Ruf.“ Er grinste breit.
Die ersten Speisen wurden aufgetragen, trotzdem das untere Ende der langen Tafel noch frei war.
Mirella aß langsam, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie danach gierte, endlich wieder Fleisch zu essen. Von den Vorspeisen nahm sie nur die mit Lupinen garnierten Ziegenfüße; aus der Minestra fischte sie möglichst unauffällig die Filetstückchen und den Speck heraus und verschmähte den mitgekochten Blattsalat.
Fasziniert verfolgte sie währenddessen Darios Geplauder mit dem jungen Franzosen: Das war eine Seite an ihm, die er selten so ausgiebig nutzte – verbindlich sein. Er führte etwas im Schilde damit. Nur was?
Eine Gruppe Milizionäre betrat den Saal und nahm am Ende der Tafel Platz. Beim Vizekönig wäre es undenkbar gewesen, dass gemeines Volk mit den Patriziern oder gar den Adligen an einem Tisch saß. Aber der neue Doge stand sogar auf, hob ihnen sein Glas entgegen und sprach einen Toast auf sie als die Verteidiger der Stadt.
„Opportunist“, murmelte Dario auf Neapolitanisch.
„Warum?“, fragte Albert de Grignoire.
Dario wurde rot.
Albert lächelte. „Es gibt viele Italiener bei uns in Frankreich. Und die meisten, die dem Herzog gefolgt sind, sprechen Italienisch. Das war eine seiner Bedingungen. So verstehen wir auch ein wenig von eurem Neapolitanisch.“ Er machte eine Kopfbewegung zur Tür. „Wenn man nicht andere Fähigkeiten besitzt oder den Enthusiasmus des Marquis.“
Dort stand der junge Soldat aus der Kirche. Er sah sich um; dann ging er zum Dogen.
„Wer ist das?“, entfuhr es Mirella. „Er ist mir in der Kirche aufgefallen.“
Albert sah sie fragend an.
„Weil ...“ Plötzlich hatte sie einen trockenen Mund und griff hastig nach ihrem Glas und trank, um ihre Verlegenheit zu überspielen. „Er scheint eine besondere Stellung zu haben. Dabei sieht er aus wie ... Er scheint noch sehr jung zu sein.“
Albert musterte sie eindringlich; er schmunzelte offen über ihre Verlegenheit. Aber als er dann antwortete, schwang Traurigkeit in seiner Stimme. „Manche müssen früher erwachsen werden als ihnen gut tat. Italien kann sich glücklich schätzen, dass die Ideen eines Luther oder Calvin nicht Fuß fassen konnten.“
„Es braucht keine Religion, um Krieg zu führen.“ Mirella wies mit ihrem Glas zu den Fenstern. „Habt Ihr Euch die Zeit genommen, unsere Stadt anzusehen?“
„Aber dieser Feind kommt von außen.“
Dario legte ihr die Hand auf den Arm, als wolle er sie zum Schweigen bringen. „Mirella will damit sagen, dass die Zerstörung die gleiche ist, egal aus welchem Grund ein Krieg geführt wird.“
Das hatte sie nicht sagen wollen; aber sie schwieg nun doch. Anscheinend hatte sie einen Punkt berührt, den Dario nicht vertieft sehen wollte.
Albert schüttelte den Kopf. „Der Feind in der eigenen Familie ist schlimmer.“
Mirella sah ihn erschrocken an. „Das tut man nicht.“
„Habt Ihr vergessen, wer Abel erschlagen hat?“
Sie hielt die Luft an und starrte zu dem jungen Marquis. „Was ...“
„Der König ließ seinen Vater hinrichten, obwohl er ihn Freund nannte. De Guise hat sich seiner angenommen, als er Erzbischof in Reims war. Und dann ist Alexandre ihm gefolgt.“
Alexandre. Mirella wagte noch einen scheuen Blick.
De Guise legte sein Besteck beiseite und folgte ihm nach einer Entschuldigung an die Tischgäste. Als der Marquis sich zur Tafel umwandte, vertiefte sie sich schnell in ihren Teller und hob den Kopf erst wieder, als sie aus den Augenwinkeln sah, dass er zusammen mit de Guise den Saal verlassen hatte.
Während die mit Ricotta und Zimt gefüllten sfogliatelle aufgetragen wurden, erklangen die durch die zum Ballsaal geöffneten Türen Klänge von Streichinstrumenten, die gestimmt wurden. So hatte Enzo Recht gehabt. Unwillkürlich hob Mirella ihre Fersen und bewegte die Füße im Takt einer imaginären Musik. Da der Doge zum Tanz lud, rechnete er gewiss nicht mit Krieg.
Ein Lakai kam und flüsterte Enzo etwas zu; er stand auf.
„Amüsiert euch, Kinder. Ich habe zu tun.“ Er folgte dem Diener hinaus.
Auch Albert de Grignoire stand auf. „Tanzt Ihr, Signorina Scandore?“
Mirella bejahte und strahlte ihn an.
Albert ging in Richtung des Ballsaals und drehte sich erst an der Tür nach ihr um. Aber sie saß noch immer auf ihrem Platz und wusste nicht recht, ob es voreilig wäre, wenn sie jetzt auch aufstünde.
„Amüsiere dich, Schwesterchen. Felipe ist weit weg.“
Mirella zuckte zusammen; Enzo hatte sie davor gewarnt, ihre Beziehung zum Neffen des Vizekönigs anzusprechen. „Dann erinnere mich nicht an ihn“, zischte sie in der Hoffnung, dass Dario begriff. Nun stand sie doch auf.
Albert wartete immer noch auf sie; als sie dicht vor ihm stand, fiel ihr eine dünne weiße Narbe auf, die sich von seinem rechten Ohr bis zum Kragen hinunterzog.
„Ihr müsst mich die neapolitanischen Tänze lehren, denn ich habe vor, lange hier zu bleiben.“ Seine schmalen Finger bewegten sich sanft um ein Weniges ihren Arm hoch und er sah sie eindringlich an.
Nun gut; wenn er ihr den Hof machen wollte, dann würde sie es genießen. „Ich werde mir Mühe geben. Doch ich lasse mich zuweilen aus dem Takt bringen.“
„Von Männern, die Euch auf die Füße treten in ihrem Ungeschick?“ Er blickte nach unten zu ihren hochhackigen Brokatschuhen. „Ich werde mir Mühe geben.“
Aus dem Ballsaal erklang eine Pavane. Mirella lächelte Albert an. „Wir haben beide Glück. Fürs Erste hat das Orchester beschlossen, die französischen Komponisten zu ehren.“
„Wie langweilig.“ Er zwinkerte. „Dann hätte ich auch in Paris bleiben können.“
Sie tanzte die Pavane mit ihm, dann die sich anschließende Gagliarda.
Danach kam einer der älteren Franzosen auf sie zu – ein Mann in de Guises Alter. „Albert, gönnst du mir auch das Vergnügen?“ Er verneigte sich vor Mirella. „Natürlich nur, wenn Ihr einverstanden seid, Mademoiselle.“
Mirella runzelte die Stirn; wieso hatte er nicht zuerst sie gefragt?
Albert drückte ihre Hand, die er auch nicht losgelassen hatte, als der letzte Ton verklungen war. „Comte de Modène, Signorina Scandore.
Der Comte de Modène zog seinen Hut. „Ich habe Euren Namen auf der Tischkarte gelesen.“
Albert ließ sie los und sah sie fragend an. Liebend gerne würde sie jetzt Nein sagen. Wenn sie doch nur nicht Darios Auftrag hätte. Stattdessen zuckte sie die Achseln; dann reichte sie dem Comte de Modène die Hand. „Es wird mir ein Vergnügen sein, Monsieur.“ Hoffentlich.
Der Comte erwies als ein besserer Tänzer als Albert; aber bei der Allemande, die nun gespielt wurde, war es gleich, wer ihr eigentlicher Partner war. Als sie eine Figur mit Albert tanzte, fragte er vorsichtig, ob sie verärgert sei. Ehrlichen Gewissens verneinte sie mit einem Lachen. Sie tanzte, alles andere war ihr gleich. Aber sie sah ihm an, dass ihm das nun auch wieder nicht gefiel.
Dann ließ Trabaci die Einleitung zu einer Tammuriata spielen und Dario kam auf sie zu.
„Ich werde ganz genau zuschauen“, kündigte Albert an.
Dario grinste und geleitete Mirella nach dem Tanz zu ihm zurück. „Wagt Ihr es?“
„Das Wagnis läge ganz auf Seiten Eurer Schwester.“
„Ihr seid so begabt, Chevalier“, flunkerte sie; wild entschlossen, sich zu amüsieren. Es war lange genug Krieg gewesen.
Albert schüttelte den Kopf. „Es erforderte mehr Mut, als Ihr von einem einfachen Soldaten verlangen könnt.“
Sie lachte kehlig. „Aber das seid Ihr nicht.“
„Darf ich Euch erst einmal ein Glas Wein bringen?“
„Wenn Ihr mir versprecht, dass es Euch mutiger macht.“
Albert suchte lachend nach einem Lakaien mit Gläsern. Mirella blickte ihm nach und da traf ihr Blick den des jungen Marquis. Hatte er sie etwa beobachtet? Sie fühlte sich plötzlich unbehaglich – als ob sie gerade etwas Ungehöriges getan hätte.
Albert wechselte ein paar Worte mit ihm, als er, einen Lakaien mit einem Tablett im Gefolge, wieder in den Saal zurückkam. „Hier kommt der Wein. So viele Gläser kann ich nicht tragen.“ Er nahm ein Glas vom Tablett. „Und es schickt sich auch nicht.“
Nach einem Blick auf die Flasche schmunzelte Mirella. „Französischer Wein? Jetzt habe ich begriffen, warum Ihr mit dem Schiff gekommen seid.“ Sie nahm das Glas, das der Lakai ihr reichte.
„Ich muss Euch enttäuschen, Signorina. Auch der kommt aus den Kellern des Vizekönigs.“
Sie nippte an dem Wein. „Stimmt. Den Geschmack kenne ich.“
Albert zog die Brauen hoch. „Ihr wart Gast des Vizekönigs?“
Hastig nahm sie noch einen Schluck. Sie sollte besser zuhören und nicht selber so viel reden.
Dario half ihr aus der Verlegenheit. „Vater war Hoflieferant. Wir konnten uns nicht aussuchen, mit wem wir verkehren.“
Albert sah so aus, als schlucke er diese absonderliche Erklärung.
„Nun, wagt Ihr die Tammuriata jetzt?“ Sie setzte ihr betörendstes Lächeln auf, um ihn endgültig vom Thema abzulenken.
Er lachte. „Ich werde dem schönsten aller Mädchen gewiss nichts abschlagen.“ Er reichte ihr seinen Arm. „Sonst tanzt Ihr nie mehr mit mir. Und wie gesagt – ich habe die Absicht, lange zu bleiben.“
„Wir werden Euren Schutz brauchen, Chevalier. Aber wie will der Herzog uns helfen ohne Armee?“
„Es wird eine geben; seid unbesorgt, Mademoiselle“, erklang eine warme Stimme hinter ihr. Ihre Nackenhaare stellten sich auf bei diesem Klang.
Der junge Marquis trat an ihre Seite. Albert schenkte ihm ein herzliches Lächeln. „Marquis Alexandre de Montmorency.“ Er stellte Mirella vor und erwähnte die Stoffe ihres Vaters.
Alexandre nickte. „Ich weiß. Henri bespricht mit ihm die Lieferung von Uniformstoffen.“
Mirella riss überrascht die Augen auf; aber bevor sie etwas dazu sagen konnte, ging er weiter.
„Er tanzt nie.“
„Oh“, war alles, was ihr dazu einfiel zu sagen. Wie schade.
Als Trabaci wieder eine Tammuriata spielen ließ, folgte sie Albert entschlossen und ignorierte ebenso entschlossen, dass er ihr mehrfach auf die Füße trat.
„War es schlimm?“, fragte er am Ende.
Tapfer schüttelte sie den Kopf. „Ein wenig müsst Ihr noch üben.“
„Steht Ihr mir zur Verfügung?“ Er klang so unerwartet schüchtern, dass sie lachend nickte.
Das Aufleuchten seiner Augen aber, das darauf folgte, ließ sie schlucken. Am liebsten hätte sie angedeutet, dass sie verlobt war, aber er würde nachfragen und dann müsste sie über Felipe reden.
Kurz darauf nahm Dario sie beiseite. „Das machst du gut, Schwesterchen. Halt ihn dir warm.“
Daraufhin kam sie sich wie eine Verräterin vor, als Albert sie erneut zum Tanz aufforderte. Dabei war sie doch bloß loyal. Sie täuschte Müdigkeit vor, was ihr einen skeptischen Blick von ihm einbrachte, der ihr erst recht ein schlechtes Gewissen machte. Als sie dann Stefania sah, gelang es ihr, ihr Albert aufzuhalsen. Sie sah sich nach dem Marquis de Montmorency um, aber er war nirgendwo.
Die Laune war ihr verdorben – etwas, was ihr nie zuvor bei einem Ball passiert war. Als Rita zum Heimweg aufforderte, war sie mehr als erleichtert.
Enzo war dagegen in prächtiger Stimmung und Rita saß mit zufriedenem Gesicht neben ihm. Er redete ununterbrochen; noch, als sie zu Hause ankamen. Was für ein nobler Mann de Guise sei und dass jetzt der Handel wieder aufblühen würde. Und die Republik ihr eigenes Geld bekäme ...
Mirella fiel Alexandres Bemerkung ein. „Wird Er ihm den Stoff für die Uniformen liefern?“
Enzo sah sie überrascht an. „Wie kommst du darauf?“ Er blickte zwischen ihr und Dario hin und her. „Wahrscheinlich. Wenn es mir gelingt, seine Bedingungen zu erfüllen.“
„Der Doge hat Ihm Bedingungen gestellt?“ Darios Stimme zitterte vor unterdrückter Wut.
Enzo wirkte noch überraschter. „Sicher. Als Uniformstoff ist nicht alles geeignet. Und ich muss auch eine ausreichende Menge liefern können.“ Er hob die Hand. „Sprecht nicht darüber; es könnte zu Problemen führen.“
Dario knetete seine Fäuste; seine Nasenflügel blähten sich. „Das kann ich mir vorstellen“, murmelte er, als er die Treppe hinaufging; gerade laut genug, dass Enzo es hören musste.
„Woher wusstest du das?“
Mirella zuckte die Achseln. „Ich habe es im Vorbeigehen gehört.“ So konnte man es gewiss nennen. Aber sie hatte trotzdem das Gefühl, Enzo etwas zu verheimlichen.
Der Blick, mit dem er sie daraufhin musterte, sagte ihr, dass er das gleiche Gefühl hatte.
Sie zog ihre Tanzschuhe aus und stellte sie zum Putzen neben die Küchentür. Der weiße Brokat hatte viele Flecken bekommen.
„Mir scheint, du hattest einen schlechten Tänzer heute Abend.“ Rita zog sie an einer Locke. „War er wenigstens nett?“
Im ersten Augenblick kam ihr Alexandre in den Sinn. Aber Rita hatte nach ihrem Tänzer gefragt. „Sicher. Sie hat ihn gesehen: der blonde Franzose, der mir bei Tisch gegenüber saß.“
„Ich habe nicht auf ihn geachtet.“ Sie stieg die Treppe zu den Schlafzimmern hoch, während Mirella sich in der Küche ein Glas Wasser holte.
Als sie in den ersten Stock kam, stand Enzo vor Ritas Tür und sprach mit ihr, während sie sich von Concetta die Haare bürsten ließ.
Mirella blieb stehen. „Wenn Er das Tuch liefert, heißt das, dass Er Zugang zum Hof hat wie bei den Spaniern?“
Rita lachte. „Hoffst du auf Einladungen zu weiteren Bällen, Kind? Es ist immer noch Krieg.“
„Aber bald ist Weihnachten!“
„Das ist auch gut so“, entgegnete Enzo. „De Guise wird Zeit brauchen, um seine Truppe aufzustellen.“
Mirella schnaufte empört. „Heißt das, es geht immer weiter so? Wir haben schon jetzt nicht mehr genug zu essen.“ Bevor sie ihr Zimmer betrat, drehte sie sich noch einmal um. „Und wenn Er den Stoff nicht liefern kann?“
„Man braucht keine Uniformen, um zu kämpfen.“
Mirella knallte zornig ihre Tür zu.
Gina, die wie immer auf sie gewartet hatte, schreckte von ihrem Stuhl hoch. „Was hast du?“
„Alle wollen Krieg. Immer nur Krieg.“
„Sollen wir uns vielleicht ergeben?“ Gina stand auf.
„Es ging uns besser vorher.“ Mirella drehte ihr den Rücken zu und Gina begann, das Kleid aufzuhaken.
„Euch wohl.“
Gina war doch zu einfältig. Mirella presste die Lippen aufeinander, um sie nicht anzufahren. Als ob es den Fischern und Händlern besser ginge, wenn sie tot wären.
Mittwoch, 27. November 1647
Enzo fand in Latina einen Zwischenhändler, der sich in der Lage sah, ihm den geforderten Uniformstoff zu beschaffen. Eine Woche später sollte Dario das Tuch abholen.
Während er mit Fabrizio im Hof das Fuhrwerk anschirrte, ging Mirella hinaus, um ihn zu verabschieden.
Dario drückte sie an sich. „Hör zu, Schwesterchen. Der Comte de Modène stellt eine Armee auf. Versuche herauszufinden, wo sie sich sammeln werden. In ein paar Tagen bin ich wieder da.“
„Was?“
Dario legte ihr einen Finger auf den Mund. „Still.“
„Aber Dario, bist du noch immer ...“
Er presste seine Hand auf ihre Lippen. „So sei doch still!“ Eilig sprang er neben Fabrizio auf den Bock. „Mach uns das Tor auf!“
Enzo saß über den Büchern, als sie das Souterrain betrat.
„Vater, ist es klug, Dario zu schicken?“
„Ich werde langsam zu alt für diese Reisen. Zudem muss ich mich um das neue Lager kümmern. Dario wird auch Baumaterial besorgen; wir haben einen stattlichen Vorschuss bekommen.“
„Ich mache mir Sorgen.“
„Warum, Kind?“ Er legte den Federkiel beiseite und blickte auf. Jetzt hörte er ihr endlich richtig zu.
„Du hast vor ein paar Wochen gesagt, es sei besser, wenn er anwesend ist.“
Enzo schmunzelte. „Das ist es? Aber jetzt haben wir wieder eine richtige Regierung.“ Er streute Sand über die Seite, die er gerade beschrieben hatte, und stand auf. „Komm mit. Ich habe eine Besprechung mit dem Schneider; anschließend legen wir dem Dogen die Entwürfe vor.“
„Dann warte, ich kann so nicht mitkommen.“
Enzo lachte. „Wen willst du beeindrucken? De Guise ist schon verheiratet.“ Er zwinkerte ihr zu. „Oder vielleicht gerade auch nicht? Wer kommt da noch mit.“ Enzo sprühte geradezu vor Übermut, als sei er plötzlich wieder jung geworden. Er musste den Auftrag des Dogen als Rettung für die Familie ansehen.
Matteo, der Schneider, fegte alle Entwürfe vom Tisch, als Mirella hinter ihrem Vater die Werkstatt betrat. „Ein neues Kleid, ja? Die Uniformen kommen später dran.“
Mirella ließ sich auf dem Stuhl neben dem Eingang nieder. „Nein, heute nicht. Heute bin ich nur zum Zuschauen mitgekommen. Vielleicht lerne ich dabei eines Seiner Geheimnisse kennen.“
Matteo schlug sich an die Brust. „Ich habe keine. Das einzige Geheimnis ist Ihre Schönheit, Signorina Scandore. Sie macht aus jedem meiner Kleider ein Kunstwerk.“
„Dann müssen wir befürchten, dass die Soldaten des Dogen wie Vogelscheuchen aussehen werden.“ Welch ein Scherz aus Enzos Mund; Mirella gluckste.
Enzo bückte sich gemeinsam mit Matteo nach den Zeichnungen. Sie hoben sie auf und breiteten sie auf dem Tisch aus.
„Vor allem müssen sie in den nächsten Monaten auch dem Winter Stand halten.“
„Das ist meine Sache, Matteo. De Guise hat entschieden, welchen Stoff er will.“
„Sicher. Aber was noch fehlt, sind die Umhänge. Seht.“ Er fischte in den Entwürfen und hielt einen gegen das Licht. „Filz. Filz hast du keinen bestellt. Und doch brauche ich ihn.“
„Dann sag es dem Herzog!“ Enzo grinste über Matteos konsterniertes Gesicht. Er blätterte geschwind die Entwürfe durch. „Schreib dazu, wie viel Stoff du jeweils brauchst.“
Mirella vertiefte sich in eine Sammlung farbiger Skizzen, während Matteo leise murmelnd seine Berechnungen anstellte. Da der Herzog einen Vorschuss gezahlt hatte, sollte sie sich zu Weihnachten ein neues Kleid wünschen. Vielleicht, wenn sie einen Stoff wählte, der nicht so teuer wäre ... Nein, die Seidenweber hatten nicht verdient, dass man ihnen etwas abkaufte. Nach allem, was sie ihnen angetan hatten. „Meint Er, es wird einen Weihnachtsball geben in diesem Jahr?“
Sie bekam keine Antwort; also nein. Matteo müsste es wissen, denn es bedeutete Aufträge für ihn. Sie drehte sich mit den Skizzen in der Hand nach den Männern um, die ihre Köpfe zusammengesteckt hatten und Stoffe verschiedener Farben in eine Schachtel taten.
Eine Kirchturmuhr schlug die volle Stunde.
„Der Doge wartet nicht gerne.“ Enzo stand auf. „Komm, Mirella.“
Stattdessen mussten sie warten. De Guise residierte nun wie zuvor der Vizekönig im Palazzo Reale. Vor dem Thronsaal, in dem de Guise seine Audienz hielt, wurden sie von Albert de Grignoire abgefangen.
„Der Herzog bittet um Nachsicht.“ Er wies auf die lange Schlange von Wartenden vor dem Saal. „Es gibt so viele Leute, die ihn sprechen wollen.“
Der schlichten Kleidung nach zu urteilen waren fast alle einfache Leute. Manches Gesicht kannte Mirella auch; die zwei alten Markthändlerinnen beispielsweise, mit denen sie sich oft schon um den Preis für die Eier gestritten hatte. „Mit all denen spricht der Herzog persönlich?“ Wie konnte er dafür Zeit finden?
„Aber ja. Er will wissen, welche Probleme die Menschen haben und wie er helfen kann.“ Albert deutete in die andere Richtung, den langen Korridor hinunter. „Aber Ihr werdet nicht warten müssen, bis er alle angehört hat. Folgt mir bitte.“
Albert führte sie im ersten Stock in einen Raum mit einem breiten Kamin, in dem ein mächtiges Feuer seine Wärme verbreitete. Im Halbkreis davor standen drei wuchtige Stühle mit gepolsterten Lehnen; auf einem niedrigen Tisch daneben Obst und Teegeschirr.
Er nahm sich einen Apfel und rieb ihn an seinem Ärmel ab. „Ich überlasse Euch der Gesellschaft des Marquis de Montmorency.“
Mirella streckte die kalten Hände dem Feuer entgegen. „Ist das der, der alles weiß?“
Hinter ihr erklang ein leises Lachen. Sie fuhr herum. Der Marquis de Montmorency war durch eine andere Tür hereingekommen und schloss diese soeben. Wie peinlich, dass er ihre vorwitzige Bemerkung gehört hatte.
„Ihr habt eine interessante Meinung von mir, Signorina. Aber Ihr irrt Euch.“ Er wechselte ins Italienische, um Matteo zu begrüßen, und bewies gleich darauf, dass sie doch recht hatte. „Er ist der Schneider. Der Herzog ist begierig auf Seine Entwürfe. – Und wir Soldaten auch.“
Kurz darauf hallte ein schneller Schritt auf dem Marmor des Flurs. Die Wache öffnete die Tür. Im Eintreten löste de Guise die Schärpe um seine Taille, die das Schwert hielt. Der Marquis nahm beides entgegen und legte es auf eine Kommode.
De Guise rollte die Schultern. „Keine Förmlichkeiten bitte. Alexandre, leiste der Signorina Gesellschaft, während wir unseren Geschäften nachgehen.“ Er lächelte. „Bevor ich mich entscheide, lasse ich dich die Entwürfe sehen.“ Er bat die Männer mit einer Handbewegung, ihm zu folgen, und ging zu der Tür, durch die zuvor Alexandre hereingekommen war.
Enzo ging an der Seite des Herzogs, der ihn um Haupteslänge überragte. Matteo stolperte vor Aufregung schier über seine eigenen Füße, als er ihnen folgte. Kaum durch die Tür zog er schon die Entwürfe aus seiner Tasche und ließ tatsächlich einen Teil fallen.
Mirella schmunzelte über den Alten. „Er ist einer der besten Schneider von Neapel. Aber dies wird vermutlich der größte Auftrag seines Lebens.“
„So hat er keine Manufaktur. Er wird viele Leute brauchen, um die Arbeit zu schaffen.“
Mirella suchte nach einer Entgegnung, die nicht zu dämlich klänge. Am besten eine Frage. „Woher kommen die Soldaten des Herzogs?“
„Wir werben sie an. Der Comte der Modène hat mehrere tausend Mann auszurüsten.“
„Die Neapolitaner kämpfen mit allem, was sie haben. Man braucht sie nicht anzuwerben.“
Alexandre nickte. „Sie kämpfen für ihre Freiheit. Aber Sold brauchen sie trotzdem.“
„Und Ihr?“ Das war schon wieder vorwitzig. Aber nun hatte sie es angefangen; nun konnte sie den Satz auch zu Ende bringen. „Warum seid Ihr bereit, für Neapel Euer Leben zu wagen?“
Alexandres graue Augen wurden dunkler. „Die Neapolitaner sind ein tapferes Volk. Ihr habt verdient, diesen Kampf zu gewinnen.“
Das beantwortete ihre Frage mitnichten, aber sie zu wiederholen, scheute sie sich nun doch. Hatte sie an etwas gerührt, was sie besser nicht angesprochen hätte? Jemand müsste ihn trösten können; er war so viel jünger als Dario.
Befangen starrte sie ins Feuer. „Man sollte bald nachlegen lassen. Die Nächte können bitterkalt werden zu dieser Zeit.“
„Sicher nicht so kalt wie bei uns. Schneit es hier jemals?“
„Kaum. Manchmal.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wo ist das, bei Euch?“ Nun hatte sie endlich ein harmloses Thema gefunden.
„Eigentlich der Languedoc. Aber ich bin in der Champagne aufgewachsen. Kennt Ihr Euch aus in der Geografie von Mitteleuropa?“
Unwillkürlich reckte sie das Kinn. „Natürlich. Ich kann lesen und schreiben und bin in einer Klosterschule erzogen worden.“
Noch während sie sprach, zog er die Augenbrauen hoch. „Es war nicht meine Absicht, Euch zu beleidigen.“
„Aber nicht doch.“ Sie geriet in Eifer. „Wie könntet Ihr wissen, was in den Klöstern Neapels gelehrt wird.“ Als ihr auffiel, dass sie ihn gerade vor sich selber verteidigte, wurde sie sofort wieder verlegen. Wieso brachte er sie so aus der Fassung? Sie wusste doch sonst mit jedem Mann umzugehen. „Die Champagne, das ist Grenzland, nicht wahr?“
„Sie ist gesäumt von Burgen und in zahllose kleine Domänen aufgeteilt.“
„Sind sie sich genauso uneins wie die unseren?“ Sie wagte wieder, ihn anzuschauen.
Er schmunzelte und in seinem rechten Mundwinkel stand ein Grübchen. „Ihr versteht etwas von Politik? Ich bin ehrlich beeindruckt. Es gibt wenige Frauen, die sich dafür interessieren.“ Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. „Zuweilen nicht einmal die, die es müssten.“
„Mamma verbietet selbst Vater, beim Essen über Politik zu reden. Und Dario verachtet Politik.“
„Woher kommt dann Euer Wissen?“
Sie hob die Schultern. „Trotz aller Verachtung – vielleicht deshalb sogar – hat Dario mir immer alles erklärt.“
„Euer Vater macht auch Politik.“ Er deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür, hinter der die Männer verschwunden waren. „Sonst wäre er diesen Handel nicht eingegangen.“
„O nein! Er ist Kaufmann. Dieser Vertrag hilft der Familie, neu anzufangen.“ Sie blinzelte, um zu vermeiden, dass ihr die Tränen kamen, aber vergeblich. Sie wischte mit den Handrücken über die Augen. „Der Kamin qualmt.“
Alexandre zog kaum merklich die linke Augenbraue hoch. Das war grob unhöflich, ihr so offen seinen Unglauben zu zeigen.
Sie bemühte sich dennoch, freundlich zu antworten. „Während der Revolte ist unser Lagerhaus abgebrannt worden.“
„Obwohl er auf Seiten der Aufständischen stand?“ Das wusste er auch? Vielleicht hatte Enzo deshalb von de Guise den Auftrag bekommen.
„Der Aufstand hat sich gegen die Steuern gerichtet. Der Brand hatte nichts damit zu tun.“
Alexandre nickte. „Jemand hat die Unruhen ausgenutzt.“
Was sollte sie darauf antworten? Der Chevalier de Grignoire hatte gesagt, der Herzog wolle wissen, was die Neapolitaner bewegt. „Die gabelle waren nicht die einzigen Probleme. Aber nur sie wären gelöst worden mit der Anerkennung der alten Privilegien.“
Wieder nickte er. „Ihr versteht tatsächlich etwas davon.“
Mirella schluckte nervös. „Ich bin nur ein Mädchen.“ So sehr sie gewohnt war, bewundert zu werden – Anerkennung dieser Art war ihr fremd. Alexandre schüchterte sie ein.
„Ihr seid zu bescheiden. In Frankreich gibt es viele Frauen, die durch klaren Verstand bestechen.“ Ein Schatten ging über sein Gesicht. „Hierzulande scheint man es weniger zu schätzen.“
„Ich weiß nicht.“ Sie dachte an Dario. „Mein Bruder nimmt mich schon ernst.“
„Ihr habt mit ihm die Tammuriata getanzt. Ihr habt sehr schön ausgesehen.“
Gott sei Dank, das war die Art von Kompliment, mit der sie sich auskannte. Sie neigte den Kopf, damit der Schein des Feuers ihre feine Nase deutlicher modellierte, und hob einen Moment später ihren Fächer vors Gesicht. „Jede Frau sieht schön aus, wenn sie die Tammuriata tanzt.“ Er war bei de Guise aufgewachsen, also sollte er das Spiel der Höflinge wohl beherrschen.
Doch er enttäuschte sie. „Mag sein“, war seine lakonische Antwort. Wieder verdüsterte sich sein Blick; das hatte sie nicht gewollt.
Hielt er sie jetzt für kokett oder gar leichtfertig? Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob sie ihn langweile. „Wo habt Ihr Italienisch gelernt?“
„Ihr seid neugierig!“
Damit hatte er ihren Trotz herausgefordert. Sie senkte den Fächer und sah ihm unverfroren und ohne jedes Lächeln ins Gesicht.
Er schmunzelte. „So gefallt Ihr mir mehr.“
Sie biss sich auf die Lippen, um nicht kokett „Als?“ zu fragen.
Alexandre stand auf und legte Holz aus einem großen Korb nach, der neben dem Kamin stand. So sinnvoll es auch sein mochte, er tat es jetzt gewiss, weil er nicht wusste, was er sonst tun oder sagen sollte. Er hatte entschieden nichts von einem Höfling an sich.
Das Holz knisterte, als es Feuer fing.
„Möchtet Ihr etwas trinken?“ Alexandre deutete zum Tisch.
Er schenkte selber ein, als sei er ein Ordonnanz-Offizier, und brachte ihr die Tasse. Seine Hand streifte die ihre, als er sie ihr reichte. Unwillkürlich blieb ihr Blick darauf haften.
„Seid Ihr ein guter Cembalospieler?“
„Wie kommt Ihr darauf?“
„Eure Finger ....“ Seit wann machte eine Frau einem Mann Komplimente? Was war sie doch für ein Kind.
Seine Hand umfasste das Schwert. Er lachte verhalten; das gleiche warme Lachen wie zuvor, als er eingetreten war. Eine merkwürdige Wärme breitete sich in ihr aus. „Ich bin Soldat.“
„Aber es ist doch nicht immer Krieg.“
Wieder der Schatten in seinen Augen; nun hatte sie ihn gewiss wieder traurig gemacht. „Ich kann mich nicht erinnern, dass es eine Zeit ohne Krieg gegeben hätte.“
„Dann müsstet Ihr hier leben.“ Erleichtert atmete sie auf; nun war sie wieder auf vertrautem Terrain. „Bis jetzt ... Bis zu diesem Sommer war hier Frieden. Die alten Zerstörungen, die Ihr in Neapel seht, stammen von dem großen Erdbeben. Und außerhalb der Stadt vom Vesuv.“
„Das ist gefährlicher als ein Krieg. Vor den Gewalten der Natur kann man sich nicht verteidigen.“
„Der Berg meldet sich rechtzeitig. Meine Eltern und Dario sind vor den Aschewolken geflohen; hinunter ans Meer nach Pozzuoli. Es ist sechzehn Jahre her, dass der Vesuv das letzte Mal erwachte. Seither sieht der Berg so abgesägt aus.“ Sie blickte sich nach einem Platz für ihre Tasse um. Als sie Anstalten machte, sie auf die Erde zu stellen, nahm er sie ihr ab. Sie war sicher, dass er sie dieses Mal absichtlich berührte.
Während er die Tasse auf den Tisch stellte, lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück. Der Oberrock rutschte höher und eine Schuhspitze ragte darunter hervor. Sie dachte nicht daran, sie zurückzuziehen. „Werdet Ihr mit dem Herzog in Neapel bleiben?“
„Ihr seid wirklich neugierig.“ Er schmunzelte. Dieses Mal klang es nicht nach einer Abfuhr und sie verzieh ihm.
Er läutete nach einem Diener.
Auch dieser Lakai hatte schon im Dienst des Vizekönigs gestanden. Edoardo zündete die Kandelaber an, die an den Wänden hingen und auf den Kommoden standen.
Alexandre beobachtete ihn dabei, genauso wie sie es selber tat. Müsste er nicht gelernt haben, in jeder Situation gewandt aufzutreten? Felipe würde nicht schweigend herumsitzen. Jedenfalls hatte er das in ihrer Gesellschaft nie getan; er hatte immer eine Anekdote zu erzählen gehabt oder einen Scherz gewusst. Während sie Alexandre anblickte, konnte sie sich plötzlich nicht mehr richtig an Felipes Gesicht erinnern.
„Soll Edoardo Ihr etwas bringen?“ Erstaunlich, wie umstandslos er wieder ins Italienische wechselte.
„Signor Marquis, Seine Exzellenz hat soeben Abendessen für seine Gäste befohlen. Sie werden wohl noch lange ... Wenn Er der Signorina die Zeit vertreiben will ... Signorina Scandore ist eine vorzügliche Billard-Spielerin.“ Edoardo senkte den Blick. „Verzeih Sie mir, Signorina, wenn ich etwas Falsches gesagt habe.“
„Wo kann man in diesem Schloss Billard spielen?“
Mirella sprang auf. „Ich zeige es Ihm, wenn Er möchte.“
Alexandre lachte sein warmes Lachen. Es veränderte ihn völlig. Wie er als Junge gewesen sein mochte? Vor der Hinrichtung seines Vaters?
Er nahm einen der großen Kandelaber und wandte sich an Edoardo. „Er sage uns Bescheid, wenn gegessen wird.“
Edoardo öffnete ihnen die Tür und Mirella deutete zur Treppe. Aber nach zwei Schritten blieb sie zögernd stehen. „Ich fürchte, man hat dort nicht geheizt.“ Eben war sie auch schon mit ihm allein gewesen; aber das Vorzimmer des Dogen war kein abgelegener Billard-Saal in einem halb verwaisten Schloss.
Montag, 2. Dezember 1647
Auf Ritas Geheiß begleitete Mirella Gina zum Einkaufen; Rita traute ihr nicht mehr zu, vernünftige Preise herauszuschlagen.
Gegenüber der Basilica del Carmine hatte ein Bauer in einer Ecke der Piazza ein kleines Gatter eingerichtet, in dem seine Gänse herumwatschelten. Mirella blieb am Zaun stehen. Sofort kamen die Gänse mit halb ausgebreiteten Flügeln angerannt und reckten ihr schnatternd ihre Hälse entgegen.
Der Bauer erhob sich von seinem Schemel. „Wie viele Gänse möchte die Signorina für ihre Familie?“ Er beugte sich nach einer und hielt sie am Hals hoch. „Noch ganz jung. Ganz zart.“
„Und ganz mager.“ Mirella lachte. „Wann hat Er sie das letzte Mal gefüttert?“
Die Miene des Bauern verfinsterte sich. „Das sage Sie nicht, Signorina. Die Gänse haben es gut bei mir.“
„Warum verkauft Er sie dann schon jetzt? Mästet sie nicht bis zum Christfest?“
„Um sie hier in der Stadt zu verkaufen. Bevor einer darauf Anspruch erhebt, dem ich die Pest an den Hals wünsche.“
Er klemmte sich die flatternde Gans unter den Arm und hielt sie ihr vors Gesicht. „Das ist alles Fleisch, gutes Fleisch unter den Federn. Und Ihr Kissen kann Sie dann auch auffüllen für den Winter.“
„Woher kommt Er?“
„Aus Nocera.“
Vorsichtig streckte sie die Hand aus; der Kopf der Gans schoss auf sie los und sie schnappte nach ihr. Erschrocken trat Mirella einen Schritt zurück. „Pass Er auf, wie Er über Seinen Herrn redet. Es gibt hier manch einen, der es mit den Baronen hält.“
„Wie viel willst du für das Tier?“ Gina griff von der Seite an den Bauch der Gans.
Der Bauer sah zwischen den beiden Frauen hin und her, schien sie zu taxieren. „10 Carlini.“
Gina stemmte die Fäuste in die Hüften und begann zu keifen. „Du bist ein Dieb. Für eine halb verhungertes Stück Federvieh?“
Mirella zögerte. „Hast du nicht immer so viel bezahlt in letzter Zeit?“
„Habe ich euch je ein Skelett serviert?“
Mirella streckte vorsichtig die Hand nach dem Tier aus, wartete, ob es wieder zuschnappte. Aber der Bauer hielt jetzt den Schnabel fest und drückte den Kopf der Gans an seine Brust.
Sie streichelte die Gans unter dem Flügel. „Sie sieht doch ganz ordentlich aus.“
Der Bauer nickte. „Si, Signorina. Sie hat kein Fett; das ist gutes festes Fleisch.”
Hufe klapperten hinter ihr über das Pflaster. Eine klare Stimme zügelte das Pferd. „Wie viele Gänse hat Er?“
Der Bauer ließ den Schnabel los; die Gans reckte den Hals. Schnell sprang Mirella zurück und stieß gegen den Leib des Pferdes. Eine Hand fasste sie an der Schulter und sie sah in das lachende Gesicht von Albert.
„Einkäufe, Mademoiselle? Ich überlasse Euch eines der Tiere.“ Er wandte sich an den Bauern. „Alors?“ Dann schien er zu versuchen, die Tiere im Gatter zu zählen.
„Dreiundzwanzig, Hauptmann; mit dieser.“
Albert schob seinen Hut nach vorn in die Stirn. „Mademoiselle?“
„Das wäre schön, wenn Ihr uns eine überließet.“ Sie streckte vorsichtig einen Finger nach der Gans im Arm des Bauern aus. „Diese da nehme ich.“
„Wir werden auskommen.“
Der Bauer drehte der Gans den Hals um. Mirella zuckte zusammen, als die Halsknochen knackten. Gina machte ein mürrisches Gesicht, aber sie reichte dem Bauern die zehn Carlini, bevor sie ihm die Gans abnahm und in ihren Korb steckte.
Der Bauer griff nach der nächsten Gans im Gatter und Mirella wandte sich schnell ab. Hinter ihr schnatterten die Gänse empört.
„Wir haben zu viel bezahlt.“
„Mag sein. Aber es wird noch teurer werden, wenn die Franzosen alles aufkaufen.“
„Der Soldat kannte dich.“ Es war Gina anzuhören, dass sie vor Neugier platzte.
„Natürlich.“ Mirella versuchte, beiläufig zu klingen. „Es waren alle da beim Empfang des neuen Dogen.“
„Und wer ist das?“
Mirella lachte. „Geh und versuche, Zwiebeln und Maronen für die Füllung zu bekommen. Ich schaue nach Mehl.“
Als sie nach Hause kamen, war Dario wieder da.
„Ich bleibe“, erklärte er, als Mirella in seine Arme stürzte. „Wenn du versprichst, mich nicht zu erwürgen.“
„Wo warst du so lange?“
„Sei nicht so neugierig.“ Er klang fast wie Alexandre; Männer, die nicht über sich reden mochten. Ob Enzo Rita genauso abwies? „Was amüsiert dich so, Schwesterchen?“
Aber dann musste sie ihm auch nicht alles erzählen; sie hakte sich bei ihm ein. „Gehen wir zu Tisch. Sonst kriegen wir Ärger mit Gina und sie kocht nie wieder Tintenfisch-Risotto.“
„So etwas bekommt ihr wieder auf dem Markt?“
Mirella zog ein funkelndes Silberstück aus ihrer Rocktasche. „Schau, de Guise hat die Münze in Betrieb gehen lassen. Wir haben jetzt wieder Geld.“
Er nahm ihr die Münze ab und drehte sie um. „Ohne Kopf. Wenigstens ist er nicht eitel.“ Mit einem Achselzucken gab er sie ihr zurück. „Oder seine Herrschaft nicht von langer Dauer zu halten.“
„Aber Dario! Es ist unsere Republik.“
„Von Gnaden des französischen Königs! Ob Philipp von Spanien oder Ludwig XIV – wo ist der Unterschied? Sie sind sogar katholisch alle beide.“
Im Esszimmer warteten der dampfende Risotto und eine ungehaltene Gina auf sie. „Ich fühle mich geehrt, dass die Herrschaften mein bescheidenes Mahl zu würdigen gedenken.“
Dario ignorierte sie und beugte sich zu Rita, die ihn mit einem Kreuzzeichen auf die Stirn begrüßte. „Wo ist Vater?“
Gina schnaubte.
„Er hat wieder beim Dogen gegessen.“
Gina schnaubte noch empörter.
Mirella setzte sich und bat Gina, ihr aufzutun. „Bin ich froh, dass dein Zorn nicht uns gilt.“
„Vater erwartet dich im Kontor. Er ist froh, dass du wieder da bist.“ Rita griff nach ihrem Besteck. „Und ich auch. Ich habe mir Sorgen gemacht um dich.“
„Nun, ich bleibe. Die Barone brauchen mich nicht in ihrer Armee. Als sie merkten, dass ich ein Federfuchser bin, haben sie dankend auf meine Dienste als Soldat verzichtet.“
Die Barone? Mirella musterte ihn alarmiert von der Seite. „Ich habe gehört ...“ Sie erstarrte. Sie nahmen doch jeden, der einen Dreschflegel oder einen Knüppel halten konnte. ‚... als Soldat ...’ hatte er gesagt. Das musste etwas bedeuten; er log nie ohne Not.
Als er später mit Enzo zurückkam, war er glänzender Laune. „Dieser Franzose ist vielleicht doch nicht so übel.“ Er grinste über Mirellas erstaunten Blick. „Zumindest nützlich. Durch die Ausrüstung seiner Armee können wir unser Lager in zwei Monaten wieder aufgebaut haben.“
Feixend hielt er ihr eine imaginäre Elle an. „Eine Ausgehuniform für den Grafen? Und vielleicht sehen wir doch bald ein paar Demoisellen, die neue Kleider brauchen? – Sagt man nicht, der Papst habe die Ehe des Herzogs annulliert? Wird es zu Sylvester einen Ball geben?“
Enzo strömte die Erleichterung aus allen Poren. „So hältst du dich endlich raus.“
„Ja, Vater.“ Dario neigte den Kopf in einer demütigen Geste. „Er hatte Recht. Wie immer.“ Darios Stimme hatte einen Unterton, der Mirella genauso wenig gefiel wie der Eifer, den er plötzlich an den Tag legte.
***
Aber er warf sich tatsächlich mit Feuer und Flamme auf den Tuchhandel. Zwar gab es noch immer keine Demoisellen, aber die Damen der neapolitanischen Gesellschaft wollten Kleider für die Winterbälle. Sie waren entschlossen, die immerhin spärlicher gewordenen Kanonaden der spanischen Flotte zu ignorieren.
Dario verließ ein zweites Mal die Stadt, um selber kostbare Stoffe aus Florenz und Lucca zu holen. Er begründete es damit, dass er für die Sicherheit des Transports fürchte angesichts der ständigen Scharmützel in der Provinz. Andererseits wollte er keinen Begleitschutz, was er wiederum mit den Scharmützeln begründete: Es sei unauffälliger und ließe keine wertvolle Fracht vermuten, wenn er mit dem Karren allein unterwegs wäre. Tatsächlich kam er unangefochten mit seiner Ware zurück.
Am Abend nach seiner Rückkehr kam er in Mirellas Zimmer. Er schloss die Tür hinter sich, blieb aber dort stehen. „Willst du mir immer noch helfen?“
Mirella erschrak. So war ihr Verdacht berechtigt gewesen; er hatte sie alle betrogen.
Er sah es wohl, denn er kam zu ihr und hockte sich vor ihr auf die Fersen. Er nahm ihre Finger, drehte die Handflächen nach außen und strich über Felipes Ring. „Wir haben immer noch zwei Hochzeiten geplant, nicht wahr?“
Sie starrte auf den Ring. Seit Wochen schon hatte sie nicht mehr an Felipe gedacht. Nach wie vor harrte er an der Seite von Don Juan auf dem Flagschiff aus. „Fürchtest du noch immer, du bekommst Stefania nicht, wenn ich keine Herzogin werde?“
„Willst du denn nicht mehr?“
Die Frage ließ sie schlucken. „Doch natürlich.“ Viel zu desinteressiert klang das. „Aber die Zeiten ...“
„Da die Sarno und die Oliveto ihre Bälle geben“, er erhob sich, „können wir auch Hochzeit feiern. Dafür werden die Franzosen Felipe wohl an Land lassen.“
„Wann willst du um sie anhalten?“
Dario seufzte. „Ich hätte es längst getan ...“
Wenn es ihm nur darum ging! „Aber? Du brauchst meine Hilfe.“ Erleichtert atmete sie auf.
Er nickte. „Nicht bei der Marchesa. Ich möchte Zugang zum Hof so wie du. Nimm mich mit, wenn du in den Palazzo Reale gehst. Es würde mir größere Anerkennung bei den Oliveto verschaffen.“
„Das ist kein Problem. Es fehlt an guten Billard-Spielern.“ Sie grinste. „Gegen mich gewinnt es sich zu leicht.“
„Mit wem spielst du?“
„Ich habe schon mit fast jedem aus de Guises Gefolge gespielt. Die befreiten Orte stehen unter dem Schutz neapolitanischer Soldaten; seine Männer langweilen sich, während sie auf besseres Wetter warten.“
„Auch mit dem Comte de Modène?“
„Wieso?“
Dario zuckte die Achseln. „Ich erinnere mich, dass er mit dir getanzt hat.“
„Der Comte ist fast immer unterwegs. Er akquiriert die Soldaten.“ Sie schmunzelte. „Damit jemand Matteos Uniformen trägt.“
„Der Doge ist sehr großzügig mit dem Geld seines Königs.“
„Es ist sein eigenes Geld. Mazarin unterstützt ihn nicht ernsthaft. Ich glaube, de Guise hat beschlossen, sich nur noch auf sich selbst zu verlassen.“
„Woher weißt du das?“
„Der Marquis de Montmorency … Die Offiziere erzählen viel während unserer Partien.“
„Das eben denke ich mir.“ Er zog sie am Zopf. „Und da du neugierig bist. So ist es gut; erzähl mir nur immer alles, was du erfährst.“
„Wieso?“ Sie nahm ihm den Zopf weg.
„Es ist interessant.“
Erneut stieg Misstrauen in ihr hoch. „Dario, sag mir die Wahrheit: Du bist immer noch in irgendetwas verstrickt. Darum verreist du so eifrig. Wem hilfst du?“ Er würde nicht lügen; dessen war sie sicher.
Dario trat ans Fenster. „Hast du gesehen? Annese hat sich dort unten im Turm vom Carmine verschanzt und mag de Guise nicht mehr folgen. Was meinst du, wie lange er sich halten kann?“
„Annese?“
„De Guise.“ Er kam zu ihr zurück. „Wenn das stimmt, dass Mazarin ihn nicht unterstützt, kann er diesen Krieg nicht gewinnen.“ Er knirschte mit den Zähnen, schien einen Augenblick nicht zu wissen, ob er noch mehr sagen sollte. „Sollen wir die Stadt für nichts und wieder nichts in Trümmer schießen lassen? Wäre es nicht besser, der Spuk ginge so schnell wie möglich vorbei. Und wir heiraten im Frieden.“
„Du beteiligst dich noch immer an irgend etwas! Stehst du etwa auf Seiten der Barone? Denen geht es um ihre Macht in der Stadt; und dafür führen sie Krieg gegen das eigene Volk.“ Sie zog ihn neben sich aufs Bett und sah ihn eindringlich an. „Dario! Wie kannst du das gut heißen?“
„Das tue ich nicht. Aber die Spanier brauchen Unterstützung, um den Krieg zu beenden. Die Siege von de Guises Armee werden uns keinen Frieden bringen..“
Mirella sprang auf und stemmte die Fäuste in die Hüften. „Das ist Verrat!“
„An wem? Was gehen uns die Franzosen an?“ Dario schnaufte verächtlich.
„Unter de Guise geht es den Menschen besser als zuvor. Warst du nicht immer gegen jene, die Politik zu ihrem eigenen Nutzen betreiben?“
„Hat dir der Doge den Kopf verdreht? Es heißt, er sei nicht mehr verheiratet ...“
Mirella stampfte mit dem Fuß auf. „Du sollst mich nicht ständig aufziehen!“
Zu ihrer Überraschung lachte Dario nicht, sondern schaute sie nachdenklich an. „Umgekehrt wäre es nicht das Dümmste.“
Sie ignorierte seine merkwürdige Bemerkung und setzte ihre eigenen Gedanken fort. „De Guise ist anders. Die Steuern sind niedrig und nicht er, sondern der Rat entscheidet über deren Verwendung. Zudem rüstet er die Armee von seinem eigenen Geld aus statt die Stadtkasse damit zu belasten.“
„Der edle Ritter also?“
„Zumindest ... Die Männer, die zu seinem Gefolge gehören, sind keine Söldner, sondern überzeugt davon, dass wir unsere Freiheit verdient haben. Der Marquis de Montmorency zum Beispiel. Du hast doch gehört, was Albert damals über ihn erzählt hat.“
„Meinetwegen.“ Dario zuckte die Achseln. „Aber die Flotte, die Mazarin geschickt hat, hat sich nach drei belanglosen Schießereien wieder zurückgezogen. Don Juan hat ein einziges Schiff in dieser ... Seeschlacht ... verloren. Dabei hatte er nicht einmal mehr genügend Pulver, um alle Schiffe in den Kampf zu schicken.“
„Und die spanischen Söldner verkaufen Annese ihre Waffen. – Darum ... wir werden sie mit ihren eigenen Waffen schlagen.“ Sie strahlte voller Triumph. „Stell dir das vor!“
„Also doch Kampf und Krieg!“ Dario lachte auf; es klang sehr zynisch.
„Sollen wir verhungern?“
„Wir! ... Mirella, wir hatten noch nie Probleme; und das würde sich nur dann ändern, wenn die Seidenweber sich mit ihrem Einfuhrverbot durchsetzten. Deshalb brauchen wir die Barone. Sie setzen Spanien unter Druck, den Kampf weiterzuführen.“
Dienstag, 24. Dezember 1647
Von der dritten Reise war Dario nicht wie vorgesehen zurückgekommen. Der Wintereinbruch mochte die Passwege im Apennin unpassierbar gemacht haben, sodass er den sehr viel längeren Weg an der Küste entlang genommen haben musste.
Aber Rita flatterte wie ein aufgescheuchtes Huhn im Haus auf und ab, während sie die Weihnachtsvorbereitungen beaufsichtigte. Und Enzo machte das Warten auf Darios Rückkehr mit den Stoffen gleichfalls von Tag zu Tag nervöser. Stefania fragte täglich zwei Mal nach ihm und verbarg ihre Besorgnis hinter einer Launenhaftigkeit, die sie nur in der Öffentlichkeit im Zaum hielt.
Deshalb zog es Mirella regelmäßig in den Palazzo Reale. Dort war sie vor der häuslichen Unruhe sicher und Stefania verhielt sich wie ein normaler Mensch. Zuvor hatte Stefania sich nie dafür interessiert, aber da auch Dario spielte, wenn er in Neapel war, übte sie nun Tag für Tag. Inzwischen hatten sie mit den jungen Männern des Herzogs eine Art Billard-Club gegründet.
Auch am Morgen vor Weihnachten holte sie Mirella ab.
„Warum ist er immer noch nicht zurück?“, fragte sie wie gewöhnlich. „Es ist doch gleich Weihnachten.“ Aber sie sprühte trotzdem vor guter Laune; scherzte mit Gina, während Mirella sich anzog, und summte ein Weihnachtslied, als sie dann das Haus verließen.
In der Kutsche fiel sie Mirella um den Hals. „Ich habe ein wunderbares Geschenk für Dario!“
Schockiert dachte Mirella an das Gespräch mit Rita. „Ihr habt doch nicht etwa ...“
„Und wenn?“ Stefanie lachte vergnügt. „Alle machen es.“
„Also habt ihr ... Ihr seid doch nicht verheiratet!“
„Aber bald!“ Stefania holte tief Luft. „Bald sind wir Schwestern. Meine Eltern haben ja gesagt. Ich habe es endlich gewagt, sie zu fragen.“ Sie kicherte und rückte ein Stück von Mirella weg. „Sie haben es gewusst. Die ganze Zeit. Solche Heimlichtuer.“
Mirella lachte. „Aber das seid ihr doch auch gewesen.“
Die Kutsche bremste abrupt. Tonio, der Kutscher der Oliveto, hatte wieder einmal seinen „müden Tag“.
Stefania lachte noch mehr. „Er hat wohl schon gestern Weihnachten gefeiert.“
Mirella fand das gar nicht komisch. „Eines Tages wird er jemanden unter die Räder nehmen. Ihr solltet euch einen anderen Kutscher zulegen.“
„Und was wird aus ihm?“ Stefania hatte ja Recht, aber trotzdem ...
Nebel stieg vom Hafen hoch und zog in Schwaden über den Largo. Mirella überlief eine Gänsehaut und sie schüttelte sich, als sie vor dem Palazzo Reale ausstiegen. Sie hatte Nebel noch nie gemacht, aber an diesem Morgen verbarg er Böses – die spanischen Schiffe draußen im Golf.
Edoardo erwartete sie in der Eingangshalle. „Die Herren bitten die Signorine um einen Augenblick Geduld. Sie kommen in den Billard-Saal, sobald Seine Exzellenz sie entlässt.“
Er schritt ihnen würdevoll voraus. Zu Zeiten des Vizekönigs war er niemals so stolz gegangen.
„Die Menschen haben sich verändert in den letzten Wochen. Man sieht ihnen an, dass sie freier geworden sind.“
„Dabei ist das Leben noch schwieriger geworden. Stell dir vor, Matilda hat keine Gans mehr bekommen für morgen. So lange ich lebe, hat es Gans gegeben als Weihnachtsessen.“
Mirella grinste. „Dann müssen sich deine Eltern von de Guise einladen lassen. Ich fürchte, er hat alle noch lebenden Gänse der Stadt aufgekauft. Außer der einen, die Albert mir gelassen hat.“
„Ich bin froh, dass es keine Gans gibt. Ich mag das eklige Fett nicht.“
Kichernd betraten sie den Billard-Saal.
Edoardo legte die Kugeln auf den blau bespannten Tisch und reichte ihnen die Billardschläger.
Stefania zog eine dünne Schnur aus ihrer Manteltasche. „Zum Üben.“
„Wenn du geradeaus schauen würdest, bräuchtest du die nicht. Außerdem, wie willst du es nachher ohne können?“
„Wenn du mir den Marquis de Montmorency überlässt, gewinne ich auch einmal.“
„Aber nicht alleine gegen mich.“
„Wir werden ja sehen.“ Stefania warf einen schnellen Blick auf Edoardo, der an der Wand stand und auf ihre Befehle wartete. Sie verknotete ein Ende der Schnur in der Mitte des Tores, durch das sie die Kugel spielen wollte. Anschließend spannte sie sie über die Kugel hinweg bis an den Rand des Tisches, um die Stelle zu finden, wo sie abschlagen musste. Danach stellte sie sich in Position.
„Meine Güte!“ Kopfschüttelnd verfolgte Mirella ihre komplizierten Vorbereitungen. „Vielleicht solltest du die Stelle noch mit Kreide markieren, damit du dich nicht vertust.“
Stefania sah auf und strahlte. „Das ist eine gute Idee.“ Sie hatte den Spott wahrhaftig nicht begriffen. „Haben wir Kreide, Edoardo?“
„Nein, Signorina. Und ich glaube auch nicht, dass es die irgendwo im Schloss gibt.“ Anscheinend hatte er genauer zugeschaut als es den Anschein gehabt hatte.
Mirella feixte noch mehr. „Fang endlich an.“
Stefanie packte den Schläger fester. So fest, dass sie keinen Schwung in den Schlag legen konnte. Die Kugel rollte gemächlich über den Stoff und blieb ein Stück vor dem angepeilten Tor liegen. „Der Winkel stimmt. Jetzt hast du es einfach.“
Mirella klopfte ihr im Vorbeigehen auf den Arm. „Beim nächsten Spiel mache ich die Vorgabe.“ Eine Drehung aus dem Handgelenk und dann rollte die Kugel durchs Tor, klackte laut gegen die nächste und ließ sie über die Leiste dahinter springen.
„Très bien“, klang die Stimme des Comte de Modène von der Tür.
Edoardo verneigte sich hastig.
Hinter dem Comte betrat Alexandre den Saal. Sein Blick war finster wie selten.
Stefania eilte auf ihn zu und fasste ihre Röcke, als wolle sie einen Knicks vor ihm machen, aber tat es natürlich nicht. „Monsieur le Marquis, gebt Ihr heute mir die Ehre? Mirella hat ihren großzügigen Tag.“
Alexandre nickte, ohne eine Miene zu verziehen. Er kam auf Mirella zu und sie gab ihm lächelnd die Hand. „Signorina, ich habe eine Mitteilung für Euch.“ Seine Stimme war rau; er deutete zur Galerie.
„Sprecht nur; wir haben keine Geheimnisse voreinander.“
Doch er ging zur Galerie und Mirella blieb nichts anderes übrig als ihm zu folgen. Er schloss die Tür hinter ihr. Mit seinem Blick schien er jemanden ermorden zu wollen. Mirella erschrak. Ein Kälteschauer lief von ihrem Nacken aus den Rücken hinunter und ließ sie frösteln.
„Was habt Ihr heute? Warum so geheimnisvoll?“
Er deutete auf einen Sessel und setzte sich dann Mirella gegenüber. Er sprach leise, als könne jemand sie belauschen. „Mirella, man hat Euren Bruder in den Kerker im Torrione gebracht.“
Als sie hochfuhr, hielt er sie in ihrer Bewegung fest. „Beherrscht Euch.“
Sie blickte ihn entsetzt an. „Aber warum? Wer tut das?“
„Anneses Milizen haben ihn in flagranti erwischt. Man hatte schon länger ein Auge auf ihn.“
Entsetzen nahm ihr den Atem. Auf keinen Fall durfte sie jetzt die Heulsuse spielen. Alexandre würde es ihr nicht abnehmen. Sie schluckte nervös. Aber ihre Stimme brach und sie krächzte, den Tränen nahe. „Wobei in flagranti?“ Hoffentlich sah er ihr nicht an, dass sie es ahnte.
Sein Blick wurde endlich weicher; in seinen Augen stand Mitleid. „Verrat!“
Mirella senkte den Kopf. Jedes Wort konnte jetzt falsch sein; und keinesfalls durfte er auf den Gedanken kommen, dass sie davon gewusst haben könnte. „Aber ...“
Alexandre griff nach ihren Händen. „Man wird Eurem Bruder den Prozess machen. Henri hat verhindert, dass man ihn heute früh einfach geköpft hat.“ Er drückte ihre Finger. „In Frankreich wird einem seit Langem der Prozess gemacht, bevor man hingerichtet wird. Aber das wird nichts ändern.“ Wie bei seinem Vater?
„Aber wenn das Gericht nicht beweisen kann, dass er schuldig ist.“
„Es reicht, wenn er gesteht.“
Wenn ... und wenn nicht? Sie begann zu zittern. Sie würden dafür sorgen, dass er gestünde. „Ich muss es Stefania sagen.“
Sein Blick ging hinüber zum Billard-Tisch. Der Comte de Modène führte Stefania gerade die Hand, um ihr den richtigen Abstoßwinkel zu zeigen. „Es ist besser, Ihr sprecht mit niemandem darüber.“
„Aber ... sie muss es wissen. Sie sind so gut wie verlobt.“
Alexandre hob eine Augenbraue. „Dann ist Euer Bruder mehr als dumm.“
„Also glaubt Ihr auch, dass Dario ein Verräter ist!“
Er sah sie an, als wolle er mit seinem Blick in ihren Kopf eindringen. „Was wisst Ihr davon?“
„Ich ...“ Wenn sie ihm antwortete, lief sie Gefahr, dass sie etwas Falsches sagte. „Wovon?“
„Dario war offiziell im Auftrag Eures Vaters unterwegs. Inoffiziell auch?“
„Inoffiziell?“ Was sollte das bedeuten? Ihr stockte der Atem, als ihr klar wurde, was er meinte: dass Enzo nicht nur davon wusste, sondern beteiligt war. „Wann ist Dario festgenommen worden?“ Sie klammerte sich an das Nächstliegende: klare Auskünfte. Antworten von Alexandre, nicht von ihr.
„Vor drei Tagen.“
„Warum habt Ihr mir nichts gesagt?“ Das war unverschämt; sie wusste es in dem Moment, als sie es ausgesprochen hatte. Sie hatte keinen Anspruch darauf, überhaupt davon zu erfahren.
Aber er blieb sanft. „Weil ich es nicht wusste, Mirella. Auch Henri hat es erst gestern Abend erfahren. Als er das Todesurteil zur Unterschrift vorgelegt bekam.“ Sie wagte wieder, ihn anzusehen. Das maliziöse Lächeln in seinen Mundwinkeln verblüffte sie. „Er hat Glück, dass Henri Eurem Waffenschmied inzwischen spinnefeind ist. Um allen zu zeigen, wer der Herr in der Stadt ist, hat er auf einem Gerichtsverfahren bestanden.“ Sein Lächeln wurde wärmer und erreichte seine Augen. „Falls Euer Bruder nicht gestanden hat, ist er vielleicht noch nicht verloren.“
Scheu erwiderte sie sein Lächeln. „Ich danke Euch. Was kann ich tun?“
„Ihr habt dem Dogen zu danken! – Aus Eitelkeit setzt Henri die ganze Unternehmung aufs Spiel.“ Sein Blick verdunkelte sich wieder. „Genau genommen ist Annese der wahre Verräter an Eurer Republik. Eines Tages ist er imstande ...“
Das interessierte sie jetzt gar nicht. Sie unterbrach ihn, indem sie ihm ihre Hände entzog. Gleich darauf bedauerte sie es; ohne die Wärme seiner Finger fühlte sie sich plötzlich schutzlos. „Was kann ich tun?“
Er blickte wieder in den Billard-Saal hinüber. „Das weiß ich nicht. Eure Freundin sollte es nicht erfahren.“
„Aber wird der Prozess nicht öffentlich sein?“
„Das hängt davon ab, wer sich durchsetzt. Mag sein, Henri hält es nicht für klug. Immerhin ist Euer Vater derjenige, der unsere Armee ausstattet.“
„Und Dario war zu diesem Zweck unterwegs!“
„Wisst Ihr das so sicher?“
„Ja!“ In diesem Moment glaubte sie wirklich, was sie sagte. Und sie schien überzeugend geklungen zu haben.
„Vielleicht hilft das Eurem Bruder.“ Sein Blick war warm. „Wir werden sehen.“ Er stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. „Eure Freundin wird sich fragen, warum wir hier so lange ... Das ist nicht gut. Ihr solltet nicht in die Verlegenheit kommen, sie anzulügen.“
Aber sie widersetzte sich der Bewegung, mit der er sie zurückbringen wollte. „Ihr habt gefragt, ob Dario inoffiziell in Vaters Auftrag unterwegs war. Das bedeutet, dass man auch ihn beschuldigt.“
Alexandre nickte. „Euer Vater hat Feinde, nicht wahr? Solche Angelegenheiten werden leicht zum Vorwand genommen ...“ Die Muskeln in seinem Gesicht zuckten, als er die Zähne zusammenbiss. Er dachte gewiss an den Tod seines Vaters; das musste so ähnlich gelaufen sein. Dario hatte ihr mehr als einmal erklärt, dass Kriege, unter welchem Vorwand auch immer, in Wahrheit dazu dienten, mehr Macht zu erlangen und sich neue Reichtümer zu sichern.
Aber Neapel war doch nicht so! Neapel kämpfte um seine Freiheit!
Mirella spielte so schlecht wie nie. Sie brachte es fertig, zuerst mit dem Comte de Modène, dann mit Alexandre zusammen zu verlieren.
Stefania hatte immer öfter ihren irritierten Blick auf Mirella statt auf dem Spieltisch. „So schlecht hast du noch nie gespielt“, sagte sie schließlich im breitesten Neapolitanisch.
„Du auch nicht“, gab Mirella absichtlich patzig zurück. Gleich darauf legte sie Stefania ihren Arm um die Schultern. „Tut mir leid. Ich bin heute wirklich nicht beim Spiel.“
Stefania war trotzdem verärgert; sie presste die Mundwinkel zusammen. „Wo denn?“
Mirella hielt kurz die Luft an. „Bei Dario.“ Sie fing einen wachsamen Blick Alexandres auf, der vermutlich außer Darios Namen nichts verstanden hatte.
Es war nicht gelogen; sie hatte Stefania einen nachfühlbaren Grund gegeben und sie nun vielleicht sogar davon abgelenkt, nach ihrem Gespräch mit Alexandre zu fragen. Sie nahm sich zusammen und spielte konzentriert genug weiter, um gemeinsam mit dem Comte de Modène eine Partie zu gewinnen.
Alexandre nickte ihr anerkennend zu, während Stefania spielerisch die Nase rümpfte. „Und ich war überzeugt, mit Euch zusammen sei ich unschlagbar.“
„Morgen ist Weihnachten, wie schade“, sagte de Modène. „Ich hätte Euch gerne eine Gelegenheit zur Revanche geboten.“
„Wenn ich nur dieses Jahr noch die Gelegenheit dazu bekomme, so will ich es zufrieden sein.“ Übermütig schenkte Stefania ihm einen koketten Augenaufschlag.
De Modène setzte eine bedauernde Miene auf und gab sich zerknirscht. „Ich fürchte, es steht nicht in meiner Macht, darüber zu befinden. Die Spanier planen etwas. Sie halten wohl nicht so viel davon, das neue Jahr an Bord ihrer Schiffe zu erwarten.“ Trotz der düsteren Worte machte er allerdings nicht den Eindruck, als sei er darüber beunruhigt.
Mirella ballte die Fäuste. Und wieder erntete sie einen besorgten Blick Alexandres, der ihr seine Wachsamkeit bewies. Fürchtete er, sie könne einen Fehler machen? Seine Sorge tat ihr gut; sie würde sich an das halten, was von ihm an Zeichen kommen mochte. „Weihnachten dauert bei uns nur einen Tag; Santo Stefano zählt nicht mehr viel.“ Sie hielt so unauffällig wie möglich ihren Blick auf Alexandre.
De Modène lachte. „Wir passen uns gerne den neapolitanischen Gepflogenheiten an.“
„Vielleicht sagen wir trotzdem unseren Eltern nichts?“
Alexandres Augenbraue zuckte. „Heimlichkeiten? Besser nicht!“ Hoffentlich verstand sie ihn richtig und beging keinen Fehler, wenn sie Enzo und Rita einweihte.
„Ich komme mit“, sagte Stefania, als die Kutsche vor dem Haus der Scandore hielt. „Ich möchte deinen Eltern ein frohes Fest wünschen.“
Mirella unterdrückte einen Seufzer, obwohl Stefania ihn sicher unverfänglich gefunden hätte. „Das wird sie freuen. Wir werden wenige Gäste haben dieses Jahr.“ Wie gut das war, wurde ihr erst jetzt klar.
Stefania zwinkerte. „Du weißt genau, dass ich in Wirklichkeit wissen möchte, wann Dario nach Hause kommt. Er wird doch fürsorglich genug sein, einen Boten vorauszuschicken.“
Sie sprang ganz undamenhaft aus der Kutsche und lief die Treppe zum Haus hoch. Mirella dagegen ließ sich Zeit und von Tonio die Trittbretter hinunter helfen. Kopfschüttelnd wartete Stefania an der Tür auf sie.
Sie sollte eigentlich Tonio in die Küche einladen; es war schließlich Weihnachten. Aber ein frierender Kutscher mochte Stefania nötigen, schneller zu gehen. Schalt man sie ob ihrer Ungezogenheit, könnte sie behaupten, sie habe Tonios Hang zum Alkohol nicht unterstützen wollen. Doch Rita verdarb ihren Plan. Sie ging sogar selber hinaus, um Tonio in die Küche zu schicken. Und Stefania ließ sich zum Mittagessen einladen.
Als Gina dann den Kaffee servierte, holte Rita ein Päckchen hervor, das in blaue Seide eingeschlagen war. „Für dich, mein Kind.“ Sie küsste Stefania auf die Stirn. „Wir wissen sehr wohl von euren Plänen und sind einverstanden. Ich freue mich, dich in meinem Haus aufzunehmen.“ Ihr Blick ging zu Mirella. „Als Ersatz für die Tochter, die ich bald an ein fremdes Land verlieren werde.“
Mirella stiegen die Tränen in die Augen. Unter dem Tisch grub sie die Fingernägel in die Handballen, dass es schmerzte.
Stefania nahm das Geschenk behutsam entgegen. „Ich bin gerührt und überwältigt.“
Auch Enzo stand auf, gab ihr erst die Hand und dann einen Kuss auf die Stirn. „Willkommen bei uns. Auch wenn du sowieso schon lange hier so gut wie zu Hause bist.“ Er zwinkerte ihr fröhlich zu. „Soll ich mit deinem Vater sprechen?“
„Das ist meine Weihnachtsüberraschung für euch.“ Stefania Augen blitzten vor Vergnügen. „Sie wissen es und sind einverstanden. Eigentlich wollte ich es nicht verraten ohne Dario.“
Mirella presste eine Hand auf den Mund, um den Schluchzer zu dämpfen, den sie nicht unterdrücken konnte. Irritiert wandten sich ihr alle zu. Da konnte sie nicht mehr verhindern, dass ihr die Tränen übers Gesicht liefen.
„Dario sollte es zuerst erfahren“, wiederholte Stefania irritiert. „Aber nun habt ihr mich so überrascht und er ist nicht da ...“ Ihre Stimme verlor sich; sie wirkte plötzlich ein wenig hilflos.
Mirella würgte erstickt. Stefania nichts zu sagen; wie furchtbar. Das ging doch nicht.
Enzo stand auf und befahl Gina, eine Flasche Blanquette zu bringen. „Verlobung kann man ohne den Bräutigam schlecht feiern, aber auf das Anwachsen unserer Familie können wir wohl trinken.“
Mirellas Tränen tropften in ihr Glas und sie kippte den Wein fast in einem Zug hinunter. Daraufhin nahm Rita ihr das Glas weg. „Du bist das nicht gewohnt, Kind. Hör auf!“
„Es ist doch Weihnachten“, widersprach Mirella in einem Anfall von unsinnigem Trotz.
Enzos Blick war eher verständnislos als tadelnd. Er hielt ihr sein Taschentuch hin. „Nun übertreib nicht so!“
Sie senkte den Blick und wartete schweigend darauf, dass Stefania ging.
Enzo, inzwischen ein wenig beschwipst, ließ es sich dann nicht nehmen, seine künftige Schwiegertochter zu ihrer Kutsche zu geleiten.
Kaum waren die beiden draußen, setzte Rita sich neben Mirella und nahm sie in die Arme. „Was ist los mit dir? Willst du Felipe nicht mehr heiraten? Ist es das, was dich bedrückt? Sag es uns nur, bevor du dich in eine falsche Ehe stürzt. Ich argwöhne es schon lange. Auch dein Vater wird es verstehen ...“
Zum ersten Mal seit Langem war Mirella der Mutter dankbar für ihre Redseligkeit. Sie ließ ihre Worte an sich vorbeirauschen und wartete darauf, dass Enzo zurückkam. Doch dann rief er stattdessen nach Fabrizio; die Unruhe trieb ihn wohl selbst an diesem Nachmittag fort.
Mirella nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Bitte, sagt Vater, dass ich mit euch sprechen muss. Bevor er zur Baustelle fährt.“
„Dachte ich es mir doch.“ Rita nickte und ging zur Tür.
Wenn es doch nur das wäre! Mirella sah ihr verzweifelt hinterher. Das war es auch; oder nicht? Sie spürte den Druck von Alexandres warmen Händen auf ihren Fingern.
Freitag, 27. Dezember 1647
„Je weniger Leute davon wissen, desto mehr Spielraum bleibt“, hatte der Comte de Modène gesagt, als er Enzo die Genehmigung für Mirellas Besuch im Torrione übergab. Darum fuhr Enzo jetzt die Kutsche selbst.
Neben Mirella saß Rita. Sie hatte darauf bestanden mitzukommen und brachte Mirella jetzt an den Rand des Wahnsinns mit ihrem Gejammer.
„Mamma, so hör Sie endlich auf! Ich kann ja gar nicht nachdenken!“
„Wie sprichst du mit mir?“ Rita blitzte sie zornig an. „Du hast die ganze Zeit mit Dario unter einer Decke gesteckt!“
Mirella schloss die Augen. „Mamma! Bitte!“
Rita schwieg schließlich. Erst als Enzo am Torrione Mirella aus der Kutsche half, öffnete sie wieder den Mund. Aber jetzt war es an Enzo, ihr einen Blick zuzuwerfen, der sie schweigen hieß.
Mirella folgte Enzo zum Tor; mit jedem Schritt wuchs ihre Angst. Was erwartete sie dort?
Er ließ den schweren Türklopfer anschlagen; dann drehte er sich zu ihr um und nahm sie fest in die Arme. „Wir warten hier auf dich.“ Er zitterte mehr als sie selbst, als er sie an sich drückte. „Meine tapfere Kleine. Pass auf, was du sprichst. Vielleicht hängt alles davon ab.“
Ein Riegel quietschte, als er zurückgezogen wurde. Dann drehte sich knarrend ein Schlüssel.
Mirella zitterten die Knie; sie befreite sich aus Enzos Armen und richtete sich kerzengerade auf.
Ein Milizionär stand neben dem Tor, dahinter ein schwarz gekleideter Mann. Ein Tintenfleck neben dem Mund verriet ihn als Schreiber.
Die Wache trat zur Seite.
„Signore, Er wünscht?“
Enzo zog den Passierschein aus der Manteltasche und hielt dem Schreiber das Siegel vors Gesicht. „Meine Tochter hat die Erlaubnis des Dogen, ihren Bruder zu sprechen.“
Der Schreiber nahm Enzo das Papier ab, zog einen Zwicker hervor und setzte ihn auf. Er studierte das Papier und murmelte dabei die Worte mehrmals hintereinander, als wolle er sie auswendig lernen. „Das hatten wir noch nie!“ Er musterte Mirella von unten bis oben. „Sie wird ihre feinen Kleider schmutzig machen! Eine Dame wie Sie hatten wir noch nie.“ Er kratzte sich hinter dem Ohr. „Sie sieht ihm nicht sehr ähnlich. Ist Sie wirklich die Schwester?“
Enzo begann rot anzulaufen, ein sicheres Zeichen, das er gleich aus der Haut fahren würde.
Mirella erschrak; schnell trat sie vor ihn und reckte ihren Kopf noch ein wenig höher. „Wird Er dem Befehl des Dogen nun folgen und mich einlassen?“
Fast hätte sie gegrinst, als der Schreiber einen halben Schritt vor ihr zurückwich und sich ein wenig verneigte. „Selbstverständlich, Signorina. Bitte hier, Signorina.“ Noch nie hatte sie so mit jemandem gesprochen. Es stimmte also, dass Arroganz sich auszahlte.
Doch gleich darauf stieg wieder Angst in ihr hoch. Der Schreiber führte sie durch einen dunklen Korridor zu einer langen Treppe, auf deren steinernen Stufen ihre Schritte laut widerhallten. Als wollte es das Echo dazu geben, schlug ihr Herz mit jedem Schritt heftiger. Bald waren ihre Hände schweißnass; sie wischte sie aneinander ab.
Der Keller war dagegen aus gestampfter Erde; ein lehmiger Boden, auf dem an vielen Stellen das Wasser stand. Der Gang wurde von einzelnen qualmenden Fackeln spärlich erleuchtet und ging um mehrere Ecken. Zuweilen entschwand der Schreiber ihrem Blick und sie hörte nur noch das Klirren seiner Schlüssel. Sie beeilte sich, Schritt zu halten, denn er nahm keine Rücksicht. Die Wände rückten immer dichter an sie heran, je weiter sie kamen. Darum hatte er gesagt, sie würde sich ihre Kleider schmutzig machen. Sie wickelte ihre Röcke enger um sich, aber es mochte wenig nützen. Von Zeit zu Zeit traf sie ein Tropfen ins Gesicht. Ihre Schuhe sogen sich mit Wasser voll und ihre Füße wurden eiskalt. Dann ging es eine Schräge hinab, die im Fackellicht schmierig-feucht schimmerte. Unwillkürlich streckte sie die Hand nach einem Geländer aus, um nicht darauf auszurutschen; aber es gab natürlich keines.
Sie blickte zurück und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Wenn dieser Mann es nicht wollte, würde sie nie wieder den Weg zurück finden.
Endlich blieb er vor einem hohen Eisengitter stehen und hängte die Fackel an die Wand daneben. Er löste den Schlüsselbund von seinem Gürtel und benutzte beide Hände, um das schwergängige Schloss zu öffnen. Solche Mühe, einen Schlüssel zu drehen, hatte man eigentlich nur bei einer selten benutzten Tür. Wo führte er sie hin? Dann nahm er die Fackel wieder aus der Halterung und ging weiter. Mirella raffte ihre Röcke höher und machte größere Schritte, um ihn nicht mehr aus den Augen zu verlieren, während er um die nächsten Ecken ging. Am liebsten hätte sie gefragt, ob es noch weit sei; aber das hätte nicht zu einer arroganten Haltung gepasst.
Irgendwo plätscherte es leise und dann quiekte es vor ihren Füßen. Eine Ecke weiter sah sie im Schein der Fackel eine fette Ratte davonspringen. Der Ekel schüttelte sie.
Endlich wurde der Gang wieder breiter; hinter einer weiteren Ecke kam ihnen Lichtschein entgegen. Dann standen sie vor einem anderen Gitter. Zwei Wächter saßen dort und spielten Tarock. Im Schein ihrer Kerzen schimmerten die neuen Münzen der Republik auf dem Tisch. Einer sah auf und spielte dann die nächste Karte aus.
„Heh, ihr da! Öffnen!“
Der andere Wächter legte seine Karte ab; dann nahm er den Stich an sich. „Das Spiel gewinne ich, mein Freund.“ Er beugte sich zur Seite und stand mit einem Schlüssel in der Hand auf. „Was haben wir denn da?“ Er bedachte Mirella mit einem schmierigen Grinsen, bevor er aufschloss.
„Lass sie zu dem Gefangenen. Befehl des Dogen.“
Zu Mirellas Entsetzen blieb der Schreiber hinter dem Gitter zurück, während der Wächter sie an der Hüfte packte und vor sich her in die Dunkelheit schob. Als er sie losließ, blieb sie stehen. Sie wagte nicht, sich umzudrehen.
Arroganz! Sie reckte den Kopf. „Wo ist mein Bruder?“ Leider klang ihre Stimme jetzt gar nicht mehr arrogant, sondern rau.
Der Wächter tauchte mit einer flackernden Kerze neben ihr auf, deren Docht fast im Wachs ersoff. Sie holte tief Luft und folgte ihm.
Vor einer schweren Tür mit einer eisernen Klappe blieb er stehen. Er öffnete die Klappe und blickte hinein. „Er ist noch da“, brummte er; dann schloss er auf.
Der Gestank von moderndem Stroh schlug ihr entgegen. Es war stockfinster. Ein schabendes Geräusch, dann klirrte eine Kette.
Mirella blieb an der Tür stehen. „Dario?“ Ihre Stimme war ein fast unverständliches Krächzen.
Ein Stöhnen war die Antwort; die Kette rasselte lauter. „Mirella! Um Gottes willen!“ Das flackernde Licht zeigte ihr nur seine Konturen.
Der Wächter drückte ihr die Kerze in die Hand. Heißes Wachs floss über ihre Finger; sie hielt die Luft an, bis der Schmerz nachließ. Dann hob sie das Licht und ging tapfer einen Schritt vorwärts. Hinter ihr fiel die Tür zu.
Die dunkle Gestalt, die Dario war, richtete sich halb auf und lehnte sich an die Wand. „Was tust du hier?“ Seine Stimme war heiser, geborsten vor Schmerz.
Entsetzt starrte sie auf sein zerschundenes Gesicht. Sie streckte die freie Hand aus und berührte vorsichtig eine Stelle, die nicht blutverkrustet oder dunkel angelaufen war. „Oh, Dario, was haben sie mit dir gemacht?“ Tränen stiegen ihr in die Augen; sie legte einen Arm auf seine Schulter, um ihn an sich zu drücken.
Er quittierte es mit einem Stöhnen und sie ließ ihn erschrocken los.
„Wie kommst du hierher?“
„De Guise hat mir einen Passierschein ausgestellt.“
„So!“
Sie starrte ihn an. „Was hast du ihnen gesagt?“
Dario kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. „Nichts. Ich haben ihnen nichts gesagt.“
Sie atmete erleichtert auf. „Das ist gut.“ Behutsam legte sie ihre Finger auf seine zerschundenen Lippen. Dann fiel ihr eine dringende Frage ein. Sie flüsterte: „Was wollten sie von dir wissen? Was werfen sie dir überhaupt vor?“
„Dass ich die Spanier mit Informationen versorge.“
„Die Spanier.“ Sie vergaß, dass sie leise sprechen wollte, falls der Wächter hinter der Tür lauschte. „Die Spanier, du noch nie ausstehen konntest.“ Ihr wurde leicht ums Herz. Ein Vorwurf, der so offensichtlich falsch war; sie konnten ihm nichts anhaben. „Wie kommen sie nur darauf? Das ist doch absurd.“
Er blickte irgendwo hinter ihr in die Luft; sie wandte den Blick. Licht schimmerte durch die Klappe. Es stand tatsächlich einer dahinter und lauschte.
Darum hob sie die Stimme erst recht, damit er es nur hören konnte. „Werfen sie dir meine Verlobung vor?“
Er hob die Schultern in einer unendlich müden Bewegung. „Kaum.“ Sein Gesicht verzerrte sich; das sollte wohl ein Grinsen sein. „Dass ich Felipe verabscheue, dürfte sich herumgesprochen haben.“
„Alexandre sagt ...“
„Alexandre?“ In seinen Augen flackerte etwas, das Zorn bedeuten mochte.
„Der Marquis de Montmorency ... Er hält es für eine Verschwörung gegen Vater.“ Das war nun ihre sehr freie Auslegung, aber es mochte so falsch nicht sein.
Dario schluckte schwer. „Das ...“
„Man wird dir den Prozess machen.“
„Ich weiß. De Guise will ein Urteil.“
„Damit hat er dir das Leben gerettet! Er hat sich geweigert, Anneses Todesurteil gegen dich zu unterschreiben.“
„Und wo ist der Unterschied?“ Er knurrte aufgebracht.
Sie senkte ihre Stimme. „Sie haben doch nichts in der Hand gegen dich. Oder?“
Er schwieg und blickte zu Boden. Sie hob sein Kinn. Konnten sie ihm doch etwas beweisen? Sie traute sich nicht zu fragen. Sie hatten ihn schon länger im Auge gehabt, hatte Alexandre gesagt. „Wenn du dir ein Geständnis abpressen lässt, kann auch de Guise dich nicht retten.“
Verachtung stand in seinem Blick; er glaubte ihr nicht. „Ich weiß“, ächzte er.
Sie legte ihm sacht die Hand auf die Schulter. „Du musst durchhalten; versprich es mir“, flüsterte sie in sein Ohr.
„Wenn das wahr ist, dass sie es auf Vater abgesehen haben“, er stöhnte wieder, „dann seid ihr alle in Gefahr.“
So weit hatte sie noch nicht gedacht. Es stimmte ja. Das Gericht würde den gesamten Besitz der Familie beschlagnahmen, sollte auch Enzo angeklagt und verurteilt werden. Der Vater – würde er durchhalten, wenn man ihn folterte? „Was können wir für dich tun?“
Dario schüttelte den Kopf. „Beten?“ Er nahm ihre Hand in die seinen. „Was ist mit Stefania?“
„Ich glaube nicht, dass sie in Gefahr ist.“
„Was – hat sie gesagt?“
„Ihre Eltern sind mit eurer Ehe einverstanden. So wie die unseren.“ Sie strich ihm durchs Haar. „Sie weiß es nicht. Es ist besser, wenn niemand von deiner Verhaftung weiß.“
„Wer sagt das? Damit man mich möglichst unauffällig beseitigen kann“, zischte er.
„Alexandre ... der Marquis de Montmorency ...“
„Du scheinst inzwischen sehr vertraut mit ihm zu sein, dass ihr euch mit Vornamen nennt.“
„Nein, gar nicht!“ Er war eifersüchtig, selbst jetzt noch. Selbst hier. „Mit Albert sind wir doch auch beim Vornamen.“ In ihren Gedanken nannte sie ihn beim Namen; aber im Gegensatz zu Albert schien es ihr undenkbar, dass sie ihn so ansprach. „Er steht auf unserer Seite. Er hat mir die Genehmigung verschafft, dich zu besuchen.“
„Was glaubst du, warum?“
Sie starrte ihn ratlos an.
„Um mich unter Druck zu setzen. Um euch einzuschüchtern.“ Er fluchte heftig. „Sie haben nichts aus mir herausbekommen, als sie mich folterten. Nun versuchen sie es mit Erpressung – oder einem Handel.“
Mirella keuchte vor Entsetzen. „Das glaube ich nicht! So etwas würde er nie tun; er weiß doch selber ...“
„Denk nach, Mirella! Anneses Miliz hat mich festgenommen. Aber es ist de Guise, der mir den Prozess machen lässt.“
„Aber – damit rettet er dich.“
„Du bist reingefallen auf das, was Montmorency dir erzählt hat. Falls Annese glaubte, dass ich mit den Spaniern paktiere, würde er mir nichts tun. Wenn sie ihm mehr nützten als de Guise – du würdest dich wundern, wie schnell er wieder unter ihre Fittiche kröche.“
Annese als der wahre Verräter; das hatte auch Alexandre gesagt. Wer sprach hier noch die Wahrheit? Sie wurde immer durcheinanderer im Kopf. Dario – log er auch? Als er sagte, dass er für die Barone arbeite? Als er gegen die Spanier lästerte? Verwirrt schloss sie die Augen; sie müsste nachdenken. „Sag mir genau: Wann und wo haben sie dich verhaftet? Wie haben sie es begründet?“
Dario ließ sich an der Wand entlang aufs Stroh rutschen. „Ich war in Aversa; in der Osteria.“
„Das liegt nicht auf dem Heimweg!“ Sie blickte zur Tür, das Licht, das durch die Ritzen an der Klappe schimmerte, war genauso hell wie zuvor. „Dort“, sie zeigte mit einer Kopfbewegung hin und suchte nach einer unverfänglichen Formulierung, „wartet jemand vor der Tür. Aber unsere Zeit ist wohl nicht begrenzt.“
„Sie ist begrenzt, glaub mir.“
Nicht weinen jetzt; sie schluckte schwer. Gleich musste sie wieder arrogant auftreten; ein von Tränen verquollenes Gesicht passte nicht dazu. Sie hockte sich neben Dario. Aus dem Stroh stieg ihr der scharfe Geruch von Urin in die Nase. „Wolltest du zu den Oliveto? Aber Stefania ist die ganze Zeit in Neapel gewesen.“ War das die Rettung? Wenn er sich als heimlicher Liebender präsentierte?
Dario schüttelte den Kopf. „Halte Stefania raus. Bitte.“ Er drückte ihre Hand, „Und du auch! Bring dich nicht in Gefahr.“
„Warum sagst du ihnen nicht, wozu du den Umweg gemacht hast?“
„Glaubst du denn, das interessiert jemanden?“
„Mit wem hast du dich in Aversa getroffen?“
„Mit niemandem; ich war tatsächlich nur auf der Durchreise.“ Er sprach leise; mit unterdrückter Stimme, aber sie war plötzlich sicher, dass man es draußen hören konnte. Sie hatte von Bauwerken gelesen, in denen man an den unmöglichsten Orten hören konnte, was in bestimmten Räumen gesprochen wurde. Hier auch? Sie hielt die Kerze höher und blickte nach oben; aber die Decke war irgendwo weit weg in der Dunkelheit. Ungewöhnlich hoch für einen Keller. Sie musste mit Enzo darüber reden.
Dario hauchte einen Kuss auf ihre Fingerspitzen. „Sei lieb, Schwesterchen, und geh jetzt. Du kannst nichts für mich tun.“
Eine Träne sickerte ihren Nasenflügel entlang; schnell wischte sie sie ab und drückte die Handballen auf die Augen, um die anderen zurückzuhalten. „Vielleicht sehe ich dich niemals wieder.“
„Doch.“ Seine Stimme barst vor Grimm. „Die Hinrichtung wird gewiss öffentlich sein. Die neuen Herren müssen ihre Macht demonstrieren.“
Die Kerze ersoff mit einem letzten Aufflackern. Mirella hatte zu spät nach dem Docht gegriffen.
„Das würde de Guise niemals ...“ Aber Alexandre hatte gesagt, dass es dem Dogen genau darum ginge: seine Macht demonstrieren. Bislang jedoch mit dem Ergebnis, dass man Dario nicht geköpft hatte. „Weißt du, wann sie dich vor Gericht stellen wollen?“
Die Tür klappte und Licht strömte zu ihnen. „Signorina, warum hat Sie die Kerze ausgemacht?“
„Ich ...“ Mirella bremste sich im letzten Moment. Nichts erklären; Arroganz. „Es zieht in diesem Loch! Und es stinkt! Schämt Er sich nicht? Er behandelt ihn wie einen Verbrecher; aber er ist zu Unrecht hier.“
„Das sagen alle.“ Der Wärter trat ein und streckte seine Hand nach ihr aus. Schnell stand sie auf, damit er sie nicht berührte.
„Ich werde mich beschweren!“
Der Wärter wedelte sie hinaus. Wollte sie vermeiden, dass er sie anfasste, musste sie das Verlies verlassen. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. Dario war ein Schatten in der Dunkelheit.
Der Schreiber erwartete sie am Gitter; er hatte mit dem anderen Wärter das Kartenspiel fortgesetzt und ein Dutzend schimmernder Münzen vor sich aufgehäuft. „Da ist Sie endlich. Ich dachte schon, Ihr gefiele unser gastliches Haus so, dass Sie bliebe.“
Er geleitete sie hinaus und deutete gleich darauf zu einer Treppe. „Dort entlang.“
Die Treppe führte in eine düstere Halle. Dahinter aber lag gleich die Galerie. Genau so hatte sie sich das gedacht: Es gab einen kürzeren Weg. Er hatte sie einschüchtern wollen, als er sie durch die unterirdischen Gänge geführt hatte.
Er brachte sie zu einer kleinen Pforte; sie war nicht bewacht. „Den Rest des Weges findet Sie allein.“
Krachend schlug die Tür hinter ihr zu. Warum wollte er nicht, dass man sie gehen sah?
Sie lehnte sich gegen das Holz, müde, schmutzig, hilflos. Sie war nur ein Mädchen. Was konnte sie gegen diese Festung ausrichten?
Sie drehte sich zur Seite und schlug zornig gegen die Festungsmauer; sie riss sich die Hand an den Steinkanten auf. „Ich krieg dich hier raus, Dario. Ganz gleich, was ich dafür tun muss.“ Sie wischte das Blut an ihrem hellen Mantel ab und betrachtete die Flecken. Wenn er nur durchhielt.
Die Kutsche musste in südlicher Richtung stehen. Sie brauchte nur an der Mauer entlang zu gehen.
Auf dem Heimweg stieg sie trotz der schneidenden Kälte zu Enzo auf den Kutschbock. Sie konnte das Gejammer jetzt nicht ertragen, mit dem Rita sie empfangen hatte.
Enzo blickte sie immer wieder von der Seite an, aber er sagte nichts und fragte nichts. Seine Schweigsamkeit tat ihr gut. Sie drückte ihr Gesicht an seine Schulter, um sich vor dem Wind zu schützen, und dachte nach.
Als sie Vomero erreichten, richtete sie sich auf. „Wir werden ihn dort herausholen.“
„Erzähl mir alles; ganz genau.“ Er wandte sich ihr zu. „Vielleicht finden wir einen Weg.“
„Wir müssen, Vater.“ Sie klammerte sich an seinen Arm.
Er nahm die Zügel in eine Hand und schob ihr mit der anderen die Locken, die ihr in die Stirn hingen, unter die Kapuze zurück.
„Ich komme mit Ihm ins Kontor.“
Überrascht zügelte er das Pferd. „Warum?“
„Weil ...“ Sie vermochte es ihm nicht zu erklären, es war nur eine Eingebung gewesen. „Wir werden in den Büchern etwas finden, um zu beweisen, dass er in Geschäften unterwegs war.“
„Aber natürlich war er das.“
„Auch in Aversa?“
Enzo knurrte und schlug übertrieben heftig mit der Peitsche auf das stetig dahintrottende Pferd ein.
***
Das neue Kontor roch nach Beize und Terpentinöl. Unter dem breiten Fenster stand der alte Schreibtisch von Enzos Großvater, den er aus dem Keller in der via Saliniera geholt hatte. Eine beschlagene Truhe stand auf dem Boden neben einer Öffnung, wo sie eingemauert werden sollte.
Enzo schob Mirella einen Schemel hin, kniete sich vor die Truhe und holte die beiden obersten Bücher heraus. „Wonach sollen wir suchen?“
Er vertraute ihr die Führung an und sie bekam Angst. Wenn sie es nun verdarb? „Ach Vater, es war eine Eingebung. Vielleicht wissen wir, was wir suchen müssen, wenn wir es sehen?“
Enzo strich ihr über die Wange. „Mein kleines Mädchen ist über Nacht erwachsen geworden.“ Er sagte es ohne Lächeln. Kein Kompliment, sondern eine eher überraschte Feststellung.
Eines der Bücher legte er ihr aufgeschlagen auf die Knie. „Hier stehen alle Aufträge der letzten beiden Monate. Ich habe hier die Lieferungen. Aber Dario war auf dem Rückweg. Irgendwie.“
„Wo sind die Stoffe geblieben, die er in Florenz geholt hat?“
Enzo knurrte. „Wo wohl?“
Also hatte man sie obendrein bestohlen. Das konnte doch nicht Anneses Werk gewesen sein. Nein, dieser Mann war ehrlich; trotz allem. „Er muss es reklamieren.“
„Sobald Dario frei ist.“ Das hieß, falls er freikäme.
Mirella blätterte schnell die beschriebenen Seiten durch. Es waren nicht viele; ohne den Auftrag des Dogen wäre Enzos Handel zusammengebrochen.
Sie begann von vorne, las jeden Eintrag. „Vater, hat Er eine Landkarte hier?“
Enzo öffnete eine Schublade und reichte ihr eine Rolle. Sie legte sie vor sich auf den Boden und beschwerte die Ecken mit Mauersteinen. Jetzt sah sie, welche Aufträge in der Nähe von Aversa erteilt worden waren. Einen davon mussten sie als Vorwand für Darios Umweg heranziehen.
Ein Sägewerk. „Was ist mit dem Bauholz für das neue Lager?“
„Alles geliefert und alles bezahlt.“ Enzo winkte ab. „Kein Grund, dort vorbeizufahren.“
Das Landhaus der Oliveto: Sie hatte Dario versprochen, Stefania nicht hineinzuziehen. Aber falls es seine einzige Chance war, würde sie sich darüber hinwegsetzen; keine Frage. Wenn er sie dafür verhauen würde, lebte er wenigstens. Sie las weiter. Eine Schneiderei. „Was ist das für ein Schneider?“
Enzo sah auf. „Roccone, Caivano. Das ist auch lange erledigt. Mein Geburtstagsgeschenk für deine Mutter.“
Rita hatte fast geweint vor Freude und Überraschung, als sie es auspackte. Ein Kleid, perfekt nach der neuesten französischen Mode. Nach Mirellas Meinung das schönste Kleid, das ihre Mutter je besessen hatte – und das hatte Enzo inmitten der Wirren zu Stande gebracht. Er musste sie unendlich lieben.
Mirella las weiter. In der Umgebung von Aversa fand sie noch einen Tischler, einen Winzer und einen Schuhmacher. Für jeden konnte Dario einen neuen Auftrag gehabt haben. Nirgendwo dort war er tatsächlich gewesen; aber niemand würde widerlegen können, dass er die Absicht gehabt hatte. Dennoch wäre es nicht überzeugend: Es gab schließlich keinen plausiblen Grund, warum er es nicht hätte angeben sollen, als sie ihn verhörten. „Es darf niemand sein, der mit den Baronen in Verbindung steht.“
Enzo fuhr mit der Hand über die aufgeschlagene Seite seines eigenen Buchs, deutete auf zwei Einträge. „Von diesen weiß ich, dass sie zur Partei der Feudalherren gehören. Ihre Schneider haben für einen Ball im Palazzo von Nocera gearbeitet.“ Er seufzte. „Man kann sich die Kunden nicht aussuchen. In dieser Zeit erst recht nicht.“
„Und diese?“ Sie hielt Enzo ihr Buch hin. „Die Lieferanten?“
„Mich interessiert die Qualität ihrer Waren, nicht ihrer Gesinnung.“ Er nahm ihr das Buch ab und legte es auf den Schreibtisch. „Ich weiß es von kaum einen.“
„Aber worüber unterhält Er sich denn, wenn Er mit ihnen in einer Locanda sitzt?“ Mirella wurde ungeduldig. „Man muss doch nur ein wenig zuhören!“
Er blätterte zurück und deutete auf den Namen des Schneiders. „Roccone ist vermutlich ein Anhänger der Franzosen; er verabscheut die Mode der Spanierinnen!“
Mirella lachte. „Welch ein Grund!“ Ein Schneider, was sollte Dario bei einem Damenschneider wollen? „Ich habe Dario versprochen, Stefania nicht hineinzuziehen.“
„Das hast du recht getan; das arme Mädchen. Auch wenn Dario freigelassen wird ...“
„Er glaubt, ein Makel bleibt doch?“
„Das tut es immer!“ Wieder strich er ihr über die Wange; so viel Zärtlichkeit war ihm bisher nicht zu eigen gewesen. Ob er sich genauso hilflos fühlte wie sie? „Ich sehe nichts, was uns weiterhilft.“
Mirella senkte den Kopf. Ihr Blick fiel auf die Landkarte und sie nahm sie auf. „Es sind keine Straßen eingezeichnet.“
„Hier geht die Straße von Florenz entlang.“ Dario hatte tatsächlich einen beträchtlichen Umweg genommen. „Von Aversa hierher gibt es zwei Wege.“ Er zeigte sie ihr. Einer führte über Caivano.
„Kann Er sich irgendeinen Grund ausdenken, was Dario bei Roccone wollen haben könnte?“
Enzo blätterte das Lieferantenbuch weiter durch. Er presste die Lippen zusammen, dann sah er sie mit gerunzelter Stirn an. „Wenn wir nicht von Stefania sprechen wollen ... Überdies wäre es Sache ihrer Eltern ...“
Mirella brauchte nur eine Sekunde, um zu verstehen. „Ein Hochzeitskleid.“ Sie schlug die Hände vors Gesicht. „Das ist es.“
Montag, 30. Dezember
Der Prozess gegen Dario war öffentlich und die Neapolitaner, die zwischen Weihnachten und Neujahr noch weniger zu arbeiten fanden als während der Unruhen in den Monaten zuvor, nahmen ihn als Unterhaltungsprogramm. Francesco Antonio Scacciavento hatte die Verteidigung übernommen. Der bisherige Berater Anneses stellte sich damit im Konflikt zwischen diesem und de Guise offen auf die Seite des Dogen; das machte die Neugier der Menschen noch größer.
Stefania hatte Scacciavento beschworen, sie als Zeugin zu benennen. Aber nach Rücksprache mit Dario hatte er es eisern abgelehnt.
Perfiderweise war Enzo von der Anklage benannt worden und als er nach der Vernehmung den Gerichtssaal verließ, war er kreidebleich.
Mirella stürzte ihm entgegen. „Vater, was haben sie Ihn gefragt?“
Er nahm sie in die Arme und strich ihr übers Haar. „Ich habe nichts gesagt, was ihm schaden könnte. Aber ich durfte genauso wenig euch mit einer Lüge in Gefahr bringen.“
Aber sie konnte lügen; sie würde niemandem schaden als sich selbst. Trotzdem waren ihre Knie weich und der Saal verschwamm vor ihren Augen, als ein Gerichtsdiener sie in den Zeugenstand geleitete.
Im Licht des Tages sah Dario entsetzlich aus. Seine Augen blickten matt und der Bart, der ihm in diesen Tagen gewachsen war, verdeckte nur zum Teil die Spuren dessen, was man ihm angetan hatte. Hoffentlich hatte Stefania ihm von den Zuschauerbänken aus nicht ins Gesicht sehen können.
Mirella schaute Dario unverwandt an. „... so wahr mir Gott ... helfe.“ Ihre Stimme zitterte. Gott würde verstehen, dass es diesen Meineid brauchte, um sein Leben zu retten.
Sie setzte sich hin und wagte einen Blick zur Bank der Geschworenen. Auf wessen Seite mochten diese Leute stehen? Vielleicht sollte sie nicht zu herausfordernd auftreten. Als sie sich nach Stefania umsah, erkannte sie Alexandre auf einem Platz neben dem Gang. Sie war an ihm vorbeigegangen und hatte ihn nicht wahrgenommen! Was tat er hier? Ein Schauer überlief sie. Gott mochte ihr vergeben; aber würde er es auch können?
Ihre Vernehmung begann. Anfangs hatte Dario seine Fäuste geballt, dann entspannte er sich und mehrmals funkelten seine Augen gar voller Vergnügen, während sie auf die absurdesten Fragen antwortete.
Dann hatte der Ankläger seine Fragen erschöpft und winkte ab. Darios Verteidiger stand auf.
Mirella krallte ihre Hände in das Geländer vor sich. Wenn nur Dario inzwischen nichts gesagt hatte, das ihrer Aussage widerspräche.
Sciacciavento trat vor sie und legte seine Hand auf die ihre. „Ganz ruhig, Signorina. Ich habe keine Eile. Sei Sie nur so präzise wie möglich.“ Aber sie hatte es eilig; sie wäre am liebsten überhaupt nicht an diesem Ort.
Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. „Signorina, Sie ist zu mir gekommen mit der Behauptung, Sie könne beweisen, dass Ihr Bruder unschuldig ist. Wie hat Sie das gemeint?“
Musste er es so kompliziert machen? Mirella versuchte, sich den Kloß aus ihrem Hals wegzuräuspern. „Man wirft Dario vor, er habe den Umweg über Aversa genommen, um unsere Republik zu verraten. Das ist nicht wahr.“
„Wie kann Sie das wissen? Kann Sie die Gedanken Ihres Bruders lesen?“
Sie versuchte sich an einem Lächeln. „Fast. Ich kenne ihn in- und auswendig. Schließlich ... Er hat nie auf mich herabgesehen, nur weil ich ein Mädchen bin, sondern alles mit mir geteilt. Auch seine geheimsten Gedanken.“
„Nenne Sie ein Beispiel, um uns zu überzeugen.“
Sie sah von Dario zu Stefania. Wenn es sein musste ... „Zum Beispiel hat er mir anvertraut, wem er sein Herz geschenkt hat.“ Jetzt fiel es ihr wirklich leicht zu lächeln. „Normalerweise sprechen Männer nicht über Gefühle, nicht wahr?“
Von der Geschworenenbank kam ein unterdrücktes Kichern; ein älterer Mann feixte unverhohlen. War das nun gut oder schlecht für sie?
„Nun ja.“ Scacciavento sah ein wenig pikiert drein. Das war gewiss gut; so wirkte es nicht wie ein abgekartete Spiel.
„Darum weiß Sie also auch, dass er nicht nach Aversa gefahren ist, um uns an die Spanier zu verraten?“
„Wie wäre das möglich gewesen? In Aversa gibt es keine Spanier mehr. Die Truppen unseres neuen Dogen haben sie alle verjagt.“ Darauf gab es einen Lacher unter den Zuschauern.
„Es scheint Ihr nicht leid zu tun. Ist Sie nicht mit einem Spanier verlobt?“
Mirella schluckte; ihr Blick verließ Dario und irrte für einen Augenblick zu Alexandre. Natürlich wusste er inzwischen wie alle anderen von ihrer Verlobung, aber dies nun ... Vor ihm darüber zu sprechen, das war etwas anderes.
„Nun, will Sie nicht antworten?“
„Sicher!“ Sie leckte sich über die Lippen. „Das ist allgemein bekannt. Aber das macht mich nicht zur Verräterin.“
Im Saal wurde es laut.
Der Richter klopfte mit seinem Hämmerchen. „Ruhe! Niemand hat Sie beschuldigt, Signorina.“
Gerade so gut hätte er sagen können ‚bis jetzt’. Sie riss an dem Taschentuch, das sie zwischen den Fingern knäulte. „Aber anscheinend schließt man aus dieser Verlobung, dass mein Bruder ein Verräter sein könnte. Dabei verabscheut er Felipe.“
Dario grinste breit; so hatte er die Hoffnung noch nicht ganz verloren.
„Wir kommen vom Thema ab.“ Scacciavento klang mahnend, fast ungeduldig. Sie wollte es doch ebenso gerne hinter sich bringen. Fand sie vielleicht noch einen Weg, den falschen Schwur zu vermeiden? „Warum also ist Ihr Bruder nach Aversa gefahren.“
„Ich nehme an, zum Essen.“
Das Gemurmel im Saal wurde lauter; auf der Geschworenenbank entstand ebenfalls Unruhe. War sie zu unverfroren gewesen? Aber sie musste ihren Streich doch vorbereiten.
„Zum Essen?“
„Sissignore. Denn er war auf dem Weg nach Caivano; und der führt zwingend über Aversa, wenn man von Florenz kommt. Und man hat ihn doch von der Mittagstafel weg festgesetzt.“
„Was wollte er in Caivano?“
Tränen stiegen ihr in die Augen; aber jetzt durfte sie nicht weinen; auf keinen Fall. Sie sah wieder zu Alexandre. Er saß leicht vorgebeugt und wirkte wachsam.
„Er wollte zu Roccone, dem Schneider, der die schönsten Kleider nach französischer Mode fertigt.“ Sie zitterte so sehr, dass ihre Zähne aufeinander klapperten. Mit dem nächsten Satz würde sie die Liebe ihres Lebens aufgeben. „Er sollte mein Hochzeitskleid beauftragen.“
„Und dazu musste er nach Caivano?“
„Meister Roccone hat schon für meine Mutter genäht. Er ist der einzige, der das kann.“ Hoffentlich war unter den Geschworenen kein Schneider; sonst hätten sie nun einen Feind mehr. Tränen liefen ihr übers Gesicht; aber nun mochte es angehen.
.„Warum weint Sie, Signorina Scandore?“
„Weil ...“ Ihre Stimme erstickte. „Ich habe Angst.“ Sie wischte sich übers Gesicht und jammerte verzweifelt: „Es ist doch alles meine Schuld. Ich wollte mich herausputzen mit dem schönsten Hochzeitskleid der Welt.“ Das Taschentuch zwischen ihren Fingern riss mit einem leisen Ratschen.
Scacciavento zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. „So beruhige Sie sich doch.“ Er blickte zum Ankläger.
„Ich habe keine weitere Frage an die Signorina.“
„Sie kann gehen.“ Der Richter schlug mit seinem Hämmerchen auf den Tisch. „Wer ist der nächste Zeuge?“
„Komm, Mädchen.“ Scacciavento half ihr die Stufe vom Zeugenstand aufs Parkett hinunter.
Als er sie los ließ, wankte sie. Tränenblind stolperte sie durch den Gang zwischen den Zuschauerbänken. Eine Hand fing sie schützend auf. Alexandre.
„Jetzt könnt Ihr bleiben, wenn Ihr möchtet.“ Er rückte ein wenig zur Seite.
Sie mochte nicht bleiben; es wäre unerträglich, der Fortsetzung des Prozesses zu folgen. Aber sich neben Alexandre auf die Bank zu drücken, verhieß ... Er hielt sie noch immer und seine Finger lagen warm und fest auf ihrem Arm.
Mirella nickte; er zog sie neben sich. Trotz des dicken Uniformstoffs wärmte er ihre Seite. Aus den Augenwinkeln wagte sie ihn anzusehen.
Er sah starr nach vorne, die Lippen zu zwei schmalen Strichen zusammengepresst. Als habe er ihren Blick gespürt, wandte er einen Moment lang den Kopf zu ihr – finster das Gesicht. Seine Augen waren dunkel wie nie zuvor. Dann blickte er wieder nach vorne; konzentriert, als wolle er sich kein Wort entgehen lassen, obwohl er doch gar nicht viel Neapolitanisch verstand.
Das Rauschen in ihren Ohren übertönte die Stimmen vor der Richterbank. Sie senkte den Kopf und ließ die Tränen auf ihren Rock tropfen.
Der Mann, der eben im Zeugenstand saß, sprach ein ganz ungepflegtes Neapolitanisch. Einmal ging ein Lachen durch den Zuschauerraum. Als sie deshalb aufblickte, zog Alexandre die Augenbrauen hoch, und sie wurde gewahr, dass sie nicht zugehört hatte.
Der nächste Zeuge wurde aufgerufen; wie lange sollte das noch gehen? Einmal schluchzte jemand voller Empörung: Stefania. Mirella hatte überhaupt nichts mitbekommen von dem, was dort vorne geschah.
Benommen blickte sie hoch, als der Richter wieder einmal klopfte. Die Geschworenen stiegen von ihren Plätzen und gingen hinaus.
Alexandre berührte ihren Arm; sie hatten aufzustehen.
„Ihr solltet Eurem Vater sagen, dass die Beratung begonnen hat.“ Seine Stimme war sachlich, ohne jeden Ausdruck.
Sie fröstelte. „Wie lange wird es dauern?“
Er blickte zu der Tür, durch die das Gericht den Saal verließ. Eben wurde auch Dario von zwei Soldaten hinausgeführt. So wie sie ihn gepackt hatten, war er nicht in der Lage, sich alleine auf den Füßen zu halten.
„So lange, bis sie sich einig sind.“
Angst und Entsetzen schnürten ihr die Kehle zu.
„Ihr könnt nichts mehr tun. Nur noch warten.“
Sciacciavento trat auf sie zu. Er musterte Alexandre, als wolle er erraten, was er von ihm zu erwarten hatte.
„Der Marquis de Montmorency – dottore Sciacciavento.“ Sie krächzte.
„Wir kennen uns.“ Der avvocato sah plötzlich wütend aus.
Mirella erschrak. „Was habe ich falsch gemacht?“
„Nichts; Sie hat getan ...“ Er packte sie am Ellenbogen. „Komm, Mädchen. Ihr Vater wartet. Ich werde erfahren, wann die Sitzung wieder aufgenommen wird.“ Er schob sie hinaus.
Ihre Nackenhärchen stellten sich auf; blickte Alexandre ihr nach?
Enzo saß, die schluchzende Rita an sich gedrückt, starr und kerzengrade im Flur auf einer Bank. Er ließ sie los, als der avvocato auf ihn zutrat. Seine Lippen zuckten, als wolle er eine Frage stellen.
„Kommt.“ Scacciavento blickte mürrisch auf Rita.
Alexandre ging an ihnen vorbei; grußlos, ein finsterer Blick auf den Verteidiger. Gab er dem die Schuld für ihren Meineid?
Mirella senkte beschämt den Kopf und sah den Tränen zu, die vor ihr auf den Boden fielen.
Als sie wieder aufsah, stand Alexandre noch an der Tür; er war von dem Comte de Modène aufgehalten worden. Er sagte etwas und de Modène kreuzte den Blick mit ihr.
Nachdem Alexandre gegangen war, kam er zu ihnen. Er reichte Rita die Hand und hatte ein kurzes Lächeln für Mirella; dann warf er einen wachsamen Blick auf den Verteidiger. „Ich habe gehört, dass Ihr sehr mutig wart, Signorina. Gewiss wird man Euren Bruder freisprechen.“ Dabei warf er einen weiteren Seitenblick aus zusammengekniffenen Augen auf den Verteidiger. Etwas war nicht richtig; was stimmte nicht zwischen dem avvocato und den Franzosen?
Als de Modène dann die Tür zum Richterzimmer öffnete, hielt er ein Papier in der Hand, auf dem das Siegel des Dogen prangte.
„Kommt, Signori. Hier können wir uns nicht unterhalten.“ Scacciavento winkte sie mit mürrischem Gesicht nach draußen. Er ging ihnen voraus zu einer Trattoria zwei Straßen vom Gericht entfernt und hielt ihnen die Tür auf.
Mirella blieb stehen. „Wir können doch jetzt nicht ...“
Scacciavento wedelte ungehalten mit der freien Hand. „Die Gerichtsdiener wissen, wo sie mich finden. Und die Geschworenen essen jetzt auch. Sie sieht, wann das Geschirr zurückgebracht wird.“ Er wies auf zwei Bedienstete, die ein Wägelchen mit Tellern und Töpfen am Schanktisch vorbei schoben.
Mirella folgte an den Tisch und blickte sich um. Die Gäste an den meisten Tischen schienen ihr unter den Zuschauern im Gericht gewesen zu sein. „Ich bezweifle, dass wir uns hier unterhalten können.“
„Worüber möchte Sie reden, Signorina. Sie hat getan, was Sie konnte.“
Mirella atmete durch. „Meint Er das wirklich, dottore?“
„Im Gegensatz zu vielen anderen Leuten meine ich immer, was ich sage!“ Er winkte einen Kellner herbei und band sich unelegant die große Serviette um den Hals.
Erst zwei Stunden später brachten die Gerichtsdiener das Geschirr wieder zurück. Aber niemand kam, um dem avvocato zu sagen, dass die Sitzung wieder eröffnet würde. Scacciavento bestellte ein zweites Dessert aus struffoli und löffelte es geräuschvoll in sich hinein, als habe er nicht soeben ein komplettes Menü gegessen. Dann lehnte er sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch. „Signor Scandore, ich danke Ihm für das vorzügliche Mahl.“ Natürlich, Enzo musste alles bezahlen.
„Es ist mir ein Vergnügen“, murmelte Enzo . „Doch wenn Er nun endlich ...“
„Wir gehen in Berufung, das ist doch klar. Noch geben wir die Sache nicht verloren!“ Er winkte dem Kellner, ihm den Kaffee zu bringen. „Allerdings ...“
Unter dem Tisch presste Mirella die Knie aneinander, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Mittlerweile fand sie diesen Menschen unerträglich. Nur der warnende Blick des Vaters hielt sie davon ab, herauszuplatzen: Es war Enzos Sache, das Gespräch zu führen.
„Was hat man denn Dario heute nachgewiesen?“
„Nachgewiesen, Signor Scandore? Darauf kommt es nicht an. Er hat sich verdächtig gemacht!“
„Aber das ist absurd!“ Enzo schwollen die Stirnadern. „Mit einem Essen in einem öffentlichen Gasthaus!“
„Nein.“ Der avvocato lehnte sich zurück und rülpste, immerhin hinter vorgehaltener Hand. „Warum konnte er nicht sagen, dass er ein Brautkleid für die Signorina bestellen wollte? Was sollte das schaden? Sie ist doch schon kompromittiert.“
„Kompromittiert?“ Mirella wollte den Mund nicht mehr halten. „Was fällt Ihm ein!“
„Ja, was soll man denn davon halten, Signorina, dass Sie diese unselige und nun überflüssige Verlobung nicht aufgegeben hat? Das kann doch nur heißen ...“
„Was?“ Mirella zischte wütend. „Sprech Er es nur aus, wenn Er es wagt.“
Scacciavento blitzte sie ebenso zornig an. „... dass es Grund gibt zu glauben, Sie hielte sich für untragbar für einen ehrenhaften Mann.“
„Aber Mirella!“ Dass Rita sich einmischte, konnte sie jetzt wahrhaftig nicht gebrauchen; sie funkelte sie an. Rita zog den Kopf zwischen die Schultern und blickte hilflos zu Enzo.
Mirella reckte sich. „Der Herzog de Toledo d’Altamira y Leon“, einen Moment lauschte sie dem Klang hinterher, „hat mich nicht angerührt. Felipe ist ein Grande Spaniens – ein Mann der Ehre.“
„Nun, man schätzt die Spanier hierzulande nicht mehr. Und niemand kann sich einen anderen Grund denken, warum Sie einen Feind der Republik heiraten will.“
Mirella zitterte vor Wut; sie sprang auf und stellte sich mit blitzenden Augen vor ihn hin.
„Mirella!“ Enzos Tadel ließ sie zu Verstand kommen.
Dürfte sie diesem Scheusal doch nur sagen ... Sie setzte sich wieder und schloss die Augen. Sie wollte Felipe überhaupt nicht mehr heiraten. Zu spät; schlagartig verrauchte ihre Wut. Sie sank zusammen. Nun gab es tatsächlich keinen anderen mehr – jedenfalls diesen einen nicht. „Liebe“, flüsterte sie. Mutlos und erschöpft kämpfte sie einen Moment mit den Tränen, bevor sie den avvocato wieder anblickte. Seine Mundwinkel hingen herunter und drückten all seine Missbilligung und Verachtung aus. Flüchtig fragte sie sich wieso, da er doch anscheinend auch mit den Franzosen nicht gut stand. „Ich liebe ihn.“
Der Klang ihrer Worte stand einen Augenblick über dem Tisch. Er hörte sich gut an und Rita nickte beifällig. Mirella hatte überzeugend geklungen, denn sie hatte nicht Felipe vor Augen gehabt, sondern Alexandre. Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen.
„Nicht weinen, Kind“, sagte Rita. „Es wird alles gut.“
Ein Gerichtsdiener kam an ihren Tisch. „Dottore, das Hohe Gericht tritt wieder zusammen.“
Mirella starrte den Mann durch ihren Tränenschleier an. „Das ist schlecht, nicht wahr, dass sich die Geschworenen so schnell einig sind.“
Scacciavento tätschelte ihre Hand, bevor er aufstand. Was bildete der sich eigentlich ein, dass er es wagte, sie so anzufassen? „So leicht geben wir uns nicht geschlagen.“ Dieser Mann hatte zwei Gesichter und nun hatte er das öffentliche Gesicht wieder hervorgekehrt.
Enzo erhob sich ebenfalls. „Es ist besser, wenn ihr hier wartet.“
Rita wirkte plötzlich entschlossen. „Nein. Vielleicht ist es das letzte Mal ...“ Ihre Stimme versagte und Enzo reichte ihr seine Hand.
Mirella blieb sitzen und sah ihnen ratlos hinterher. Sie fürchtete, Alexandre wiederzubegegnen, obwohl er eigentlich keinen Grund für seine Anwesenheit hätte ... Doch das hatte schon am Morgen gegolten: Wieso war er überhaupt dort gewesen? Und der Comte de Modène – war er zufällig mit einem Befehl des Dogen aufgetaucht; mit etwas, das nichts mit dem Prozess zu tun hatte? De Guise war dieser Prozess wichtig – galt das auch für den Ausgang? Aber nicht der Richter entschied, sondern die Geschworenen. Wenn sie Dario köpfen wollten ...
Sie sprang auf; sie musste wissen, was sich dort abspielte. Vielleicht konnte sie noch etwas tun. Und wenn sie dafür Alexandre unter die Augen treten müsste – was er von ihr dachte, zählte jetzt nicht mehr. Er würde ihr die Wahrheit sagen, auch wenn er sie nun verachtete.
Gerade, als Mirella den Saal betrat, kehrte das Hohe Gericht zurück. Der Bedienstete an der Tür hieß sie, still zu stehen, bis der Richter und die Geschworenen Platz genommen hatten.
Mirella nutzte den Moment, um sich umzusehen. Doch sie suchte nicht nach einem freien Platz; in Wahrheit suchte sie nach Alexandre. Er war tatsächlich wieder da. Sie würde ihn fragen, was das zu bedeuten hatte – und er würde es ihr sagen.
Enzo und Rita saßen ganz weit vorne unter den Zuschauern; eine Bankreihe nur trennte sie von Dario und dem avvocato.
Neben Stefania gab es einen freien Platz; sie sollte sich zu ihr setzen und sie nicht allein lassen mit ihrem Kummer. Aber ihr war selber elend zumute wie nie zuvor in ihrem Leben. Alexandre saß wieder am äußeren Rand einer Bank, einen Fuß in den Gang ausgestreckt. Der Gedanke an seine Wärme zog sie an. Doch angesichts des freien Platzes neben Stefania konnte sie ihn schlecht bitten, zur Seite zu rücken. Sie mochte sich nicht entscheiden und blieb einfach stehen.
Der Richter schlug mit seinem Hämmerchen und das Gemurmel erstarb. Mirella schob die Fäuste unter ihre Achseln und drückte die Arme an den Körper; trotzdem zitterte sie weiter.
Der Richter forderte Dario auf, sich zu erheben und Dario wurde von seinen Wächtern hochgezogen.
Dann brachte einer der Geschworenen dem Richter ein gefaltetes Blatt Papier. Umständlich rückte er seinen Zwicker zurecht. „Die Geschworenen haben mir nach der Mittagspause zu verstehen gegeben, dass sie zu keinem einstimmigen Urteil kommen können. Dennoch erfordern die Umstände, eine Entscheidung zu treffen.“
Mirella stöhnte auf. „Nein!“
Alexandre wandte sich nach ihr um. Er nickte ihr zu; mit einem kleinen Lächeln in den Augen, das sie nicht begreifen konnte.
Der Richter blickte zornig in ihre Richtung. „Ruhe!“ Er faltete das Papier auseinander und zählte mit dem Finger die Namen darauf. „Sieben – schuldig.“
Hatte Alexandre nicht gesagt, das Urteil müsste einstimmig sein? Hätten sie nicht weiter beraten müssen? Durften sie Dario hinrichten? Mirella hielt den Atem an, um der aufsteigenden Hoffnung keinen Raum zu geben.
„Fünf – nicht schuldig.“ Der Richter klopfte gegen die Unruhe an, die sich im Saal ausbreitete. „Angesichts der besonderen Umstände ...“ Was meinte er nur immer damit? Sie hätte ihn umbringen können, als er eine Pause machte, das Papier dem Gerichtsschreiber hinhielt und wartete, bis der es zu den Akten genommen hatte.
Der Richter blickte Alexandre an, während er weitersprach ...
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Texte: Annemari Nikolaus
Bildmaterialien: Annemarie Nikolaus
Cover: Jasmin Weigelt
Tag der Veröffentlichung: 09.04.2012
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