In der Mitte der Stallgasse kniete ein Stallbursche mit einem Korb voller Zistrosen. Eine Blüte nach der anderen reichte er dem Ratsherrn.
Margoro zupfte die Blätter ab und fütterte einen grünen Laufdrachen damit; das mächtige Tier verschlang sie laut schnurrend. "Friss nicht so hastig, Katran! Es sind die letzten in diesem Jahr."
"Herr ...", klang die brüchige Stimme des Hofmeisters Yawani am Tor. "Ihr solltet den Renndrachen welche geben. Schließlich ..."
"Was sorgst du dich? Einer von ihnen hat noch immer gewonnen!" Ein kupferfarbener Renndrache schnaubte zornig und trat mit einer Tatze gegen die Stallwand, als Yawani näher trat und seine Gestalt das Sonnenlicht verdeckte. "Ihr könnt nicht alle zehn antreten lassen."
"Kann ich nicht?" Margoro schleuderte Yawani die schwere Ratskette ins Gesicht. Die scharfkantigen Kristalle des Stadtwappens von Kruschar hinterließen einen blutigen Schnitt auf Yawanis Schläfe. "Heb sie auf!"
Yawani schob sein steifes Bein nach hinten, um sich weit genug zu bücken, dass er die Kette aufheben konnte. "Wenn Euch all dies so zuwider ist, Herr, warum bewerbt Ihr Euch dann erneut um das Amt des Ratsherrn?"
"War es nicht dein Vorschlag, meine Geschäfte auf diese Weise unantastbar zu machen?" Margoro wedelte ungeduldig mit beiden Händen, als Yawani ihm die Kette reichen wollte.
"Ihr habt niemanden mehr zu fürchten außer dem Heiligen."
"Und darum muss ich gewählt werden: Nur der Rat kann dem Treiben der Priestern Aharons Einhalt gebieten." Mit der nächsten Blüte ging Margoro zum kupferfarbener Drachen und winkte dem Stallburschen, ihm zu folgen. "Verteil sie gerecht."
Er ließ die Blüte in die Box fallen und schritt zum Tor. Nach ein paar Schritten auf dem Kies erreichte er den marmorgepflastertern Weg zum Wohnhaus. Dort blieb er stehen, bis Yawani ihn einholte.
"Ich warte auf den Tag, an dem sie einer angesehenen Heilerin den Prozess machen und das Volk dagegen rebelliert." Er kicherte. "Vielleicht sollte ich ein wenig nachhelfen."
"Es würde auffallen, wenn einer unserer Leute den Anfang macht. Damit ginget Ihr selber ein Risiko ein."
"Mein braver Yawani." Margoro lachte schallend. "Doch nicht beim Anzetteln des Aufstands." Er schob die Hände in die weiten Ärmel seines Gewandes und ließ Yawani die Haustür öffnen.
Yawani folgte ihm durch die Eingangshalle. "Man hört, der Heilige habe die Fenster zweier Tempel, die auf Passhöhen liegen, mit Glasmosaiken wetterfest machen lassen."
"Warum hat er das Glas nicht in unseren Werkstätten erworben?" Margoro packte Yawani an der Schulter. "Warum erfahre ich das erst jetzt?"
"Herr, Eure Werkstatt in Adhrar konnte nicht liefern. Eine große Menge gefärbtes Fensterglas war gerade nach Thannes Lane verschifft worden."
"Dann hätte es zurückgeholt werden müssen!"
"Unmöglich! Nur die Elfen, denen Wind und Meer gehorchen, vermögen mit ihren wendigen Schiffen die schweren Schoner einzuholen."
"Und die Piratin mit ihrer Brigantine!" Er zerrte an seinem rechten Ärmel. "Wo ist sie überhaupt?"
"Sie ist die beste Seefahrerin von allen."
"Das ist keine Antwort."
"Sie wird schon rechtzeitig kommen, Herr." Yawani griff nach der verspiegelten Karaffe auf dem Tisch und schenkte einen prunkvollen Kelch halbvoll. Er reichte ihn Margoro. "Verschmäht Ihr heute Euren Schlaftrunk? Er ist aus dem hoch wachsenden Schilfgras gebrannt, das an den Stränden von Belascha wächst."
Margoro steckte seine Nase in den Kelch und schnüffelte. "Er riecht fade."
"Soll ich Euch den Maniok-Schnaps bringen?"
"Ich will keinen Schnaps; ich will diese Pferde ." Er stolzierte auf und ab, die Schleppe hinter sich am Boden herschleifend wie einen Drachenschwanz. "Es sind keine fünfzehn Sonnenaufgänge mehr bis zum Herbstfest."
"Ich hatte euch geraten, lediglich eine große Überraschung anzukündigen. Aber Ihr musstet Euren Plan, die Drachen gegen diese fremden Tiere antreten zu lassen, ja überall verkünden."
"Wie hätte ich es sonst ohne das Einverständnis der anderen Rennställe durchsetzen können?"
Yawani holte tief Luft, aber dann schien er sich eines anderen zu besinnen und gab keine Antwort. Margoro hatte ihn im Verdacht, dass er an diesem Abend den Widerspruch gepachtet hatte.
Er griff nach dem Schilfgrasbrand und trank den Kelch in einem Zug leer. "Wenn dieses Rennen nicht stattfindet, bin ich blamiert. "
"Auch dann, Herr, wenn diese Pferde deutlich verlieren sollten. Es sei denn, Ihr machtet eine Komödie daraus, um die Arroganz der Festländer vorzuführen."
"Ein amüsanter Gedanke."
Er hielt Yawani den Kelch hin und der Hofmeister schenkte nach. "Wichtiger, Herr, ist, dass die Macht des Heiligen nicht überhand nimmt."
"Noch brauche ich ihn. Es gefällt mir sehr, wie er mit seinen Hexenjagden die Macht der Gilden bedroht. Die Architektinnen und die AstroSienominnen müssen ihre Geheimnisse offen legen, um zu beweisen, dass es nicht Hexerei ist, sondern Wissen, dass jeder erlernen könntekann.“
„Um die Architektinnen Baumeisterinnen und die Astronominnen brauchen wir uns nicht zu kümmern. Wir brauchen das Das Wissen der Alchemistinnen brauchen wir: Dann läge die Herstellung des Glases ganz in Euren Händen.“
"Und mit dem Geheimnis des Feuerpulvers könnte ich eine Armee ausrüsten, die auch mit gläsernen Waffen unbesiegbar wäre."
"Ihr braucht keine Armee, die für Euch kämpft, sobald Ihr die Macht in allen Städten des Nordens habt."
Margoro kniff die Augen zusammen. "Ich will die ganze Insel. Und ich will den Königstitel von Dhaomond."
"Dann müsst Ihr gemeinsam mit den Priestersoldaten Aharons die Rebellen besiegen."
Margoro schüttelte den Kopf. "Nicht gemeinsam, mein Guter. Ich warte, bis die Arbeit erledigt ist." Er trank den Kelch leer und rülpste genussvoll. "Aber eins nach dem anderen. Wann kommt nun diese Piratin?"
"Noch nie ist einer zum König gewählt worden, der nicht in irgendeiner Weise mit dem Hohen Haus verbunden war."
"Dann such mir eine passende Frau." Margoro breitete die Arme weit aus. "Bin ich nicht reich genug, um eine Prinzessin mit allem auszustatten, was ihr Herz begehren könnte?"
Margoros Yawanis Blick schien schon wieder Missbilligung auszudrücken.
Nanja griff nach dem nächstbesten Enterhaken und schlug zu. Der Matrose krümmte sich vor Schmerz und sank auf die Knie.
„Das nächste Mal denkst du erst nach.“ Sie ließ den Enterhaken fallen und winkte zwei Männern, ihm wieder auf die Beine zu helfen.
Als sie an den Pferden vorbeiging, keilte eines aus und schlug mit den Hinterhufen gegen die hölzernen Streben, die den Unterstand begrenzten. Sie wich unwillkürlich zurück.
„Du bist ja ein ganz Gefährlicher!“ sie ging um da Gatter herum und trat erst an der gegenüberliegenden Seite näher an die Pferde.
„Ruhig, du Schöner; ganz ruhig!“ Sie sprach laut; Pferde schienen nicht Gedanken zu lesen wie die Drachen ihrer Heimatinsel. So wie sie es auf einem Markt der Sabienne gesehen hatte, streckte sie die Hand flach über das Geländer. Das männliche Tier - Stallone nannten ihn die Sabienne - warf noch einmal den Kopf und schnaubte, doch dann kam es neugierig heran und schnupperte. Sein Maul war viel weicher als das ihres Flugdrachens. Auch eines der weiblichen Tiere reckte seinen Kopf über den Zaun. Ein Sonnenstrahl auf seinen Rücken. Obwohl das Fell pechschwarz war, schimmerte es im Licht wie die silbernen Schuppen Tirumans. Fasziniert beobachtete Nanja die Reflexe. Vorsichtig legte sie die Hand auf den Hals der Cavalla. „Gibt man euch eigentlich auch Namen? Und hört ihr darauf wie unsere Drachen?“ Das Pferd legte seinen Kopf auf ihre Schulter und sie kraulte es hinter den Ohren, wie sie es mit Tiruman tat. Aber die Cavalla schnurrte nicht.
Achselzuckend ging sie zum Steuermann auf die Brücke.
Mit der Pfeife im Mundwinkel quetschte Sitaki seinen üblichen Kommentar hervor. „Kapitänin, lass die Männer leben; ganz kommst auch du nicht ohne sie aus.“
„Dieser Ron ist jetzt drei Wochen an Bord; er sollte inzwischen begriffen haben, worauf es ankommt. Der taugt bloß, um diese Pferde zu hüten. – Landratte!“
„Warum schlägst du ihn dann, wenn er sie tränkt?“ Er blinzelte gegen die aufgehende Sonne zu den Segeln hoch, die bewegungslos an den Masten hingen. „Es wird genauso heiß und windstill wie gestern.“
„Eben. Das Wasser wird knapp..”
„Was will Margoro eigentlich mit den Pferden?“
„Seit wann denkt ein Adliger darüber nach, wozu er etwas braucht? Hauptsache, er hat es.“
„Hast Recht. Kann uns auch egal sein, so lange wir unser Geld kriegen.“
„Deswegen müssen wir sie bald an Land bringen.“ Sie sah zu dem Unterstand hinüber, den sie im Heck der Brigantine für die Tiere errichtet hatten. „Schöne Tiere eigentlich. Anmutiger als die Drachen.“
„Spielzeug.“ Sitaki hielt die Pfeife fest und zog deutlich die Mundwinkel nach unten.
Nanja lachte. „Puste ein bisschen mehr, mein Alter.“ Sie klopfte ihm auf die Schulter.
Neben der Luke zum Laderaum stand Ron und ließ sich einen Ballen Heu hochreichen. Er trug kein Hemd; der Enterhaken hatte einen blutunterlaufenen Abdruck unterhalb seines Brustkorbs hinterlassen. Für die nächsten Tage würde er sich an ihren Schlag erinnern.
Er schleuderte den Ballen in Richtung Unterstand und Nanja wurde in eine Staubwolke gehüllt; sie hustete. Vielleicht musste er doch noch etwas lernen.
„Verzeiht, Kapitänin.“ Immerhin. - Er brachte das Futter ans Gatter und sprach leise mit einer der Cavalla, die ihren zierlichen Kopf auf seinen Arm legte.
Nanja lächelte; das weiße Pferd und der schwarzhaarige Mann ergaben ein Bild wie aus einer alten Legende. „Wie schön sie sind. Fast so schön wie Tiruman.”
Ron sah auf, offensichtlich überrascht, dass sie ihn ansprach. „Wer ist das?”
„Mein Drache.”
„Ich habe noch nie einen Drachen gesehen: Auf dem Kontinent gibt es keine.”
„Sie sind viel größer als die Pferde. Und sie haben einen Panzer statt des Fells. Aber die silberfarbenen Schuppen der Flugdrachen schimmern in der Sonne genauso wie das Fell der schwarzen Pferde.”
Das Wasser stank nach moderndem Holz und schmeckte brackig. Angewidert stellte Nanja den Becher nach einem Schluck beiseite. Sie öffnete das breite Kajütenfenster, damit sich die Hitze nicht staute. Nicht immer war es von Vorteil, dass sie es hatte verglasen lassen.
„Brigg an Luv“, ertönte es vom Ausguck. Sie eilte an Deck.
Bald darauf tauchte das Schiff am südlichen Horizont auf. Der Dem Fockmast sah seltsam kurz ausfehlte die Spitze und die Rahsegel hingen in Fetzen. Entweder war es in schweres Wetter geraten oder in ein Gefecht.
„Setz die Flagge von Kruschar“, befahl Nanja dem Maat. Der zog die Brauen hoch, aber sagte nichts.
Sie ging zu Sitaki. „Vielleicht brauchen sie Hilfe.“
„Die kommt allemal zu spät.“ Sitaki hob die Schultern. „Wir sollten uns Riemen zulegen!“
Nanja xx „Und wer soll die bedienen? Hast du schon einmal einen freien Mann rudern sehen?“
„Menschen nicht, aber Elfen.“ Der Steuermann schüttelte den Kopf.
„Deine Pfeife ist ausgegangen.“ Nanja winkte den Maat heran. „Lass alle Segel setzen. Es wird ja wohl mal der eine oder andere Windhauch kommen.“
Farwo rührte sich nicht. „Unser Ziel liegt im Westen.“
Nanja explodierte. „Bist du taub und blind? Setz die Segel!“
„Denen dort nützt es nichts und wir sind bald selber in Not.“
„Eine lohnende Prise ist es allemal“, wandte Sitaki ein und änderte den Kurs.
Mit der vollen Besegelung gelang es Sitaki, jeden Fetzen Wind zu nutzen. Dennoch kostete es sie einen halben Tag, die Brigg zu erreichen. Die Piraten standen an der Reling und starrten hinüber. An Deck gab es keine Bewegung, aber am Ruder stand eine kleine Gestalt.
„Ein Kind“, rief jemand verblüfft.
Nanja kniff die Augen zusammen. „Ein kleines Mädchen!“ Es reichte kaum bis zur Oberkante des Ruders.
Mit einem Dutzend Männer enterte Nanja die Brigg. Sie mussten über wirr herumliegendes Tauwerk steigen und eine zerfetzte schwere Leinwand beiseite räumen, um die Decksluke zu öffnen. Fauliger Gestank schlug ihnen entgegen.
Während die Piraten hinunter stiegen, ging Nanja zu dem Mädchen: Das Ruder war festgebunden und ließ sich nur wenige Finger breit bewegen; die Kleine hielt sich mehr daran fest als es zu bedienen.
Sie strich sich die dunklen Haare aus den Augen. „Ich habe nicht mehr gewusst, was ich tun soll.“
Nanja ging in die Hocke und legte den Arm um das Mädchen. „Wie heißt du? Was ist hier passiert?“
„Ich bin Lastella.“
Ein Elfenname. Das Mädchen konnte hatte ihre Gedanken gelesen und sie daher so unaufgeregt begrüßenbegrüßt. Schon nach den ersten Worten hatte sie es vermutet. „Was ist passiert?“, wiederholte sie. „Warum bist du allein hier oben?“
Lastella biss die Zähne zusammen; in ihren Augen glitzerten Tränen.
„Magst du es mir nicht erzählen?“
„Sie sind alle unter Deck.“ Sie sprach leiser und leiser. „Vater ist gestorben und bald darauf die anderen auch.“ Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und blickte sich aus den Augenwinkeln um. Plötzlich wirkte sie verängstigt. „Dämonen haben sie in Besitz genommen.“
Nanja begann zu ahnen, was sich abgespielt hatte. „Haben Sie sich gegenseitig umgebracht?“
„Seitdem warte ich darauf, dass ein anderes Schiff kommt. Wir sind so weit weg von cxc; niemand weiß etwas.“
„Du meinst, deine Gedanken haben keine Antwort gefunden?“
Lastella schüttelte den Kopf. „Es ist zu weit.“
„Wir bringen dich nach Hause“, versprach Nanja.
„Wer bist du?“
Nanja lächelte. „Ich bin die Piratin.“
„Dann kennen sich unsere Väter.“
„Aber jetzt sind sie beide tot.“
„Deiner auch?“ Lastella schluckte; dann legte sie ihre Hand auf Nanjas Arm. „Das tut mir Leidleid.“
Die Piraten stiegen einer nach dem anderen wieder an Deck und Nanja ging zu ihnen hinunterhinüber.
Farwo kam als Letzter letzter die Treppe hoch. „Dort unten liegen zehn tote Männer. Die meisten haben schwere Verletzungen, die nicht versorgt worden sind. Aber zwei sind unversehrt.“
Nanja nickte. „Dann fehlt der größte Teil der Mannschaft. Lastella spricht von Dämonen. „Bevor wir nach Kruschar zurückkehren, bringen wir sie nach Dhaomond.“
Ron starrte das Mädchen an. „Sie ist eine Elfin?“
„Und die Ladung?“
Farwo grinste breit. „Äxte, Schwerter; Lanzen. Metall, so viel du willst.“
„Bringt das Zeug rüber. Ich weiß, wen wir damit glücklich machen. Die Brigg nehmen wir nach Kruschar mit.“.“
Fünf Männer blieben auf der Brigg, um sie zu manövrieren. Die anderen kehrten mit Nanja und Lastella auf ihr Schiff zurück.
Bis zum Abend dümpelten die beiden Schiffe in der Windstille. Nicht eine Wolke, die Hoffnung auf eine Wetteränderung bot.
Lert kam mit finsterem Gesicht aus seiner Kombüse. „Kann ich Wasser zum Kochen haben?“
Sitaki nahm seine Pfeife aus dem Mund. „Wie viel haben wir noch?“.
„Für vier Tage– wenn ihr endlich aufhört, die Pferde zu tränken. Vielleicht bringst du den Kahn bald irgendwo an Land.“
Nanja fuhr hoch. „Wenn wir sie nicht lebend nach Kruschar bringen, war die Fahrt umsonst.“
„Lass die Männer wählen“, riet Sitaki.
Meinte er das im Ernst? War wohl so. Eine Antwort war überflüssig; (sie erhob sich)..
„Was ist jetzt mit dem Wasser?“, rief Lert ihr hinterher.
Auf der Treppe drehte sie sich kurz um. „Koch uns was Ordentliches.“
Auf halbem Weg blieb sie an der Reling stehen und sah zur Brigg hinüber. Ron hatte ihr nicht gesagt, wie viel Wasser es dort noch gab. Vielleicht war es genießbar. Sie musste herausfinden, warum Lastella nicht wie die anderen krank geworden war.
Das Elfenmädchen stand am Gatter und sprach leise mit dem Stallone. Als Nanja näher trat, sah sie ihr entgegen. „Wir brauchen Wind, nicht wahr? Und die Pferde haben großen Durst.“
„Die Menschen auch. Aber so lange wir nicht wissen, wie lange wir hier noch festsitzen, müssen wir sparen.“
Lastella deutete zum Heck. „Auf unserem Schiff gibt es noch viel Wasser.“ Wieder hatte das Elfenmädchen ihre Gedanken gelesen.
„Aber kann man es denn trinken?“
Lastella riss die Augen auf. „Was soll damit sein?“
„Warum sind alle krank geworden, aber du nicht?“
Die Elfin kniff die Augen zusammen, während sie den Stallone weiter streichelte.
Nanja sprach weiter. „Es kann eigentlich keine ansteckende Krankheit gewesen sein. Eher wahrscheinlich das Essen oder Trinken. Was haben alle anderen zu sich genommen und du nicht?“
„Aber getrunken habe ich doch.“ Lastella legte ihr Gesicht an den Pferdehals. Als sie Nanja wieder ansah, standen Tränen in ihren Augen. „Vater ...“ Sie fing mit der Zunge eine Träne auf, die über ihr Gesicht rollte. „Ich mochte das ekle Wasser nicht. Da hat Vater Tee gekocht, damit ich das Wasser nicht mehr schmeckte. Dann habe ich nur noch den getrunken.“
Die Piratin nahm das Mädchen in den Arm. „So hat dein Vater dir das Leben gerettet. Vielleicht ist hinterher mit dem Wasser etwas passiert; das kommt vor auf einem Schiff.“
„Du meinst, jemand hat das Wasser vergiftet? Aber dann hätte er doch nicht selber davon getrunken.“
„Kluges Mädchen.“ Nanja strich ihr übers Haar. „Nicht absichtlich, weißt du. Vielleicht ist dem Koch ein verdorbenes Lebensmittel hineingefallen. Und er hat es nicht gemerkt. Oder gedacht, es wird kein Problem geben.“
„Jedenfalls, wir haben nicht genug Wasser.“ Lastella betrachtete die Pferde. „Wie schön sie sind. Fast so schön wie Baldra.“
„Ist das dein Drache?“
„Ja.“ Zum ersten Mal leuchteten die Augen der Elfin. „Wir sind zusammen aufgewachsen und ich habe sie ganz allein gezähmt. Sie ist so alt wie ich.“
Nanja lächelte. Für einen Augenblick schien das Mädchen seinen Kummer vergessen zu haben. „Wie sieht sie denn aus?“
„Sie ist ein zweifarbiger Laufdrache. Der Bauchpanzer ist rosa, das an den Flanken immer dunkler wird bis es ins Lila des Rückens übergeht. Vater meinte, ich sei noch zu klein zum Fliegen. Nächstes Jahr wäre ich groß genug, einen Flugdrachen zu bekommen.“
„Cavalla nennt man die weiblichen Pferde“, unterbrach Nanja sie.
„Und die Männchen?“
„Stallone.“
Die Elfin nickte, als wäre es nicht neu für sie. „Jedenfalls, mit Baldra kann ich mich besser unterhalten als mit den Pferden. Sie versteht jedes Wort. Die hier sind dumm; sie wissen nicht einmal, wie sie heißen.“
Nanja lachte vergnügt. Die Kleine war wirklich zauberhaft. Und sie war die Tochter Loperos. Den Elfenfürst würden sie im Meer versenken müssen, wenn die Hitze anhielte und sie nicht endlich an Land kämen. „Die Pferde sind wertvoll für uns“, erklärte sie. „Aber zuerst kommen wir Menschen. – Und du natürlich. Ich wollte sagen, die Tiere kommen an zweiter Stelle.“
„Weil sie dumm sind?“
„Nein, nicht deshalb.“
„Warum? Ich würde meinen Drachen nie dursten lassen; eher würde ich selber verzichten.“
‚Ich auch’, dachte Nanja und staunte über sich. „Das ist eine sehr philosophische Frage.“
„Warum also? Sie leiden doch genauso wie wir.“
Darauf kannte Nanja nur eine Antwort: „Wenn du nicht selber achtsam mit dir umgehst, wird es auch niemand anders tun.“
Lastella schüttelte den Kopf. „Mein Vater hat immer für mich gesorgt.“
„Aber deine Mutter hat dich verlassen. Sie hätte besser auf ihr Leben Acht geben müssen.“
„Sie hat doch die Drachenbrut beschützen müssen.“
„ „Ich habe auch einen Drachen“, erzählte sie. „Er ist noch ziemlich klein, aber er kann schon ein bisschen fliegen.“
„Hast du ihn selbst gezähmt?“
„Nein, das können wir Menschen doch gar nicht. Einer von euch hat mir geholfen. Aber das Ei habe ich den Söldnern von Dhaomond abgejagt.“ Sie kicherte bei der Erinnerung daran.
„Und darum durftest du den Flugdrachen behalten.“ Lastella nickte.
„Genau. Ich glaube, er sieht mich als seine Mutter oder so was.“
“Dann darfst du ihn nicht lange allein lassen; Drachen werden krank, wenn sie Sehnsucht haben, weißt du? Wie heißt er?“
Nanja zog die Brauen hoch. „Tiruman. Aber du? Wie lange hast du Baldra jetzt allein gelassen?“
Lastella seufzte. „Viel zu lange. Wer weiß, wie lange wir schon zurück sein wollten!“ Sie senkte den Blick. „Ich habe vergessen, die Tage zu zählen.“
Nanja drückte das Mädchen fest an sich. „Jetzt bist du bald zu Haus.“, gab sie sich zuversichtlich. Für einen Moment vergaß sie, dass Lastella ihre Gedanken lesen konnte.
Als es dämmerte, flitzte Lastella übers Deck. „Nanja, Nanja“, rief sie schon am Fuß der Treppe. Mit hochrotem Gesicht und strahlendem Blick kam sie ans Ruder. „Ich haben eine Antwort gefunden. Sie müssen ganz nahe sein; sonst hätte ich sie nicht gehört.“
„Was hast du gehört?“ Nanja zog sie zu sich auf die Taurolle.
„Viele helle Gedanken im Süden. Dort ist keine Insel, nicht wahr? Dann muss es ein Schiff sein.“
Nanja nickte. „Kannst du sie zu uns holen? Wenn sie den Wind für uns rufen, könnten wir endlich nach Hause.“
Das Mädchen nickte voller Eifer. „Ich versuche es. Aber ich kann es noch nicht gut.“
„Ich dachte, das Gedankenlesen sei den Elfen angeboren. Ihr müsst es erst üben?“
„Ja.“ Das Mädchen errötete und blickte zu Boden.
„Du wirst es schon schaffen!“
Schon nach einer Stunde tauchte die Spitze eines veilchenfarbenen Lateinsegels am Horizont auf. Die Härchen in Nanjas Nacken stellten sich auf; immer noch war für sie die Begegnung mit einem Elfenschiff mit einem Zauber verbunden, für den sie keinen Namen hatte.
Es gab noch immer keinen Wind und dennoch wölbten sich dort die dreieckigen Segel, als wehe eine steife Brise. Wenig später lag die Bark längsseits.
Lastella stand neben Nanja an der Reling, zeigte hinüber und nannte ihr die Namen der Männer. „Sie freuen sich, dir helfen zu können.“ Und sie danken dir für deine Mühen.“
Die Piraten warfen Enterhaken aus, um die beiden Schiffe nebeneinander in Position zu halten. Die Elfen, deren Schiff höhere Aufbauten hatte als die Brigantine, legten zwei breite Planken von Bord zu Bord. Dann kamen zwei hoch gewachsene Elfen zu ihnen herüber. Andere ließen inzwischen ein kleines Boot zu Wasser und ruderten zur Brigg.
„Ich grüße dich, Lastella“, sprach der ältere der beiden. „Gut, dich wohlauf zu sehen.“
Nanja fühlte sich übergangen. „Ich bin die Kapitänin.“
Der Elf lächelte. „Ich weiß.“
Sie kam sich vor, als habe er sie gescholten. Nanja mahnte sich zu Geduld. Gut, dass die Elfen nicht auch die Gedanken von Menschen lesen konnten. Zumindest glaubte sie das wie alle Menschen.
„Ich bin Lovento“, stellte sich der Elf schließlich förmlich vor. „Wir haben genug Wasser an Bord, um mit euch zu teilen.“
„Könnt ihr uns den Wind rufen?“, fragte Nanja.
„Sicher, ihr habt ihn euch verdient. Drei Tage werdet ihr brauchen bis zur nächsten Küste.“ Lovento lächelte wieder. „Doch zuerst werden wir die Leiche Loperos zu uns an Bord bringen.“
Nanja legte ihren Arm um Lastella. „Wir hätten ihn bald versenken müssen. Nun bekommt dein Vater das Begräbnis, das ihm gebührt.“
Bevor Lastella die Brigantine verließ, lief sie noch einmal zu den Pferden. Dann kam sie zu Nanja zurück. Erst gab sie ihr die Hand und deutete dabei einen Knicks an; aber dann schlang sie ihre Arme um Nanjas Taille und presste sich fest an sie. „Wir sehen uns wieder“, stieß sie zwischen Schluchzern hervor. „Pass gut auf dich auf.“ Dann folgte sie Lovento zur Planke.
„Du auch“, rief Nanja hinter ihr her.
Ein leichter Luftzug bewegte . ihre Flagge, die über dem Krähennest hing: einen Augenblick später begann sie zu flattern.
Nanja atmete auf. „Setzt die Segel!“
Die Elfen hatten ihnen eine Wasserration überlassen, die großzügig bemessen war.. Und den Wind ebenfalls. In der Dämmerung des dritten Morgens ragten die Klippen der Baritinen aus dem Dunst, eine karstige Inselgruppe vulkanischen Ursprungs, auf der sich kaum ein paar Moose hielten. Nur zwei von ihnen besaßen eine nennenswerte Vegetation.
Nach einem Blick aus dem Fenster ihrer Kajüte stellte Nanja fest, dass sie noch Zeit hatte für ein üppiges Frühstück.
Die ersten beiden Inseln hatte Sitaki schon hinter ihnen gelassen, als sie an Deck kam.
Zuerst ging Nanja zu den Pferden und überprüfte, ob sie ausreichend gesichert waren. Die Tiere waren von Tag zu Tag nervöser geworden. Zudem hatte sie den Eindruck, dass ihr Fell nicht mehr so glänzte wie zu Beginn der Reise. Sie vermutete, dass sie unter der langen Überfahrt gelitten hatten. Unzweifelhaft brauchten sie Ruhe, bevor sie gegen die Drachen antreten mussten.
Hinter ihr ertönte das Gelächter der Matrosen. Die Männer freuten sich auf das erste Besäufnis in den Hafenkneipen von Kruschar. Doch sie musste sie enttäuschen. Für die Pferde wäre die Stadt kein guter Ort. Die wochenlange Überfahrt vom Kontinent hatte ihnen geschadet und sie brauchten Erholung auf einer Weide, bevor sie gegen die Drachen antreten mussten. Es war klüger, den Tieren ein paar Tage Erholung zu gönnen.
Als sie die Riffs vor der Lagune von Etmos erreichten,lief sie zu Sitaki auf die Brücke. „Kurs zwei Strich Backbord“
Sitaki korrigierte das Ruderund gleich darauf standen die Segel durch den Richtungswechsel weniger am Wind. Schlagartig herrschte Stille auf dem Vordeck.
Farwo sprang die Stufen hoch. „Was ist passiert, Kapitänin?“
„Nichts.“ Nanja lächelte; dann fand sie, dass eine Erklärung nicht schaden würde. „Wenn wir Margoros Perlen für unsere Pferde haben wollen, dürfen wir sie nicht so abliefern. Wir werden sie ein paar Tage hätscheln.“
Farwo warf einen Blick hinunter zu den Piraten. Ein hämischer Zug trat um seinen Mund. „Das sind Matrosen, keine Pferdehirten“, murrte er. Er sprach sehr laut, sodass es die unten Stehenden alle hören konnten.
„Und sie denken jetzt nur noch an Frauen und Alkohol. Ich weiß.“ Sie grinste schadenfroh. „Für beides brauchen sie Geld.“ Die Piraten begannen zu murmeln; einzelne Stimmen wurden schärfer.
Nanja hörte eine Weile zu, während ihr Blick von einem zum anderen glitt. Dann sah sie Farwo an, während sie sprach. “Was wird das?”, rief sie. “Eine Meuterei?”
Sofort kehrte Stille ein. nur noch das Plätschern der Wellen gegen das Schiff war zu hören.
„Also auf nach Ketros; das ist überschaubar.“ Farwo schielte aus den Augenwinkeln aufs Deck „Da brauchen wir nicht groß auf die Tiere aufpassen.“
Sitaki mischte sich ein. „Ketros ist zwar überschaubar, aber wie sollen wir ohne Davit die Pferde dort an Land zu bringen. Es ist ein einziger Sandhügel. Das Schiffsdeck ist gewaltig viel höher als der Strand.“„Wir fahren nicht nach Ketros. Wir laufen Gemona an.“
Sitaki sog hörbar die Luft ein; dann korrigierte er den Kurs ein wenig.
Nanja fuhr fort: „Wir suchen uns eine Klippe, die ungefähr die gleiche Höhe hat wie das Schiff. Dann führen wir die Pferde hinüber.“
„Du bist verrückt“, entfuhr es Farwo.
„Hast du einen besseren Vorschlag?“ Nanja ließ ihn stehen ohne auf die Antwort zu warten.
„Kruschar“, hörte sie ihn knurren.
Nachdem sie die Riffe vor Gemona durchquert hatten, ließ sie die Segel einholen und das Schiff trieb mit der Strömung langsam auf die Südspitze der Insel zu. Die Küste wurde felsiger und steiler.
„Dort“, rief Ron plötzlich und zeigte auf einen Überhang. „Das könnte passen ohne dass wir riskieren, auf Grund zu laufen.“
Nanja wandte sich nach ihm um. „Du hast ein gutes Auge.“
Die letzten Meter übernahm sie selbst das Ruder. Mehr seitwärts als voran fahrend, brachte sie das Schiff es längs der überhängenden Felsen. Auf Höhe einer Felsplatte, die wenig niedriger als ihr das Schiffsdeck war, ließ sie Anker werfen..
Der Abgrund war keine zwei Ruderlängen breit. Es musste einfach gehen.
Die Piraten standen an der Reling und starrten hinüber, als wüssten sie nicht weiter. Nur noch das Plätschern der Wellen gegen das Schiff war zu hören. Dann kam ein Klopfen aus dem Unterstand..
„Die Pferde werden nervös.“ Ron sprang zwei Stufen der Treppe zum Ruder hinauf und drehte sich dann um. „Sie wittern das Land; wir sollten sie so schnell wie möglich von Bord bringen. Man wird sie uns in Gold aufwiegen, wenn wir sie heil nach Kruschar bringen.“
‚Er hat etwas gelernt’, dachte Nanja und grinste ihn fröhlich an, als er sich nach ihr und Sitaki umsah.
Der Steuermann ging Ron entgegen und klopfte ihm auf die Schulter. „Dann kümmere dich darum, mein Sohn.“ Ron nickte, griff nach dem nächsten Tau und schwang sich zum Heck hinüber.
An den Außenkanten der Brücke ließ sie zusätzlich Planken auslegen und dicke Taue zu einem luftigen Geländer befestigen.
„Das hält doch niemanden“, maulte der Maat.
„Natürlich nicht“, stimmte Sitaki zu. „Hast du eine bessere Idee?“
Farwo schüttelte den Kopf.
Nanja zog verächtlich die Mundwinkel herab. „Es wird dazu dienen, dass die Männer werden sich auf die Tiere konzentrieren können und müssen nicht auch noch darauf achten, wie nah am Rand sie gehen.“
Das kleinste Tier schien am einfachsten zu beherrschen; und beim nächsten hätten sie mehr Sicherheit. Nanja befahl Farwo, es zusammen mit einem zweiten zu holen. Aber das Junge wehrte sich dagegen, aus dem Unterstand geführt zu werden; es wieherte nach seiner Mutter, die prompt antwortete. Daraufhin stemmte es sich gegen die Männer und war nicht mehr bereit, weiterzugehen. Kopfschüttelnd betrachtete Nanja das Geschehen.
Doch die beiden Piraten waren stark und nachdem sie ihm ein Tau um den Bauch geschlungen hatten, konnten sie es aus dem Unterstand zerren. Schließlich sprang ein dritter hinzu und schob von hinten. So gelang es ihnen, das Tier übers Deck zu schleifen. Erst ein empörter Aufschrei Rons ließ sie innehalten.
„So wird das nicht gehen“, sagte Sitaki leise neben Nanja.
„Hast du einen anderen Vorschlag?“
Der Alte nahm seine Pfeife aus dem Mund und deutete zu Ron hinunter. „Ich nicht. Aber der da hat lange bei den Sabienne gelebt.“
Sie blickte ihn misstrauisch/überrascht an. „Woher weißt du das?“ Doch seine Antwort interessierte sie nicht wirklich in diesem Moment und sie eilte aufs Deck hinunter.
„So geht das doch nicht“, fuhr sie die Männer an. „Es sei denn, ihr tragt das Tier über die Planken.“
„Dem Muttertier wird es anstandslos folgen“, bemerkte Ron halblaut.
Sie warf ihm einen schnellen Blick zu; er sollte nicht merken, dass sie seinen Rat zu schätzen wüsste.
„Traust du dir zu, mit der Cavalla vorauszugehen?“
„Zuerst der Stallone. Pferde sind Herdentiere. Denkst du, du hast das Leittier erwischt?”
Sie zuckte die Achseln. „Er ist der einzige; das sollte genügen.“
Ron zog seine Schuhe aus, ging zu dem Schwarzen und holte ihn aus dem Unterstand, während er beruhigend auf ihn einsprach. Plötzlich schwang er sich auf seinen Rücken. Der Stallone schnaubte unwillig und warf den Kopf. Ron beugte sich über seinen Hals und redete weiter auf ihn ein. Da beruhigte sich das Tier.
Er drückte ihm sacht die Fersen in die Flanken und es lief zwei Schritte. Ron ließ es weitergehen, dann drehte er sich zu Nanja um. „Schauen wir, was passiert, wenn uns einer der Männer über die Planken geleitet.”
Nanja befahl den Maat an seine Seite. Da wieherte das Pferd zornig, stieg und Ron stürzte. Er knallte gegen den Mast und blieb reglos liegen. Der Schwarze sprang mit allen Vieren hoch; dann trabte er zum Unterstand zurück.
Von Sitaki kam ein unterdrückter Ruf; dann kam er hinunter. Nanja trat näher, als er sich neben Ron kniete. Der drehte sich langsam zur Seite und Sitaki half ihm aufzustehen
„Ich bin gleich wieder in Ordnung“, murmelte Ron. Aber er taumelte und stützte sich gegen den Mast.
Nanja verschränkte die Arme und wartete ab.
Ron ließ den Mast los und hinkte zu den Pferden. Er streckte seine Hand dem Schwarzen entgegen und auf dem Schiff wurde es still. Nanja hielt unwillkürlich den Atem an.
Das Pferd versenkte seine Nase Rons Hand und beschnupperte sie. Seine Finger glitten langsam den Kopf entlang, dann strich er über den Hals. Das Pferd schnaubte, blieb jedoch stehen. Plötzlich griff er in die Mähne und führte es langsam vom Unterstand fort.
Als Ron bei Nanja ankam, sagte er: „“Ich versuche jetzt, ihn hinüber zu bringen.”
Zu Nanjas Verblüffung ließ er das Pferd los, nachdem er das Spalier der Piraten passiert hatte. Er klopfte ihm beruhigend auf den Hals, dann drehte er sich um und ging langsam zur Brücke. Das Pferd schnaubte wieder, senkte den Kopf - und folgte dann.
Nanja konnte nicht fassen, was sie sah.
Niemand rührte sich.
Ron ließ ihm Zeit, redete unaufhörlich. Langsam, ganz langsam tat das Pferd einen Schritt nach dem anderen.
Als sie auf der Klippe angekommen waren, winkte er und Nanja schickte einen Mann hinüber. Ron führte das Pferd ein paar Schritte weiter; dann hieß er den Mann, es am Kopfzeug zu halten und kam zurück.
Nanja nickte ihm zu und über sein Gesicht ging ein Leuchten. Sie fasste ihn an der Schulter; unter ihrer Berührung spannte er sich. „Traust du dir zu, die anderen Tiere genauso hinüberzubringen?”
Seine Stimme war heiser, als er antwortete. „Ich werde es schaffen.“
Und er brachte die Pferde eines nach dem anderen ans Ufer.
„Wo hast du das gelernt?“, fragte sie schließlich.
Die Muskeln in seinem Gesicht zuckten, als er die Zähne zusammenbiss statt zu antworten. Seine Augen wurden schmal. „Es wird ungleich schwieriger, sie zurückzubringen.“
***
***
Nanja hatte mehr Grün auf der Insel erwartet, aber wichtiger noch als eine Weide war Süßwasser. Wie selbstverständlich kümmerte Ron sich um die Pferde, während die anderen nach einer Quelle suchten. Er band ein Seil an das Kopfzeug des Stallone und folgte ihm mehr als dass er ihn führte. Die anderen Tiere folgten anstandslos.
So kam es, dass Ron schon an einem kleinen Bach im Gras saß, als Nanja nach einer ergebnislosen Stunde mit ein paar Männern auftauchte.
Als er Nanjas Lachen hörte, drehte er sich um. „Die Tiere haben das Wasser gefunden.“
Das hätte sie sich eigentlich denken können. Sie biss sich auf die Unterlippe und ärgerte sich, dass sie nicht selber darauf gekommen war. Auf Tiruman hätte sie sich in einer ähnlichen Situation auch verlassen.
Die Piraten ließen sich am Bachrand auf den Bauch fallen und schöpften das Wasser mit beiden Händen. Zwei (wer) wateten in voller Kleidung hinein; freilich reichte der Bach ihnen nur bis zu den Knien. Mit bloßen Händen versuchten sie, Fische zu fangen.
Xx Lert drehte sich auf den Rücken und blinzelte gegen die Sonne. „Hier kann ich es ein paar Tage aushalten.“
„Das ist gut.“ Nanja schmunzelte. „Wir bleiben hier, bis sich die Pferde erholt haben.“
„Sie warten in Kruschar auf uns“, protestierte Farwo.
„Wer wartet?“ „Deine Schnapsflasche? Du wirst noch ein paar Tage ohne sie auskommen.“
Er sah sie finster an. „Das Fest ist in knapp zwei Wochen. Wird nicht Margoro die Tiere vorher sehen wollen?“
„Mit jedem Boot ist er in vier Stunden hier“, antwortete Sitaki.
Der Ort war gut genug, um die Pferde wieder zu Kräften kommen zu lassen. Diese schmale Senke war ideal, um die Pferde beisammen zu halten; eigentlich war es eher eine Klamm, die nach Süden so eng wurde, dass sie nur den Bach hindurch ließ. Ron schlug vor, an der offenen Nordseite der Senke einen Zaun zu bauen, sodass die Pferde keiner großen Aufsicht bedürften. Die Piraten machten sich daran, Bäume zu fällen, nicht nur dafür, sondern auch für einen Wetterschutz, für den ein Segel als Dach dienen konnte.
Drei Männer blieben bei den Pferden; die übrigen kehrten am Abend auf das Schiff zurück.
„Wie lange willst du wirklich bleiben?“, fragte Sitaki, als sie in der Kapitänskajüte zusammensaßen. „Kruschar fast in Sichtweite und die Männer sitzen hier fest; das kann Probleme geben.“
Nanja hob gleichmütig die Schultern. „Es wird keiner seinen Anteil an der Beute aufs Spiel setzen.“ Sie zündete die Wachslampen an und sah zu, wie die Sonne langsam hinter der Insel verschwand. „In ein paar Tagen lasse ich nach Margoro schicken.“ Sie drehte sich um und grinste Sitaki an. „Sollen die Männer wetteifern, wer sich die Gunst verdient, ihn in Kruschar abzuholen.“
Der Steuermann stopfte seine Pfeife und öffnete eines der Kajütenfenster, bevor er sie ansteckte. „Das wird lustig. Wer sich als der beste Pferdeputzer erweist ...“
.) Nanja lächelte. „Lass das Fenster nur zu.“ Der Geruch des brennenden Rauchkrauts erinnerte sie an ihren Vater.
Sie öffnete den Sekretär und holte zwei Bücher heraus, die ihre Mutter geschrieben hatte. Auf dem Kontinent wurden Legenden erzählt, wonach die Pferde mit den Fremden in ihre Welt gekommen seien. Vielleicht fanden sich in den Aufzeichnungen weitere Hinweise, wie sie diese Tiere jetzt am besten pflegten. . „Du hast gesagt, Ron habe den Umgang mit Pferden bei den Sabienne gelernt. Woher weißt du das?“
„Ich habe ihn auf einem ihrer Märkte gesehen.“
„Warum hast du mir nichts davon erzählt, als er angeheuert hat?“
Sitaki paffte heftig; irritiert hob sie die Augenbrauen. Auch Ron hatte seltsam reagiert, als sie ihn nach seinen Kenntnissen gefragt hatte.
„Wozu?“, fragte der Steuermann schließlich. „Hättest du dich dann anders entschieden?“
Sie legte die Bücher beiseite und stellte sich so dicht vor ihn, dass ihr trotz der Dämmerung keine Bewegung in seinem Gesicht entgehen konnte.
Er nahm die Pfeife aus dem Mund „Misstraust du mir plötzlich?“
Sie musterte ihn lange ohne ein Wort, aber er hielt ihrem Blick stand.
Plötzlich kam von draußen ein Rumpeln. Noch ein seltsam donnernder Ton, der nicht dorthin gehörte, und das Schiff schwankte einen Augenblick heftig. Sitaki streckte den Arm aus und zeigte hinter sie. „Was ist das?“
Sie drehte sich um. Über der Insel stand ein rotes Schein. Wieder ein donnerndes Geräusch und das Schiff schwankte einen Augenblick heftiger als zuvor. Ihr Magen zog sich zusammen; sie stürzte an Deck. Dort empfingen sie aufgeregte Männer.
Von der Insel kam ein lautes Grollen. Das Licht über der Insel stieg höher und breitete sich aus. „Was ist das?“, fragte einer und Entsetzen schwang in seiner Stimme.
„Ein Vulkanausbruch?“, ließ sich ein anderer vernehmen.
„Warten wir ab“, rief der Maat. „Hier passiert uns nichts.“
Aber dort draußen waren die Pferde vielleicht in Gefahr. Es rumpelte erneut und das Schiff krängte deutlich zur Klippe hin.
Nanja griff nach einem Tau, schwang sich zum Ufer und rannte hinunter zur Schlucht. Sitaki würde dafür sorgen, dass die anderen folgten.
Sie kam nicht weit mit ihrem Tempo. Ein Schatten vor ihr entpuppte sich plötzlich als Riss, kaum wahrnehmbar bei dem wenigen Licht. Ein Fuß rutschte in den Spalt und sie brauchte ihre Hände, ihn wieder zu befreien.
Sie ging langsamer und achtsamer weiter. Wo vorher noch ein Wildpfad gewesen war, musste sie an mehreren Stellen breite Brüche überspringen. Plötzlich bewegte sich der Boden unter ihren Füßen. Und dann kam ein Grollen von dem Hang hinter ihr. Sie warf nur einen kurzen Blick zurück, dann rannte sie erneut, um schneller zu sein als die Steine, die sich hinter ihr aus dem Berg lösten und zu Tal polterten.
Sie sprang über Schatten, die vor ihr aus dem Boden zu steigen schienen, hatte keine Zeit, sich zu fragen, was da in der Tiefe erwachte.
Eine Staubwolke holte sie ein, als sie begann, den letzten Hügel zu erklimmen, der seewärts die Klamm begrenzte. Der Staub war so dicht, dass sie kaum eine Armlänge weit sah. Aber solange sie bergauf lief, würde sie ungefähr dort ankommen, wo sie hinwollte.
Dann war sie oben. Der Mond beleuchtete eine Gerölllawine, die am Eingang zur Senke wohl eine Ruderlänge in die Höhe ragte. Eine Gänsehaut kroch ihr den Rücken hoch bei dem Gedanken, wie es weiter drinnen aussehen mochte. Wenn sie die Pferde verloren hätten, dann hätten sie die ganze Fahrt umsonst gemacht.
Nanja fluchte alle Flüche, die sie in ihrem Leben gelernt hatte. Plötzlich sah sie Rons Gesicht vor sich und ihr Magen krampfte ich zusammen; aber ohne die Pferde wäre er genauso überflüssig wie die anderen beiden. In mancher Schlacht hatte sie mehr Männer opfern müssen.
Einer nach dem anderen stiegen die Piraten hustend und keuchend zu ihr herauf . Ihre Schreckensrufe beachtete sie nicht. Sie wandte sich erst um, als Sitaki sie ansprach. „Einer hat sich verletzt, als er in einen Erdspalt gestürzt ist. Ich habe ihn zum Schiff zurückbringen lassen.“
„Während der Nacht können wir nicht viel tun. Aber sSobald der Mond aufgeht, sollen ein paar Leute erkunden, wie es auf der anderen Seite aussieht. Es wäre Zeitverschwendung, den Zugang frei zu räumen, wenn die Pferde erschlagen worden sind.“
Sitaki holte seine Pfeife aus der Tasche und versuchte, auf dem Felsen Funken zu schlagen, um sie anzuzünden. Schließlich gab er auf und steckte sie wieder ein. Schließlich fragte er: „Und die Männer, die dort eingeschlossen sind?“
Nanja knurrte. „Wenn sie noch leben, werden sie sich zu helfen wissen.“ Sie zögerte einen Augenblick. „Wasser haben sie genug ...“
„... aber nichts zu essen“, ergänzte Sitaki. „Sie können schließlich nicht Grünzeug fressen wie die Pferde.“
„Diese Pferde sind verflucht!“ Der Maat baute sich vor den beiden auf. „Erst die Windstille, jetzt das hier. Wir dürfen sie nicht nach Kruschar bringen.“
„Du solltest nicht in Männerkleidung herumlaufen. Zieh ein Hemdchen an, damit jeder sieht, dass du ein kleines Kind bist“, spottete Sitaki.“
Nanja stellte sich auf den Felsen, auf dem sie gesessen hatte. So überragte sie alle. Sie deutete hinab. „Farwo, du nimmst dir fünf Leute und versuchst, auf die andere Seite zu gelangen.“
Einige Männer murrten.
„Fürchtet ihr euch vor den Geistern der Nacht? Wenn ihr um die Zeit bei euren Dirnen liegt, ist es euch auch hell genug.“ Sie verschränkte die Arme. „Wer sich weigert, kehrt nicht mehr auf mein Schiff zurück.“
Sie machten sich an den Abstieg. Im Mondlicht konnte Nanja jeden ihrer Schritte verfolgen. Aber erst das Tageslicht zeigte das ganze Ausmaß der Geröllhalde. Sie musste sich gestehen, dass es aussichtslos war, sie beiseite zu räumen. Für die Pferde brauchten sie einen stabilen Weg darüber hinweg oder die Wand der Klamm hinauf.
Als die Sonne höher stieg, kamen zwei der Männer zurück. „Ohne Seile und Werkzeug kommen wir nicht hinüber.“
Nanja nickte erst. „Holt es euch von Bord.“ Dann schüttelte sie den Kopf. „Damit ist es nicht getan. Wir müssen einen Weg für die Pferde finden. Aber ihr habt Recht; eins nach dem anderen.“
Sie ließ Ausrüstung und Lebensmittel holen und dann richtete sie sich auf ein langes Warten ein, während die Männer über das Schuttfeld kletterten und einige andere in der Höhe die Klamm umrundeten, um dort einen Abstieg zu suchen.
Schließlich kehrte einer zurück um mitzuteilen, dass er eine Bewegung in der Senke gesehen habe.
Nanja verbarg, wie erleichtert sie war. „Ans Werk, Leute.“ Wieder tauchte Rons Gesicht vor ihr auf.
Die Sonne stand bereits hoch und es war heiß, als sie schließlich die Talsohle erreichten. Auch von der gegenüberliegenden Wand hatten sich Felsbrocken gelöst und waren ins Tal geschleudert worden. Der Unterstand für die Pferde lag in Trümmern, aber die Tiere waren nicht angebunden gewesen. Auch ein Teil des Krüppelwäldchens war verschüttet; über eine, Teil war eine Lawine hinweggedonnert, denn die Bäume lagen geknickt übereinander. Genau dort hatten die Männer ihr Lager gehabt.
Am Bachufer grasten vier Pferde, genug, um Margoro zufrieden zu stellen. Sie lief weiter und blickte sich nach den Männern um.
Zwischen dem Wald und einem Steinhaufen stand einer von ihnen. Er drehte sich erst um, als sie fast hinter ihm standen. Sein rechter Arm hing unnatürlich herab; das Hemd war zerfetzt und blutverklebt. „Ron", sagte er und deutete mit dem Kopf auf einen Verhau aus Stämmen, Ästen und Steinen. „Er muss dort drin sein."
Nanja schluckte. ‚Nicht Ron', dachte sie. Und gleich darauf: ‚Warum bekümmert mich das?' Ein seltsames Gefühl zog an ihrem Herzen. Bedauern?
Sie blickte von dem Schuttberg zum Matrosen; er konnte ihr kaum helfen. "Wo ist der dritte?"
Der Mann schwenkte seinen gesunden Arm in eine kaum bestimmbare Richtung. "Er liegt dort hinten." Als er den abwartenden Blick bemerkte, fügte er hinzu: "Den hat es erwischt."
Nanja suchte nach einem kleineren Stamm, den sie als Hebel benutzen könnten. Aber alles, was sie fand, war zu schwer, um von ihr allein bewegt zu werden.Sie umrundete den Verhau, soweit es möglich war und suchte die bestmögliche Stelle, um das Innere zu erkunden.
Der Matrose sah ihr zu, ohne sich von der Stelle zu rühren. „Das ist doch überflüssig", sagte er schließlich. „Der ist genauso hinüber wie der andere."
„Woher weißt du das?", fauchte sie. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, ihren Zorn zu beherrschen. „Kümmere dich um die Pferde!"
Sägen brauchten sie und Nanja schickte zwei Leute zum Schiff zurück. Mit den anderen war sie bald danach wieder in der Senke. Die Sonne hatte ihren Höchststand gerade erst überschritten, aber Nanja kam es vor wie eine Ewigkeit.
Die Matrosen zerrten vorsichtig Äste und Felsbrocken beiseite. Aber in dieser Hitze würde es von Minute zu Minute aussichtsloser, ihn lebend herauszuholen. Das musste auch den Männern klar sein, denn sie begannen bald zu murren. Aber sie trieb die Leute zur Eile und packte selber mit an.
Dann, endlich, sahen sie zwischen gebrochenen und verkanteten Ästen ein Bein. Nanja hielt den Atem an.
Sitaki drehte sich zu ihr um, nahm die Pfeife aus dem Mund und wollte anscheinend etwas sagen; stattdessen musterte er sie schweigend.
Zwei dicke Stämme hatten eine Art Widerlager gebildet, über dem sich die Kronen anderer Bäume verhakt hatten. Darunter gab es einen halbwegs geröllfreien Raum; Ron hatte vielleicht Glück gehabt.
"Er rührt sich nicht", sagte der Maat trocken. "Warum sollen wir ihn ausgraben und hinterher ein Grab schaufeln!"
Nanja zog ihren Dolch und setzte ihm die Spitze an den Hals. „Noch einmal ein falsches Wort und du gehst über die Planken!"
"Diese Pferde sind verflucht!" Der Maat schielte mit zusammengekniffenen Augenbrauen auf den Dolch. "Erst die Windstille, jetzt das hier. Wir dürfen sie nicht nach Kruschar bringen."
"Was sorgst du dich um Kruschar?" Sitaki kletterte so tief wie möglich in den Astverhau und streckte sich, bis er mit seiner Hand an Rons Bein reichte. "Er fühlt sich noch ganz lebendig an." Er kroch rückwärts wieder heraus und die Matrosen zerrten Felsbrocken beiseite und vorsichtig die Äste von oben nach unten ab. Vorsichtig legten sie immer mehr von seinem Körper frei. Die ganze Zeit über rührte Ron sich nicht und gab auch keinen Laut von sich.
Es dämmerte schon, als sie ihn endlich frei hatten. Dann hatten sie ihn frei. Sitaki zog ihm das zerfetzte Hemd aus und schnitt die blutverschmierten Hosenbeine auf. Er tastete ihn ab, konnte aber wenig mehr als das sagen, was eh zu sehen war: Vermutlich gebrochene Rippen, denn er hatte Mühe zu atmen. Platzwunden am Kopf und viele kleine Verletzungen am ganzen Körper, ein unmäßig geschwollener Knöchel und eine lange klaffende Wunde im rechten Oberschenkel wie von einem Schnitt. Es grenzte an ein Wunder, dass er nicht verblutet war.
Während der Bergungsarbeiten hatten die Männer auch die zerfetzte Segelleinwand ausgegraben; sie taugte noch genug, um damit eine Trage herzustellen. Daraus richtete Sitaki ihm ein Lager her.
Die vier Pferde grasten immer noch am Bachrand. Es schien ihr, als hätte der eine Tag ausgereicht, um ihnen viel ihrer ursprünglichen Kraft und Geschmeidigkeit wiederzugeben. Doch vielleicht war es auch nur Wunschdenken, um schnell nach Kruschar zu kommen.
„Vorwärts, räumt das Geröll aus dem Weg und sucht die fehlenden Pferde."
Nanja kümmerte sich inzwischen darum, einen gangbaren Weg aus der Senke zu finden.
Schließlich fand sie einen Aufstieg auf den Kamm, der nur über eine Länge von wenigen Ruderlängen kletternd überwunden werden musste. .Ein Stück talwärts fand sie eine Felsformation, in der es Löcher und tiefe Furchen gab. Sie markierte die Stellen, an denen die Sprenglöcher in den Felsen geschlagen werden mussten. Wenn sie dieses Stück frei räumten, müssten sowohl die Pferde wie der Verletzte zum Schiff zurückkehren können. Sie entschied, den Männern Ruhe zu gönnen und im Morgengrauen die Arbeit aufzunehmen.
Nachdem sie einen Pferch gebaut und alle Pferde eingefangen hatten, ging Nanja zu Ron zurück.
Ron sah ihr mit fiebrig glänzenden Augen entgegen. "Kapitänin, du hast mir das Leben gerettet. Jeder andere hätte mich aufgegeben."
"Du bist der einzige, der Erfahrung mit Pferden hat."
Sitaki zog die Augenbrauen hoch; sie hatte wohl schroffer geklungen als sie beabsichtigt hatte. Aber auf Rons zerschundenem Gesicht tauchte die Spur eines Lächelns auf.
Den Rest des Tages dämmerte er die meiste Zeit vor sich hin und sein Fieber stieg. Nanja wünschte sich, sie hätte ein wenig von der Magie der Elfen zur Verfügung. Sie kannte zwar die Heilkräuter ihrer Mutter, aber nichts davon schien hier zu wachsen. Sie hätten diese verfluchte Insel meiden und gleich nach Kruschar fahren sollen.
Nun mussten sie doch so schnell wie möglich den Hafen erreichen, um ihn zu retten - falls Ron diese Nacht überlebte. Er würde ihnen nicht einmal helfen können, die Pferde aufs Schiff zurückzubringen; dabei hatte er gesagt, dies sei der schwierigere Teil.
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Beim ersten Tageslicht erreichten sie den Aufstieg
"Hier wird es nicht schwer, einen schmalen Pfad zu schaffen." Es würde trotzdem noch eine Menge mehr Arbeit werden als sie gehofft hatte. Sie zeigte den Piraten, an welchen Stellen sie die Löcher vergrößern sollten; sie erklärte genau, was sie tun sollten, aber nicht warum. Vermutlich hatte niemand von ihnen je eine Sprengung erlebt.
Der Maat sah finster drein; sie wusste, er würde wieder meutern und sie feixte.
Er spuckte aus. „Steine klopfen. Das ist keine Arbeit für freie Männer!“ Er sprach sehr laut, sodass es alle Umstehenden hören konnten.
Die Matrosen begannen zu murmeln und zu murren; sie wurden immer deutlicher, einzelne Stimmen immer schärfer.
Nanja hört sich das an, während ihr Blick von einem zum anderen glitt. Den lautesten sah sie eindringlich in die Augen. „Was wird das?“, rief sie. „Eine Meuterei?“
Sofort kehrte Stille ein.
Aber Sitaki sagte: "Leute, wenn ihr das rechtzeitig frei kriegt, wird der Junge überleben und wir kriegen unseren Lohn für die Pferde."
Der Maat blickte noch mürrischer, aber die anderen Matrosen machten sich mit Eifer an die Arbeit.
Nach einer Stunde fragte einer: "Und wie wird aus all diesen Löchern ein breiterer Pfad?"
Nanja lächelte. "Dafür sorge ich schon."
Nanja ging inzwischen in ihre Kajüte und verschloss die Tür.. Mit einem vergoldeten Schlüssel von ihrer Halskette öffnete sie die große Zederntruhe, die hinter ihrem Bett stand. Dann packte sie die Schicht Kleider beiseite, die zu oberst lag.
In einem sorgfältig verschnürten Stoffbeutel befand sich ein zweiter, der wie der erste zugebunden war und zudem das Siegel von Kitarrah trug.
Nachdem Nanja festgestellt hatte, dass es unbeschädigt war, trug sie den Beutel auf den Kartentisch und zerbrach das Siegel mit einem spitzen Messers. In dem Beutel befand sich ein grobkörniges Pulver. Dann holte sie eine lange dünne Schnur aus der Truhe. Sie schnitt fünf Armlängen davon ab und wickelte sie auf. (erst Schicht Kleider, dann Schnur - vielleicht besser lose - ,dann das Pulver.) Sie nahm eine Hand voll Pulver und wickelte es in einen Stofffetzen; das Ende der Schnur band sie drum. Alles andere packte sie in ihre Truhe zurück und ging zurück in die Klamm.
Sie schickte die Männer hinunter in die Senke und befahl ihnen, die Pferde aus dem Pferch zu lassen, damit sie sich nicht verletzten, falls sie durch die Sprengung in Panik gerieten.
Dann häufelte sie aus jedem der beiden Beutel eine kleine Menge Pulver in die Bohrlöcher Sprenglöcher. Sie nahm ihre Schnur, band einen Fetzen Segeltuch daran und stopfte das Tuch ins erste Loch, führt die Schnur zum nächsten, band wieder ein Stück Stoff fest und stopfte es ins Loch. Mit dieser Lunte verband sie ein Loch mit dem nächsten. Schließlich zog sie das letzte Stück Schnur weiter und befestigte es oberhalb der Felsensperre. Sie kontrollierte noch einmal alle Löcher; dann stieg sie hoch und zündete die Lunte an.
Laut zischend sauste das Feuer hinunter zum ersten Loch. Der Knall hallte von den Felswänden ringsum wider; Schwefelgeruch stieg ihr in die Nase. Ein Stück Fels löste sich und rollte in die Senke. Von dort ertönten Schreckensrufe. .
Währenddessen explodierte die nächste Öffnung, dann die übernächste. Dann brach ein langes Stück Felsen in die Tiefe und Minuten später gab es einen Pfad, der zwar noch von Geröll übersät war, aber auch für die Pferde begehbar werden würde.
Nachdem sich der Staub verzogen hatte, stieg Nanja den Pfad langsam abwärts; bei jedem Schritt vorsichtig die Stabilität prüfend.
Sitaki kam ihr entgegengelaufen, als sie noch auf halber Höhe des Hangs war; . Er musterte sie kurz. "Ist dir auch nichts passiert?"
Sie schlug ihm auf die Schulter, als er sie erreichte. "Warum sollte mir etwas passiert sein? So gefährlich ist das Zeug nun auch wieder nicht."
Er lächelte schwach; dann grinste er breit. "Trotz deiner Vorwarnung sind die Männer vom Kontinent völlig verstört."
„Das denke ich mir."
Die Matrosen hatten sich bis an den Pferch in der Talmitte zurückgezogen; aufgeregte Stimmen klangen Nanja ans Ohr, als sie die Senke schließlich erreichte.
"Vorwärts, räumt das Geröll aus dem Weg; dann können wir fort von hier." Sie wartete nicht ab, ob sie gehorchten, sondern ging zu den Pferden, die wieder am Bach standen. Der eine Tag schien ausgereicht zu haben, um ihnen viel ihrer ursprünglichen Kraft und Geschmeidigkeit wiederzugeben. Aber vielleicht war es auch nur Wunschdenken, um schnell nach Kruschar zu kommen.
Sie ging zu Sitaki, der wieder neben Ron saß. Ron war bewusstlos und fieberte.
„Noch einen Tag hier draußen wird er nicht überleben. Er bräuchte eine erfahrene Heilkundige, nicht so einen Stümper wie mich.“
„Aber können wir ihn überhaupt den Hang hinauf transportieren?“
„Wenn wir ihn gut festschnallen.“ Sitaki zog die Schultern hoch. „Ich weiß nicht, vielleicht.“
„Aber besser, er bliebe hier liegen.“ Nanja kaute auf der Unterlippe, während sie überlegte.
„Sollte nicht jemand Margoro abholen? Der könnte gleich eine Heilfrau mitbringen.“ Der Steuermann benetzte Rons rissige Lippen und versuchte dann, ihm tropfenweise Wasser in den halb geöffneten Mund einzuflößen.
„Erst, wenn die Pferde sich von den Strapazen der Reise erholt haben.“ Zum Teufel mit den Pferden; Margoro müsste einfach darauf vertrauen, dass sie in ein paar Tagen wie neu wären. „Aber sie werden nicht bis zum Abend zurück sein.“ Nanja riss sich mit den Zähnen Hautfetzen aus der Unterlippe.
„Dein Adliger wird gewiss alles stehen und liegen lassen, um seine Tierchen kennen zu lernen.“
„Gewiss; aber eine Heilerin bewegen mitzukommen?“
Sitaki grunzte. „Meinst du, sie haben vergessen, wie man jemanden überzeugt?“
Nanja lachte, sah kurz zu ihren Männern. „Ich () fahre selbst. Ihr werdet in der Zwischenzeit den Weg frei räumen und befestigen.“
„Du hast Recht; mit einer Frau wird eine Heilerin freiwillig mitkommen.“ Er legte eine Hand auf Rons Brust. „Fast fühle ich seinen Herzschlag nicht mehr.“ Er senkte den Kopf so tief, dass sie sein Gesicht nicht mehr sehen konnte. Mit halb erstickter Stimme sprach er weiter. „Aber auch du wirst kaum schnell genug zurück sein.“
Nanja wischte sich das Blut fort, das aus ihrer zerbissenen Lippe sickerte. „Ich werde es schaffen.“
Sitakis Kopf sank noch tiefer. Kaum verstand sie, was er flüsterte. „Ja, wenn du die Kraft der Magie besäßest.“
Die Winde meinten es diesmal gut mit ihnen und schneller als erhofft tauchte am Horizont die Silhouette von Kruschar auf.
Der Hafen lag in einer windgeschützten Bucht, sodass sie es sich leisten konnte, mit dem Pomp einer vollen Besegelung einzulaufen.
Nanja brauchte sich nicht zu überlegen, ob sie zuerst Margoro aufsuchen sollte oder gleich nach einer Heilerin fragen. Der Adlige stand schon am Kai, unübersehbar in seinem Prunkgewand. Obendrein überragte er die meisten der Umstehenden um einen halben Kopf und beanspruchte den Platz von drei Männern. Wäre nicht schon sein Äußeres unverwechselbar gewesen, so hätte sie ihn an den Insignien des Rats der Stadt erkannt, die er auf der Brust trug.
Kurz bevor sie anlegten, warf sie noch einmal einen Blick hinüber zu ihm. Er trat buchstäblich von einem Bein aufs andere vor Ungeduld. Sicher konnte er es kaum erwarten, sein neues Spielzeug in Empfang zu nehmen. Nanja feixte. Welch bittere Enttäuschung musste sie ihm bereiten.
Das Fallreep war noch nicht gesichert, da sprang er an Bord und kam mit langen Sätzen die Treppe herauf; so viel Behändigkeit hatte sie ihm angesichts seines Körperumfangs nicht zugetraut. Immerhin keuchte er schwer.
„Wo sind sie denn?“, rief er schon von weitem.
Nanja übergab das Ruder dem Maat. „Auf Gemona.“ Sie schmunzelte über seinen grimmigen Gesichtsausdruck. „Die lange Überfahrt hat sie mitgenommen. Dort können sie sich erholen, bevor du sie ins Rennen schickst.“
„Ich will sie haben“, murrte der Adlige. „Erholen können sie sich auch auf meiner Drachenweide.“
Nanja nickte. „Willst du uns mit deinem eigenen Schiff folgen oder kommst du an Bord?“
„Ich bin doch schon an Bord!“
„Das ist nicht zu übersehen“, flachste der Maat.
Nanja warf ihm einen Blick zu, der ihn augenblicklich verstummen ließ. Sie konnte es nicht gebrauchen, Margoro zu verärgern, denn er würde sich in Geduld fassen müssen, bis sie eine Heilerin gefunden hatten. „Es wäre klug, sich praktischer zu kleiden. Die Insel ist unwegsam; zudem hat ein Erdbeben große Schäden angerichtet.“
„Und meine Pferde?“ Magoros gelbliches Gesicht wurde rot. Mit dem kunstvoll verzwirbelten Bart, der rechts und links von seinen Mundwinkeln abstand, wirkte er wie ein Hummer, der seine Scheren aufklappt.
„Denen geht es gut, aber wir brauchen Hilfe für einen der Matrosen. Erst dann fahren wir zurück.“
„Kein Problem, überhaupt kein Problem.“ Margoro zog einen Beutel aus den Tiefen seines Gewandes und hielt ihn Nanja hin. „Damit könnt ihr alle Hilfe kaufen, die es in Kruschar gibt.“
„Wirklich alle? Auch das, was es eigentlich nicht gibt?“
Magoro wurde blass; offensichtlich hatte er verstanden. Er flüsterte: „Magie kann man nicht kaufen. Aber ich weiß vielleicht, wo du sie findest.“
„Zeig mir den Weg!“ Nanja sprang die Stufen hinab bevor er antworten konnte. Erst am Kai blieb sie stehen und wartete, dass er die Treppen hinunterächzte. Plötzlich schien ihm jede Bewegung schwer zu fallen.
Er sah sie an, als warte er darauf, dass sie es sich anders überlege. Aber als sie nickte, bequemte er sich weiterzugehen.
Am Kai wartete eine prunkvolle offene Kutsche mit zwei grün und lila schimmernden Laufdrachen als Gespann.
„Wir fahren zuerst zu mir und nehmen dann einen unauffälligeren Wagen.“
Unauffälliger war das andere Gefährt zwar nicht, aber geschlossen und mit dichten Vorhängen versehen, sodass man sie nicht von außen erkennen konnte. Das Wappen ließ Margoro mit einem Tuch verhängen; aber den Drachen sah man doch an, dass der Besitzer zu den Vornehmen der Stadt gehören musste.
Nanja war es gleich; nicht sie würde Schwierigkeiten mit den Priestern bekommen. Aber er hatte vermutlich seinen Pakt mit ihnen wie so mancher der Adligen. Sie täte vielleicht besser daran, sich von Männern wie ihm fern zu halten.
Sie fuhren zu einer Herberge am Rande der Stadt. Margoro rührte sich nicht, als der Kutscher anhielt. So vorsichtig wie möglich war er schon, dass musste sie ihm lassen. „Nach wem soll ich fragen?“
„Am besten fragst du gar nichts. Nimm dir ein Zimmer und erzähle der Wirtsfrau, dass du für einen schwer Verletzten Hilfe brauchst. Sag ihr, dass nur die Macht der Götter ihn noch retten kann.“ Er blickte sie prüfend an. „Das ist doch so, oder?“
Nanja nickte.
„Nun, man wird verstehen, was du meinst. Sprich laut, dass es alle hören.“
Das war aber nicht vorsichtig; misstrauisch kniff Nanja die Augen zusammen.
Margoro zuckte nur die Schultern und öffnete ihr die Tür der Kutsche. „Wenn es eine gibt, die sich angesprochen fühlt, wird sie dich zu finden wissen.“
„Und wie? Du willst doch sicher nicht bis morgen warten. Und ich kann nicht.“
Margoro hob wieder die Schultern. „Mehr kann ich dir nicht bieten. In zwei Stunden lasse ich dich abholen und dann will ich nach Gemona.“
Nanja fühlte sich in der Falle. Niemand wusste, wo sie war. Aber Margoro hatte sie verraten, wo sich die Pferde befanden. Und sie hatte keine Möglichkeit, ihre Leute inzwischen anderweitig auf die Suche gehen zu lassen. Wie hatte sie so kurzsichtig sein können.
Einen Augenblick zögerte sie; dann stieg sie aus. Letztlich konnte Magoro es sich nicht leisten, sie zu verraten. Noch nicht.
Einen Augenblick musterte Nanja die heruntergekommene Fassade der Herberge: grauer Stein, an vielen Ecken bröckelnd und von der salzigen Seeluft zerfressen. Die schmalen Fenster waren nicht verglast. Wer hier abstieg, hatte entweder kein Geld oder etwas zu verbergen. Wahrscheinlich wimmelte es im Essen von Maden und in den Betten tummelten sich die Flöhe. Nun, sie wollte weder mit dem einen noch mit dem anderen Bekanntschaft schließen. Vielleicht gab es einen genießbaren Maniokschnaps, denn darauf bestanden selbst die heruntergekommensten Gesellen.
Noch bevor sie die Tür öffnete, hörte sie hinter sich das Stampfen der davontrabenden Zugdrachen. Margoro hatte es wirklich eilig.
Ein düsterer Flur, von dem zwei Treppen abgingen, führte in den Schankraum. An einem der wackligen Tische saßen zwei alte Männer, ohne Schuhe, in geflickten Hemden. An dem zweiten saß ein Paar, beinahe Kinder noch. Ein Hund mit langem zweifarbigem Fell schwänzelte um sie herum. Das Mädchen wog für ihren Geschmack ein bisschen zu viel, hatte aber ein hübsches Gesicht. Der junge Mann kam ihr bekannt vor. Zumindest hatte sie schon einmal jemandem getroffen, der ihm sehr ähnlich sah.
Eine junge Frau neben dem Tresen, mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm, kennzeichnete eine grellbunte Schürze als die Wirtin. Mit einem liebevollen Lächeln für das Kind, das dieses ohne Scheu erwiderte, fragte Nanja nach einem Zimmer.
„Wie lange wollt Ihr bleiben?“.
Nanja breitete die Arme aus. „Das weiß die Göttin! So lange, bis ich gefunden habe, was sich suche.“
Die Wirtin schmunzelte. „Ihr sprecht in dunklen Worten. Niemand wird Euch helfen können, wenn Ihr nicht sagt, was ihr sucht.“
„Wohl wahr!“ Nanja streichelte dem Mädchen übers Haar. „Wunderschön bist du. Wie heißt du denn, meine Kleine?“
Das Mädchen drehte sich zur Seite und barg sein Gesicht an der Schulter der Mutter.
Nanja hob die Stimme, wie Margoro ihr geraten hatte. „Ich suche eine Heilerin.“ Sie vermeinte, eine Bewegung an dem Tisch in der Ecke zu sehen und sprach daher noch ein wenig lauter. „Auf Gemona liegt ein Mann, der beim Erdbeben verschüttet wurde. Er wird sterben, wenn ich nicht bald Hilfe bringe.“
„So braucht Ihr eine, die Zeit hat, mit Euch zu gehen. Habt Ihr denn ein Schiff?“
„Ich bin Nanja.“
Die Wirtin bekam große Augen, dann strahlte sie. „Welch eine Ehre für meine bescheidene Herberge. Bleibt, so lange Ihr wollt. Ich werde mich für euch umhören.“
„Mein Steuermann sagt, es brauche ein Wunder, dass der Matrose überlebt. Und wenn ich nicht bald komme, wird auch das nichts mehr helfen.“
„Es gibt keine Wunder.“ Die Wirtin schien zu zögern, als sie diese Worte aussprach.
Nanja lächelte. „Ich glaube an die Allmacht der Götter. Vielleicht gibt es eine, die die Tapferen schützt.“ Wenn das ihre Mutter gehört hätte; sie sollte vielleicht nicht so dick auftragen. „Hast du einen guten Schnaps, Wirtin?“
Die Wirtin setzte ihre Tochter ab und stellte eine Flasche und ein Glas auf den Tresen „Ich mache Euch ein Zimmer fertig. Dann gehe ich zu der alten Ratika. Sie kann nicht selber mit Euch kommen, aber gewiss weiß sie eine andere.“
„Umgekehrt!“
Die Wirtin sah Nanja fragend an.
„Geh zuerst zu dieser Ratika.“
Die Wirtin kratzte sich in den Haaren als hätte eine Laus sie gebissen und schaute auf die anderen Gäste. Sie war wohl doch nicht so eilfertig, wie sie tat. Aber dann band sie ihre Schürze ab und verließ mit dem Mädchen an der Hand den Schankraum.
Nanja setzte sich an den freien Ecktisch. Von dort hatte sie die anderen direkt im Blick und wirkte doch nicht neugierig. Sie kippte ihren Stuhl, bis er mit der Lehne an die Wand stieß; dann legte die Füße auf den Tisch.
Die beiden Männer sprachen über das bevorstehende Fest. Margoro hatte das Rennen offensichtlich großartig angekündigt, denn sie stritten lautstark über die fremden Renntiere.
Der junge Mann am anderen Tisch sah mehrmals zu ihr herüber, sodass sie wieder darüber nachdachte, wo sie ihn gesehen haben konnte. Kannte auch er sie? Er unterhielt sich flüsternd mit dem Mädchen; Nanja las aus ihren heftigen Gesten Erregung heraus.
Grübelnd trank sie ein Glas Schilfrohrbrand nach dem anderen. Zwischendurch fragte sie sich, wo die Wirtin blieb. Wenn Margoro sie hierher geschickt hatte, musste er der Frau vertrauen; sie würde ihr schon nicht die Hexenjäger auf den Hals schicken. Plötzlich fiel ihr auf, dass das kleine Mädchen dem Adligen ähnlich sah. Margoro kam also öfter hierher. Amüsiert pfiff sie durch die Zähne.
Sein Balg! Ihre Gedanken machten ein Sprung; Jetzt wusste sie, warum ihr der Mann am Nachbartisch vertraut schien. Er musste einer der Söhne Katarans sein; entweder der Rebellenführer selbst oder er wusste zumindest, wo einer von ihnen zu finden wäre. Vielleicht konnte sie die eisernen Waffen, die ihren Laderaum füllten, verhökern, bevor sie nach Gemona zurückfuhren. Nur durfte Margoro nichts davon bemerken.
Nanja sah noch einmal zu dem Paar; dessen Gläser waren inzwischen leer. Sie packte die Flasche und ging zu ihnen hinüber. „Darf ich mich setzen?“
Die beiden sahen sich an; das Mädchen langte sich in die Haare und drehte eine Strähne um seine Finger.
Der Mann nickte. „Wir haben gerade überlegt, ob wir dich ansprechen.“
Nanja zog die Brauen hoch. Dann schenkte sie den beiden die Gläser voll.
„Wir haben mitbekommen, dass du Hilfe brauchst“, fuhr er fort.
Das Mädchen blickte auf den Tisch, als sei ihr etwas peinlich. Nanja wartete darauf, wie es weitergehen mochte. Aber anscheinend war sie jetzt dran.
„Einer meiner Matrosen ist schwer verletzt. Wisst ihr eine, die mit mir gehen würde?“
„Sondria hat die Heilkunst gelernt. Übrigens, ich bin Wribald. - Wir sind nicht von hier.“
Wribald also, der Bruder von Hollor: Der Rebellenführer, von dem es hieß, er sei bloß ein Dieb, dem die Rückkehr der Könige nach Dhaomond völlig gleichgültig wäre. Aber über die Waffen konnte sie später reden. Zuerst das Mädchen. Nanja stützte den Kopf auf beide Hände und musterte es unverhohlen.
„Wenn du niemanden sonst findest“, sagte Sondria leise. „Ich weiß nicht, ob meine Fähigkeiten reichen. Und gewiss gibt es Erfahrenere als mich.“
„Aber nicht doch.“ Wribald protestierte so laut, dass die beiden Männer zu ihnen herübersahen. Sofort senkte er wieder seine Stimme. „Ich weiß, dass Sondria gut ist.“ Er zögerte einen Augenblick. „Bis zum Fest kannst du doch problemlos aus der Stadt verschwinden.“
Das war eine eindeutige Mahnung an das Mädchen, die Gelegenheit zu nutzen. Nanja musste sich beherrschen, um nicht loszulachen. Der Bursche war wenig geschickt. Vor wem musste Sondria auf der Hut sein, dass der Schutz der Rebellen nicht reichte – oder die Rebellen sie nicht schützen mochten? Sie würde ihr helfen, gleich, ob sie heilen konnte oder nicht. Aber wenn sie auslief, musste jemand an Bord sein, der in der Lage war, Ron zu retten.
Trotz der schwarzen Haare schien ihr Sondria kein Elfenblut in den Adern zu haben, denn sie war stämmig wie ein Bauernmädchen. Und sie war jung; zu jung eigentlich für eine, die die Magie beherrschte. Sie entschloss sich, mit offenen Karten zu spielen. „Hat Sondria einen Grund, aus der Stadt zu verschwinden?“
Wribald riss die Augen auf. „Wieso? Wie kommst du auf die Idee?“
Nanja sah das Mädchen an. „Ist es so oder nicht? Sag mir die Wahrheit. Ich nehme dich mit, wenn du auf der Flucht bist - auf jeden Fall. Aber ich muss wissen, ob du Ron heilen kannst.“
Sondria senkte wieder den Blick; Wribald legte wie beschwörend seine Hand auf ihren Arm.
„Ich vertraue dir ein Leben an, Sondria. Er wird sterben, wenn du mich betrügst.“
„Es stimmt“, sagte das Mädchen leise und schob Wribalds Hand beiseite. „Lass mich!“ Es blickte Nanja herausfordernd an. „Ja, ich bin auf der Flucht. Der Heilige und seine Mönche sind hinter mir her. Und die Rebellen auch - Wribalds Bruder. Aber ich kann wirklich heilen. Doch fehlt es mir an Übung. Besser wäre, du fändest eine Erfahrenere.“
Nanja entspannte sich. „Behaupten die Mönche bloß, dass du eine Hexe bist oder besitzt du wirklich magische Fähigkeiten?“
Sondria knabberte an ihren Lippen und schielte dabei zu Wribald hinüber. Der wusste wohl nicht alles. Nanja war dieser abwägende Blick Antwort genug.
Wribald richtete sich auf und starrte das Mädchen an. Dann sagte er lahm: „Sondria ist keine Hexe; wir sind zusammen aufgewachsen.“
Was für eine Begründung. Nanja fand die Logik der Männer immer wieder von Neuem amüsant. „Wir werden ja sehen, ob die Wirtin jemanden findet.“ Sie lächelte Sondria an. „Ich nehme dich auf jeden Fall mit.“
Sondria nickte nachdrücklich. „Ich werde deinem Matrosen helfen.“
Nanja war nun überzeugt, dass das Mädchen magische Fähigkeiten besaß und so focht sie es nicht weiter an, dass die Wirtin ergebnislos zurückkam.
Bald danach stand Margoros Drachenlenker in der Tür. Die Wirtin bekam noch einmal große Augen; ganz offensichtlich kannte sie ihn. So verlangte sie auch keine Entschädigung, als Nanja ihr erklärte, sie brauche das Zimmer nicht mehr.
Da Margoro nicht selber gekommen war, gab ihr die Gelegenheit, Wribald die Waffen zu zeigen, bevor sie ausliefen, wenn er sie zum Schiff begleitete.
Wribald errötete. „Das ist nicht nötig. Ich werde hier auf Sondria warten. Du bringst sie doch wieder zurück nach Kruschar, nicht wahr?“
„Natürlich komme ich zurück. Ohne die Pferde findet Margoros Rennen nicht statt.“
Einer der alten Männer erhob sich leicht schwankend und kam auf Nanja zu. „Du ... du weißt mehr von den Renntieren?“
Nanja nickte amüsiert; wenn er wüsste, dass sie sie beschafft hatte.
„Sag, auf wen ... auf wen sollen wir wetten?“, fragte sein Kumpan. „Wer ist schneller?“
Nanja setzte ihr charmantestes Lächeln auf. „Ihr seid zu zweit. Wettet auf beide – Pferde und Drachen; dann gewinnt einer auf jeden Fall.“
Die Männer starrten sie mit dümmlichem Gesichtsausdruck an, viel zu betrunken um zu begreifen.
Nanja wandte sich an Wribald. „Wenn du zum Schiff mitkommst, wirst du vielleicht feststellen, dass du Besseres tun kannst als auf Sondria zu warten und hier herumzusitzen.“
Wribald sah erleichtert aus – als ob es ihm schwer gefallen wäre, Sondria alleine gehen zu lassen.
Der Drachenlenker dagegen blieb einfach in der Tür stehen, als sie gehen wollten.
„Vorwärts“, befahl Nanja. „Margoro bezahlt dich nicht fürs Herumstehen.“
Wribald kicherte. „Ich glaube nicht, dass er ihn überhaupt bezahlt“, flüsterte er.
Er bestätigte ihren Eindruck, dass sich auch auf der Dracheninsel die Sklavenhaltung immer weiter ausbreitete. Es war ihr völlig unverständlich: Wenn sie sich nur vorstellte, sie hätte ihre Piraten auf Gedeih und Verderb am Hals. Diese Adligen musste immer um die neueste Mode wetteifern und ihren Reichtum zur Schau zu stellen. Eines Tages würde ihnen ihr Geprotze das Genick brechen.
Nanja schickte die Bordwache an Land, um die Piraten in den Hafenkneipen einzusammeln. Dann zeigte sie Sondria ihre Kajüte und bat Wribald, mit ihr zu kommen. „Es gibt noch etwas, was ich dir zeigen will; nun, da wir allein sind.“
Sie führte ihn hinunter zum Laderaum und zündete zwei Fackeln an.
„Ein prächtiges Arsenal“, knurrte er. In seine Augen trat ein gieriger Ausdruck. „Kein Wunder, dass ihr als unbesiegbar geltet.“
„Schätzt du diese Waffen so hoch ein?“, fragte sie lauernd.
Er trat vor ihr in den Laderaum und langte nach einem Schwert mit einem besonders prächtig verzierten Griff. „Das ist eine Waffe; gegen die kommt keiner der Söldner des Heiligen an. Ich wette, sie ist sogar immun gegen Magie.“
„Der Heilige hat Magie verboten“, erinnerte Nanja ihn.
Wribald lachte. „Das besagt nichts. So viel Bosheit kann nicht in einem einzelnen Menschen wohnen; der Heilige muss von einem Dämon besessen sein.“
„Er hat seinen Glauben.“ Nanja hob die Fackeln höher, um in den entfernten Teil des Laderaums zu leuchten. „Aber es sind nicht die Religionen, die das Übel in die Welt bringen, sondern die Habgier der Menschen.“
„Und wenn sich Religion mit Habgier paart ...“ Wribald ereiferte sich und schwang das Schwert durch die Luft, als griffe er einen unsichtbaren Gegner an. Trotz seiner Jugend schien er ein geübter Kämpfer zu sein. Auch hatte er instinktiv das beste von allen gefunden. Er senkte es, strich mit der anderen Hand über die Klinge. „Es fühlt sich an ... Ich hatte immer geglaubt, Eisenschwerter müssten unendlich schwer sein. Dieses jedoch!“
„Die meisten sind schwer. Schau, die dort.“
Ohne sein Schwert beiseite zu legen, lief er in die Ecke; aber sie winkte ihm, den Laderaum zu verlassen. Margoro konnte jeden Moment eintreffen.
Ob sie Sondria einen Gefallen täte, wenn sie ihm das Schwert schenkte? „Leg es zurück.“
Mit einem sehnsüchtigen Blick beobachtete er, wie sie die Tür verriegelte. „Warum hast du mir das gezeigt? Damit mein Bruder sich nicht an Sondria vergreift, während sie unter deinem Schutz steht?“
Nanja lachte. „O nein. Wir brauchen diese Waffen nicht, um unbesiegbar zu sein.“ Sie blieb auf der Treppe stehen und sah ihm aufmerksam ins Gesicht. „Es ist euch ernst mit diesem Aufstand, nicht wahr?“
Wribald biss die Zähne zusammen und versuchte, sich ein entschlossenes Aussehen zu geben. Nanja lächelte unwillkürlich; er musste noch jünger sein als sie geschätzt hatte.
„Wie viel wäre es euch wert, diese Waffen zu besitzen?“
„Damit könnten wir eine Armee ausrüsten“, flüsterte er. Auf der obersten Stufe blickte er noch einmal zur Tür zurück.
Nanja lachte; er war so leicht zu durchschauen. „Ans Stehlen solltest du nicht einmal denken. – Aber kaufen könnt ihr sie.“
„Ich ... ich frage meinen Bruder.“ Wribald schluckte zwei Mal und seine Stimme war heiser, als er weitersprach. „Wie viel auch immer ihr wollt, wir werden einen Weg finden, sie zu bezahlen.“
„Ich fürchte, das kann ich dir glauben“, antwortete sie sarkastisch. „Aber hütet euch, die Armen zu plündern; ich will kein schmutziges Geld.“
Margoro ließ weiter auf sich warten. Nachdem der Maat das Glas zum zweiten Mal umgedreht hatte, ließ sie die Segel setzen und als Margoro endlich kam, waren sie gerade im Begriff, die Brücke einzuziehen. Nanja tat, als ignoriere sie ihn und ließ die Leinen lösen.
Margoro stürmte wutentbrannt zu ihr auf die Brücke.
„Was fällt dir ein?“
„Du hättest mir mit deinem eigenen Boot folgen können.“
„Und wie hätte ich euch gefunden?“
Nanja grinste. „Einmal um die Insel herum; mein Schiff ist nicht zu übersehen.“
Er war streitsüchtig, weil sie fast ohne ihn gefahren wäre und suchte nach etwas, wo er gewinnen konnte. Aber er wurde schon leiser.„Es sind meine Pferde“, murrte er.
Da lachte Nanja ihn erst recht aus. „Noch nicht! Erst, wenn du sie bezahlt hast.“
Sie ließ ihn stehen und ging ans Ruder.
Immer noch missgelaunt folgte er ihr und stellte sich neben sie. „Wie sind sie?“
Konzentriert steuerte sie an den anderen Schiffen vorbei aus dem überfüllten Hafen. Überraschenderweise wartete er geduldig.
Nach Minuten fragte sie zurück: „Was genau meinst du? Ob sie schön sind?“ In ihrem rechten Mundwinkel erschien ein Grübchen.
Zu ihrer Verblüffung ging Margoro auf ihren Scherz ein. „Das will ich doch hoffen.“ Er lehnte sich an das Geländer vor dem Ruder.
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu; dann konzentrierte sie sich wieder aufs Meer. „Sie sind sehr schön. Neben unseren Drachen werden sie zerbrechlich wirken.“ “
„Sind sie auch schnell?“
Nanja zuckte die Achseln. „In der Herberge haben sie von dem Rennen geredet. Es ist wohl Stadtgespräch.“ Sie schaute ihn an. „Ich nehme an, du hast auf die Pferde gesetzt?“
Margoro grinste. „Noch nicht. Mehr als der eigene Einsatz interessiert mich, wie ich die Wetten organisieren muss, damit ich auf jeden Fall gewinne.“
„Ob die Pferde schneller laufen als die Drachen oder nicht: Hast du denn Leute, die sie reiten können?“
„Ist doch egal, ob jemand ein Pferd oder einen Drachen reitet.“
Nachdem sie Ron auf dem schwarzen Stallone gesehen hatte, war sie überzeugt, dass es einen Unterschied machte. Aber sollte er es doch selbst herausfinden. „Es wird wohl wie oft davon abhängen, wer der bessere Reiter ist.“
„Vielleicht sollte ich nicht Pferde gegen Drachen setzen lassen, sondern auf die einzelnen Tiere?“ Margoro zerrte nervös an seinen weiten Ärmeln. Es schien eine Angewohnheit zu sein, denn der Goldbesatz an den Rändern war völlig abgegriffen.
„Damit lässt du auf die Reiter wetten und nicht auf die Tiere.“
„Wenn es doch auf die Reiter ankommt?“
Nanja lachte schallend. Margoro sah erst irritiert aus; dann machte er ein böses Gesicht. „Was verstehst du denn davon?“
Prustend stieß sie hervor: „Aber du wolltest doch mit den Pferden etwas beweisen.“ Sie hörte auf zu lachen und dachte einen Moment nach. „Was für einen Zweck hat das Ganze?“
„Das Volk will unterhalten werden. Das haben die Menschen verdient.“
Also brauchte er die Gunst der Bevölkerung für irgendetwas. Sie musterte ihn von oben bis unten. Im Grunde unterschied er sich nicht von den Sabienne. Diese Landbewohner hatten alle nichts als Macht und Reichtum im Sinn. Und Stroh im Kopf.
***
Die Sonne stand schon tief, als sie Gemona erreichten. Diesmal ankerte sie in einer Bucht, die nahe an der Senke lag.
Margoro mühte sich ächzend das Fallreep hinab ins Beiboot und wartete später mit dem Aussteigen, bis die Matrosen das Boot ein Stück weit an den Strand hinauf gezogen hatten. Trotzdem trat er mit den kostbaren Brokatschuhen ins Wasser. Mit grimmigem Gesicht raffte er seine Gewänder und stakste durch den Sand. Fast erwartete Nanja, dass er auf Zehenspitzen lief.
Als er sich endlich durch das den Strand angrenzende Geröllfeld seinen Weg gebahnt hatte und keuchend vor Nanja stand, waren sowohl seine Laune wie die Schuhe unwiderruflich hinüber. „Und wie kriegt ihr die Pferde zurück aufs Schiff? Das ist doch ganz unmöglich!“
Wie sie das ohne Ron schaffen sollten, war auch Nanja noch nicht klar. „Nicht hier“, fertigte sie ihn vage ab.
Sondria lief am Strand auf und ab, bückte sich immer wieder und ließ Sand zwischen ihren Fingern hindurch rieseln. Nanja fragte sich, wozu sie das tat. Als das Mädchen endlich kam, lief Nanja mit ihr voraus ohne Rücksicht darauf, ob Margoro Schritt halten konnte.
Doch je näher sie der Klamm kamen, umso zögerlicher wurde ihr Schritt, umso drängender die Sorge, zu spät zu kommen. Sondria musste den Aufruhr in ihrem Herzen spüren, denn als sie die Anhöhe erreichten und ins Tal hinab schauen konnten, legte sie Nanja den Arm um die Taille. „Fürchte dich nicht.“
Nanja blieb stehen.
Sondria drückte sie fester an sich. „Ich fühle die Geister der Menschen dort unten. Einer ist am Verlöschen – aber noch ist es nicht zu spät. Er wehrt sich, in die Dunkelheit gezogen zu werden.“
Es war eine Hoffnung, mehr nicht. Als sie den Pfad hinunter stieg, den die Piraten inzwischen befestigt hatten, fluchte Margoro hinter ihnen her. Aber sie wandte sich nicht um.
Hoffnungslosigkeit stand in Sitakis Gesicht geschrieben, als er sich zu ihnen umwandte, kaum dass ihn die Rufe der Matrosen auf sie aufmerksam gemacht hatten. Sein Blick glitt zwischen ihr und Sondria hin und her. Dann räusperte er sich und setzte zum Sprechen an, aber er brachte nur drei unzusammenhängende Worte hervor.
Ron atmete pfeifend; dann hustete er und Blut sickerte aus einem Mundwinkel. Sein Gesicht war grünlichgrau und unterschied sich wenig von einer wächsernen Totenmaske.
Nanja ging neben Sitaki in die Knie. „Sind wir zu spät gekommen?“
Sondria musterte Ron von oben bis unten; legte eine Hand auf seine Stirn, dann auf die Brust. Sie öffnete die andere, die sie die ganze Zeit zur Faust geballt hatte, und ließ den Sand zwischen ihren Fingern hindurch rieseln, sodass er ein kleines Häufchen bildete. „Es ist nicht der richtige; er taugt nicht“, sagte sie langsam.
Ron stöhnte, hustete erneut; auf seinen Lippen stand blutiger Schaum. Er atmete gurgelnd und bäumte sich dabei krampfhaft auf. Sondria drückte ihn sanft auf sein Lager zurück.
Sein Anblick zerriss Nanja das Herz. „Er stirbt“, flüsterte sie mit erstickter Stimme.
Sondria zog einen Kräuterbeutel aus ihrem Gewand. „Ich brauche heißes Wasser.“
Sitaki stürzte davon.
Sie tastete Rons Oberkörper behutsam ab. „Er hat zwei Rippen gebrochen; ein Splitter hat sich in seine Lunge gebohrt. Erstaunlich, dass er immer noch lebt.“
Nanja erstarrte, aber Sondria sagte: „Wenn es wirklich schlimm wäre, wäre er längst verblutet.“
Nanja fand, das sei nur ein schwacher Trost.
Die Heilerin begann, die Verbände zu lösen. „Hilf mir.“
Mit bebenden Fingern tat Nanja wie geheißen. Ron stöhnte, wenn sie Verklebtes abrissen; zuweilen flatterten seine Augenlider, als sei er an der Schwelle zum Bewusstsein. Dass Sondria beim Anblick der entzündeten Wunden so wenig besorgt wirkte, ließ Nanja schließlich hoffen, sie würde es schaffen.
„Der ist hinüber“, erklang plötzlich Margoros kalte Stimme hinter ihr.
Mit einem Wutschrei sprang Nanja auf und drehte sich um. Margoro und der Maat standen mit verschränkten Armen da. Farwo sah gelangweilt aus; Margoro schaute angewidert auf den Verletzten.
Nanja hätte sie beide erdolchen mögen.
Farwo musste außer Sichtweite: Besser, er bekam nichts mit, falls Sandria Magie gebrauchte. Die Piraten hatten zwar schon so viel gesehen, dass sie sich wundern würden, wenn Ron überlebte, aber die Männer ihres Vaters würden den Mund halten. Ihm jedoch traute sie noch immer nicht. „Zeig ihm die Pferde“, herrschte sie ihn an.
Er schaute erschrocken; drehte sich dann zögernd um. Nanja feixte; sie wusste, dass er sich vor den Tieren fürchtete. Margoro folgte ihm aufgeregt plappernd.
Als sie sich wieder neben Sondria kniete, kam Sitaki mit dem heißen Wasser, einem Becher und einem Teller. In den Becher schüttete Sondria schüttete so viel von ihren Kräutern, dass der Boden bedeckt war, und goss dann auf. Ein beißender Geruch stieg Nanja in die Nase. Sondrias Blick sagte ihr, dass sie sich zurückziehen sollte. Sie erhob sich und zog Sitaki fort.
Ein Dutzend Ruderlängen entfernt wandten sie sich um. Sondria nahm noch etwas aus ihrer Tasche, zerkrümelte es auf den Teller und zündete es an. Es qualmte mehr als dass es brannte. Währenddessen trankt sie trank selber aus dem Becher; Nanja hatte erwartet, dass es ein heilendes Gebräu für Ron war.
Einige Piraten wurden auf den Rauch aufmerksam und kamen zu ihnen; Sitaki schickte sie kommentarlos ans Lagerfeuer zurück.
Sondria verfiel in einen Singsang, von dem sie hin und wieder ein Ton zu ihnen drang. Dabei nahm sie das Sandhäufchen aus dem Gras auf und streute es in Form irgendeiner Figur über Ron.
War das nun Magie? Das Ritual mit dem Sand wirkte eher albern als geheimnisvoll.
Nanja wartete gespannt darauf, was passieren würde. Sie hatte noch nie eine magische Zeremonie von Landmenschen erlebt. Die Elfen benötigten keine sichtbaren Hilfsmittel; sie benutzten allein ihre Gedankenkraft.
Die Sonne verschwand hinter der Felswand und sie konnte immer weniger erkennen.
Plötzlich wieherte ein Pferd direkt hinter ihnen. . Eine der Cavalla trabte auf sie zu; der weiche Grasboden verschluckte den Hufschlag.
Der Dummkopf von Maat musste den Pferch geöffnet haben. Nanja versuchte die Cavalla festzuhalten, aber sie sprang zur Seite und lief weiter. Sie wieherte noch einmal. Sondrias Singsang verstummte, die Heilerin drehte sich um und starrte das Pferd an. Sie stand auf und ging mit weit ausgestreckten Armen darauf zu.
„Was macht sie denn?“, fragte Sitaki kopfschüttelnd.
Nanja fiel ein, dass Bhiel, der Göttin der Heilerinnen, eine pferdeähnliche Gestalt zugeschrieben wurde. „Ich weiß nicht; das kann nicht richtig sein.“ Sahen die Heilerinnen Pferde, wenn sie in Trance fielen?
Die Cavalla blieb stehen als ob sie auf etwas wartete. Im gleichen Augenblick, als Sondria das Pferd berührte, schrie Ron so schrecklich, wie Nanja noch nie einen Menschen hatte schreien hören. Er bäumte sich auf und warf sich hin und her, als wehre er sich gegen einen unsichtbaren Gegner. Dann umklammerte er seinen Hals.
Sondria ließ das Pferd los und stürzte zu ihm zurück. Sie zerrte an seinen Händen, bis sie sich lösten und legte sie auf seiner Brust ineinander. Dann fiel sie um.
Nanja und Sitaki rannten los.
Während sich Sitaki um das erstarrte Mädchen kümmerte, beugte sich Nanja über Ron, der sich noch immer wand. Er hatte die Augen weit offen, schien aber nichts zu sehen.
„Ron!“ Sie hielt ihn fest; er zitterte. Sein Gesicht brannte an ihrer Wange. „Ron.“
Er stöhnte, krächzte etwas Unverständliches, dann entspannte er sich. Sie ließ ihn zurücksinken und kniete sich neben ihn, die Hand auf seiner Brust. Sein Herz schlug stolpernd; er keuchte und er blickte sie an. Plötzlich stand das Leuchten in seinen Augen, das sie schon einmal berührt hatte. Er sah sie!
Ein Funken Hoffnung schlich in ihr Herz.
Ron hustete heftig und atmete gurgelnd. Dann schloss er wieder die Augen. Sie sprach ihn an, aber er reagierte nicht. Mit zusammengebissenen Zähnen drehte sie sich um. Sondria lag starr und mit verdrehten Gliedern im Gras.
Sitaki stand auf und musterte Ron. „Ob sie etwas ausrichten konnte?“
Nanja schüttelte den Kopf. „Etwas ist schief gegangen.“
Er kam zu ihr und legte beide Arme um ihre Schultern. „Magie ist gefährlich. Aber es war richtig, dass wir es versucht haben. Es war seine einzige Chance.“
„Wenn ich nur eine andere Heilerin mitgebracht hätte.“
„Du hattest keine Zeit zu suchen.“
„Doch“, flüsterte sie. „Während ich auf Margoro wartete. Oder statt die Zeit damit zu verschwenden, dass ich Wribald das Arsenal vorführte.“
Sitaki strich ihr übers Haar. „Mach dir keine Vorwürfe; du hast dem Mädchen vertraut. Du warst sicher, dass du es richtig machst.“
„Aber es war falsch“, klagte sie. „Nur das zählt.“
Darauf hatte er keine Antwort.
Einer der Piraten kam vom Feuer, blieb dann aber einige Ruderlängen entfernt stehen.
Nanja rief ihn zu sich. „Frag den Adligen, ob er hier draußen übernachten will oder auf dem Schiff.“
Gleich darauf stand ein empörter Margoro vor ihr: „Du kannst mich doch nicht in der Dunkelheit den Berg hinaufschicken!“
„Ich schicke dich nirgendwo hin. Such dir hier einen Platz zum Schlafen, wenn du willst.“
Er schnaufte heftig; sein Gesicht lief dunkel an. „Was ist hier eigentlich los?“
„Die Heilerin hatte einen Zusammenstoß mit einem der Pferde.“
„Und jetzt sorgst du dich mehr um die Heilerin als um das Pferd?“
Nanja konnte plötzlich lachen. „Dem Pferd ist doch nichts passiert.“
Margoro schien noch zorniger zu werden. „Was machst du hier eigentlich? Was soll das ganze Aufheben um diesen dummen Matrosen?“
„Dieser dumme Matrose ...“ Es ging ihn nichts an. Sie begleitete ihn zum Feuer und sorgte dafür, dass er einen Schlafplatz bekam. Die Piraten würden sich gut um ihn kümmern, denn sie wussten, dass er derjenige war, der die Pferde bezahlte.
Mit zwei Schüsseln Eintopf und zwei Decken ging sie zu Sitaki zurück. Sondria lag bewegungslos wie zuvor. Nanja breitete eine Decke über ihr aus; es gab nichts, was sie sonst tun konnte. Rons Gesicht glänzte schweißnass ; trotzdem deckte sie auch ihn zu.
Als sie gegessen hatten, setzten sie sich nebeneinander und Sitaki legte wortlos den Arm um sie. Immer hatte er sie so getröstet, schon als sie noch ein kleines Kind war. Aber in dieser Nacht fühlte Nanja sich dennoch mutlos und einsam. Hin und wieder stöhnte Ron dass er immer noch lebte, ließ sie hoffen.
Nanja und Sitaki warteten, dass die Nacht zu Ende ging. Die Stimmen der Männer am Lagerfeuer verstummten einer nach der anderen, als sie sich schlafen legten. Irgendwann verzogen sich die Wolken und der runde Mond stieg über den Horizont.
Da sie nun mehr sah, stand Nanja auf und kniete sich an Rons Seite. Sacht wischte sie ihm den Schweiß von der Stirn.
„Nanja“, ließ sich plötzlich Sitaki vernehmen.
Sie drehte sich um. Er deutete auf Sondria. Der Mond schien ihr jetzt direkt ins Gesicht. Nanja sah genauer hin und sie hatte den Eindruck, als habe sich das Mädchen bewegt. Sie warf noch einen Blick auf Ron, dann kniete sie sich zu Sitaki neben sie. Plötzlich fuhr das Mädchen hoch; erschrocken wichen beide zurück.
Sondria blickte um sich, als versuche sie zu erfassen, wo sie sich befand. Dann fuhr sie sich mit den Händen durchs Gesicht, rieb sich die Schläfen. „Bhiel!“ Ihre Stimme zitterte.
„Was ist passiert?“, drängte Nanja, aber Sondria schüttelte nur den Kopf.
„Es tut mir Leid“, flüsterte sie. „Was ist mit dem Matrosen?“
Nanja gab ihr den Weg frei und Sondria presste einen Moment ihre Hände ineinander und reckte sich. Als sie dann zu Ron trat, wirkte sie, als sei nichts geschehen.
Entweder war sie viel stärker als Nanja geglaubt hatte, oder sie hatte ein kaltes Herz. „Kannst du noch etwas für ihn tun?“
„Jetzt nicht. Wenn die Sonne aufgeht und den Geistern der Nacht einen Teil ihrer Macht nimmt, werden wir weitersehen.“
„Was ist passiert?“, fragte Nanja noch einmal.
Diesmal antwortete sie. „Es ist besser, wenn du es nicht weißt.“ Sie nahm die Decke, streckte sich im Gras aus und schlief sofort ein.
Sie war wirklich abgebrüht; unglaublich für ein solch junges Mädchen.
Nanja hockte sich wieder neben Rons Lager, schlang die Arme um die angezogenen Knie und betrachtete ihn. Er war schön; trotz seiner Stärke wirkte er feingliedrig; seine Finger waren lang und schmal wie die eines Musikanten. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, er könne Elfenblut in seinen Adern haben. (Sie erinnerte sich, dass Lastella ein erstaunliches Vertrauen zu ihm gefasst hatte.) Ob er mit den Pferden deshalb so gut zurecht kam, weil er sich mit ihnen verständigen konnte wie das Elfenkind es getan hatte? Aber wie war er zu den Sabienne gekommen? Und was war er bei ihnen gewesen – ein Gefangener?
Er keuchte plötzlich als bekäme er keine Luft mehr. Nanja richtete ihn auf. Sein Gesicht lag an ihrer Schulter, die Hitze drang durch den dichten Stoff ihres Hemdes. Sie hielt ihn fest und bemühte sich, wach zu bleiben.
Eine Berührung schreckte sie auf. Es dämmerte und Sondria stand hinter ihr. So war sie doch eingeschlafen.
Ron atmete flach, aber gleichmäßig. Sie ließ ihn auf die Decken zurück gleiten und Sondria beugte sich über ihn.
„Denkst du, dass es ihm besser geht?“, fragte Nanja; Sondria schüttelte jedoch den Kopf und ihr schnürte es wieder die Kehle zu.
„Aber er ist stark“, fuhr Sondria fort. „Noch ist er nicht verloren.“ Sie schaute Nanja an und lächelte. „Nicht nur Magie, auch die Liebe vermag eine Barriere gegen die Dämonen der Finsternis zu errichten.“
„Woher sollen die Dämonen das wissen?“ Dann erinnerte sie sich an das Leuchten in seinen Augen. Sie fühlte sich erröten und kam sich reichlich dumm vor.
„Dass du ihn liebst?“ Sondria lächelte noch mehr. „Ich weiß es doch auch.“
„Absurd!“ Ihre Stimme klang unerklärlich heftig, fiel ihr auf. Sie blickte in Rons bleiches Gesicht und plötzlich wünschte sie sich, er möge sie noch einmal so ansehen wie drei Tage zuvor auf der Brigantine. Ausgerechnet ein Landmensch.
„Bhiel möge mir verzeihen, dass ich sie schon wieder belästige.“ Sondria langte nach ihrem Bündel.
Nanja weckte Sitaki. Sie würde dafür sorgen, dass das Mädchen diesmal ungestört blieb.
Am Pferch stand Margoro. Er trug keine Schuhe mehr und seine Fußkleider hatten Löcher in den Zehen. Das kostbare Gewand war verschmutzt und am Saum eingerissen. Zumindest für den Augenblick schien es ihn nicht zu stören, denn er starrte mit glänzenden Augen auf die Pferde und nahm seine Umgebung kaum wahr. Er ignorierte sie, bis sie direkt neben ihm stand.
„Ihr werdet Schuhwerk brauchen, um über das Geröllfeld zu gelangen.“ Nanja konnte sich ein Feixen nicht verkneifen; sie hatte ihm sein Verhalten vom Vorabend nicht verziehen.
„Aber wieso denn?“ Er sah sie verzückt an. „Eines dieser wunderbaren Geschöpfe wird mich tragen. Und auf diesem mächtigen Schwarzen dort werde ich selber am Rennen teilnehmen!“ Er blickte so triumphierend, als habe er es schon gewonnen.
Nanja kniff die Augen zusammen.Eins dieser zierlichen Tiere mit seinem Gewicht auf dem Rücken würde wohl kaum mit einem Laufdrachen mithalten können.
„Wie kommt man hinauf?“
„Was?“ Seine Frage machte sie ratlos.
„Ich meine, wie steigt man auf? Knien sich die Pferde hin wie unsere Drachen oder braucht man eine Leiter?“
„Eine Leiter?“ Sie lachte und Margoro schaute sie böse an. Amüsiert tat sie ihm daraufhin den Gefallen, sich zu entschuldigen.
Er nickte gnädig.
„Wir haben zwei Sättel an Bord: Die Frauen auf Thannes Lane sitzen seitlich auf dem Pferd; die Männer lassen die Beine rechts und links herunterhängen. Aber wie man hinaufkommt?“ Nanja zuckte die Achseln. Ron war mit einem Sprung auf den Rücken des ungesattelten Stallone gelangt, aber sie wusste nicht, ob das auch der übliche Weg war, wenn die Pferde einen Sattel trugen.
Margoro streckte eine Hand aus und lockte die Pferde mit gurrenden Lauten, als hielte er sie für Hühner. „Wie lange wolltest du hier bleiben?“
„Bis sich die Pferde von den Strapazen erholt haben.“
„Die sehen doch gut aus. Ich muss zurück zu meinen Geschäften. Und das Rennen vorbereiten.“ Er musterte sie misstrauisch. „Bist du sicher, dass es dir um die Pferde geht und nicht um diesen Matrosen?“
„Gewiss; auf den Matrosen können wir verzichten, er ist kein erfahrener Seemann. Den können wir mit einem Mann und der Heilerin hier lassen.“ Nanja kaute auf ihrer Unterlippe. Vielleicht sollte sie Margoro jetzt doch mit seinen Illusionen konfrontieren. „Wenn du mit dem Stallone an dem Rennen teilnehmen willst, könntest du dich darauf auch hier auf der Insel vorbereiten. Oder nicht?“
„Ich sagte bereits, dass es keinen Unterschied macht, ob man einen Drachen oder ein Pferd reitet!“ Margoro reckte das Kinn angriffslustig vor; er erinnerte sie an einen Greif, der zum Kampf antrat.
Da ließ sie ihn wortlos stehen; sollte er sich doch blamieren.
„Wann laufen wir aus?“, rief er ihr hinterher.
In Hörweite wartete Nanja auf ein Zeichen der Heilerin. Weil keines kam, ging sie weiter. Sondria saß im Gras, als sei diesmal alles glatt gegangen. Aber hatte sie auch Erfolg gehabt?
„Sondria?“
Das Mädchen hob den Kopf. Sie wirkte erschöpft, aber Nanja fand keinen Anhaltspunkt, was sie dachte.
Ron sah unverändert aus; nur atmete er gleichmäßiger. Sie hoffte, das sei ein gutes Zeichen. „Wie geht es ihm? Hast du etwas erreichen können diesmal?“
Sondria lächelte. „Er lebt.“
Das sah sie selbst; sie begann die Geduld zu verlieren und ballte die Fäuste, um nicht zornig heauszuplatzen.
„Für heute sind die Schatten gebannt. Aber in der Nacht sind sie immer noch mächtig; du musst gut auf ihn aufpassen “
Nanja kniff die Augen zusammen. „Wie meinst du das?“
„Nicht ich habe ihn gerettet. Du hast ihn heute Nacht vor den Dämonen bewahrt.“
Nanja starrte sie an.
„Wenn du ihn nicht festgehalten hättest ... Meine Magie wäre zu spät gekommen.“
„Laufen wir jetzt aus oder nicht?“ Margoro stand unvermittelt hinter ihr.
„Können wir ihn aufs Schiff bringen?“, fragte sie die Heilerin.
„Du hast gesagt, er kann einfach hier bleiben!“, protestierte er.
Nanja wartete auf eine Antwort Sondrias, aber die zog nur die Brauen hoch. Nanja drehte sich um. „Ich habe mich geirrt.“
Er klappte den Mund auf und schnappte nach Luft; kurz vorm Explodieren. Sie sollte sich jetzt besser mit ihm befassen. Ron war für den Augenblick bei Sondria gut aufgehoben. „Willst du mit oder ohne Sattel reiten?“
Margoro kratzte sich am Kinn und tastete dann über seine stoppelige Backe. „Lass mir den Sattel holen. Ich will doch sehen, wie so ein Ding aussieht.“
Sie stand auf und blickte hoch zur Sonne; es könnte ihr wohl gelingen, alles so weit zu verzögern, dass sie an diesem Abend nicht mehr ausliefen. Wenn sie nur wüsste, ob Ron besser hier draußen oder auf dem Schiff aufgehoben wäre.
Nanja entschied sich fürs Bleiben und schickte nicht nur nach dem Sattel, sondern ließ die Männer auch alles mitbringen, was für einen weiteren Tag an Verpflegung notwendig war. Als sie die beiden Fässer Schnaps erwähnte, die sie in Kruschar an Bord genommen hatte, legte sich der aufkeimende Unmut. Nur der Maat schaute finster; sie wusste, dass man ihn aus dem Bett eines Mädchens geholt hatte.
Margoro hörte mit wachsendem Unmut zu. „Mit betrunkenen Matrosen fahre ich nicht“, knurrte er schließlich.
Nanja feixte. „Dann müssen wir noch eine Nacht bleiben. Die Männer haben sich ihr Fässchen verdient.“
„Das machst du mit Absicht“, stieß er hervor.
Sie nahm einen langen Strick und Äpfel und ging zum Pferch. Margoro tappte fluchend hinterher. Sie hielt einen Apfel über das Geländer und lockte die Tiere.
„Welchen willst du reiten?“
„Jetzt?“ Margoro starrte sie an. „Ich denke, du willst bis morgen bleiben.“
„Wieso denn?“, log sie. „Ich habe nichts dergleichen gesagt. Wir müssen deshalb bleiben, weil du nicht mit betrunkenen Matrosen fahren willst.“
Margoro blickte auf die Pferde und zerrte an seinen Ärmeln. „Den Berg hoch sollte ich eines nehmen, das sehr sanft ist, nicht?“
Am liebsten hätte sie ihn schon wieder ausgelacht. „Dann holen wir die weiße Cavalla.“
Er brummte irgendetwas, folgte ihr aber wieder. Sie ging um das Geländer herum und lockte sie mit einem Apfel.
Als das Tier herankam, griff Nanja in die Mähne und legte ihm lose das Seil um den Hals. Dann drückte sie es Margoro in die Hand. „Freunde dich an mit ihr.“
Der Adlige blickte zwischen ihr und der Cavalla hin und her; dann streckte er die Hand nach dem Pferd aus und begann mit einschmeichelnder Stimme zu reden. Als Nanja gehen wollte, fragte er wieder: „Und wie kommt man nun hinauf?“
„Willst du es ausprobieren?“ Nanja lächelte. „Steig aufs Geländer.“
Er gab ihr den Strick und mühte sich die zwei Holme hoch. Als er oben saß, wollte Nanja ihm das Seil zurückgeben, aber er wehrte ab.
Einige Piraten waren inzwischen aufmerksam geworden, dass am Pferch etwas geschah und kamen zu ihnen.
Magoro griff nach der Mähne, während Nanja das Seil hielt. Statt gleich aufzusteigen, zog er das Pferd zu sich heran. Nanja bemerkte, wie sich Lert und Farwo zuzwinkerten und grinste.
Derweilen streckte Margoro die rechte Hand nach der Kruppe aus und versuchte, das Tier parallel zum Geländer zu stellen. Einer der Männersprang in den Pferch und half, indem er von innen schob. Margoro nickte ihm zu, dann schwang er sein rechtes Bein, um auf den Pferderücken zu gelangen.: Nur musste er dazu die Kruppe los lassen; sofort drehte sich das Pferd weg, da der Pirat nicht stehen geblieben war. Margoro plumpste zwischen Pferd und Geländer und fiel nach hinten. Das Seil ließ er dabei vor Schreck los und das Pferd sprang davon.
Die Piraten lachten, während Margoro sich aufrappelte. Einer der Männer half ihm zurück aufs Geländer, während drei andere das Pferd in die gegenüberliegende Ecke drängten und schließlich einer von ihnen das Seil zu fassen bekam. Während die anderen zurückwichen, sprach er auf die Cavalla ein. Nanja fand, dass er seine Sache gut machte, denn er zerrte und zog nicht, sondern ließ ihr Zeit, ihm Schritt für Schritt zu folgen.
Schließlich stand er mit ihr vor Margoro. Ein zweiter Matrose trat hinzu und drückte die Cavalla dicht ans Geländer. Diesmal beugte Margoro sich nach vorne, legte sich halb über den Widerrist und hielt sich an der Mähne fest, bevor er sein Bein über den Rücken schob. So kam er richtig hinauf. Vorsichtig setzte er sich aufrecht und der Matrose gab ihm das Seil.
Erst saß Margoro ganz still; dann streichelte er mit der freien Hand den Pferdehals und murmelte vor sich hin. Das Tier spitzte die Ohren als versuche es, ihn zu verstehen.
Alle warteten gespannt, aber es geschah nichts. Auch die Cavalla schien zu warten. Margoro sah sich nervös um und rutschte auf dem Pferderücken hin und her. „Lauf doch endlich.“
Das Grinsen in den Gesichtern der Piraten wurde immer breiter. Margoro konnte es nicht entgehen; er runzelte die Stirn und seine Miene verfinsterte sich. Plötzlich gab er dem Pferd einen Klaps auf die Kruppe: Es reagierte mit einem Satz nach vorne – und Margoro saß auf der Erde. Das Gelächter der Matrosen brach sich an den Hängen.
Margoro fluchte, dann besann er sich seines Rangs und erhob sich so würdevoll wie möglich. Er trat ans Geländer. „Ich vergaß zu fragen, wie man es in Gang setzt. Anscheinend laufen sie nicht wie unsere Drachen von alleine los, sobald man Platz genommen hat.“
„Ich glaube, das liegt daran, dass sie unsere Gedanken nicht lesen können.“ Auch sie konnte sich das Lachen nicht mehr verkneifen, aber nun mochte er es auf die Pferde beziehen. „Sie sind wohl ein bisschen dumm.“
Margoro sah sie erstaunt an. Da erst fiel ihr ein, dass die Landmenschen nicht wussten, dass Drachen Gedanken lesen konnten.
Die Cavalla lief zur Herde zurück. „Sollen wir sie holen?“, fragte einer der Matrosen.
Margoro blickte zu den Pferden „Vielleicht warte ich besser, bis ihr mir den Sattel gebracht habt.“ Er grinste. „Die Sabienne werden einen Grund haben, dass sie Sättel benutzen.“
„Ron kann ohne Sattel reiten“, entfuhr es Nanja.
„Ron?“ Margoro schob den Kopf über das Geländer. „Wer ist das?“
Sie deutete mit einer Kopfbewegung zum Waldrand. „Der Matrose, den die Heilerin zu retten versucht.“
Margoros Augen wurden schmal und sie fragte sich, was er aushecken mochte. Zuerst verfluchte sie ihre Unachtsamkeit, aber spätestens, wenn es Schwierigkeiten gäbe, die Tiere wieder an Bord zu bringen, würde sich jemand verplappern. „Warten wir also.“
Sie war sicher, dass er ihr folgen würde, wenn sie jetzt zu Ron ginge und dass er alleine hinüber laufen würde, wenn sie es nicht täte.
Aber Sitaki kam vom Schiff zurück und augenblicklich interessierte sich Margoro nur noch für den Sattel. Die Piraten stürzten sich mit Gejohle auf die Schnapsfässer und Nanja wandte sich ab, zufrieden, dass nun alle beschäftigt waren.
Sie wies Sitaki an, am Nachmittag die Verladung der Pferde vorzubereiten und eine stabilere Brücke zu bauen. Die meisten der Piraten fürchteten sich noch immer vor den Pferden und die Tiere würden sich davor fürchten, an Bord zurückzukehren. Eine brisante Mischung. Sie brauchte Ron; wenn er wenigstens in der Lage wäre, ihr einen Rat zu geben.
Sondria hatte sich im Gras ausgestreckt. Schlief sie oder war wieder etwas passiert?
Sie wollte sich ihre Sorge nicht anmerken lassen und ging zu Margoro an den Pferch. Gemeinsam mit zwei Matrosen beriet er darüber, wie der Sattel zu befestigen wäre. Nanja erinnerte sich an das Rennen, das sie bei den Sabienne gesehen hatte, und zeigte es ihnen. Doch dann konnte sie sich nicht länger bezwingen.
Sondria schien tatsächlich zu schlafen; aber mehr als einen Blick hatte Nanja nicht für sie. Sie kniete sich neben Ron. Sein Gesicht war grau und eingefallen; er atmete hektisch mit halb geöffnetem Mund. Sie sprach ihn an, aber er reagierte nicht. Sie tauchte ihre Hand in die Wasserschüssel und benetzte seine ausgetrockneten Lippen.
„Wach auf“, flüsterte sie. „Ron, wach doch auf!“ Für einen Moment schien ihr, als flatterten seine Augenlider, aber vielleicht täuschte sie sich. Oder es war nur ein Reflex. „Ich lasse nicht zu, dass die Dämonen dich mitnehmen.“
Doch sie sollte auch Margoro nicht mehr aus den Augen lassen. Sie biss die Zähne zusammen, bis sie knirschten; dann schaute sie zum Pferch. Er mühte sich immer noch erfolglos mit der Cavalla und kam nicht vom Fleck. Eben stieg er wieder ab. Er band das Tier ans Geländer und kam er zu ihr.
Erst betrachtete er Ron, dann schaute er mit zusammengekniffenen Augen zur schlafenden Sondria. „Er lebt noch“, stellte er überflüssigerweise fest. Ein bisschen erstaunt klang es. „Aber er sieht schlimmer aus als gestern. Mit ihr hast du wohl kein Glück gehabt.“
Nanja antwortete nicht und er brabbelte noch eine Weile in dieser Weise weiter. Plötzlich sagte er. „Bring mich nach Kruschar zurück. Ich kenne eine alte Hexe, die mir noch etwas schuldig ist.“
„Bis du zurück bist, wäre es zu spät.“ Sie dachte an Sondrias Mahnung. Sie würde Ron in dieser Nacht nicht alleine lassen.
„Ich könnte es wenigstens versuchen“, drängte er. Also hatte Margoro begriffen, dass er ihn brauchte.
Nanja lächelte scheinheilig. „Warum ist dir plötzlich so wichtig, dass er am Leben bleibt?“
„Das weißt du ganz genau!“ Er plusterte sich regelrecht auf und sein Gesicht wurde rot. „Du hast mich an der Nase herumgeführt.“
Sie schüttelte den Kopf. „Er wird nicht für dich reiten können; es sind nicht einmal mehr zwei Wochen bis zum Rennen.“
„Er muss!“ Margoro trat dicht an ihn heran. „Einmal ein Sklave, immer ein Sklave. Ob auf dem Kontinent oder bei uns, das ist gleich.“ Er grinste hinterhältig, als er sich wieder zu ihr umdrehte. „Was dachtest du, was er bei den Sabienne gemacht hat?“
Nanja erschrak; er meinte es ernst. Und vermutlich war Ron tatsächlich ein entlaufener Sklave. Aber er konnte es nicht beweisen. „Wie kommst du darauf, dass er bei den Sabienne gelebt hat?“
„Du hast es mir verraten – als du sagtest, dass er ohne Sattel reitet.“ Margoro zerrte an seinem Ärmel. „Ich habe gerade festgestellt, dass du Recht hattest: Es ist ein Unterschied, ob man einen Drachen oder ein Pferd reitet. Ich brauche jemanden, der mich lehrt, den Stallone zu reiten. Und einen, der mit einem zweiten Pferd antritt. Der da kann beides.“ Er zog einen Beutel aus seinem Gewand und warf ihn ihr zu. „Ich kaufe ihn dir ab.“
„Nein.“
Margoro starrte sie einen Moment an, dann blickte er zu den Piraten hinüber und grinste wieder. Den Beutel ließ er liegen, als er zum Feuer zurückging.
Als sie sich zu Ron umwandte, hatte er die Augen geöffnet und sah sie finster an.
Sie lächelte und langte nach dem Wasserbecher. Bevor sie ihm half, sich aufzurichten, strich sie ihm eine lange Strähne aus dem Gesicht. Die Düsternis verschwand für einen Moment aus seinem Blick.
Er stöhnte, als sie ihn hochzog. Sie setzte den Becher an seine Lippen und er trank mit geschlossenen Augen. Gleich nach den ersten Schlucken hustete er und würgte; das Wasser rann das Kinn hinab.
Sie hielt ihn fest, bis er wieder gleichmäßig atmete. „Versuch es noch einmal. Du musst trinken.“
Plötzlich stand Sondria neben ihnen. „Ich kümmere mich um ihn.“
Sie nahm Nanja den Becher ab und zog den Kräuterbeutel aus ihrem Gewand. Damit lief sie zum Feuer und kam bald darauf mit einem dampfenden Gebräu zurück.
Lamgsam flößte sie ihm einen Teil ihres Tranks ein. „Er wird jetzt schlafen – und das solltest du auch, Kapitänin. Ich werde bis zum Abend bei ihm wachen.“ So glaubte Sondria wirklich, dass sie ihn besser vor den Dämonen der Finsternis schützen konnte.
Sie wickelte sich in Sondrias Decke und legte sich hin. Sitaki würde sich um alles kümmern. Und Margoro konnte hier nichts tun. Im Einschlafen fragte sie sich, was Ron gehört haben mochte; sie musste herausfinden, was er verbarg. Ihre Gedanken begannen sich zu verwirren und dann schlief sie ein und träumte davon, wie sie Ron geschlagen hatte.
Sitaki weckte sie, als Lert das Abendessen austeilte.
Im Gegensatz zum Vorabend saß Margoro etwas abseits; die Piraten schienen ihn zu meiden. Hatte er versucht, sie aufzuwiegeln, um Ron in die Hände zu bekommen? Aber die Hochseebewohner waren freiheitsliebende Menschen. Und ihre Männer hassten die Sklaverei; von manch einem vermutete sie, dass er einen guten Grund dazu hatte.
Trotzdem erfüllte Margoros Anblick sie mit Sorge und sie sprach mit Sitaki darüber. Er fragte, ob sie Ron nicht tatsächlich besser auf Gemona lassen sollte. Doch hier wäre er schutzlos; so verwarfen sie den Vorschlag gleich.
Der Schnaps und die Erwartung, den kommenden Abend in den Spelunken Kruschars zu versaufen, steigerten die Stimmung der Piraten. Sie prahlten von ihren Erfolgen bei den Hafenmädchen, sangen und lachten.
Als die Männer sich einer nach dem anderen in ihre Decken wickelten, ging sie mit Sitaki zu Ron zurück, um Sondria abzulösen. Als sie ihm sanft über das Gesicht strich, reagierte er mit einem Murmeln, an der Schwelle zum Bewusstsein. Wie in der Nacht zuvor hockte sie sich mit angezogenen Knien neben ihn.
Die Zeit verging und Nanja bemühte sich, wach zu bleiben. Ein paar Mal stand sie auf und lief einige Schritte auf und ab.
Plötzlich schrie Ron und warf sich keuchend hin und her. Sie sprach ihn an, aber er reagierte nicht. Wie in der Nacht zuvor nahm sie ihn in die Arme. Er stöhnte und wand sich; kaum vermochte sie ihn zu halten. Etwas schien an ihm zu zerren; sie schloss ihre Arme fester um ihn.
Warum bewegten sich die Schatten um sie herum? Das war nicht nur der Wind, der die Blätter rascheln ließ. Dann hörte sie ein Geräusch, das sie nicht einzuordnen vermochte. „Nein!“, rief sie zornig. „Ihr bekommt ihn nicht!“
Einst hatte sie beten gelernt, aber seit die Götter ihr die Mutter genommen hatten, glaubte sie nicht mehr an sie. Doch jetzt versuchte sie sich zu erinnern, ob es nicht eine gäbe, die sie anrufen könnte. Akele, die Göttin des Lichts und der Liebe, war vielleicht gerade recht, die Finsternis zu vertreiben.
Sie fühlte eine Bewegung direkt hinter ihrem Rücken; fast hätte sie sich umgedreht. Aber vielleicht konnten die Dämonen sie bannen, wenn es ihnen gelänge, ihren Blick zu fangen. Ihr war, als zupfe sie etwas am Ärmel. Ron stemmte sich ächzend gegen sie. Sie schloss die Augen und umklammerte ihn noch fester als zuvor. „Ron!“, flüsterte sie. „Bei der Göttin, wach auf!“ Doch er schien sie nicht zu hören.
Als sie die Augen wieder öffnete, schienen die Schatten noch näher gerückt. Wo war der Mond geblieben?
Jetzt spürte sie ganz deutlich, dass etwas versuchte, ihre Hände zu lösen, die sie auf Rons Rücken ineinander verschränkt hatte. Sie krallte die Finger in sein Hemd. Wenn er nur aufwachte! Gemeinsam würden sie die Dunkelheit besiegen.
Oder Sondria? Sie rief laut nach der Heilerin. Im nächsten Augenblick stand sie neben ihr.
Ron stöhnte und wehrte sich weiter gegen Nanjas Umklammerung; sie keuchte vor Anstrengung, ihn zu halten. Das Hemd zerriss unter ihren Fingern. Wollten die Geister ihn lebend haben?
Sondria befahl Sitaki, lange Zweige von den nächstgelegenen Büschen zu schneiden. Dann verfiel sie in einen Singsang aus unverständlichen Worten, den sie auch nicht unterbrach, als Sitaki mit den Ästen kam. Mit einer Geste bedeutete sie ihm, dass sie noch mehr bräuchte. Singend und murmelnd legte sie am Boden ein großes Pentagramm um Rons Lager
In dem Augenblick, als Sondria die Figur schloss, verschwand schlagartig die Kraft, die an Nanjas Händen zerrte, und Ron entspannte sich. Sein Kopf sank auf ihre Schulter; im ersten Augenblick erschrak sie, aber dann spürte sieseinen Atem. Sie und bewegte ihre verkrampften Schultern, um sie zu lockern, während sie sich umsah.
Sondria kniete am Boden, gestützt von Sitaki. Die Nacht erschien Nanja weniger dunkel als zuvor; die Schatten bewegten sich nicht mehr. War es vorbei?
Sondria ließ sich von Sitaki auf die Füße helfen und trat bis an die Zweige des Pentagramms. „Lass ihn nicht los. Es ist noch lange bis zum Morgen.“
Nanja biss die Zähne zusammen und nickte. Aber sie fragte sich, wie sie einen solchen Angriff ein zweites Mal überstehen sollte, wenn Ron selbst gegen sie kämpfte.
Sie strich ihm über den Rücken. Endlich hob er den Kopf; Schweiß tropfte von seinem Gesicht. „Kapitänin“, krächzte er. „Ich habe Durst.”
Sie erhob sich und langte nach dem Becher. Einer der Äste des Pentagramms knackte und zerbrach unter ihrem Fuß. Da schrie er auf und noch ehe sie den Becher fallen ließ, riss ihn etwas von seinem Lager. Es gelang ihr, ihn an den Füßen zu packen und sie warf sich über ihn, um ihn festzuhalten. Sitaki stürzte herbei und durchbrach das Pentagramm. Etwas zog an Nanjas Beinen; sie trat dagegen. Sitaki packte Rons Arme, zog ihn herab und umklammerte ihn von hinten. Sondria schob den Becher in das Innere der Figur und schloss das Pentagramm wieder. Die Gewalt verschwand.
Sitaki zitterte genauso wie Ron. „Ich habe sie gesehen.“ Seine Stimme bebte; er lallte fast. „Ich habe den Tod gesehen; ich werde sterben.“
„Halte ihn fest“, rief Sondria. „Wir werden abwechselnd wachen.“ Sie winkte Sitaki und er trat taumelnd über die Grenze des geschützten Bereichs.
Nanja liefen Tränen übers Gesicht, als ihr bewusst wurde, dass sie Ron fast verloren hätte. Sie wagte nicht, sie fortzuwischen und presste ihn an sich.
Schließlich dämmerte der Morgen. Sondria trat zu ihnen. „Es ist vorbei.“
Nanja starrte sie müde an. „Und heute Abend?“ Sie ließ Ron los und massierte sich die verkrampften Hände. „Was war das?“
„Es ist besser, du weißt es nicht.“
Sondria löste Rons Verbände und legte rötliche Blätter auf die offenen Wunden. Aus der tiefen Verletzung am rechten Oberschenkel sickerte noch immer Blut; die übrigen waren über Nacht alle gut verschorft; nur die Wundränder waren vielfach noch entzündet.
Sondria bemerkte Nanjas sorgenvollen Blick. „Auch Magie hat ihre Grenzen. Weißt du das nicht?“
„Kann er noch immer sterben?“
„Er wird bald einigermaßen gesund sein. Vielleicht wird er nie wieder kämpfen wie früher. Doch er wird reiten können.“
So hatte Sondria das Gespräch mit Margoro gehört. „Hältst du das für klug?“, fragte Nanja ohne Umschweife, während Sondria die Verbände erneuerte.
Sondria schüttelte den Kopf. „Und es wäre auch keine gute Idee, wenn er hier bliebe.“
Das wusste Nanja bereits; sie ging zu ihren Männern, um die Rückkehr aufs Schiff zu organisieren.
Die Brigantine ankerte inzwischen wieder an der Klippe und Sitaki hatte sie am Vorabend über eine stabile Holzbrücke fest mit dem Land verbunden. Sie mussten nur den immer noch recht gefährlichen Pfad auf den Kamm bewältigen; der Rest sollte eine Kleinigkeit sein.
Margoro gedachte tatsächlich, den Weg reitend zurückzulegen. Bis auf den Schwarzen probierte er alle aus. Aber es gelang ihm auch mit Sattel nicht, eines der Pferde zum Laufen zu bewegen.
Schadenfroh verfolgte Nanja seine Versuche eine Weile, dann befahl sie einen an seine Seite, um das Pferd zu führen. Das brachte ihn jedoch nur bis zu jenem Teil des Aufstiegs, den sie frei gesprengt hatte, denn dort konnte der Pirat nicht mehr neben ihm gehen. Als er mit dem Strick in der Hand vorausging, scheute das Pferd und Margoro stürzte. Nur ein großer Strauch kurz unterhalb des Pfads bewahrte ihn davor, den ganzen Hang hinunterzurutschen.
Zwei Männer ließen sich an Seilen zu ihm hinab und hievten ihn zurück auf den Weg. Er weigerte sich strikt, noch einmal das Pferd zu besteigen, aber da er keine Schuhe trug, war er auch nicht bereit zu laufen; also ließ Nanja die Trage holen, die für Ron gedacht war.
Bis sie alle Pferde auf der Klippe hatten, war es fast Mittag. Sie hieß Lert an Bord gehen und ein ordentliches Essen zubereiten. Matrosen wie Pferde sollten ausgeruht sein, bevor sie sich an die Verschiffung wagten. Margoro drängte erst zur Eile, hatte dann aber ein Einsehen.
„Du lässt den Matrosen mit der Heilerin da, nicht wahr?“
Wenn sie noch Zweifel gehabt hätte, nun wäre sie sicher, dass sie damit einen Fehler beginge. „Ich brauche ihn hier, um die Pferde sicher aufs Schiff zu bringen“, log sie. „Dann kann ich ihn auch gleich an Bord nehmen.“
Magoro zog die Augenbrauen hoch. „Er kann sich nicht einmal rühren; was soll er alsonützen?“
„Er kann uns raten.“
Auf der Klippe angekommen, gelang es Sondria, Ron aus seiner Bewusstlosigkeit zu holen. Er nickte, als er die Brückenkonstruktion sah. „Ihr dürft euch nicht fürchten. Dann werden die Pferde euch vertrauen, wenn sie über die Brücke sollen.“
„Das ist alles?“, fragte Margoro. „Warum ist es dann so schwierig, sie zu reiten?“
Ron betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. Er kam wohl zu dem Schluss, dass Margoro wie ein wichtiger Mann aussah, denn er antwortete höflich: „Das kann ich Euch nicht sagen, Herr. Ich weiß nur, dass sie selbst Kindern schon gehorchen.“
„Wie kannst du es wagen?“ Auf Margoros Stirn trat eine Ader pochend hervor. Ohne es zu ahnen, hatte Ron ihn an seinen blamablen Reitversuch vom Vortag erinnert. „Dafür wirst du mir büßen.“
Nanja griff reflexhaft nach ihrem Dolch; mit geballten Fäusten wandte sie sich den Piraten zu.
Sie musterte ihre Leute einen nach dem anderen. Sitaki war zu alt und ungelenk; außer ihm gab es wohl nur den jungen xxv, der sich vor den Pferden nicht fürchtete. Doch selbst er erbleichte, als sie ihm befahl, den Stallone zu holen und zur Brücke zu bringen.
Ron richtete sich auf. „Führ ihn her.“ Er ließ sich das Seil geben und sprach auf das Tier ein, das die Ohren spitzte und bewegungslos dastand. „Steig auf“, sagte er dann zu dem Matrosen.
xxv sah zur Brücke, dann zu Nanja; sie las Entsetzen in seinem Blick. Gewiss dachte er an den Tag der Landung.
Aber wenn Ron das so richtig fand. „Halt dich an der Mähne fest“, befahl sie dem Mann.
Der Matrose schloss einen Moment die Augen, dann holte er tief Luft und zog sich behutsam auf den Rücken. Ron hielt immer noch das Seil und sprach ununterbrochen auf den Stallone ein; der hielt still.
Sitaki trat langsam auf sie zu und nahm Ron den Strick ab. „Rede mit ihm“, sagte er. „Leg deine Beine ganz fest an, aber tritt ihn nicht.“ Er führte das Pferd bis zu Brücke; dann gab er (Name) den Strick in die Hand.
Margoro sah mit verschränkten Armen zu. Seine Augen glitzerten und sie fand, dass Hinterhältigkeit aus ihnen sprach. Er überlegt, ob der als Reiter in Frage kommt, dachte sie zornig.
Stolz, mit strahlenden Augen, kam der Junge zurück, nachdem er den Stallone in den Unterstand geführt hatte. „Es ist ja ganz einfach“, rief er schon von der Brücke. Und als er vor Ron stand, hauchte er: „Es war ... es ist unbeschreiblich.“
„Still“, zischte Nanja und warf aus den Augenwinkeln einen besorgten Blick auf Margoro. Neben ihm stand der Maat und sprach leise auf ihn ein. Nanja gefiel das alles immer weniger.
Der Matrose zuckte erschrocken zusammen als fürchte er ihren Jähzorn
Aber er sollte sich nicht getadelt fühlen. „Versuche die Götter nicht“, sagte sie daher schnell. „Noch müssen wir die anderen hinüberbringen.“
Als Geste der Demut senkte er den Kopf. „Verzeiht, Kapitänin.“
Sie lächelte, als er sie wieder ansah. „Das war gut so. Mach weiter.“
Als er mit dem nächsten Pferd auf der Brücke war, flüsterte Sitaki: „Sobald Margoro uns bezahlt hat, sollten wir uns aus dem Staub machen.“
Schließlich hatten sie die Pferde ohne Zwischenfälle an Bord. Aber der Tag war zu weit fortgeschritten; bis sie in Kruschar wären, würde man sie nicht mehr in den Hafen einlaufen lassen. Margoro tobte und schwor, mit ihm an Bord würde man jedes Schiff jederzeit in den Hafen lassen. Aber Nanja hatte inzwischen viele Gründe, nicht des Nachts anzukommen. Nanja in ihrem Zorn hatte gute Lust, Margoro zur Mannschaft zu schicken und in seiner Kajüte Ron unterzubringen. Sie stellte ihn stattdessen vor die Wahl, ob er an Bord oder an Land schlafen wollte.
Sondria versicherte Nanja, dass Ron außer Gefahr sei; aber er fieberte immer noch und als sie ihn am Abend aus einem unruhigen Schlaf zu wecken versuchte, reagierte er wieder nicht. So ließ sie ihn in ihre Kajüte bringen und blieb bis zum Morgengrauen an seiner Seite. Als es dämmerte, rief sie Sitaki und befahl ihm auszulaufen. Kurz vor Kruschar sollte er sie wecken.
Als sie in ihre Kajüte zurückkehrte, saß Ron aufrecht in ihrem Bett und lachte mit Sondria, die seine Wunden versorgte. Nanjas Magen verkrampfte sichBetont kurz fragte sie, ob Ron etwas bräuchte und ging wieder an Deck. Erst als Sondria aus ihrer Kajüte kam, ging sie hinunter und rollte sich in einer Ecke in eine Decke zum Schlaf. Vor dem Einschlafen fiel ihr auf, dass Ron sie für launisch halten musste ob ihres schroffen Verhaltens, aber nun konnte sie es nicht mehr ändern, ohne sich eine Blöße zu geben.
Nanja traute Margoro nicht mehr. Doch er war freundlich und schickte bereitwillig nach seinem Hofmeister, als sie ihn nach der Ankunft in Kruschar bat, das Geld für die Pferde zu übergeben noch bevor sie ausgeladen waren, damit die Matrosen zu ihrem Vergnügen kämen.
Währenddessen versammelten sich immer mehr Menschen am Kai.
„Sie wollen die Pferde sehen“, sagte Margoro. Er ließ den Schwarzen aus dem Unterstand holen und vorführen.
Er stellte sich neben dem Pferd an die Reling, legte einen Arm auf den Widerrist und winkte huldvoll. Die Menschen klatschten und jubelten . Da griff er in sein Gewand, öffnete einen Beutel und warf eine Hand voll goldener Münzen hinunter.„Lass ihn reiten“, forderte er.
Nanja schüttelte spontan den Kopf; aber dann nickte sie mit einem strahlenden Lächeln. „Ich lasse den Sattel holen, dann kannst du aufsteigen.“
Er nahm den Vorschlag wohl ernst, denn sein Gesicht, das eben noch vor Zufriedenheit geglänzt hatte, verfinsterte sich. „Nicht ich – der Junge, der ihn an Bord gebracht hat.“
„Er kann nicht reiten.“
„Und was hat er gestern gemacht?“, beharrte Margoro.
Nanja dachte daran, wie der Stallone Ron zu Anfang abgeworfen hatte, auch jetzt war das Tier sichtlich nervös. Aber dass es für xxv gefährlich werden konnte, würde Margoro gewiss nicht beeindrucken. „Es ist zu viel Trubel hier; lass den Tieren Zeit, sich daran zu gewöhnen. Du riskierst, dass sie sich verletzen. Oder du machst du dich am Ende noch lächerlich.“
Das zog; Magoro gab nach.
„Heute müssen wir bleiben, sonst gibt es eine Meuterei“, sagte Sitaki, als Margoro mit den Pferden das Schiff verlassen hatte. „Aber dann sollten wir so schnell wie möglich verschwinden.“
Nun, da Margoro fort war, sah Nanja alles viel gelassener. Und sie wusste, dass die Piraten scharf auf das Fest waren; seit Jahren hatten sie es nicht versäumt. „Wir haben noch eine Verabredung“, sagte sie. Sie erzählte ihm in aller Ausführlichkeit von Wribald und dem verabredeten Waffenhandel.
Aber Sitaki blieb besorgt. „Mit den Rebellen können wir uns anderswo treffen. Sondria kann als Botin dienen; wir brauchen sie doch nicht mehr.“
Halb überzeugte er sie und sie sprach mit Sondria. Aber das Mädchen erinnerte sie daran, dass ihr auch von den Rebellen Gefahr drohte und sie nichts anderes tun konnte als in der Herberge auf Wribalds Rückkehr zu warten.
„Eine Botin, die von Hollor gefangen genommen würde, ist uns eher eine Gefahr als ein Nutzen“, fand Sitaki dann und damit war die Sache erledigt. Nanja war froh, dass sie nicht dazu gekommen war, Sondria von den Waffen zu erzählen und dass das Mädchen auch nicht gefragt hatte, was wie von den Rebellen wollten.
Sondria kehrte in die Herberge zurück, kam aber täglich, um nach Ron zu sehen. Nanja sah es mit wachsendem Unmut, denn er brauchte sie nicht mehr. Zwar konnte wegen der tiefen Beinwunde nicht laufen, aber es gab keinen Grund, sich um ihn Sorgen zu machen.
Als sie Sondria schließlich darauf ansprach, erklärte sie, dass sie sich in ihrer Herberge langweile, alleine aber nicht durch die Stadt streifen wolle. Da schlug Nanja ihr vor, mit ihr zusammen durch die Läden über die Märkte zu streifen.
Es waren noch fünf Tage bis zum Beginn des Festes und eine Woche bis zum Rennen. Die Herbergen der Stadt füllten sich; in den Gasthäusern und Spelunken wurde es schwerer, Platz zu finden. immer öfter kamen daher die Matrosen zum Schlafen und Essen an Bord zurück. Nanja war zufrieden: So hätte sie bei Bedarf schneller ihre Leute beisammen, um zu einem Treffen mit den Rebellen auszulaufen.
Wribald ließ sich jedoch nicht blicken. Stattdessen tauchte drei Tage vor dem Rennen Margoro wieder auf.
Er brachte ein Kästchen, gefüllt mit wertvollen schwarzen Perlen, und einen Beutel Gold. „Ich will ihn haben!“, sagte er. „Der Preis spielt keine Rolle. Ich brauche ihn, um das Rennen zu gewinnen.“
Nanja schüttelte den Kopf. „Ich bezweifle, dass er dir etwas nützen kann. Er kann noch nicht reiten, geschweige denn ein Rennen gewinnen.“
„Er kann mich zumindest beraten“, schlug er sie mit ihrem eigenen Argument.
Sie zuckte scheinbar gleichgültig die Achseln. „Wenn du möchtest, frage ihn.“
„Was?“ Margoro lachte schallend. „Was soll ich ihn fragen? Ich kaufe ihn dir ab und dann tut er, was ich ihm befehle.“
„Ron ist ein freier Mann.“ Nanja verfluchte sich im Stillen, dass sie Ron nicht gefragt hatte. Vielleicht hätte sie Margoro dann beweisen können, wer er war. Allerdings glaubte sie es selber nicht recht.
Magoro schnaufte und funkelte sie böse an. „Er ist ein entlaufener Sklave; und das weißt du so gut wie ich.“
Sie stand auf und zog ihren Dolch. „Verschwinde.“
Sein Blick sagte ihr, dass sie nun einen Feind hatte.
Sie schickte den Koch Vorräte einkaufen und ließ am Abend jeden auffindbaren Mann an Bord zurückholen.
Mitten in der Nacht erwachte Nanja; von Deck hallten schwere Schritte. Dann hörte sie jemanden schreien. Sie schlüpfte in ihre Kleider, griff nach dem Dolch und schlich die Treppe hoch.
Sie kam zu spät. Soldaten hatten die Bordwache überwältigt und die beiden Männer an den Fockmast gefesselt; das Deck war in ihrer Hand.
Einige Piraten, hatten sich ans Ruder zurückgezogen und wehrten sich verzweifelt gegen die Übermacht. Aber es wäre zwecklos, die noch Schlafenden in den Kampf zu schicken, denn am Kai stand eine weitere Kohorte Soldaten.
Das war Margoros Werk.
Leise ging sie zurück und lief zu der Kajüte, in der Ron schlief. Sie weckte ihn und verfluchte einmal mehr den Tag, an dem sie die Fenster hatte verglasen lassen. Dieses ließ sich nicht einmal öffnen. Aber der Kampflärm an Deck würde wohl das Geräusch des splitternden Glases übertönen.
Sie schlug die Scheibe ein und lauschte. „Spring!“
Ron rührte sich nicht von der Stelle. „Ich kann nicht schwimmen.“
Nanja fluchte alle Flüche ihres Lebens. „Du musst! Es gibt nur diesen Weg.“
Er schüttelte den Kopf. „Sie wollen mich, nicht wahr?“ Er tat einen Schritt mit dem gesunden Bein, aber das andere trug ihn nicht. Mit einem leisen Ächzen krallte er sich am Bettpfosten fest. „Hilf mir nach oben, bevor sie alle töten.“ Er keuchte vor Schmerzen, als er den nächsten Schritt versuchte.
„Nein“, flüsterte sie.
Ron lächelte dünn. „Margoro will doch nur, dass ich reite.“
„Er wird dich töten, wenn du nicht gewinnst.“ Aber sie wusste keinen Ausweg.
Es blieb ihr keine Zeit mehr, einen zu finden. Soldaten polterten die Treppe hinab und traten die Kajütentür ein. Sie zog ihren Dolch und stach den ersten, der eintrat, in die Brust. Aber noch ehe sie den Dolch aus ihm herausgezogen hatte, wurde sie von den anderen überwältigt.
Sie wehrte sich nicht, als man sie fesselte. Ron, da er nicht laufen konnte, wurde brutal die Treppe hoch geschleift. Noch ehe sie an Deck anlangten, brach seine Beinwunde wieder auf und er hinterließ eine deutliche Blutspur. Hatte Margoro den Soldaten nicht gesagt, wie wertvoll er war?
Ihre Männer waren inzwischen überwältigt und gefesselt worden. So weit sie sehen konnte, hatten alle den Kampf überlebt. Aber etliche waren verletzt.
Die Soldaten schleppten Nanja zusammen mit Ron vom Schiff.
„Margoro will deine Unterschrift unter den Vertrag, Kapitänin.“ Rons Tonfall ließ nicht erahnen, was er dachte.
„Ich habe ihm nichts zu verkaufen“, fauchte sie ihn an. Darauf zu beharren, dass er als freier Mann angeheuert hatte, war die klägliche, einzige Hilfe, die sie jetzt noch für ihn hatte.
Doch man brachte sie nicht zu Margoro, sondern in den Kerker vor den Toren der Stadt in ein kaltes fensterloses Kellerverlies. Sie zogen ihnen die Schuhe aus und dann wurden sie mit eichenen Zwingen nebeneinander an die Wand gefesselt. Den Boden konnten sie gerade mit den Fußspitzen berühren.
Als sie dann in der Dunkelheit nach Ron rief, antwortete er nicht.
Von irgendwo kam das Geräusch tropfenden Wassers; sie zählte die Platscher, um das Gefühl für die Zeit nicht zu verlieren. Sie fror und nach einer Weile begannen ihre Gelenke zu schmerzen. Irgendwann konnte sie sich nicht mehr auf den Zehen halten und sie sackte in die Ketten, sodass es ihr fast die Arme auskugelte.
Lärm und laute Stimmen schreckten sie aus ihrem Dämmerzustand.
Die Tür wurde aufgerissen und das grelle Licht mehrerer Fackeln blendete sie für einen Moment. Sie kniff die Augen zusammen und sah zu Ron; er erwiderte ihren Blick. Warum hatte er ihr nicht geantwortet?
„Da habt ihr die Oberhexe zu eurer Gesellschaft“, rief eine spöttische Stimme. Soldaten stießen Sondria die Stufen hinab; sie stolperte und schlug mit dem Gesicht gegen die Türkante. Sie wurde gepackt und an die Wand gegenüber gekettet.
Also steckte gar nicht Magoro dahinter. Aber wer hatte sie ausgeliefert? Wribald? Außer Margoro kannte nur er Sondrias Herberge. War er aus diesem Grund nicht zurückgekehrt?
Nanja erschauderte bei dem Gedanken, was sie erwartete.
Je länger sie darüber nachdachte, desto überzeugter war sie, dass die Rebellen sich auf diese Weise die Waffen verschaffen wollten ohne zu bezahlen. Welche Ironie: Die Wächter Aharons statteten ihre eigenen Gegner mit den besten Waffen aus, die auf der Insel zu finden waren.
Irgendwann kamen die Soldaten mit einem Kohlebecken zurück, das sie in die Mitte des Verlieses stellten und anzündeten. In der Tür tauchte ein alter Mönch mit feistem Gesicht auf. Er verschränkte die Hände in den weiten Ärmeln seiner weißen Kutte und stellte sich vor die Soldaten. Nanja begann zu zittern; nie zuvor hatte sie solche Angst gehabt.
Er schaute sie der Reihe nach an und nickte jedes Mal, als sei er zufrieden mit dem, was er sah. „Man beschuldigt euch des Gebrauchs von Magie bei der Heilung eines Kranken. Gesteht ihr euer Verbrechen?“
Niemand von ihnen antwortete. Der Mönch winkte einem der Soldaten. Der bückte sich und riss Rons Hosenbein auf und den Verband herunter. Offensichtlich wussten sie genau, welche Verletzungen er hatte.
„Wer von euch ist die Hexe? Nun redet schon; ihr macht es euch leichter.“ Er trat auf Ron zu. „Du siehst aus, als könntest du gemeint sein.“ Er kicherte, als amüsiere er sich über seine eigenen Worte. „Hast du zugelassen, dass man dich mit verbotenen magischen Ritualen heilt?“
Nanja keuchte entsetzt. Wollten sie Ron dafür verurteilen, dass er überlebt hatte?
Der Mönch wedelte mit den Fingern. Einer der Soldaten nahem einen Weiß glühenden Gegenstand aus dem Feuer; schmelzendes Glas. Als er auf sie zukam, schloss Nanja die Augen.
Ron stöhnte; dann schrie er furchtbar. Als sein Schrei abbrach, blickte sie hin. Er hing bewusstlos in den Ketten; flüssiges Glas tropfte vor ihm auf den Boden.
Der zweite Soldat schüttete ihm einen Eimer Wasser ins Gesicht. Er schnappte nach Luft und hustete; der Mönch lachte. Auf sein Zeichen schlug der Soldat einen Knüppel quer über Rons Brust. Er gab einen gurgelnden Laut von sich und Nanja schien, sie höre das Knacken brechender Rippen.
„Nein!“, schrie sie und zerrte an ihren Fesseln. „Hört auf!“
Der Mönch wandte sich ihr zu. „Nein?“ Er grinste höhnisch.
Die Soldaten lösten Nanjas Fesseln, stießen sie auf einen steinernen Sockel , ketteten ihre Arme fest und rissen ihr Hemd auf. Als sie ihre Knie packten und die Beine auseinander zogen, wusste sie, was sie vorhatten.
Ron warf sich mit einem Wutschrei gegen seine Ketten; auch er musste es begriffen haben:
Der Mönch beugte sich über sie; sein stinkender Atem ließ sie würgen und sie drehte das Gesicht zur Seite. Er packte ihre Haare, zog den Kopf herum und zwängte ihr einen Kuss auf. Sie biss zu. Er stöhnte und schlug ihr dann die Faust ins Gesicht. Aus seiner Lippe tropfte Blut auf ihre Stirn, als er sich auf sie legte. Sie presste die Augen zusammen, während er brutal in sie eindrang.
Der Mönch hielt einen Moment inne und pfiff durch seine Zahnlücke. „Schau an, eine Jungfrau. Wer hätte das gedacht?“ Er stieß wieder zu; sie bohrte die Zähne in ihre Lippen, um nicht zu schreien. Immer lauter keuchte er in ihr Ohr. Dann war es vorbei.
In der plötzlichen Stille hörte sie jemanden schluchzen. Sie öffnete die Augen und sah auf Rons Gesicht Tränen glitzern.
„Ich will dich schreien hören“, fauchte der Mönch.
Jemand schlug ihr mit der Faust ins Gesicht, sodass ihr Kopf zur Seite knallte. Beim nächsten Schlag platzte ihre Lippe; dann traf einer ihr rechtes Auge. Er hieb ihr in den Magen und sie hatte das Gefühl, etwas zerriss in ihr. Sie bäumte sich auf und konnte einen Schmerzlaut nicht länger unterdrücken.
Danach fiel einer der Soldaten über sie her. Nanja biss die Zähne zusammen und keuchte vor Schmerzen.
In dem Moment drang eine röhrende Stimme herein. Gleich darauf stand Margoro auf der Schwelle. Er ließ sich eine Fackel geben und trat ein. Mit sorgenvoll zerfurchtem Gesicht musterte er einen nach dem anderen. „Was hat man mit euch gemacht? Man beschuldigt euch der Hexerei? Schlimm, schlimm.“
Er ging zu Ron und leuchtete ihm ins Gesicht. Ron blinzelte und hob mühsam den Kopf.
„Du siehst nicht gut aus, mein Junge. Du musst hier raus!“
Gegen das Licht konnte Nanja Margoros Gesicht nicht sehen; sein Tonfall klang ihr falsch und hinterhältig.
Er wandte sich an dem Mönch. „Vielleicht kann ich zur Aufklärung beitragen, auch wenn ich nicht alles mitbekommen habe, was auf Gemona geschehen ist. Lasst uns vorerst allein. Vielleicht reden sie mit mir.“
Der Mönch verneigte sich tief und ging mit den Soldaten nach draußen. Margoro verschloss sorgfältig die Tür.
„Schlimm, schlimm“, sagte er noch einmal. „Es täte mir wirklich Leid, euch auf diese Weise enden zu sehen.“
Nanja explodierte. „Was willst du?“ Sie bäumte sich auf und zerrte wütend an ihren Fesseln, bis der Schmerz in ihren Gelenken sie zur Vernunft kommen ließ..
Margoro lächelte maliziös. „Ich war doch dabei, nicht wahr?. Und mein Wort hat Gewicht in dieser Stadt.“ Er kam zu ihr und fasste sie unters Kinn. „Du weißt genau, was ich will. Überlass mir den Sklaven. Ich bin sogar jetzt noch bereit, für ihn zu bezahlen. Dann bezeuge ich, dass keine Magie im Spiel war.“ Er grinste noch breiter. „Eine hätte ihn gewiss richtig geheilt und nicht so gestümpert; das leuchtet jedem ein.“
Wenn sie Nein sagte, würden sie auf schreckliche Weise sterben. Aber sie konnte ihr Leben nicht mit Rons Freiheit erkaufen – und erst recht nicht mit dem seinen. Dann hätte sie ihn besser sterben lassen.
Margoro fuhr mit den Fingerspitzen über ihre nackte Brust; brennender Zorn nahm ihr den Atem.
„Du zögerst noch immer, Kapitänin? Überleg es dir gut. Auch ich gehe ein Risiko ein, wenn ich für euch spreche. Schließlich wissen alle, die dabei waren, dass Sondria tatsächlich Magie angewandt hat. Ich gebe dir zwei Minuten.“ Er ging hinaus.
„Er will doch nur, dass ich dieses Rennen für ihn gewinne“, flüsterte Ron.
„Margoro wird dich niemals gehen lassen“, widersprach sie.
Ron senkte den Kopf; dann sah er Nanja herausfordernd an. „Ich bin schon einmal geflohen.“
Jetzt war es heraus. Nanja hielt seinem Blick stand. „Auf meinem Schiff hat es noch nie einen Sklaven gegeben.“ Sie holte tief Luft; als die Tür sich öffnete. „Wenn du für dieses Rennen in seinen Dienst treten willst, dann geh mit ihm. Ich gebe dir drei Tage Urlaub; dann will ich dich wieder an Bord sehen.“
Margoro lachte schallend. „Ist diese Komödie für mich?“
„Ron wird für dich reiten; jetzt sorg du dafür, dass wir hier herauskommen.“
„Ich brauche nur ihn.“
Nanja ballte die Fäuste und knirschte mit den Zähnen; wieder schlug die Wut über ihr zusammen. Hätte sie ihm nur auf Gemona den Hals umgedreht!
„Aber freilich, es wäre wenig glaubhaft. Entweder seid ihr alle drei unschuldig oder keiner.“
Ron antwortete ihm und seine Stimme klang jetzt klar und stark. „Man kann ein Rennen auch verlieren.“
„Du wirst alles daran setzen zu gewinnen. Ich werde schon dafür sorgen.“ Sie waren ihm ausgeliefert.
„Ich vermag mich nicht einmal auf meinen Füßen zu halten.““
Die beiden Männer sahen sich lauernd an. Dann lachte Margoro dröhnend. „Es wird ein unterhaltsames Fest.“
„Als Lohn gibst du mir ein Zehntel der Siegprämie“, fuhr Ron fort in einem Tonfall, als stünde er an einem Marktstand.
„Was? - Was willst du mit dem vielen Geld?“ Margoro blickte Nanja an, als er weitersprach. „Ich war bereit, deiner Herrin jeden Preis zu zahlen. - Da sie nun gar nichts haben will?“ Er zuckte die Achseln. „Du kannst zwar nichts damit anfangen, aber mir ist es gleich.“
Für eine Weile verbreiteten die glimmenden Kohlen noch ein schwaches Licht. Dann verbarg die Dunkelheit sie wieder voreinander. Niemand wagte ein Wort..
Da der Mönch nicht zurückkehrte, begann Nanja zu hoffen, sie kämen tatsächlich davon. Ihr war übel und ihr geschundener Körper schmerzte. Sie hatten auch ihre Seele geschändet und sie fragte sich, ob diese heilen würde ... So elend hatte sie sich gefühlt, als ihre Mutter starb; damals hatte sie zum letzten Mal geweint. Ihre Gedanken verwirrten sich ...
Als sie wieder zu sich kam, sah sie in ein Gesicht mit buschigen weißen Augenbrauen. Ein Mann beugte sich mit einer Fackel in der Hand über sie. Er trug ein eng anliegendes Gewand in Margoros Farben und hielt einen schwarzen Umhang über dem Arm. Jemand löste ihre Handfesseln und sie wandte den Kopf. Auch kein Soldat, sondern ein junger Mann in dem leinenen Hemd der Landarbeiter. Zwei andere standen bei Ron; ein weiterer öffnete Sondrias Ketten. Als Ron seiner Fesseln ledig war, sank er in die Knie; einer der Männer fing ihn auf.
Der Alte half Nanja, sich aufzusetzen und legte den Umhang über ihre zerfetzten Kleider. Sie würgte, schüttelte sich vor Ekel. Er hielt sie fest, während sie erbrach.
„Ich bin Yawani, Margoros Hofmeister“, sagte er.
Sie nickte; inzwischen hatte sie ihn wieder erkannt.
„Könnt Ihr laufen?“ Er wartete Nanjas Antwort nicht ab, sondern fasste sie unter den Achseln und hob sie vom Steinsockel und stützte sie.
Als sie nach zwei Schritten vor Ron standen, widersetzte sie sich dem Druck seiner Arme.
Das Entsetzen stand noch in Rons Gesicht. Aber in seinen Augen tauchte für einen Moment ein kleines Licht auf, das sie mit Wärme erfüllte. Es kam aus einem anderen Leben, das Ewigkeiten zurückzuliegen schien.
Dann biss er die Zähne zusammen und wandte sich ab. Sie wagte nicht, ihn anzusprechen; könnte er doch nur ihre Gedanken lesen. Wenn er nur nicht verzweifelte. Er war schon einmal entkommen; er würde es wieder schaffen.
Zwei der Diener stützten ihn mit großer Mühe; in dem engen Gang konnten nur einer neben ihm gehen und dann die Treppen hinauf konnten sie ihn nicht tragen. Dieser Kerker war gebaut worden, als sei nicht vorgesehen, dass ihn je einer verließe.
Draußen empfingen sie eine mondlose Nacht – und Margoro mit zwei Kutschen und Laufdrachen für die Diener.
Er brachte sie auf sein Anwesen vor der Stadt. Sondrias Bündel aus der Herberge lag bereit und sie versorgte ihre Verletzungen. Dann ließ Margoro Ron fortbringen.
„Selbstverständlich seid auch ihr meine Gäste bis zum Fest.“ Eine junge Dienerin reichte ihnen Wein in Kelchen aus regenbogenfarbenem Kristall. Margoro hob den seinen. „Auf unseren großen Erfolg.“
Nanja fragte sich, welchen er damit meinte. „Ich danke“, sagte sie. „Aber ich sehe besser nach meinem Schiff und meinen Leuten.“
„Mitten in der Nacht?“ Margoro lächelte. „Was für ein Unsinn, mein Kind.“ Er stellte sein Glas ab und kniff die Augen zusammen. „Ihr bleibt hier, Kapitänin.“
Sie begriff, dass er sie nicht gehen ließe. Sie war sein Pfand, damit Ron das Rennen gewann.
Margoro ließ die beiden Frauen in Schlafräume im zweiten Stock führen; im Korridor postierte er eine Wache. So gab es keine Möglichkeit zur Flucht.
Nanja legte sich aufs Bett und schlief sofort ein.
Die Sonne stand hoch, als sie erwachte. Auf einem Stuhl neben dem Fenster lag seidene Unterwäsche und am Schrank hingen zwei prächtige Kleider aus gold- und silberfarben besticktem Brokat mit dunklem Pelzbesatz an Hals und Ärmeln. Sie würde wie eine adlige Landratte darin aussehen. Angewidert betrachtete sie sie.
Mühsam erhob sie sich; stolperte zum Waschtisch und steckte den Kopf in die Wasserschüssel. Danach fühlte sie sich etwas besser. Aber ihr Spiegelbild schaute sie hohl und düster an.
Nanja blickte an sich herunter; ihr blieb wohl nichts übrig als eines dieser Kleider anzuziehen. Sie zog ihre Fetzen aus und probierte zuerst das weniger aufwändig gestaltete. Es war bis zum Ansatz ihrer Brustwarzen ausgeschnitten. Sie schüttelte sich und warf es beiseite. Margoros gieriger Blick sollte kein Ziel finden.
Nachdem sich ihr rebellischer Magen wieder beruhigt hatte, zog sie das andere an. Es bedeckte sie schon besser, aber auch darin mochte sie sich nirgendwo sehen lassen. Nicht einmal die Töchter Akeles gingen tagsüber so auf die Straße.
Langsam kam ihr Verstand wieder zurück. Sie öffnete den Schrank und durchwühlte ihn. Sie fand eine Reihe einfacher Kleider und wählte schließlich ein langärmeliges ohne Besatz, das nur im Rücken tief ausgeschnitten war. Auch darin sah sie noch fast zu gut aus; das deunkle xxx harmonierte perfekt mit der Farbe ihrer Augen und die langen Haare bildeten einen leuchtenden Kontrast. Sie riss einen Streifen von ihrem alten Hemd und band sie fest zusammen.
(Noch zwei Tage bis zum Fest. Sie wollte Ron suchen und dann überlegen, wie sie Sitaki eine Nachricht zukommen lassen könnte.)
Sie öffnete die Tür und sah sich um. Margoro hatte die Wache abgezogen, aber gewiss liefen tagsüber hier so viele Leute herum, dass sie nicht ungesehen bliebe. Sie trat auf den Flur, öffnete die nächste Tür und dann die übernächste. Beide Zimmer waren leer; sie sah sich sorgfältig um; man konnte nie wissen, wozu einem Ortskenntnisse nutzen konnten.
Auch das anschließende Zimmer, in dem Sondria geschlafen hatte, war leer. Nanja schnupperte; es roch noch ein wenig nach ihren Kräutern. Vielleicht hatte Margoro sie geholt, um nach Ron zu sehen. Sie verließ das Zimmer und ging langsam die Treppen hinunter.
Margoro musste unermesslich reich sein. Alle Fenster waren farbig verglast; einige zeigten Kampfszenen mit vielen fein gearbeiteten Details. Die einzelnen Scheibchen waren nicht in Holzrahmen, sondern in irgendein graues Metall eingelassen. Auch das hatte ihn gewiss ein Vermögen gekostet. Die Wände waren mit schweren Stoffen in den Hausfarben Braun und Lila verkleidet; vermutlich von ihresgleichen auf dem Kontinent geraubt.
Im ersten Stock hing auf dem Flur eine Galerie von Porträts und anderen Gemälden, die alle Margoro zeigten; in unterschiedlichem Alter und bei verschiedenen Beschäftigungen. Auf dem größten, direkt über dem Treppenabsatz, trug er die Amtstracht des Rats. Darum also ging es ihm: Er wollte wieder gewählt werden.
Nanja fröstelte plötzlich; sie hatte nicht gewusst, dass er so mächtig war. Kruschar und seine Bewohner waren ihr immer fremd geblieben. In Zukunft würde sie sich die Männer von der Insel persönlich ansehen, bevor sie mit ihnen Geschäfte machte.
Bei dem Gedanken fielen ihr die Rebellen ein; zumindest Sondria hatte auch mit denen ein Problem. Sie sollte auf der Hut sein und unbedingt mit Sitaki sprechen, bevor Wribald zurück kam.
Als sie in der Eingangshalle stand, kam Margoro aus einem der Räume. „Guten Morgen, Kapitänin; suchst du ein Frühstück? Ich lasse in der Küche Bescheid sagen.“ Er ging um sie herum und betrachtete sie. „Auch darin siehst du gut aus, Kapitänin.“
Am liebsten hätte sie in jetzt erwürgt; ihr Dolch war in der Brust jenes Soldaten stecken geblieben.
„Aber du hättest ruhig eines der Festkleider anziehen können. Wenn sie schmutzig sind, bekommst du neue.“ Sie zuckte zusammen, als er den Arm um sie legte. Sofort ließ er los. „Ich begleite dich in den Esssaal.“
Aber sie blieb stehen. „Zuerst will ich wissen, wie es Ron geht. Ich habe Sondria gesucht.“
„Die Heilerin ist fort; wir brauchen sie doch nicht mehr.“
Nanja schluckte; sie versuchte, sich ihr Misstrauen nicht anhören zu lassen. „Ron konnte gestern nicht einmal laufen.“
„Hauptsache, er kann reiten.“
Sie konnte sich nicht vorstellen, wie Ron den Schwarzen unter Kontrolle behielte. Besser, Margoro wusste, dass er verlieren würde. „Das kann er auch nicht; man treibt die Pferde mit den Beinen.“
Margoro zuckte die Achseln.
„Warum hat sich Sondria nicht verabschiedet?“
Wieder zuckte er die Achseln. „Du hast geschlafen und sie hatte es eilig, in ihre Herberge zurückzukommen.“
Dass Sondria froh war zu verschwinden, glaubte sie gern. Aber dass Margoro sie einfach gehen ließ? Sondria war das Bindeglied zwischen ihr und den Piraten war. Aber vielleicht war es ihm egal, ob man sie gefangen glaubte oder bei ihm wusste. Oder sogar ganz recht.
„Jedenfalls, Ron braucht sie nicht mehr. Und dich auch nicht.“
Die Antwort war eindeutig. Sie wollte ihn nicht misstrauisch machen, indem sie zu viel Interesse zeigte. „Dann kann ich ja in Ruhe frühstücken.“
„Aber ja doch.“ Jetzt strahlte er wieder. „Und anschließend wird mein Schneider für das prächtigste Kleid Maß nehmen, das diese Stadt je gesehen hat. Denn selbstverständlich wirst du mit mir zusammen auf der Ehrentribüne den Sieg feiern.“ Er zwinkerte. „Wessen Sieg auch immer. Schließlich verdanke ich dir dieses einmalige Schauspiel.“
Unter dem Vorwand, nach den Pferden zu schauen, versuchte sie noch einmal, Ron zu sehen; aber Margoro wusste zu verhindern, dass sie ihn zu Gesicht bekam. Margoro wich den Tag über nicht von ihrer Seite und nachts standen Wachen vor der Tür und sogar unter ihrem Fenster. Margoro hatte sich wohl daran erinnert, dass Schiffsleute klettern konnten.Am Abend vor dem Rennen erzählte Margoro ihr, dass ein Schiff der Sabienne im Hafen lag. „Stell dir vor, sie sind extra zum Rennen gekommen.“
Gelangweilt hörte sie zu, wie er sich aufplusterte. Bis zum Wettkampf sollten die Sabienne für Ron kein Problem sein; er war jetzt nirgendwo sicherer als in Margoros Händen.
Sie nickte. „Wenn ein Pferd gewinnt, haben sie ein neues Handelsgut.“
„Und darum muss eines gewinnen.“ Er strahlte. „Und ich werde der erste sein, in dessen Auftrag Pferde für die Dracheninsel gekauft werden. Oder ich betätige mich für die Sabienne als Zwischenhändler, wenn sie auf ihren eigenen Schiffe bestehen. Ja, Zwischenhändler.“ Margoro sah sie lauernd an. „Im Grunde kann es mir egal sein, wie die Pferde hierher kommen. Als Händler trage ich kein Risiko.“
Sie tat belustigt und zwinkerte. „Ist das ein Angebot?“
„Warum nicht?“
„Da gibt es nur ein kleines Problem.“ Nanja runzelte die Stirn. „Habe ich denn noch ein Schiff?“ Sie fragte sich, ob die Soldaten das Schiff durchsucht und die Waffen gefunden hatten.
„Wenn du deine Brigantine meinst; die liegt an der Kette, dafür habe ich gesorgt.“
„Du hast also das Schiff genauso beschlagnahmt wie mich!“, antwortete sie sarkastisch.
Er streckte abwehrend die Arme weit aus. „Aber nicht doch, was denkst du von mir. Ich habe nur dafür gesorgt, dass sie nicht ohne dich in See stechen. Dass es niemand stiehlt. Ist es nicht so, dass die Kapitäne von den Schwimmenden Inseln auch abgewählt werden können?“
„Sehr gut“, log sie. „Und habe ich noch eine Mannschaft oder liegt die auch irgendwo in Ketten?“
„So manch einer wird sich in diesen Tagen wohl an eine schöne Frau gefesselt haben.“ Er tätschelte ihre Hand und ließ seinen Blick anzüglich auf ihrer Brust liegen. „Aber spurlos verschwunden ist niemand. Ich weiß über alles Bescheid, was in dieser Stadt geschieht.“
Das Schiff ungehindert aus dem Hafen zu bringen, wäre dennoch nicht schwer; sie hatten es oft genug geschafft. Ihre Männer würden alle beim Rennen sein und es würde nur eines Zeichens von ihr bedürfen.
Aber wo würde Ron vor und nach dem Rennen sein? Wie konnten sie Ron zur Flucht verhelfen? -?
Am Abend nahm Margoro sie in die Stadt mit, als er die Rennstrecke besichtigen wollte. Sie fuhren in der geschlossenen Kutsche . Die dichten Vorhänge, die den Blick ins Innere verhinderten, erschwerten ihr auch die Sicht nach draußen. Ihr Gefährt kam nur langsam voran, wurde aber kaum von den Menschen beachtet.
Immer wieder hielten sie, weil sich der Verkehr staute. Der Drachenlenker schien die weniger bevölkerten Seitengassen zu bevorzugen, aber jedes Mal, wenn sie einen Platz überqueren mussten, steckten sie doch fest. Dicht an dicht zogen Menschen, Tiere und Fahrzeuge durch die Straßen; Auf den größeren Plätzen spielten Musikanten und Gaukler. Von vielen Essensständen stiegen ihr Qualm und der Geruch von gegrilltem Fisch in die Nase; zuweilen stank es erbärmlich nach Verbranntem.
Zuweilen tauchte in der Menge ein Gesicht auf, das sie von den Schwimmenden Inseln oder aus Belascha kannte; hin und wieder auch einer ihrer Piraten . Margoro log also nicht immer.
Einmal kam einer nahe an die Kutsche heran und sie hatte den Eindruck, er versuche hineinzuschauen; er hatte wohl Margoros Wappen erkannt. Wie zufällig griff sie nach einem der Vorhänge, um ihn beiseite zu schlagen, aber Margoro hielt ihre Hand fest. Sie musste sich damit zufrieden geben, die Rennbahn kennen zu lernen.
Entsprechend aufmerksam sah sie sich dort um. Die Erbauer dieser Rennbahn hatten an erster Stelle die Unterhaltung der Zuschauer im Auge gehabt. Das Gelände war ein großes Oval, sodass die Pferde gut sichtbar im Kreis herum rannten; bei den Sabienne ging es gewöhnlich querfeldein.
Die Tribünen waren voneinander durch zehn Eingänge abgetrennt; so gelangte niemand ohne weiteres von einem Block zum anderen. Das mochte für einen Fluchtversuch hilfreich sein.
Nachdem Margoro zeigte ihr die Ehrentribüne und den Platz in der allerersten Reihe, der ihm als Veranstalter gebührte. In ihren eigenen Kleidern käme sie mit einem Satz über das Geländer. Aber in dem Plunder, den sie morgen tragen sollte? Sie musste eine Möglichkeit finden, sich mit einer Handbewegung des Rocks zu entledigen.
Dann fragte sie nach den Ställen. Er wies in Richtung des gegenüberliegenden Ausgangs, war aber nicht zu bewegen, sie dorthin zu begleiten.
Als sie wieder auf die Straße hinaustraten, verschwand zwischen den Büschen auf der anderen Seite eine Gestalt. Kein Ort, wo jemand seinen Weg suchen würde. Das gab ihr das beruhigende Gefühl, dass Sitaki am Werk war.
Margoro hatte anscheinend nichts bemerkt. Sie verwickelte ihn in ein Gespräch über die Angriffe der Rebellen im Süden der Insel, während sie weitergingen. Er ereiferte sich immer mehr und dadurch merkte er erst nach der Hälfte des Weges, dass sie im Begriff standen, die Rennbahn zu umrunden. Er mokierte sich darüber, dass er jedes Mal neue Schuhe bräuchte, wenn er mit ihr zusammen unterwegs war: Aber an diesem Abend konnte nichts seine gute Laune beeinträchtigen; schnaufend ging er mit ihr weiter.
Nanja prägte sich jeden Pfad und jede Gasse ein, stellte sich vor, wohin sie führen mochten; betrachtete jedes Gesträuch, ob es als mögliches Versteck oder als Hinterhalt dienen könnte. Nach drei Viertel des Weges kamen sie an einer käfigartigen Anlage vorbei, die in die Rückseite der Ehrentribüne eingelassen war. Margoro erklärte, dort würden die Verurteilten vor der Hinrichtung untergebracht. Nanja drehte sich der Magen um; wären sie auch dort gelandet?
Am nächsten Morgen herrschte eine hektische Atmosphäre im Haus und es wimmelte von Leuten, die nicht die Farben von Margoros Dienstboten trugen. Margoro schickte den Schneider mit zwei Mädchen, die ihr beim Ankleiden helfen sollten, und einen Friseur.
Der Schneider brachte für das Festgewand drei schwere Unterröcke, die dem Kleid Weite geben sollten. Mit all dem Stoff käme sie nie über das Tribünengeländer. Als er bei seiner Handwerkerehre darauf bestand, sie müsse das Kleid so tragen, wie er es entworfen hatte, begann sie zu toben, um ihn einzuschüchtern. Aber sein Stolz gab ihm Beharrlichkeit und schließlich musste sie handgreiflich werden und warf ihn hinaus.
Der Friseur, ein dürres Männchen, schrumpfte immer mehr während dieser Szene. Aber nachdem sie mit dem Schneider fertig war, lächelte sie ihm freundlich zu.
Mit bebender Stimme fragte er nach ihren Wünschen und sie entschied sich dafür, ihre Haare zu üppigen Locken hochstecken zu lassen. Die Haarnadeln mochten nützliche Waffen sein.
Während noch der Friseur an ihren Locken arbeitete, beobachtete sie vom Fenster ihres Schlafzimmers den Abtransport der Pferde; Ron wurde gleich darauf zu einer Kutsche gebracht. Zuerst glaubte sie, die Diener stützten ihn, um sein Bein zu schonen. Aber sie bewachten ihn eher und man hatte ihm die Hände auf den Rücken gefesselt. Margoro scheute sich nicht, ihn offen als Gefangenen zu behandeln! Sie würden es ihm schon zeigen. Sie beobachtete jede Bewegung Rons und versuchte abzuschätzen, wie gut es ihm inzwischen ging. Sie musste versuchen, ihn vor dem Rennen zu sehen.
Aber Margoro hatte den Rat der Stadt und die einflussreichsten Kaufleute zu einem Essen geladen, das sich bis weit in den Nachmittag hinzog. Als sie endlich aufbrachen, lief Margoro nur noch mit Mühe geradeaus. Auch die übrigen Edelleute wirkten beruhigend handlungsunfähig. Falls es gelang, sie zu überraschen, sollte die Flucht gelingen. Ihr blieb nun nichts anderes übrig, als (wieder einmal) der Gewitztheit Sitakis zu vertrauen.
Erst unmittelbar vor Beginn der Rennen betraten sie die Arena. Sie nahm neben Margoro auf der Ehrentribüne Platz und er stellte sie als diejenige vor, die die Renntiere auf die Dracheninsel gebracht hatte. Die Menschen klatschten und jubelten vor Begeisterung und in Erwartung des Schauspiels. Nanja suchte nach ihren Matrosen, aber sie konnte niemanden entdecken. Stattdessen gewahrte sie auf der gegenüber liegenden Tribüne die Tracht der Sabienne. Angestrengt spähte sie hinüber, ob sie eines der Gesichter kannte; aber die Entfernung war zu groß.
Unvermittelt lachte sie lauthals bei der Vorstellung, es könnte der Besitzer der Pferde darunter sein: Was das für einen Aufruhr gäbe, wenn er die Tiere für sich beanspruchte. Freilich trugen sie keine Brandzeichen; darauf hatte sie extra geachtet. So würde er nichts beweisen können, zumal die hiesigen Gerichte ihm gewiss nicht wohl gesonnen wären. Aber falls er die Tiere vor dem Rennen für sich reklamierte, würde er ein prächtiges Chaos anrichten. Aber würden sie es nutzen können, solange sie nicht wusste, wo Ron war?
Margoro legte die Hand auf ihren Arm und ignorierte diesmal, dass sie zusammenzuckte. „Kapitänin, ich bin froh, dass du mir nicht mehr grollst. Du wirst sehen, wir werden gute Partner.“ In seinen Augen glitzerte es plötzlich. „Und vielleicht noch mehr.“
Nanjas Magen rebellierte bei der Erinnerung an den Mönch und sie schüttelte sich vor Ekel. Mit Mühe unterdrückte sie ein Würgen. Das verdankte sie allein diesem Despoten; dafür würde er ihr noch büßen.
Ihr blieb eine Entgegnung erspart: Die Drachen wurden aus den Ställen geführt.
Margoro stellte seinen Reichtum zur Schau, indem er sechs Renndrachen in sechs verschiedenen Farben aufbot. Alle Konkurrenten brachten zusammen nur zehn weitere auf. Einmal mehr wurde ihr bewusst, dass sie ihn unterschätzt hatte.
Die Reiter, gekleidet in den Wappenfarben der Besitzer, saßen auf und die Drachen zogen langsam einer nach dem anderen durch das Oval. Hin und wieder wechselten die Reiter ein paar Worte mit dem Publikum, das im Übrigen klatschte oder johlte, je nachdem, auf wen es gesetzt hatte.
Vor der Ehrentribüne begrüßte ein Sprecher des Rats die Reiter und der Priester Aharons segnete die Drachen. Nur die Drachen! Wie verlogen die Priester waren.
Nanja schaute betont deutlich weg; dabei entdeckte sie auf der Nachbartribüne Wribald in einer Gruppe von Männern in Holzfällerkleidung. Ihre Blicke kreuzten sich, er zog die Brauen hoch und neigte lächelnd den Kopf. Er hatte sie trotz ihres Gewandes und der pompösen Frisur unter der Schminke erkannt. Wenn die anderen seine Gefährten waren, dann bedeutete das eine ansehnliche Verstärkung. Denen würde es eine Freude sein, das adlige Pack in Angst und Schrecken zu versetzen. Wieder ging ihr Blick über die Tribünen, aber sie sah keinen der Piraten. Doch Sitaki würde schon wissen, was er tat.
Die Drachen stellten sich zum Start auf und von den Pferden noch immer keine Spur. Margoro musste ihren suchenden Blick bemerkt haben, denn er erklärte ihr, dass er natürlich die Tradition wahren musste, denn sie brauchten einen Drachen, der das kommende Jahr über die Stadt symbolisieren sollte. Zudem sollten auf diese Weise jene drei ermittelt werden, die anschließend gegen die Pferde anträten.
Jetzt verstand sie, warum Margoro so sicher war, auf jeden Fall einen Teil des Erfolgs auf seine Fahnen zu schreiben.
Sie kaute ungeduldig/nervös auf ihren Lippen. Margoro wurde immer nüchterner, je länger sich alles hinzog.
Was, wenn die Piraten nicht vorhatten, auf den zweiten Teil des Rennens, um die Abendflut zum Auslaufen zu nutzen. Und welche Pläne hatte Wribald? - Sie war es nicht gewohnt, im Dunkeln zu tappen und fühlte sich hilflos und desorientiert.
Das Rennen begann mit einem Blutbad. Gleich nach dem Start rannte einer von Margoros Drachen zwei andere über den Haufen, die nicht schnell genug dem aus der zweiten Reihe Startenden Platz gemacht hatten. Beide Reiter stürzten und wurden von der Bahn getragen; einer der Drachen wurde verletzt in die Mitte der Arena geschleift und dort erstochen. Von der Tribüne der Anhänger ertönte ein vielstimmiger Wutschrei. Einige sprangen hinunter in die Bahn und liefen zu ihrem getöteten Liebling; andere stürzten sich auf den schuldigen Reiter und zerrten ihn von seinem Drachen. Als sie auf ihn einschlugen, rief Margoro die Wachen und brach das Rennen ab.
Ein solcher Tumult wäre ideal zur Flucht und Nanja verbrachte bange Minuten. Doch zu ihrer Erleichterung ließ sich immer noch keiner der Matrosen blicken. Wribald starrte zu ihr hinüber und hob fragend die Brauen. Sie schüttelte den Kopf; nicht ohne Ron. Sie mussten warten.
Nachdem die Bahn geräumt war, gingen die Drachen zum zweiten Mal an den Start. Außer den beiden gestürzten fehlte jetzt auch eines von Margoros Tieren, denn der Reiter hatte so viel Prügel bezogen, dass er nicht mehr einsatzfähig war. Margoro tobte, das sei sein bester Mann gewesen.
Nach dem erneuten Start lief das Rennen ohne Unterbrechung über die volle Distanz von zwanzig Runden. Gleich zu Beginn überschlug sich allerdings ein Drache ohne ersichtlichen Grund und musste aus der Bahn geschleift werden. Dann gab es erneut einen Zusammenstoß zwischen einem Drachen Margoros und einem gegnerischen. Margoro hielt seine Reiter anscheinend zu besonderer Rücksichtslosigkeit an. Auch wenn es ihn selber einen Mann oder gar einen Drachen kostete, so hatten doch die übrig Bleibenden leichteres Spiel. Hoffentlich wären ihm die Pferde zu kostbar, um die Drachen mit der gleichen Bedenkenlosigkeit gegen sie zu hetzen. Die Pferde hätten gegen einen Angriff dieser Kolosse keine Chance.
Sechs Drachen kamen ins Ziel; zwei davon gehörten Margoro und gingen in das Rennen mit den Pferden. Er schien zufrieden mit dem Ergebnis. Nanja vermutete, dass er angesichts dieser Konstellation in der Lage wäre, den Ausgang zu manipulieren und sich gewiss auch nicht scheute.
Nach der Übergabe der Siegesprämien bekamen die fliegenden Händlern Gelegenheit, Essen und Getränke zu verkaufen. Dazu gab es eine Tanztheater-Vorstellung des stadteigenen Tanztheaters. Nanja ließ sich faszinieren und vergaß für ein paar Minuten alles andere.
Dann führten Margoros Bedienstete die Pferde in die Mitte der Arena und pflockten sie dort an langen Leinen an. Die Pferde begannen sofort zu grasen; Margoro hatte sie also doch nicht auf die Weide zu den Drachen gelassen. Recht betrachtet, wäre es auch ihr zu riskant gewesen.
Wer wetten wollte, durfte sie aus der Nähe betrachten; in Gruppen wurden die Menschen auf die Wiese gelassen. Die Bediensteten und die Stadtwachen sorgten dafür, dass sie Abstand hielten. An einem langen Tisch am Rand der Wiese saß Margoros Hofmeister mit zwei weiteren Dienern und nahm die Einsätze entgegen.
Auch drei der Sabienne gingen hinunter; Nanja war gespannt, ob das Folgen hätte. Dann stellte sie überrascht fest, dass sich auch Wribald für die Tiere interessierte. Wollte er tatsächlich wetten? Sie hatte ihn nicht so eingeschätzt, dass er sich für solch lose Vergnügungen interessierte.
Nanja fragte sich amüsiert, nach welchen Maßstäben die Leute entschieden: Wohl niemand kannte Pferde, geschweige denn, dass sie sie hätten laufen sehen. Und Margoro dachte nicht im Traum daran, die Katze aus dem Sack zu lassen.
Die drei Drachen waren wirklich schnell gewesen; doch nach den zwanzig Runden mussten sie erschöpft sein. Aber für die Pferde fehlte es an fähigen Reitern. Was auch immer Ron den anderen in diesen zwei Tagen beigebracht haben mochte, es wäre nicht genug.
Und Ron selber? Wenn Margoro auf ihn setzte und er nicht gewann, war sein Leben in Gefahr. Margoro würde ihn für eine Niederlage büßen lassen. Ob Ron schon versucht hatte zu fliehen, da Margoro ihn in Fesseln hielt?
Die Pferde wurden zu den Ställen zurückgebracht und kamen mit ihren Reitern zurück. Sie liefen eine Runde, aber nicht nur im Schritt wie zuvor die Drachen: Jetzt gönnte Margoro dem Publikum einen ersten Eindruck, was es erwarten konnte. Allerdings machte Ron ihm einen Strich durch die Rechnung, denn er ließ die Pferde nur im Kanter und nicht im vollen Galopp vorführen. Nanja feixte.
Entsprechend wenig gefordert machten zwei der Burschen eine ganz gute Figur; sie würden sich vielleicht auch wacker schlagen. Den anderen beiden fehlte Spannkraft, sodass sie mit dem Hintern im Sattel hingen; sie wirkten überdies verängstigt. So würden sie die Pferde nicht beherrschen.
Ron ritt den Stallone und auch er klebte im Sattel. Aber das Tier schien zu gehorchen, ohne dass er einen Muskel zu bewegen brauchte. Auch hielt er im Gegensatz zu den anderen die Zügel in beiden Händen, was den Eindruck noch verstärkte, dass der Stallone erriet, was er tun sollte.
Als Ron vor ihnen hielt, sah er nicht Margoro an, sondern sie. Sie vermochte seinen Blick nicht zu deuten und wieder wünschte sie sich, er könne ihre Gedanken lesen.
Er war bleich, sein Gesicht von Anstrengung und den Verletzungen gezeichnet. Und offensichtlich war er die ganze Zeit gefesselt gewesen; die Riemen hatten tiefe Spuren in seinen Handgelenke hinterlassen. Hielt er die Zügel so, um die Belastung auf beide Hände zu verteilen?
Ihre Kehle wurde eng und das Herz schlug ihr bis zum Halse.. Sie musste ihm ein Zeichen geben.
Er nickte zum Gruß, dann wandte er sein Pferd ab.
„Warte!“ Sie stand auf, bedachte Margoro mit einem kurzen Lächeln. „Du hast gewiss nichts dagegen?“ Sie zog ihre Kette vom Hals und winkte Ron, näher zu kommen.
Er trieb den Stallone an die Tribüne. Das Pferd streckte den Kopf über das Geländer und Nanja streichelte es. Dann lehnte sie sich vor und hob die Arme. „Sie möge dir Glück bringen.“
Ron neigte ihr den Kopf entgegen. Fast berührten sich ihre Gesichter dabei, aber sie wagte kein Wort. Gewiss wandte Margoro den Blick nicht von ihnen. Sie streifte Ron die Kette über; ihre Hände verweilten einen Moment auf seinen Schultern und ihre Finger strichen sanft über seinen Nacken. Als er sich wieder aufrichtete, leuchteten seine Augen.
Mit einem flauen Gefühl im Magen sah sie ihm hinterher. Dann traf ihr Blick den fragenden Wribalds und diesmal nickte sie ihm zu. Sie war bereit.
Margoro berührte sie an der Schulter. „Kennst du jemanden dort drüben?“ Er runzelte die Stirn, aber sie war froh, dass er von Ron abgelenkt war.
„Ich glaubte, einen Gast aus der Herberge wieder zu erkennen.“
Noch bevor sie mit ihrer Antwort fertig war, blickte Margoro schon wieder auf die Rennbahn. „Was meinst du?“, fragte er. „Wird er gewinnen?“
„Wenn nicht, bist du selbst schuld.“
Margoro packte sie brutal am Oberarm und riss sie zu sich herum; er lief rot an vor Wut. Nanja ignorierte den Schmerz und warf einen verächtlichen Blick auf seine Hand. Da ließ er los.
Sie hob scheinbar gleichmütig die Achseln. „Wie lange hattest du ihn so gefesselt? Es braucht sensible Finger, um die Zügel zu führen. Besonders, wenn eines so nervös ist wie der Schwarze.“
Sein Gesicht wurde dunkelrot, aber er sagte nichts, sondern zerrte heftig an beiden Ärmeln gleichzeitig, dass es knirschte.
Nanja setzte sich. In der ersten Startreihe stellten sich abwechselnd ein Pferd und ein Drache auf. Der blaue gehörte Margoro, der rosa dem xxx von Kruschar.
Die beiden Drachen peitschten mit ihren Schwänzen den Sand auf und hüllten die Pferde in eine Wolke. Mehr noch als die neben ihnen schluckten die drei in der zweiten Reihe den Staub, während Margoros grüner Drache seine Nase in den Himmel reckte.
Es wirkte, als seien sie nervös, vielleicht wegen der seltsamen Tiere neben sich. Aber nach dem, was sie zuvor erlebt hatte, vermutete Nanja, dass es Absicht war, um den Pferden das Atmen zu erschweren. Sie konnte sich jedenfalls nicht vorstellen, dass die Drachenlenker ihre Tiere so wenig im Griff hatten und sie nicht beruhigen konnten.
Neben den Kolossen wirkten die Pferde tatsächlich wie Spielzeug.. Wer von den Inselbewohnern mochte sie als ernsthafte Gegner der Drachen ansehen? Unwillkürlich blickte sie zu Wribald und seinen Kumpanen hinüber. Sie waren alle aufgestanden und wirkten angespannt wie Raubkatzen kurz vor dem Sprung. Sondria hatte den Pferden auf Gemona zusehen können. Plötzlich war Nanja sicher, dass sie auf die Pferde gewettet hatten.
Sie lächelte und entspannte sich etwas. Ihre Männer wurden in der Arena nicht gebraucht, weil Wribalds Leute hier waren. Wohl niemand kannte die Rebellen von Angesicht. Und wer auch immer sich am Vorabend vor der Rennbahn herumgeschlichen hatte, hatte gewiss auch eine Lösung für die Befreiung von Ron. Sitaki wusste, dass sie Kruschar nicht ohne ihn verließe.
Margoro erhob sich und gab seinem Hofmeister ein Zeichen. Das Rennen begann.
Ron hatte die Bahn in der Mitte und sogleich bedrängten ihn die beiden Drachenreiter. Der Stallone legte die Ohren an und stieg; aber Ron beugte sich weit über den Hals des Pferdes und blieb oben.
Nanja bohrte sich die Fingernägel in die Handballen.
Der Schwarze wieherte und keilte aus. Er traf den Drachen an seiner rechten Flanke mit dem Hinterhuf und der bremste so abrupt, dass sein Reiter stürzte. Der zweite Drache nutzte den Moment der Konfusion und setzte sich an die Spitze .
Die Menschen auf der Tribüne am Startplatz sprangen auf.
Ron nutzte den Raum, der sich vor ihm öffnete, lenkte sein Pferd auf die freie Bahn und der Schwarze stürmte dem übrigen Feld davon.
Die Zuschauer klatschten Beifall für das gelungene Manöver.
Nanja lächelte; Ron hatte eine beeindruckende Szene geboten.
Als Ron nach einer viertel Bahnlänge den Drachen einholte, versperrte der Reiter ihm den Weg, indem er seinen Drachen Zickzack laufen ließ. Ron ließ den Schwarzen zurückfallen und blieb zwei Pferdelängen hinter ihm.
Aufmerksam verfolgte Nanja seine Taktik.
Für die anderen Pferde schien das Rennen von Beginn an aussichtslos. Nanja stellte schnell fest, dass Margoro den beiden unfähigen ängstlichen Reitern die besseren Pferde gegeben hatte. Sie verstand die Logik, die dahinter steckte; und tatsächlich liefen in den ersten Runden alle vier gleichauf. Aber sie liefen eben hinterher, hoffnungslos abgeschlagen von der Spitze. Er hätte die besten Reiter auf die besten Pferde setzen müssen, um Ron zu unterstützen.
Der dritte Drache hielt anfangs Schritt und lief seine Runden in kurzem Abstand zu den beiden an der Spitze. Offensichtlich war der Reiter darauf bedacht, die Kräfte seines Tieres einzuteilen und möglichst viele Reserven für den Endspurt aufzusparen.
Schließlich holten Ron und Margoros blauer Drache die Nachzügler ein und sie mussten ihr Tempo drosseln, bis sie eine Möglichkeit zum Überholen fanden. Nanja wartete gespannt darauf, wie Ron diese Situation nützen würde.
Aber erst einmal nutzten die vier Pferdereiter die Gelegenheit. Sie schienen sich irgendwie verständigt zu haben, denn drei schlossen quer über die Breite der Bahn auf eine Höhe zusammen und versperrten dem Drachen und Ron den Weg , während der vierte vorausritt. Der Bursche, der vor dem Start wie ein Mehlsack auf der weißen Cavalla gehangen hatte, lag jetzt flach auf ihrem Hals und hatte anscheinend genug Zutrauen zu ihr gefasst, dass er sich ganz ihrem Instinkt überließ. Sie war nach dem Schwarzen die schnellste und kräftigste von allen; Nanja vermeinte, ihr die Freude am Laufen anzusehen.
Das Manöver der Pferdereiter glückte noch besser als Nanja erwartete.
Der zweite Drache schloss gleich darauf zu Margoros Tier und dem Schwarzen auf; Ron wich auf die äußere Bahn aus und zügelte ihn ein wenig. Er ging wirklich kein Risiko ein; sein wichtigstes Ziel schien fürs Erste, das Rennen überhaupt durchzustehen. Anscheinend war er gar nicht sicher, wie weit seine Kräfte schon reichten.
Nanja begann, sich Sorgen zu machen.
Ungehindert galoppierte die weiße Cavalla den anderen Pferden davon. Sie brauchte drei Runden, um sich von hinten dem Spitzenfeld zu nähern, das die Pferdereiter noch immer blockierten . Die Menge jubelte. Wie auch immer die Zuschauer gewettet haben mochten, sie ließen sich jetzt vom Siegeswillen des jungen Reiters begeistern.
Die ersten zehn Runden waren nun gelaufen. Margoros Drachenreiter blickte sich um, um die Ursache des Beifalls zu ergründen und verlor die Nerven. Mit der Faust schlug er seinem Tier auf die Schulter; die schlimmste Kränkung, die ein Reiter seinem Drachen antun konnte. Der Drache brüllte zornig und spuckte eine Feuerlohe. Sie stieg in den Himmel, aber die Flamme sengte trotzdem den vor ihm Galoppierenden. Der trat seinem Pferd erschreckt in die Seiten und es ging mit ihm durch. Mit einem Jubelschrei reagierte der Drachenreiter auf die Öffnung in der Pferdemauer.
Aber auch der zweite Drache erkannte die Chance und preschte auf die Lücke zu. Er war flinker, denn der andere rang noch mit dem Ärger seines Tieres. Beide setzten darauf, dass ihres das stärkere wäre und wichen nicht. Sie prallten zusammen; der blaue Drache stürzte und riss im Fallen eines der Pferde mit sich. Der andere galoppierte davon.
Margoro sprang mit einem Wutschrei auf und schmetterte seinen Weinkelch gegen das Tribünengeländer. Nanja feixte.
Ron gelang es, den Stallone zu zügeln, bevor er in das Gewirr der Tier- und Menschenleiber prallte. Er hielt kurz; zog er auf der Innenbahn vorbei und galoppierte wieder los, den übrigen zwei Pferden hinterher. Eine halbe Runde weiter überholte er sie mühelos.
Jetzt hatte er nur noch die weiße Cavalla vor sich und den anderen Drachen. Der Drache hatte sie inzwischen eingeholt und ritt, wohl zu seinem eigenen Vergnügen, eine Runde auf gleicher Höhe mit der Cavalla. Die Menge schrie vor Begeisterung, viele feuerten den Pferdereiter an. Margoro zerrte an den Ärmeln seines Festgewands, bis einer knirschend zerriss. Er warf den Fetzen mit einer heftigen Geste beiseite.
Nanja stand auf und beugte sich über das Geländer. „Noch acht“, flüsterte sie, als Ron an ihnen vorbei ritt. Und dann „Sieben - du schaffst es!“ Aber sie glaubte es fast nicht. Er keuchte heftig und wirkte erschöpft. Einmal hob er gar die freie Hand und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.
Der Drachenreiter blickte sich um und sah Ron näher kommen: Das Spiel war zu Ende und er jagte an der Cavalla vorbei. Auch Ron überholte sie gleich darauf.. Dann machte er sich an die Verfolgung des letzten Drachens. Nanja hatte das Gefühl, dass er den Stallone noch immer nicht voll laufen ließ, sondern weiter darauf bedacht war, Kraft zu sparen.
Nur noch fünf Runden; sie hoffte, dass er mitgezählt hatte. Quälend langsam holte er auf.
Die Zuschauer klatschten und jubelten nicht mehr. Sie wirkten gebannt; viele hielt es nicht mehr auf den Sitzen. Von der Nachbartribüne kamen gereizte Stimmen. Wribald drängte sich nach unten ans Geländer und zwei seiner Kumpane folgten ihm. Angesichts der Aufregung rundherum wirkte es ganz zufällig. Zwar gab es Protest, aber letztlich nahmen die anderen Zuschauer die Störung hin, um nicht den Fortgang des Rennens zu verpassen.
Zwei Runden vor Schluss holte Ron den Drachen endlich ein. Der versuchte wie zuvor Margoros Drachenlenker, ihm durch Zickzack-Laufen den Weg zu versperren.
Aus der Menge erschallten Protestrufe.
„Ich lasse ihn disqualifizieren“, fauchte Margoro. Er zog sein Schwert und stand auf. Nanja grinste. Nun, da es ein fremder Reiter war, galt Margoro die eigene Taktik als unfair. Sie fragte sich wieder, ob er nur auf seine eigenen Drachen gesetzt hatte oder doch auf Ron.
Margoro fuchtelte immer noch mit dem Schwert, als Ron das nächste Mal an ihnen vorbeiritt. Sie schaute zu den Rebellen hinüber. - Wenn nun Ron nicht gewann ... Was auch immer sie mit Sitaki geplant hatten, er wäre verloren.
Nanja umklammerte das Geländer; Schweiß lief ihr den Rücken hinunter und ihre Kehle wurde eng.
Als Ron sich erneut ihrer Tribüne näherte, lenkte er den Stallone auf die Außenbahn. Seine Augen blitzten, als er sie anschaute. Als er den Drachen fast erreicht hatte, zügelte er das Pferd aus vollem Galopp und ließ es mit einem Wiehern steigen: Selbst der Drache, nicht nur sein Reiter, sah nach hinten und kam dadurch aus dem Tritt. Im nächsten Moment zog Ron an ihm vorbei.
Noch eine Runde. Die Zuschauer sprangen auf und brüllten. Alle, alle feuerten sie jetzt Ron an.
Aber der Drachenreiter holte wieder auf. Da endlich ließ Ron seinem Pferd die Zügel lang und es zeigte, was es konnte.
Nanja liefen die Tränen vor Erleichterung; mit zitternden Knien stützte sie sich auf das Geländer.
Mit einer viertel Runde Vorsprung erreichte Ron das Ziel. Als er den Schwarzen auslaufen ließ, hörte man in der Rennbahn nichts als das Knirschen seines Sattelleders und den Hufschlag des Schwarzen.
Ron ließ ihn eine Runde im Schritt gehen; Nanja fasste sich wieder, bevor er vor der Ehrentribüne ankam.
Ron keuchte, als er vor ihnen das schweißnasse Pferd parierte. Seine Hände bebten; scheinbar konnte er sich kaum noch aufrecht halten.
„Sehr schön“, knurrte Margoro. „Du hast es spannend genug gemacht, die Leute bis zum Schluss zu unterhalten. Du bist wirklich zu gebrauchen.“
Nanja fluchte halblaut; sie hatte gewusst, dass er ihn nicht freigeben würde.
Rons Blick verschleierte sich und sie befürchtete, er würde gleich das Bewusstsein verlieren. Mit einer Grimasse, die wohl ein Lächeln sein sollte, zog er sich die Kette über den Kopf. „Meinen Dank, Kapitänin. Ich brauche sie nicht mehr.“
Er trieb das Pferd mit losem Zügel dicht ans Geländer und streckte die Hand aus, um ihr die Kette zurückzugeben. Nanja reckte sich, damit er sie ihr überstreifen konnte. Er nickte und beugte sich zu ihr herab.
Plötzlich ließ er die Kette fallen, packte mit beiden Händen nach ihr und warf sie vor sich aufs Pferd. Sie krallte sich an seinem Bein fest, was er mit einem Schmerzenslaut quittierte. Ron lehnte sich über sie und galoppierte zum nächsten Ausgang.
Im ersten Moment war es still in der Arena als hielten alle den Atem an. Dann sprangen die Rebellen über das Geländer und versperrten hinter ihnen den Weg, sodass ihnen für den Augenblick niemand folgen konnte. Auf den Tribünen brach Tumult aus; Waffen klirrten hinter ihnen.
Draußen nahm Ron die Zügel auf. „Aufs Schiff?“
Es wäre der einzige Ort, wo die Matrosen sie suchen würden. Wenn sie wüsste, wo jetzt Sitaki war. „Aufs Schiff.“
Wer ihnen begegnete, blieb mit offenem Mund stehen; aber noch konnte niemand wissen, was geschehen war. Die Stadtwache von der Rennbahn bräuchte Drachen, um ihnen zu folgen. Aber die schnellsten waren gerade außer Gefecht. Bei diesem Gedanken löste sich Nanjas Anspannung in einem Kichern auf.
Ron hetzte den Stallone durch die menschenleeren Straßen. Das also war der Grund, warum er ihn in der Rennbahn geschont hatte.
Als sie sich dem Hafen näherten, hieß Nanja ihn in einer schmalen Gasse anhalten und stieg ab. Möglicherweise wurde die Brigantine bewacht; sie mussten zuerst die Lage erkunden. . Sie hatte nicht die geringste Ahnung in welcher Weise Ron mit der Flucht Sitakis Pläne durchkreuzt hatte.
„Man erkennt mich von Weitem als Bediensteten Margoros; du musst alleine gehen.“
„Du hast nicht einmal eine Waffe.“ Sie mochte ihn nicht zurücklassen. „Und ich kann mich in dieser Kleidung erst recht nicht im Hafen sehen lassen, ohne mich verdächtig zu machen. So gehe ich nicht einmal als Dienerin Akeles durch.“
Nanja stand vor der Frage. , wo sie Unterschlupf fänden; als einer ihrer Matrosen hätte sie sich in den Spelunken des Hafens ausgekannt und gewusst, wem sie vertrauen könnte.
Vorsichtig – so weit das mit dem Pferd überhaupt möglich war – bewegten sie sich durch die Gassen. Nanja entschied, bis zur Dunkelheit zu warten. Sie mussten das Pferd allemal zurücklassen. Aber Ron protestierte. Und auch ihr selber täte es Leid, den wunderschönen Stallone einem ungewissen Schicksal zu überlassen.
„Du hast eigentlich Recht“, gab sie nach einigem Zögern zu. „Er ist inzwischen Teil unseres Schicksals.“ Sie blieb stehen und kraulte das Pferd am Hals. „Auch wenn du dumm bist, du hast uns vielleicht das Leben gerettet.“
„Ich kann nicht mehr“, hauchte er auf einmal und sank über dem Hals des Pferdes zusammen. Er hatte sich so lange gehalten; nun hatte er wohl seine letzten Kräfte aufgebraucht.
Nanja stützte ihn, so gut sie konnte. „Reiß dich zusammen.. Wir haben es gleich geschafft.“ Wenn es nur wahr wäre.
Er hob den Kopf und ächzte. Sie musste es wagen, an eine beliebige Tür zu klopfen und um Hilfe zu bitten.
Langsam führte sie das Pferd bis zur nächsten Kreuzung. Eine Gasse wie die anderen auch. Hinter wenigen Fenstern brannten Lichter; zwei Fahnen raschelten im Wind und wiesen den Weg zu Spelunken. Ein Schild aus rotem Glas, auf dem ein Quacksalber seine Dienste anbot. Wieder einer, der versuchte, in eine Domäne der Frauen einzubrechen; wem mochte er ihr Wissen abgeluchst haben?
Sie entschied, die Spelunken näher zu besichtigen. Als eine der Fahnen sich ganz entfaltete, zeigte sie ein Anagramm, dass der Elfenschrift ähnelte. Das gab den Ausschlag. An manchen Orten lebten Elfen unerkannt unter den Landmenschen; sie hatten ein halb verstecktes System der Verständigung, das die Menschen nicht zu erkennen vermochten.
Zögernd blieb sie vor dem Wirtshaus stehen. Daneben führte ein windschiefes Holztor in einen Hof; vielleicht gab es einen Hintereingang.
Vorsichtig öffnete sie und spähte hinein. In der Dunkelheit konnte sie nur erkennen, dass allerlei Gerümpel herumstand. Sie führte das Pferd in den Hof; wenigstens waren sie hier vor fremden Blicken verborgen.
„Ich bin gleich zurück.“ Sie huschte um das Haus herum und fand zwei Türen. Als sie die erste einen Spalt öffnete, kam ihr der Geruch von gekochtem Kraut entgegen. Eine Küche war ein guter Ort, ihr Glück zu versuchen; Köche waren von Natur aus gutmütige Menschen.
Sie ging zurück und band das Pferd an einen Pfosten neben der Tür. Dann half sie Ron herunter. Er war fieberheiß; Nanja schwankte unter seinem Gewicht, als er sich auf sie stützte. Sie taumelten die zwei Stufen hoch bis an die Tür und fielen dagegen.
Der Koch fuhr herum, als sie über die Schwelle stolperten. Einen Moment starrte er sie an. Dann verneigte er sich; dabei hielt er sich mit einer Hand am Tisch und stützte die andere in die Hüfte. Aber er senkte nicht den Kopf, sondern musterte sie weiter. „Herrin, womit kann ich Euch dienen?“
Sie blinzelte überrascht; so reagierte einer hier darauf, dass sie wie eine Adlige gekleidet war und Ron die Farben Margoros trug.
„Mein Diener ist plötzlich zusammengebrochen; helft ihm.“ Sie trug keine Perlen bei sich; aber vielleicht nahmen die Reichen es hier als selbstverständlich, dass das Volk ihnen zu Diensten war. Sie lächelte ihn freundlich an; die hellwachen Augen in dem verwitterten Gesicht machten ihn ihr auf Anhieb sympathisch.
Der Koch packte Ron unter den Achseln und schob ihn auf einen Hocker an der Wand;; dann brachte er ihm einen Becher Wasser. „Wie kommt Ihr hierher?“
Eine gute Frage. „Ich mochte uns nicht den Blicken im Gastraum aussetzen.“ Sie tat, als zögere sie einen Moment und setzte leise hinzu: „Nicht jeder kann begreifen, dass man seine Bediensteten nicht wie Vieh behandelt.“
Sein bohrender Blick verursachte ihr einen Magenkrampf, aber sie hielt ihm Stand. Er zog die Brauen hoch; dann war er es, der zur Seite sah – zu Ron. Ein feines Lächeln schuf einen Kranz von Fältchen um seine dunklen Augen. „Du belügst mich, mein Kind. Ihr seid nicht, was ihr scheint.“
Nanjas Hand glitt an die Hüfte; aber da war kein Dolch.
Er lächelte noch breiter. „Hier seid ihr gut aufgehoben. Niemals würden wir einen der unseren verraten.“
So war ihre Ahnung richtig. Ron stammte von Elfen ab und wusste es nicht. Aber der Koch hatte ihn erkannt. Ron reagierte nicht; er schien nicht zu begreifen, was die Worte des Alten bedeuteten. Sie entspannte sich. „Ich habe die Fahne gesehen, Aber ich war nicht sicher, was sie bedeutet. Ich bin Nanja, die Kapitänin.“
„Die Piratin, die Loperos Tochter gerettet hat. Und die Pferde gebracht hat.“ Er legte Ron beide Hände auf den Kopf und gleich schien Erschöpfung und Schmerzen von ihm abfallen.
Sie nickte und Ron sah ihn erstaunt an.
„Magie.“ Nanja lächelte. „Vor endlosen Zeiten haben Menschen und Elfen in Freundschaft gelebt. Aber die Elfen sind noch nicht alle verschwunden.“
„In Kruschar leben Elfen? Mitten unter den Menschen?“
„Die Landmenschen erkennen sie nicht mehr.“ Sie zwinkerte dem Koch fröhlich zu. Zum ersten Mal seit dem Erdbeben brauchte sie sich über nichts Sorgen zu machen. „Im Gegensatz zu den Hochseebewohnern und den Meermenschen.“
Ron runzelte die Stirn. „Das ist mir schon auf See aufgefallen: Du hast gleich gewusst, dass das Mädchen ein Elfenkind ist.“
Nanja mochte nicht weiter darauf eingehen. Sie war nicht sicher, ob Ron jetzt wissen sollte, wer er war. Der Koch müsste entscheiden, wie viel er preisgab. „Wir müssen fort aus Kruschar. Aber wir sind von meinen Leuten abgeschnitten und ich weiß nicht, ob wir ungesehen aufs Schiff gelangen..“
„Unauffällige Kleidung wäre auch gut.“ Ron zerrte an seinem Hemd und zog es aus. „Und draußen vor der Tür steht eines der Pferde; das beste von allen. Es wäre schade, wenn ihm ein Unglück geschähe.“
Nanja fluchte lauthals. Die Striemen auf seinem Rücken stammten nicht von der Folter im Kerker des Heiligen. „Warum hat Margoro dich schlagen lassen?“
Ron hob die Schultern. „Um mich daran zu erinnern, dass ich ein Sklave bin.“ Wieder war sein Blick als Herausforderung gedacht.
Diesmal antwortete der Koch. „Nein, mein Junge. Niemals ist ein Elf ein Sklave.“
Nanja hielt den Atem an. Was würde das für ihn bedeuten? Und für sie selber?
Ron schüttelte den Kopf. „Ich bin kein Elf,“ sagte er schlicht. „Das wüsste ich“, fügte er noch hinzu, aber Nanja glaubte, einen leisen Zweifel zu hören.
Sie würde sehen. Für den Augenblick zählte vor allem, dass es Schutz bedeutete. Die Elfen hätten Nanja auch für das geholfen, was sie selber war. Erst recht zählte jeder für sie, der einen Tropfen Elfenblut in den Adern hatte. Für einen der ihren waren sie zu allem bereit. Sofern er sie nicht verriet.
„Kannst du herausfinden, wo Sitaki steckt?“
„Wir bringen ihn dir.“ Er verließ die Küche und kam gleich darauf mit einem jungen Mädchen zurück. Es umkreiste sie und musterte sie von oben bis unten. „Ich werde euch passende Kleider besorgen.“
Nanja sah Ron an, dass er aus dem Staunen nicht mehr herauskam. „Wie lange hast du bei den Sabienne gelebt?“
„Bis ich bei dir angeheuert habe.“
Er war als Gefangener aufgewachsen, Das erklärte vieles; umso mehr bewunderte sie jetzt seinen Mut und seinen Stolz. Ihr Herz brannte, als sein Gesicht unter ihrem Blick aufleuchtete. Mit zusammengebissenen Zähnen wandte sie sich ab. Sie wusste, dass sie damit das Licht in seinen Augen zum Verlöschen brachte. Aber Rons Geschichte musste warten, bis sie in Sicherheit waren.
Der Koch öffnete inzwischen eine Flasche und schenkte zwei Gläser mit einer goldfarbenen Flüssigkeit voll. „Trinkt aus; ich schaue inzwischen nach diesem Tier.“
Ron nahm ein Glas und gab Nanja das andere. Ein fremder seltsamer Geruch stieg ihr in die Nase und sie nippte vorsichtig. Die Flüssigkeit brannte in ihrer Kehle, aber sie schmeckte süß und sie trank weiter.
„Noch stärker als euer Schilfgrasbrand.“, sagte Ron mit einem Lächeln. „Aber gut.“
Das Mädchen kam zurück und führte sie in einen Schlafraum im ersten Stock. Einfache Kleider lagen für sie auf dem breiten Bett.
„Wenn dein Steuermann da ist, wecke ich euch“, sagte es und ließ sie allein.
Ron zerrte sich umgehend Margoros restliche Kleider vom Leib und zog sich ohne Scheu um.
Nanja nestelte einen Moment sinnlos an den Verschlüssen ihres Kleides und überlegte, das Mädchen zurückzurufen. Aber dann schalt sie sich kindisch und bat ihn, ihr aus dem Festgewand zu helfen. Seine Finger, die von einem Haken zum anderen über ihren Rücken glitten, waren kühl; aber ihre Haut brannte unter der Berührung, als entzünde er ein Feuer darauf.
Als er sich zum Schlafen auf den blanken Holzboden legen wollte, streckte sie die Hand nach ihm aus. „Das Bett ist breit genug für uns beide.“
‚Ich liebe ihn’, dachte sie verwirrt, als er eine Hand breit entfernt neben ihr lag.
Nur einen Augenblick saß Margoro wie versteinert. Dann überrollte ihn die Wut. Er sprang auf. „Fangt sie!“ Er schwang sein Schwert, das er erst kurz zuvor wieder eingesteckt hatte und packte den Offizier der Stadtwache am Arm, der ihm am nächsten stand. Der Offizier zog sein Signalhorn aus dem Gürtel und blies Alarm.
Von der Nachbartribüne sprang ein halbes Dutzend Männer in den braunen Gewändern der Holzfäller über das Geländer. Seltsamerweise trugen sie nicht nur ObsidiandDolche, sondern auch kurze Schwerter. Und diese Waffen schimmerten metallen in der Sonne.
Margoro nahm es wahr, aber es drang nicht recht in sein Bewusstsein. Seine Stimme überschlug sich. „Fangt sie!“ Aber diese Männer liefen der Piratin und dem Sklaven nicht hinterher, sondern blieben mitten im Ausgang stehen.
Die Männer der Wache rechts und links auf den Tribünen begannen hinunter zu steigen. Aber einige kamen nicht weit, denn zu zweit oder zu dritt stellten sich ihnen Zuschauer in den Weg, als wollten sie verhindern, dass die beiden Flüchtlinge verfolgt würden. Hier und da klirrten Waffen.
Eine Abteilung der Stadtwache sammelte sich vor den Holzfällern und drängte gegen sie zum Ausgang.
Ein junger Bursche rempelte den Offizier an; Margoro schienes war es der gleiche zu sein, den Nanja gegrüßt hatte. Da begriff er: Sie steckten mit ihr unter einer Decke. Er stürzte an das seitliche Geländer. „Verrat! Nehmt diese Männer fest!“
Die Holzfäller zogen sich kämpfend zum Ausgang zurück. Ein Teil der Holzfäller zog sich kämpfend zurück.
Margoro schwang sein Schwert über das Geländer, aber er kam nicht hinüber. Der Bursche, der Nanja gegrüßt hatte, schlug drei Wächter nieder und stand plötzlich direkt vor Margoro. Im nächsten Augenblick packte er sden Griff seines Schwertes. und riss daran.. Margoro war nicht bereit loszulassen und verlor fast das Gleichgewicht; er stützte gegen das Geländer, das unter seinem Gewicht nachgab. Vergeblich versuchte er, sich am Handlauf festzuhalten.
Das Schwert entglitt ihm – und einen Augenblick später bohrte drückte sich dessen Spitze gegen seine Kehle. „Befiehl den Rückzug!“ Das war kein Holzfäller, dieser junge Mann.
Margoro ächzte; das Schwert drückte sich tiefer in seine Halsgrube.
„Halt!“ Margoro schrie so laut er konnte. Aber gegen den Kampflärm und das Gebrüll auf den Tribünen brauchte er drei Anläufe, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Die Wachen stellten den Kampf ein.
Margoro kniff hämisch die Augen zusammen. Diese Männer würden nur bis vor die Tore der Rennbahn kommen.; draußen warteten die Priestersoldaten des Heiligen. Wussten sie nicht, dass draußen die Priestersoldaten des Heiligen aufmarschiert waren?
Zwei andere Holzfäller sprangen über das Geländer auf Margoro zu. Sie packten ihn und schoben ihn die Stufen zum Tribünenausgang hinunter.
Margoro fluchte, aber der Dolch in seinem Nacken machte ihm jede Gegenwehr unmöglich. Die Wachen wichen zurück, als er an ihnen vorbei zum Ausgang gedrängt wurde. Von den Priestersoldaten Aharons war nichts zu sehen.
Der Bursche, der das Kommando hatte, befahl, das Tor zu schließen, als sie draußen waren. Sie verbarrikadierten es sogar noch. Dann ließen sie Margoro stehen und schwangen sich auf Renndrachen.
Margoro brüllte und von innen bekam er Antwort. Während sie noch damit beschäftigt waren, das Tor aufzustemmen, trabte endlich ein Trupp Priestersoldaten aus der Seitenstraße.
Soidan parierte seinen Drachen vor Margoro. „Herr, man hat uns alarmiert und hierher geschickt. Was ist geschehen? Wo sind die Rebellen?“
„Die Rebellen?“ Margoro wurde flau im Magen. „Die Rebellen wagen sich mitten in die Stadt?“
„Wo sind sie?“, fragte Soidan erneut.
Margoro deutete vage in eine Richtung. „Fort! Was wollten die hier?“
Soidan kniff die Augen zusammen. „Wir werden es herausfinden, sobald wir sie haben.“
„Kaum.“ Margoro feixte; hier konnte er seinen Ärger auf jemandem abladen. „Ihr werdet sie nicht besiegen. Sie haben Waffen aus Eisen.“
Soidan schüttelte den Kopf. „Ihr müsst euch irren, Herr. Ich habe Wribald vor drei Tagen erst in meinen Händen gehabt.“
„Und warum habt ihr ihn laufen lassen, wenn Ihr wusstet, dass er zu den Rebellen gehört?“ Margoro tobte.
Soidan kniff die Augen zusammen. „Ich hatte meine Gründe.“
Margoro trat dicht an Soidans Drachen und packte den jungen Soldaten am Arm. „Merk dir eines: Dies ist meine Stadt.“
Soidans grinste als Antwort.
„Du glaubst, ich brauche euch?“ Er zog Soidan blitzschnell das Schwert aus der Sattelschlaufe. „Glas!“ Er schlug es gegen die steinerne Umrandung von xx; die Schwertspitze barst in zahllose kleine Splitter. „Wenn es gegen Stein nichts ausrichtet, was wird es taugen, wenn ihr gegen Eisenwaffen kämpft? – Spielzeug!“
Soidan entriss ihm das Schwert. „Die Stadtwachen haben auch nichts anderes.“
„Aber ich könnte ihnen Besseres besorgen, wenn es nötig wird.“ Margoro breitete die Arme aus. „Wo sind sie? Ihr werdet nicht einen mehr finden.“
Das Tor zur Rennbahn wurde aufgestoßen und der Hauptmann der Wache trat an der Spitze eines Trupps mit schussbereiten Bögen und Schwertern hinaus. Nach einem Blick in die Runde trat er zu Margoro. „Herr, wir haben die Arena wieder im Griff. Wir haben drei der Aufrührer festgenommen; sie werden uns bald sagen, wo wir die anderen finden.“
Einen Moment ließ Margoro ein Lächeln sehen. „Gut gemacht, Hauptmann.“ Sein Blick verfinsterte sich wieder. „Aber bringt dir das auch die Flüchtlinge zurück? Wissen sie auch, wo die beiden Verräter zu finden sind.“
Der Hauptmann zuckte die Achseln. „Wir überwachen das Schiff. Die Kapitänin wird es nicht zurücklassen.“
Margoro hieb ihm mit einem zufriedenen Grunzen auf die Schulter. „Trotzdem; durchsucht die Stadt.“
„Die Ratsherren erwarten euch.“ Der Hauptmann deutete zur Arena zurück. „Wenn Ihr mir erlaubt: Es wäre gut, Ihr selber würdet das Ende setzen.“
Der Hauptmann hatte Recht; er musste versuchen, so viel von der Situation zu retten, was möglich war. Er warf noch einen Blick auf den Priestersoldaten, der mit hochmütigem Blick über ihn hinweg blickte, als sähe er in der Ferne etwas, das interessanter war. Plötzlich wurde ihm der Mann unheimlich und er war froh, einen Vorwand zu haben, auf die Rennbahn zurückzukehren.
„Gebt mir euren Umhang, Hauptmann!“ Es war zwar unpassend, sich dieses blaute Teil über die Schultern zu hängen, aber noch unwürdiger wäre, er kehrte jetzt verschmutzt und mit zerrissenen Kleidern auf die Tribüne zurück.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Margoro Soidans Feixen, als der Hauptmann die Perlenkette löste, die seinen Umhang vor der Brust zusammenhielt. Fast hätte er seinen Befehl zurückgenommen. „Soidan, worauf wartet Ihr?“, fauchte er den Priestersoldaten an. „Ihr habt gehört, dass Ihr hier nicht mehr gebraucht werdet. Ich erwarte Euch morgen früh im Rat.“
Soidan öffnete den Mund; fast erwartete Margoro Widerspruch. Aber dann wendete er seinen Drachen und gab den Soldaten den Befehl zum Abmarsch.
Margoro sah ihm hinterher, bis er um die nächste Ecke verschwand. Es wurde Zeit, die Priester in ihre Schranken zu weisen., Vor allem durfte der Rat nicht den Eindruck gewinnen, er sei nicht mehr Herr der Stadt.
Aber zuerst musste er sehen, wie er das schmähliche Ende des Rennens ungeschehen machen konnte. Er befahl den Hauptmann an seine Seite und kehrte so in die Arena zurück; dann forderte er ihn auf, mit ihm auf die Ehrentribüne zu kommen. Er gab Yawani ein Zeichen und der ließ das Muschelhorn ertönen, bis Ruhe einzukehren begann.
Margoro stellte sich ans Geländer. „Nun, da wieder Frieden eingekehrt ist auf unserer Rennbahn, wollen wir zur Siegerehrung schreiten.“
Es gab ein überraschtes Gemurmel auf den Tribünen. Von den Ratsherren hinter ihm gab es halblaute Proteste. Wie dumm sie alle waren. Er wies mit einem Arm halb hinter sich, wo der Hauptmann Platz genommen hatte. „Denn einen Sieger haben wir zu ehren, dem die Stadt wie kaum einem Zweiten Dank schuldet. Hauptmann xx hat den feigen Angriff der Rebellen auf unser Fest zurückgeschlagen.“ Er drehte sich um, bewusst der Menge den Rücken zuwendend. Mit einem breiten Lächeln für die übrigen Ratsmitglieder streckte er dem Hauptmann seine Hand entgegen. „Kommt, junger Freund.“ Er zog ihn an seine Seite ans Geländer und begann zu klatschen.
Die Zuschauer erhoben sich mit Beifallsrufen und Hochrufen auf die Stadtwache und sie klatschten ebenfalls.
Als der Beifall verebbte, hob Margoro seinen Arm, um sich erneut Aufmerksamkeit zu verschaffen. „Nur eines haben wir zu beklagen: dass es nicht gelungen ist, alle Aufrührer unschädlich zu machen. Doch das ist nicht das Versagen unserer tapferen Stadtwache, sondern das Ungeschick der Soldaten, die der Heilige in der Stadt stationiert hat, um die Wachen zu unterstützen.“ Er grinste und schielte dabei aus den Augenwinkeln zu den Ratsmitgliedern. „Was ihm für diesmal leider nicht gelungen ist.“
Der Priester Aharons, der die Teilnehmer des Rennens gesegnet hatte, lief rot an. Margoro gönnte ihm ein tröstendes Lächeln. „Aber das wird in Zukunft sicher besser laufen“, sagte er laut zur Menge. Und leiser, sodass nur der Priester und die Ratsherrn ihn deutlich verstehen konnten, fügte er hinzu. „Wir brauchen klarere Absprachen. Und vor allem eindeutige Befehlsgewalt.“ Dabei klopfte er dem Hauptmann auf die Schulter; es sollte keiner missverstehen, wie er es meinte.
„Ich danke Euch, Herr.“ Der Geehrte stammelte seine Worte mühsam heraus, so heftig klopfte Margoro immer noch auf ihn ein.
„Schon gut, mein Junge.“ Er winkte Yawani. „Bring mir das Preisgeld.“ Zu dem Beutel Perlen, den der Hofmeister ihm reichte, zog er einen weiteren aus seinem Gewand und gab beide dem Hauptmann. „Auch deine Männer haben sich den Siegeslohn redlich verdient.“
Die nächst stehenden Wächter konnten seine Worte verstehen. Sie warfen ihre Schilde in die Luft; fingen sie sie wieder auf und schlugen mit den Schwertern dagegen. „Es lebe Fürst Margoro!“
Andere Wächter nahmen den Ruf auf und die Menge ließ sich anstecken. Margoro feixte. Das war noch besser als es die Ehrung des Pferdereiters gewesen wäre. Nun hatte er sich die Stadtwache verpflichtet und die Kruschaner davon überzeugt, dass diese allein den Schutz der Stadt zu wahren vermochten. Und er sie mit der dafür nötigen Macht ausstattete.
Der Priester blickte finster; demnächst würden die Gesandten des Heiligen weniger Bereitwilligkeit unter den Bewohnern finden. Ihm war es recht; denn die Hexenprozesse hielt er nicht nur für ein Gräuel, sondern befürchtete jedes Mal, es träfe eine, die so hoch angesehen war in der Stadt, dass es zur Rebellion gegen die Hinrichtung kommen könnte.
Er gab Yawani erneut ein Zeichen und das Festprogramm begann mit einem Wettstreit von Musikanten aus allen großen Städten der Insel.
Margoro überlegte kurz, ob er die Stadtwache auf die Suche nach Ron schicken sollte. Aber der Sklave interessierte ihn nicht ernsthaft und die Piratin konnte nicht unbemerkt auf ihr Schiff zurückkehren. Die Priestersoldaten kannten sich kaum aus in Kruschar und würden sich unfehlbar blamieren. So hatte er einen Grund mehr, sie morgen vor dem Rat zu demütigen.
Die Musik war zumeist schauerlich; so ließ er sich bald nach Hause bringen.
Margoro hatte an diesem Morgen den Vorsitz im Rat, aber wie stets hielt er es für raffinierter, von diesem Vorrecht fürs Erste keinen Gebrauch zu machen, nachdem er die Sitzung eröffnet hatte.
Soidan kam pünktlich; aber er kam nicht allein. Er brachte den alten Mönch mit, der für den Kerker verantwortlich war und den Aharon-Priester, der den Heiligen in Kruschar vertrat.
Die drei Anhänger Aharons standen mitten im Raum und niemand bot ihnen an, Platz zu nehmen.
Margoro diskutierte laut mit dem Zunftmeister der Glasbläser, wie nach dem letzten Brand die Feuersicherheit in seinem Viertel verbessert werden könnte.
Die Vorsitzende der Architektinnen-Gilde stand von ihrem Platz auf und trat zu ihnen. „Hilfreich wäre schon, wenn die Straßen breiter gebaut würden. Erstens wäre es einfacher zu löschen; , zweitens hätten wir eine Feuerschneisen, die das Ausbreiten der Brände behindern würde.“
Der Zunftmeister nickte. „Du hast Recht; aber die Meister werden deinen Vorschlag ablehnen. wie sollten wir dann alle Häuser wiederaufbauen könen? “
Ratika sah Margoro an, als sie antwortete. „Es wird nur über einen Ratsbeschluss gehen. Und natürlich brauchen die eine Entschädigung, die dadurch zu kurz kommen.“
„Besser noch. Wir weisen ein neues Viertel für die Glasbläser aus. Damit schützen wir die ganze Stadt.“
Der Zunftmeister schüttelte den Kopf. „Wie soll das gehen? Wo soll das gehen? Innerhalb des Stadtrings gibt es keine zusammenhängende Fläche, die groß genug wäre.“
Margoro zuckte die Achseln. „Dann eben außerhalb; Städte müssen wachsen.“
Ratikas Augen begannen zu glänzen. „Ein ganzes Viertel neu errichten ... alles aus Stein, mit Glasfenstern und Dächern aus gebranntem Ton. Schöpfbrunnen in jeder Straße ...“ Sie nahm ihren Wachsstift und begann, neben Margoro die Tischplatte zu bemalen.
„Ihr seid eine Bauherrin mit großen Visionen“, schmeichelte Margoro ihr. „Ich besitze ein großes Gelände am Nordstrand; das wäre eines solchen Projektes würdig. Dafür wäre ich gerne bereit, es der Stadt zu verkaufen.“
Ratika bekam vor Eifer glühende Wangen. „Am Nordstand? Dann könnten wir auch den Hafen erweitern. Die Glasbläser würden ihre Waren direkt von dort verschiffen. Die Städte Dhaomonds sind übers Meer sicherer zu erreichen als über die Pässe. Die Schiffe können unter Land segeln, wo sie vor den Winterstürmen geschützt sind.“
„Bei Aharon! Dazu wärest du bereit?“ Der Zunftmeister stand auf, knetete eine Weile seine Finger und wandte sich dann mit bebender Stimme an die übrigen Ratsmitglieder. „Könnte die Stadt das überhaupt bezahlen?“
Alle stellten ihre Gespräche ein; Margoro spürte förmlich die Spannung, die sich aufbaute. So kurz vor der Wahl brachte diese Frage sie alle in eine Zwickmühle.
Bevor einer antworten konnte, stand auch Margoro auf. „Ihr Herren, selbstverständlich würden meine Bedingungen dem Vermögen der Stadt Rechnung tragen.“ Er setzte ein Grinsen auf. „Natürlich möchte ich einen gerechten Preis, aber noch nage ich nicht am Hungertuch.“
Ratika lachte schallend und die Ratsherren reagierten, offensichtlich erleichtert, mit heiteren Kommentaren.
Falls die Diener Aharons noch gezweifelt haben sollten, jetzt mussten sie wissen, wie groß sein Einfluss war. Nun war der passende Zeitpunkt gekommen, die Sitzung zu eröffnen und sich ihnen zuzuwenden.
Margoro ging um seinen Tisch herum auf sie zu. schob seinen Tisch ein wenig beiseite und zwängte sich zur Saalmitte durch.
Wie es sich gegenüber einem hohen Priester gehörte, neigte er zum Gruß tief den Kopf. Aber dann streckt er beide Arme aus und griff ungeniert nach den Händen des Priesters. „Es ist uns eine große Ehre, dass Eure Heiligkeit sich die Mühe gemacht hat, den jungen Offizier der Drachenreiter zu begleiten.
Der Priester entzog ihm die Hände. „Der Titel gebührt mir nicht.“ Seine Stimme klang eisig.
Margoro begrüßte unbekümmert auch Soidan. Für den Mönch hatte er gar ein Augenzwinkern übrig.
Während er dann zu seinem Platz zurückging, beobachtete er aus den Augenwinkeln die Ratskollegen um abzuschätzen, welchen Eindruck sein Auftritt gemacht hatte. Bedauerlich, dass er sie nicht ununterbrochen im Blick gehabt hatte; er musste sich auf Yawanis anschließeden Bericht verlassen, der reglos neben seinem Sessel wartete.
Margoro setzte sich und blickte Soidan an. Dann verschränkte er die Arme und lehnte sich zurück, als sei es nicht seine Aufgabe, jetzt etwas zu sagen. Er fing ein Feixen des Glasbläsers auf und die Gildenführerin der Heilerinnen von Kruschar schmunzelte immer deutlicher.
Soidan warf aus den Augenwinkeln einen Blick auf die Sanduhr und presste die Lippen zusammen. Ohne seinen militärischen Drill würde er vermutlich von einem Fuß auf den anderen treten.
Margoro wartete, bis die Sanduhr fast durchgelaufen war. „Wo bleibt Euer Bericht, Hauptmann?“ Er beugte sich vor und ließ seinen Blick von einem der frommen Männer zum anderen schweifen. „Habt Ihr die Diener Aharons mitgebracht, um besser zu erklären, warum Ihr den Dieb und seine Bettgenossin nicht gefangen gehabt? Und von den ... Holzfällern ... keine Spur zu finden ist?“
Soidan straffte sich. „Die Erklärung ist ganz einfach. Sie haben sich, wie schon zuvor, magischer Kräfte bedient.“ Er deutete mit dem Kopf zum Mönch. „Ihr habt Euch geirrt, Herr, als Ihr ihm sagtet, sie hätten sich auf Gemona nicht von der Hexe helfen lassen. Denn eine Hexe ist dieses Mädchen.“
„Der Rat dieser Stadt ist zu nachlässig“, erklärte der Aharon-Priester. „Aber mit unserer Hilfe wird es gelingen, die dämonischen Mächte zu brechen.“
Margoro zog die Augenbrauen hoch und warf einen Blick zum Glasbläser.
Der reagierte zuverlässig: „Es hat wohl Missverständnisse gegeben gestern; darum gelang es den beiden zu fliehen.“ Er kniff die Augen zusammen. „Der Vorwurf der Magie geht Euch allzu leicht von den Lippen. Zuweilen scheint er alles zu treffen, was Euren Verstand übersteigt, junger Mann.“
Das Gemurmel auf der linken Seite des Saals zeigte Margoro, dass der Vorwurf auf Zustimmung stieß. Soidan würde es nicht gelingen, ihn in die Defensive zu treiben.
Als der Aharon-Priester den Mund öffnete, um zu antworten, hob Margoro die Hand. „Schweigt! Wie könnt Ihr es wagen, den Rat zu kritisieren. Unter unserer Regentschaft ist Kruschar aufgeblüht wie nie zuvor. Es wird Euch nicht gelingen, die Bürger zum Aufruhr anzuzetteln.“
„Aber ...“
„Der Zunftmeister hat Recht. Nicht Euch, Euren Hauptmann habe ich heute Morgen zu unserer Sitzung eingeladen. Nicht, um ihn zu blamieren“, er warf Soidan einen freundlichen Blick zu, „sondern um dafür zu sorgen, dass es in Zukunft diese Missverständnisse nicht mehr gibt.“
xx. ein alter Pulverhändler, stand auf. „Die Magie mag euer Problem sein. Uns sind Leben und Eigentum unserer Bürger anvertraut. Und der Schutz der Stadt. Wenn eure Soldaten uns dabei unterstützen, sind sie uns willkommen.“
Margoro biss sich auf die Lippen. Was fiel es dem Alten ein, ihm öffentlich zu widersprechen? Er knautschte nachdenklich seinen rechten Ärmel. Dann lächelte er ihn an. „Ihr habt Recht, verehrter xx. Und so hat es uns der Heilige auch zugesagt. So sind wir uns alle einig.“
„Dass die Stadtwache überfordert ist, wissen wir“, erklärte Soidan. „Sonst wären die Wetteinnahmen nicht spurlos verschwunden.“
„Nicht spurlos“, protestierte der oberste Stadtwächter sarkastisch. „Es waren eure Gegner, die die Gelegenheit genutzt haben, ihre Kriegskasse zu füllen. Wenn ihr sie unschädlich gemacht hättet, wie es eure Aufgabe war ...“
„Die erste Aufgabe unserer Soldaten ist, den Tempel zu verteidigen.“ Der hohe Priester legte Soidan die Hand auf die Schulter. „Und viele seiner Männer haben diese Aufgabe heute Nacht um den Preis ihres Lebens erfüllt.“
Margoro rang um Luft; warum wusste er nichts davon?
Das Knirschen seines Ärmels brachte ihn wieder dazu, seine Gedanken in den Griff zu kriegen bekommen. „Ich habe Euch gewarnt, Soidan. Den eisernen Waffen der Rebellen ist Euer Spielzeug unterlegen. Gegen die eisernen Waffen der Rebellen ist euer Spielzeug nutzlos.“
„Wir haben den Angriff zurückgeschlagen.“
Soidans Hochmut war schier unerträglich.
„Aber Ihr habt sie nicht besiegen können.“ Die Architektenmeisterin spuckte ihm ihre Verachtung geradezu ins Gesicht. „Wir haben die Stadt so gebaut, dass sie sicheren Schutz bietet. Aber Ihr Bauerntrampel wisst Euch nicht darin zu bewegen,“
„Schutz? Ein Hafen, der nicht zu bewachen ist? In dem die Schiffe kommen und gehen, wie sie wollen?“
Margoro stieg die Hitze des Zorns ins Gesicht. „Wir haben die Leichen Eurer Soldaten gefunden, Soidan. Und ich danke Euch, dass Ihr versucht habt, die Piratin aufzuhalten. Aber wie ich schon sagte ...“
„Sie haben meine Männer nur mit Zauberei überwinden können. Kruschar ist in der Hand der Dämonen, aber ihr erkennt sie nicht.“
Der Glasbläser stand auf. „Soldat, hütet Euch. Es gibt keine Dämonen. Strengt Euren Kopf an, wenn Ihr etwas nicht begreifen könnt. Und versucht nicht, Eure Unfähigkeit zu bemänteln. Versucht nicht, hier Eure Intrigen zu spinnen.“
Margoro überlegte, wie er dem Zunftmeister unauffällig seinen Dank zukommen lassen konnte.
Vom Vorraum drangen durch die geschlossene Tür laute Stimmen, die ungeduldig klangen und einen harten Akzent hatten.
„Unsere neuen Handelspartner“, sagte einer der Ratsherren mit einem breiten Grinsen.
„Keineswegs neu“, feixte der Glasbläser. „Aber sie scheinen zu platzen vor Begeisterung, dass sie uns jetzt auch einmal etwas bieten können. Ihre Waffen wollen sie uns ja nicht verkaufen.“
„Sie fürchten sich trotz ihrer Waffen vor uns, denn wir haben die besseren Schiffe.“
Die Stimmen draußen stritten heftiger. Ein Bediensteter Wächter öffnete die Saaltür langsam einen Spalt. Bevor er hindurchschlüpfen und die Sitzung stören konnte, was streng verboten war, drängten ihn die Sabienne beiseite. Der Hochgeborene Lord persönlich schob ihn beiseite.
Jetzt machte Margoro von seiner Rolle als Vorsitzender des Tages Gebrauch. Mit einer Handbewegung befahl er den Hauptmann der Stadtwache an die Tür. „Hinaus mit ihm. Sorgt dafür, dass die Sitzung nicht weiter gestört wird.“
„Margoro!“ Die Stimme des Lords hallte von den Wänden wider und ließ die gläsernen Leuchter an den Wänden klirren. „Verkriecht Euch nicht hinter Eurer Bruderschaft. Ich habe eine Klage vorzubringen.“
Margoro wedelte noch einmal mit der Hand. „Jetzt ist nicht die Zeit dafür.“
Soidan wandte sich den Sabienne zu; sein Blick ging zwischen Margoro und dem Priester hin und her. Als der Priester grinste, trat er neben den Hauptmann der Stadtwache. „Ihr habt die Worte des Ratsherrn gehört. Zur rechten Zeit wird man eure Klage anhören.“
Der Lord von Thannes Lane nahm die Schultern zurück und hob den Kopf. „Wir schätzen die Gastfreundschaft dieser Stadt und nehmen sie gerne noch ein paar Tage in Anspruch.“ Mit einem Nicken verließ er den Saal.
Margoro war etwas überrascht, dass er ihn so leicht losgeworden war. Aber wichtiger als die Gründe dafür war die Rolle, die der Priestersoldat soeben eingenommen hatte. „Schön, dass die schlichte Bitte zu besserer Zusammenarbeit sogleich ein Ergebnis gezeitigt hat.“ Mit einem freundlichen Lächeln neigte er den Kopf. Was maßte dieser Soidan sich an einzugreifen, bevor der Hauptmann zum Handeln gekommen war.
Der Pulverhändler protestierte zu Margoros Freude. „Es stand Soidan nicht zu, dem Lord die Tür zu weisen.“
„Das hatte ich schon besorgt; habt Ihr es nicht gehört?“ Margoro klopfte mit dem hölzernen Griff seines Dolchs auf den Tisch. „Ihr Herren, lasst uns diesen Punkt zum Abschluss bringen: Die Soldaten des Heiligen handeln künftig auf Geheiß des Rats wie die Stadtwache.“ Die Augen seines Hauptmanns blitzten auf; doch Margoro wusste, dass er nicht wagte, hier zu protestieren. Er würde versuchen, sich auf andere Weise an den Priestersoldaten dafür zu rächen, dass er die Herrschaft teilen sollte.
Aber Margoro hatte noch einen Köder für ihn. Er wandte sich dem Pulverhändler zu. „Was sagt Ihr geschätzte Meisterinnen–und Ihr, meine Herren, - – lassen wir die Gewalt über die Stadt in den bewährten Händen des Hauptmanns oder vertrauen wir uns dem Schutze Aharons an?“
Wie er erwartet hatte, sprang die Gildenführerin der Astronominnen mit einem empörten Ausruf hoch und die Heilerin schnaubte wütend. Keine der Frauen konnte die Vorherrschaft Aharons akzeptieren.
Margoro breitete die Arme aus. „Ich darf doch bitten; wozu der Zorn? Wir treffen unsere Entscheidung wie immer zum besten Nutzen der Stadt.“
Die Architektin warf ihm einen Blick zu, als durchschaue sie sein Manöver. „Seid dankbar, Margoro, für die Leidenschaft, mit der sich die Schwestern für Kruschars Ansehen einsetzen. Denn eine Frage des Ansehens ist es: Können wir uns selbst verteidigen oder nicht? Sind unsere Mauern und unsere Männer unbezwingbar oder nicht?“
Margoro musste ein Kichern bezwingen, dass sie sich die Mühe gemacht hatte, die Männer in ihre Aufzählung hinein zu nehmen. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, um den Augenblick der Entgleisung zu verbergen.
„Selbstverständlich sind sie das!“ Der Pulverhändler warf Margoro einen Blick zu, der ihn wohl vernichten sollte. Wie dumm dieser Mensch doch war. „Und bedenkt, ihr Herren, die Priestersoldaten sind Fremde in der Stadt. Sie sind daher gar nicht fähig, uns so zu schützen wie unsere Stadtwache, die jeden Winkel kennt.“ Er grinste. „Und jeden Halunken, der frei herumläuft.“
Meinte er ihn damit? Margoro stand auf. „Wenn niemand dagegen spricht“, er fixierte den Priester, der gerade den Mund zum Protest öffnete, „aus den Reihen des Rats -, dann übergeben wir das Kommando über Soidans Truppen unserem Stadthauptmann.“
Soidans Hand fuhr zum Griff seines Schwerts. Mit zusammengepressten Mundwinkeln sagte er: „Ich danke dem Rat für das Vertrauen.“
Margoro zerrte an seinen Ärmeln. Es wurde höchste Zeit, diesem impertinenten Burschen die Flügel zu stutzen. Es würde ihm noch etwas einfallen. Er wandte sich an die Ratskollegen. „Dann ist das erledigt und wir können uns wieder dem neuen Glasbläserviertel zuwenden.“
„Was machen wir mit den Sabienne?“, fragte der Pulverhändler.
Margoro schnaubte. „Sollen sie ihre Klage einreichen. Ich habe die Pferde rechtmäßig erworben. Wenn sie ihnen gestohlen worden sind, dann sollen sie es beweisen und uns den Dieb bringen. Dafür ist das Hohe Gericht zuständig.“
„Dessen Vorsitzender Ihr seid, Fürst.“ Die Gildenmeisterin der Architektinnen feixte.
Er zuckte die Achseln. „Das Volk hat mich gewählt.“
„Gerichtstag ist nach dem Fest zur Mondwende des doppelten Mondes.“ Yawani bewegte keinen Muskel in seinem Gesicht, als er sprach. Als gebe er nur eine höfliche Erinnerung.
„Wissen Sie das?“
„Ihr könnt es ihnen ja sagen.“ Margoro feixte und griff nach der Stadtkarte, die vor ihm auf dem Tisch lag. „Das Feuer bei den Glasbläsern ...““
Sie Nanja erwachte in Rons Arm, seinen Atem in ihrem Nacken. Von der Gasse kam xxx Durch den Fensterladen fiel rötliches Licht; der Widerschein der Feuer aus den Glasbläsereien. Einen Moment lag sie ganz still; Behutsam rückte sie von ihm weg und stand auf.
Aus der Küche drangen Stimmen und das Geklapper von Geschirr. Nach einem letzten Blick auf den Schlafenden schlüpfte sie leise zur Tür hinaus und ging ebenso leise die Treppe hinunter.
Der Koch kniete vorm Herd und schichtete Holz hinein. Mit dem Rücken zu ihr saß ein Mann am Tisch.
„Sitaki!“
Er sprang auf und zog sie in seine Arme. „Meine Kleine!“ Dann ließ er sie los, nahm die Pfeife aus dem Mund und salutierte. „Kapitänin, die Mannschaft ist vollzählig und wartet auf deine Befehle. – Wie geht es Ron?“
„Warum hast du nicht gesagt, dass Sitaki gekommen ist?“, fragte sie den Koch.
„Ich habe es ihm verboten. Du solltest dich ausschlafen.“
Sie runzelte die Stirn. „Es wäre besser gewesen, so schnell wie möglich aufzubrechen. Einen offenen Kampf können wir hier nicht gewinnen.“
„Die Suche nach euch ist erst lange nach Mitternacht eingestellt worden. Die Elfen werden uns rechtzeitig vor den paar Streifen warnen, die schon wieder unterwegs sind.“
Sitaki schien alles im Griff zu haben.
Einen Moment noch sah sie dem Koch zu, der inzwischen das Feuer angezündet hatte und begann, das Frühstück zu bereiten. „Du glaubst, dass Ron einer der euren ist. Warum weiß er nichts davon? Und warum besitzt er keine elfischen Fähigkeiten?“
Der Koch stellte Schüsseln und Becher auf den Tisch und holte Brot. Erst, als er sich hinsetzte, antwortete er: „„Es ist viele Generationen her, dass es eine Elfin in seiner Familie gab.“
Das leuchtete Nanja ein; so nickte sie. „Und er ist auf Thannes Lane aufgewachsen.“
Sitaki hörte staunend zu. „Woher weißt du das alles?“
Der Koch zuckte die Achseln. „Wir erkennen einander.“
Nanja hatte das Gefühl, sie sei ihm zu nahe gekommen und wechselte schnell das Thema. „Was hattest du geplant, Sitaki? Ich konnte keinen der unseren auf der Rennbahn entdecken.“
„Dafür war Wribald zuständig. Er kam aufs Schiff, bald nachdem ihr gefangen wart. Wir waren uns schnell einig, dass er mit seinen Kumpanen Gelegenheit kriegt, die Waffen auszuprobieren.“ Sitaki feixte vor Vergnügen. „So gesehen ist es schade, dass ich gestern nicht auf der Rennbahn war. - Es war ja klar, dass Margoro dahinter steckte.“ Er grinste bei dem Gedanken. „Und dann war auch Sondria verschwunden, als er wieder in die Herberge zurückkehrte. Dass sie dann wieder auftauchte“, er kniff die Augen zusammen, „Ich glaube, Margoro wollte uns auf diese Weise warnen, etwas gegen ihn zu unternehmen. Überdies hat er uns fleißig bewachen lassen.“
„Dennoch ist Wribald seinen Spionen entgangen.“ Nanja rieb sich die Augen. „Seine Margoros Klugheit scheint nicht direkt seiner Macht zu entsprechen.“
„Jedenfalls ist Wribald sehr angetan von der ganzen Entwicklung. Er hat uns mehr bezahlt als die Waffen wert sind. Die Rebellen sind auf die Pferde scharf und wollen morgen Nacht Margoros Anwesen überfallen; mit unseren Waffen hält Hollor es für einen Spaziergang. Und für heute diese Nacht hatte er sich die Mönche vorgenommen. Wribald ist fast ausgerastet, als er gehört habt, dass Sondria in deren Kerker gelandet seidwar.“
„Das ist gut“, sagte Nanja erfreut. „Ron möchte Margoro den Stallone nicht zurückgeben. Das wäre eine gute Möglichkeit, ihn zu versorgen.“
„Wribald ist ein seltsamer Mensch. Aber Sondria sagt, er sei ganz in Ordnung.“
„Das ist gut.“ Nanja merkte, dass sie sich wiederholte. „Wenn Sondria für ihn spricht, kann er die Pferde haben. “
Sitaki lachte. „Sowieso, uns gehören sie doch eh nicht mehr. Und Margoro hat nach allem einen Denkzettel verdient, auch wenn er nun doch nicht der Urheber des Überfalls war.“
„Doch, das war er. Er hat sich der Priester Aharons bedient um sicherzugehen, dass wir keine Wahl haben.“
„Dann soll er verrecken.“ Sitaki hieb mit der Faust auf den Tisch, dass die Becher sprangen. „Übermorgen treffen wir uns in der Bucht von xxcxc mit den Rebellen, um ihnen das restliche Arsenal zu übergeben. Warum auch immer dieser Hollor auf Krieg aus ist, er hat unsere Unterstützung verdient nach alldem. Wir haben jetzt den gleichen Feind.“
Wenn die Rebellen ihnen nur halfen, sich an Margoro zu rächen für das, was er ihr angetan hatte. Es war gut, dass Sitaki so dachte; so brauchte sie ihm niemals ein Wort darüber sagen, was im Kerker passiert war. Wieder schüttelte sie der Ekel. (Nanja war anderer Meinung, aber das spielte nun keine Rolle.)
Während Sitaki seine Pfeife stopfte, lachte er plötzlich laut auf. „Eine Abreibung kriegt Margoro sowieso. Im Hafen liegen drei Schiffe der Sabienne. Und eines davon gehört Seiner Hochgeborenen Lordschaft, dem Züchter von Margoros Pferdchen.“
„Weiß Wribald das?“
Sitaki sah sie verdutzt an. „Keine Ahnung; von mir nicht. Vielleicht hat Sondria ihm erzählt, woher die Pferde stammen.“ Er paffte plötzlich heftig auf seiner Pfeife. „Alle Windsbraut! Dann kommt Wribald zu spät, wenn er die Pferde erst heute Abend holen will.“
Nanja nickte. „Entweder hat sich Margoro verbarrikadiert oder die Sabienne haben die Pferde zurück. Wir müssten Wribald warnen!“
Sitaki machte ein hilfloses Gesicht. „Wie denn?“
Da war auch Nanja überfragt. Schließlich zuckte sie die Achseln. „Er wird es schon schaffen!“
Der Koch mischte sich ein. „Margoro wird gewiss nicht mit einem Überfall rechnen. Die Sabienne muss er nicht fürchten; die werden stattdessen vor dem Rat der Stadt eine Klage einreichen. Auch, weil sie sich sonst für alle Zeit unmöglich machen und die Handelskontakte beschädigen.“
Nanja lachte lauthals. „So geht das hier zu?“
„Margoro ist Händler und die Sabienne sind es auch. Sie werden sich einigen.“
„Landmenschen!“ Sitaki schnaubte verächtlich.
Gedankenverloren trank Nanja ihre heiße Milch. „Ich wecke Ron, damit wir hier fortkommen.“
Aber kaum, dass sie zur Tür hinaus war, drehte sie noch einmal um. Mit verschränkten Armen lehnte sie sich an den Türpfosten. „Sitaki, was weißt du von Ron?“
Er sah sie überrascht an. „Was schon wieder? Jetzt weiß ich sogar weniger wie du.“
„Du hast gesagt, du hättest ihn auf einem Markt getroffen. Was war das – ein Pferdemarkt?“
„Pferde gab es da auch, ja.“ Sitaki schien nicht zu begreifen, worum es Nanja ging. Oder tat so.
Sie überlegte, was sie ihm sagen sollte. Aber der Koch kam ihr zuvor. „Du machst dir Gedanken, weil Ron bei den Sabienne gefangen war, nicht wahr? Dass ihn einer von denen ... kennt?“
„Wenn schon.“ Sitaki machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es bekommt ihn doch keiner zu Gesicht.“
„Sie haben ihn schon gesehen“, widersprach Nanja. „Sie waren beim Rennen – und ich fand es äußerst seltsam, dass sie nicht eingeschritten sind und die Pferde zurückgefordert haben. Außerdem muss ihnen klar sein, wo er reiten gelernt hat.“
Sitaki zog noch einmal heftig an der Pfeife; dann stand er auf. „Ich mache das Schiff klar und sehe zu, dass ich das Pferd an Bord bekomme, bevor die Sonne aufgeht.“
Ron wirkte erholt und seine Augen blitzten vergnügt. „Ich habe besser geschlafen als selbst in deinem Bett auf dem Schiff.“
Nanja lächelte; sie auch. Wusste er, dass er sie in seinen Armen gehalten hatte?
Der Koch ließ seinen Sohn einen geschlossenen Wagen anschirren. Mehr als einmal fuhren sie einen Umweg, um einer Soldatenstreife auszuweichen; Sitaki hatte Unrecht; man hatte die Suche nach ihnen nicht eingestellt. Oder schon wieder aufgenommen. Aber Losilva nahm sie jedes Mal schon von weitem wahr, sodass sie ungesehen den Hafen erreichten.
Am Kai lagen zwei tote Soldaten; die Piraten hatten sie offensichtlich ausschalten müssen, um an Bord zu kommen. Man würde sie bald vermissen; höchste Zeit zu verschwinden.
Losilva hielt vor den Toten und stieg vom Bock. Er drehte sie zur Seite, um nach dem Wappen auf dem Ärmel zu schauen. „Das sind nicht Margoros Leute, sondern die der Priester.“
Nanja biss sich auf die Lippen. „Dann hat Hollor sie nicht allesamt erledigt.“
„Das war auch nicht zu erwarten.“ Der Elf sah sich um. „Ihr habt einen mächtigen Gegner mehr. Ich komme mit euch; Vaters Drachen finden alleine nach Hause.“
„Ich danke dir.“ Nanja konnte sich nicht vorstellen, welchen Unterschied es machte. Aber es schadete auch nichts.
Der Elf las anscheinend ihre Gedanken und lächelte. „Eure Waffen richten wenig aus gegen die Magie der Priester Aharons.“
Nanja schüttelte den Kopf. „Der Heilige hat Magie verboten; darum ja will er uns an den Kragen.“
„Aber er setzt sie selber ein. Er hat sie verboten, um die Macht nicht teilen zu müssen.“
Das allerdings war ein neuer Gesichtspunkt. Da konnte ein Elf an ihrer Seite eine große Hilfe sein. Aber musste er unbedingt ihre Gedanken lesen?
„Verzeiht, Kapitänin.“ Losilva lächelte. „Ihr habt Recht, es ist unhöflich, ungefragt in die Gedanken anderer einzudringen.“
Nanja zwinkerte ihm fröhlich zu. „Aber manchmal sehr nützlich. So wie an diesem Morgen.“
„Ich werde in Zukunft warten, dass Ihr es erlaubt.“
Als Ron den Stallone sah, freute er sich. Aber dann sagte er. „Das ist kein Platz für ihn. Was fängst du mit ihm an?“
„Wir bringen ihn Wribald; übermorgen treffen wir uns mit den Rebellen.“ Und Sitaki erzählte ihm alles, was in der Zwischenzeit geschehen war.
Eine Dreimastbrigg der Sabienne lag eingeklemmt zwischen den Fischerbooten, die gerade den Fang der Nacht zurückbrachten. Der wäre mindestens noch eine Stunde bis zum Ende des Fischmarkts blockiert.
Die anderen beiden Schiffe ankerten näher an der Ausfahrt zwischen den Hochseeseglern der einheimischen Handelsleute. Wenn deren Bordwachen aufmerksam waren, würden sie nicht ungesehen an ihnen vorbeikommen.
An der Hafeneinfahrt begannen sich die heimkehrenden Fischerboote zu stauen. Es würde nicht einfach sein, an ihnen vorbei nach draußen zu kommen, aber genauso schwierig wäre es für jeden, sie zu verfolgen.
Nanja ließ die Focksegel setzen und den Anker lichten. Als sie das Ruder in den Händen hielt, atmete sie erleichtert auf. Noch eine halbe Stunde und das Meer hatte sie wieder.
Losilva kam zu ihr auf die Brücke. „Wenn der Tag sehr heiß wird, kommt zuweilen Nebel auf zu dieser Stunde. Kennen die Sabienne Euer Schiff?“
Nanja zuckte die Achseln. „Sie sind lange genug hier, dass es ihnen jemand gezeigt hat.“
Sie blinzelte gegen die aufgehende Sonne; dann konzentrierte sie sich darauf, zwischen zwei großen Fischerbooten hindurch zu fahren. Auf einem von ihnen hielten die Fischer mit ihrer Arbeit inne und winkten zu ihnen hinauf.
„Ich kenne sie“, sagte Losilva und grüßte zurück.
Das Boot fuhr eine Wende und hielt plötzlich auf den backbords ankernden Segler zu statt weiter zum Fischmarkt zu fahren. Nanja grinste; das also verstand Losilva unter „kennen“.
An der Reling des Schiffs auf der Steuerbord-Seite starrte ein Mann zu ihnen hinüber. Gleich darauf schallten Kommandos und die Segel wurden gesetzt.
Aber bevor es den Sabienne gelingen mochte, ihnen den Weg abzuschneiden, wären sie draußen. Zudem würden sie im Hafen nicht ohne weiteres einen Kampf riskieren. Aber so lange sie mit dem Wind fuhren, war ihre Brigantine leicht einzuholen , wenngleich sie sehr viel wendiger war.
Sie passierten den Leuchtturm an der Hafenausfahrt: Noch waren die Sabienne zwischen Fischerbooten eingekeilt. Nanja nahm Kurs auf die Baratinen. Zwischen den Inseln mit den ständig wechselnden Winden konnten sie Verfolgern leichter entkommen als auf dem offenen Meer.
Nach einer Stunde tauchte hinter ihren Verfolgern ein zweites Segel auf. Nun bestand die Gefahr, dass sie ihr den Weg abschnitten, falls sie sahen, an welcher Stelle sie hinein fuhr. Sie traute ihnen zu, korrekte Seekarten von dem Gebiet zu besitzen.
Das Meer wurde unruhig und die Brigantine jagte über die sich auftürmenden Wellen; bald pfiff der Wind noch stärker; Sie fuhren unter vollen Segeln trotz des Risikos, dass der Wind sie zerriss. Nanja übergab Sitaki das Ruder.
Ron stand am Unterstand neben dem Stallone, obwohl er sich mit seiner Verletzung bei dem Seegang kaum aufrecht halten konnte. Am liebsten hätte sie ihn unter Deck geschickt. Stattdessen ging sie scheinbar achtlos an ihm vorbei. Sie war die Kapitänin und er nur einer der Matrosen.
„Wir sind zu schnell“, sagte er leise und sie drehte sich um. „Bei der Geschwindigkeit riskieren wir, auf ein Riff zu laufen.“
„Mag sein.“ Sie wies zum Horizont; die beiden Schiffe der Sabienne waren deutlich näher gekommen. „Was werden sie mit dir machen, wenn du ihnen in die Hände fällst?“
„Du hast mich schon einmal gerettet.“ Er stockte und senkte den Blick. „Und einen hohen Preis dafür bezahlt.“ Seine Stimme klang nach unterdrückten Tränen. „Dieses Mal könnte es dich dein Schiff kosten und das Leben vieler guter Männer..“
. Sie sah ihn nicht an, als sie antwortete. „Ein Schiff lässt sich ersetzen; mit dem Gold der Rebellen und dem Margoros kann ich drei Schiffe bauen lassen.“
Da lachte er auf. „Dann bist du ja reich.“
Sie grinste fröhlich zurück. „Ich bräuchte allerdings eine Gelegenheit, meinen Reichtum auch auszugeben.“ Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass es eine neue Verbindung zwischen ihnen gäbe, die vorher nicht da gewesen war. Schnell lief sie hoch ans Ruder, um mit Sitaki nach der Durchfahrt zwischen Gemona und Kitar zu suchen.
Losilva stand neben ihm und beobachtete die Sabienne. Es würde schwer werden, sie abzuschütteln. „Kann ich etwas für dich tun, Kapitänin?“
Also hielt er sein Versprechen, nicht mehr ungefragt in ihre Gedanken zu schauen; Sie lächelte ihn gut gelaunt an. Angesichts dessen, was sie soeben für Ron empfunden hatte, war sie doppelt froh. „Wind haben wir jetzt mehr als genug. “
„Wäre es nicht das Wichtigste, ungesehen sich ihren Blicken zu entziehen?“
Sitaki brummte ein Ja.
Gleich darauf flaute der Wind zu einer leichten Brise ab und sie verloren an Fahrt. ‚So viel dazu, dass wir zu schnell sind’, dachte Nanja. Ron sah offensichtlich überrascht zu ihnen hoch.
Die Sabienne blieben zurück. Kreuzend fing Nanja daegen jeden Zipfel Wind ein, den es gab und langsam fuhr sie auf die Enge vor Ketros zu. Je näher sie den Inseln kamen, desto heißer wurde es. Nebel waberte ihnen entgegen, als würde die Sonne das Meer verdampfen wollen; bald konnten sie nur noch wenige Schiffslängen weit blicken. Kitar und Gemona verschwanden im Dunst.
Sitaki seufzte besorgt, aber die Sabienne sahen nun nicht mehr, wohin sie segelten.
„Gut gemacht!“, sagte Nanja zu dem Elf.
Der grinste. „Wieso denkst du, dass ich etwas damit zu tun habe?“
Als sie ihn daraufhin irritiert ansah, kicherte er belustigt und ihr wurde klar, dass er scherzte. Eine neue Seite, die sie da kennen lernte.
Während Sitaki noch grummelte, übernahm sie das Steuer. Ron ging ungefragt an den Bug und kommandierte lotste sie wie schon einmal durch die Untiefen. Als sie die Lagune von xxx erreichten, schloss sich hinter ihnen eine Nebelwand.
„Es wird sie für eine Weile aufhalten“, bemerkte Losilva.
„Trotzdem überlege ich, ob wir uns tatsächlich in einer der Buchten verstecken sollten.“
„Wo haltet ihr ihnen besser Stand? Hier oder auf See?“
Sitaki schüttelte den Kopf. „Das ist nicht die richtige Frage. Sie sind zu zweit; das ist das Problem.“ Er war an diesem Morgen entschieden zu unzufrieden.
„Darum schauen wir zu, dass wir schleunigst zum Treffpunkt mit den Rebellen kommen. Wribald wird alles daran setzen, die Pferde zu behalten.“
Es war fast dunkel, als Margoro an diesem Abend auf sein Anwesen zurückkehrte. In der Halle empfing ihn Yawani mit einem eisgekühlten Schilfrohrbrand und dann gingen sie gemeinsam ins Arbeitszimmer.
Yawani legte ihm die Aufstellung der Glaskunstwaren vor, die der König von Thannes Lane zur Hochzeit seines ältesten Sohnes in Händen zu halten wünschte.
„Wir haben kein Schiff im Hafen, das rechtzeitig den Kontinent erreichen kann.“
Margoro warf das Schnapsglas nach Yawani. „Besorg eines. Wir brauchen es in Adhrar. Die Küstenkapitäne können auch übers Meer fahren, wenn sie das passende Schiff haben.“
„Im Hafen liegt noch ein Schiff der Sabienne, Sie würden sich nicht weigern, die Ladung an Bord zu nehmen, da sie für den König bestimmt ist.“
Margoro stand auf und lief mit großen Schritten durch den Raum. Yawani stand mit ineinander gelegten Händen hinter seinem Stuhl und wartete.
„Es gehört Lord xxy, der die Pferde gefordert hat?“
„Das Schiff seiner Lordschaft verfolgt die Piraten; zusammen mit dem Segler aus xcx.“
„Nein, Yawani: Ich mache mich nicht von diesem adligen Pöbel abhängig. Besorge ein Schiff. Lass es von der Werft der Schwimmenden Inseln stehlen, wenn die Elfen nicht bereit sind, für mich zu fahren.“
Margoro öffnete das Fenster, um die frische Abendluft hineinzulassen und das Arbeitszimmer vom Qualm der blakenden Kerzen zu befreien. In seinen Schläfen pochte das Blut; von der stickigen Luft bekam er Kopfschmerzen. „Lass morgen auch diese Sondria suchen“, murmelte er.
„Herr?“
Margoro drehte sich um. „Vielleicht hat die Hexe ein Mittel gegen die Kopfschmerzen.“
„Der Schilfrohrbrand, den Ihr heute Abend getrunken habt, war ein Geschenk des edlen xxy. Vielleicht war er nicht gut genug gebrannt.“
„Wer hat ihn gekostet? Warum hat er nichts gesagt?“
„Diese Bauern sind nicht empfindsam genug. Gegen das, was er sich sonst hineinschüttet.“
Margoro kniff die Augen zusammen. „Meinst du? Ab sofort trinkt von den Bediensteten niemand mehr Alkohol. Ich werde morgen im Rat für einen Erlass sorgen, der diese Gelage aufs Strengste einschränkt.“
Yawani sah ihn so starr an, dass er sich plötzlich über ihn amüsierte. „Ich mache dich zu meinem Vorkoster; dann gilt das nicht für dich.“
„Herr ...“
Von draußen kam ein zischendes Geräusch; Margoro drehte sich stirnrunzelnd um.
Eine Wolke zog vor den Mond und verfinsterte die Dunkelheit noch mehr. Umso deutlicher fiel ein flackerndes Licht auf, das am Rande seines Blickfelds über der Außenmauer auftauchte. Aus dem Flackern wurde einen Moment später ein Feuer; dann tauchte daneben ein zweites auf, dann ein drittes.
„Yawani!“
Mehr als diesen Ruf brauchte es nicht. Der Hofmeister stürzte nach draußen hinaus und griff dabei nach seinem Muschelhorn.
Gleich darauf dröhnte dessen dumpfer Ton über das Anwesen. Auf der Mauer erschienen die Feuer weiterer Fackeln. Yawani trompete noch einmal in sein Horn, aber noch immer rührte sich nichts in den Hütten der Bediensteten.
Margoro zerrte fluchend an seinen Ärmeln. Wo blieben sie? Warum ließ sich niemand blicken? Er lief durch Eingangshalle auf die entgegengesetzte Seite des Hauses und betrat den Festsaal, ohne Licht zu machen. Auf dieser Seite war immer noch alles in Dunkel gehüllt. Leise öffnete er das Fenster und lauschte hinaus.
Waffen klirrten; so hatte sich das Pack endlich aufgerafft, seinen Besitz zu verteidigen. Er ging zurück, schnallte sich sein Schwert um und griff nach einem Dolch. Dann öffnete er die Seitentür, huschte hinaus und verbarg sich sogleich hinter den Sträuchern, die dort wuchsen.
Yawani stand mit gezogenem Schwert im Eingang des Hauses, aber niemand schien bislang die Absicht zu haben, dort einzudringen.
Die Eindringlinge hatten ihre Fackeln gelöscht und der Kampf fand im rötlichen Licht des xx-Mondes statt.
Margoro war nicht in der Lage, die Gegner zu zählen, aber es war eindeutig eine Übermacht. Das Klirren der Waffen sagte ihm, dass Eisen auf Obsidian schlug. So hatte er die Sabienne unterschätzt: Sie versuchten, sich mit Gewalt zurückzuholen, was sie für ihr Eigentum hielten.
Es wäre zwecklos, wenn er versuchte, selber einzugreifen. Er schlich um das Haus herum. Noch immer war hier alles ruhig.
Er hastete weiter zu den Ställen; gleich dahinter begann der Wald. Dort würde er in Sicherheit sein.
Eigentlich sollte er sich beeilen, doch er brachte es nicht fertig, auf einen letzten Blick für die Pferde zu verzichten. Er öffnete das Tor. Es quietschte und er fluchte. Aber noch waren die Kämpfenden zu weit weg, um es zu hören.
Trotz der Dunkelheit erkannte er die weiße Stute, die er zu reiten versucht hatte. Er lief zu ihr. „Pferdchen, du hast dich gut geschlagen heute. Ich hole dich zurück.“ Er streichelte ihr über den Kopf; dann lief er weiter.
Durch eine Tür getrennt standen die Reitdrachen. Die meisten schliefen und atmeten dabei so schwer, dass der Boden vibrierte. Kaum hatte er sich gefragt, wo sein Katran sein mochte, richtete dieser sich auf und kam ihm entgegen.
Margoro tastete nach einem Sattel, aber er war nicht in der Lage, ihn in der Dunkelheit auf Katran zu befestigen. So ließ er es bleiben, kletterte auf den bloßen Rücken und krallte sich an den Halszacken fest. Wenn Katran vorsichtig genug lief, würde er oben bleiben. Wenn nicht, musste er eben wieder hinaufklettern.
Katran stieß das rückwärtige Tor mit einer Tatze auf und dann verschwand er mit ihm im Wald.
ZwiscDurch die Bäume drang kein Mondlicht, aber der Drache brauchte kein Licht. Er trug Margoro auf verschlungenen Pfaden an einen kleinen See.
Dort ließ Margoro sich ins Gras gleiten und der Drache begann, gierig schmatzend zweige von den Bäumen abzubeißen.
Margoro lief ans Seeufer, schöpfte mit beiden Händen das eisige Wasser und fuhr sich dann übers Gesicht. Die Kälte half ihm, seinen hilflosen Zorn zu bändigen und darüber nachzudenken, was er jetzt tun sollte.
Hier war er fürs Erste in Sicherheit, selbst wenn die Bande systematisch den Wald nach ihm absuchen sollten. Aber warum sollten sie, wenn sie erst einmal ihre Pferde zurück hatten? Der Lord musste während der Ratssitzung erkannt haben, wie einflussreich er war; er würde sich die Handelskontakte nicht verscherzen wollen, indem er den obersten Ratsherr überfiel. Als Margoro so weit gekommen war in seinen Überlegungen, kam ihm plötzlich der Verdacht, dass es mit der Logik haperte. Da stimmte doch etwas nicht. Er seufzte; wenn Yawani jetzt hier wäre, könnte er den Denkfehler finden. Aber Yawani ... Margoro zerrte am Halsausschnitt seines Obergewands; plötzlich wurde ihm der Atem knapp. War Yawani schlau genug gewesen, sich gleichfalls in Sicherheit zu bringen?
Ratlos starrte Margoro in den See. Allmählich hatte er das Gefühl, es würde zu dieser Unzeit hell. Ohne nachzudenken drehte er sich um
Im Osten war es tatsächlich hell geworden; ein gelbrotes Licht, über dem dicke dunkle Wolken standen. Dort stand sein Haus und es brannte! Der Mond wurde von dicken dunklen dicken Rauchschwaden verdeckt. Mit einem Fluch sprang Margoro auf. „Diese Schufte!“
Minutenlang stand er regungslos und starrte auf den lodernden Brand. Er war so weit weg, dass er das Feuer und Qualm nicht roch, aber Katran wurde unruhig und trat mit zuckendem Schwanz auf der Stelle. Dann fauchte er und setzte dabei einen trockenen Busch in Flammen.
„Still!“ Falls sie ihn suchten, konnte auch ein kleines Feuer sie verraten. Margoro riss sich das Obergewand herunter und warf es über den Busch. Katran kam ihm zu Hilfe und trat mit seinen Tatzen schnell das Feuer aus.
Ihm wurde bewusst, dass der Drache eine weitaus bessere Witterung hatte als er. „Was ist? Hast du Angst um deine Artgenossen?“ Er klopfte Katran auf die Schulter. „Es wird ihnen schon nichts passieren. Die Sabienne könnten nichts mit ihnen anfangen.“ Als er das sagte, hatte er wieder den Verdacht, einem Denkfehler zu unterliegen. Aber er kam nicht drauf und sprach weiter mit dem Drachen.
Katran ließ ein leises Schnurren hören, als er ihn fragte, ob sie am See in Sicherheit wären. Daraufhin setzte er sich beruhigt wieder ins Gras. „Pass gut auf!“ Er streckte sich aus und beschloss, bis zum Morgen zu warten. Und schloss die Augen, um zu schlafen.
Katran weckte ihn mit einem Stoß seiner Tatze. Die Sonne stand hoch über dem See und tauche ihn in einen goldenen Schimmer.
Margoro rieb sich den schmerzenden Rücken; dann griff er mit einer Hand nach Halsdorn Katrans und ließ sich von ihm hoch ziehen.
Ein Reiher schwamm in der Mitte des Sees und fischte; am gegenüberliegenden Ufer stritten ein paar hell gefleckte Katzentiere lautstark um eine Beute.
Margoro lehnte sich an Katrans Vordertatze und lauschte. Da er nichts hörte, was ihm verdächtig erschien, tippte er Katran gegen das Bein und der Drache kniete sich hin, damit er aufsteigen konnte. „Schön langsam und so leise wie möglich!“
Der letzte Teil des Befehls war undurchführbar, denn rund um den See denn in der Nähe des Seeswaren die Wege so schmal, dass er zwangsläufig Äste brach und kleine Bäume niedertrampelte. Aber Margoro bestand darauf, nicht die verschlungenen Schneisen zu nehmen, die der Drache in der Nacht schon breit getreten hatte. Wenn sie jemand suchte, würde er dieser Spur folgen.
Der Wald war hier dicht und voller Unterholz, sodass rechts und links der Wege der Blick nicht weit kam. Margoro wurde bald ungeduldig und befahl Katran, schneller zu laufen.
Brandgeruch stieg ihm in die Nase und wurde stärker. Vom Saum des Waldes waren es drei Drachenlängen bis zu seinem Anwesen– bis zu dem, was davon übrig geblieben war.
Das zweistöckige Wohnhaus war völlig in sich zusammengestürzt; nach verbranntem Fleisch stinkende Rauchschwaden lagen darüber. Auch die Ställe waren Brandruinen; von den Hütten der Bediensteten standen dagegen die meisten noch. Aber die drei, die den Ställen am nächsten lagen, zeigten so viele Brandspuren, dass sie wohl unbewohnbar waren.
„Dieses Pack!“ Wütend hieb Margoro seinem Drachen auf die Schulter. Katran fauchte laut und spuckte eine Feuerlohe und verwandelte den nächsten Baum in eine Fackel. „Du bist nicht gemeint“, knurrte Margoro ihn an. „Und Feuer hatten wir gerade genug!“
Er trieb ihn vorwärts, am Wohnhaus vorbei. Dahinter, neben dem großen Brunnen saßen oder standen viele seiner Bediensteten und ein paar Sklaven.
Margoro sprang ab. „So habt ihr mein Haus verbrennen lassen und nur daran gedacht, eure armseligen Hütten zu retten!“ Er griff nach einem Holz, das auf der Erde lag und schlug auf die nächst Stehenden ein. „Pack! Wer nährt und kleidet euch denn, wenn alles verbrannt ist, was ich besaß?“
Ein junger Mann wagte, ihm in den Arm zu fallen. „Herr, seht doch! Sie haben unsere Hütten verschont!“
Margoro stieß ihn zu Boden und trat nach ihm. Der Mann krümmte sich stöhnend und wälzte sich dann zur Seite, sodass Margoros nächster Tritt ins Leere ging.
„Herr“, sprach ihn die hübsche xcxc an. Sie versank in einem tiefen Knicks, sodass er ihren rußgeschwärzten Busen bis zum Ansatz der Brustwarzen sah. „Er spricht die Wahrheit.“
„Wo ist Yawani?“
Die meisten blickten betreten zu Boden, einige schüttelten den Kopf.
„Wo ist er?“
Sie führten ihn zum Eingang des Wohnhauses. Dort lag, von einer schweren Säule halb begraben, der Tote.
Margoros Zorn verrauchte für einen Moment. Mit zuckenden Gesichtsmuskeln stand er vor dem alten Hofmeister, der ihn sein Leben lang begleitet und beraten hatte. Unvorstellbar, künftig aus seinen Rat zu verzichten. Er bückte sich und hob das Muschelhorn auf. Das letzte, was er von Yawani gehört hatte: wie er Alarm geblasen hatte.
Erneut stieg der Zorn in ihm hoch; er ballte die Fäuste und drehte sich mit zusammengekniffenen Augen zu. Schnaufend musterte er die Leute, die ihn ehrfurchtsvollem Abstand um ihn herum standen. „Warum habt ihr das nicht verhindert?“, kreischte er. Er merkte, dass seine Stimme außer Kontrolle geraten war und hielt inne.
Dies war die Stunde der Rache; dafür brauchte er einen klaren Kopf. Er schluckte und räusperte sich dann, um seine Stimme wieder in Griff zu bekommen. Er war Ratsherr, weil er in der Lage war, Menschen für sich einzunehmen. Das war jetzt gefragt, nicht haltloser Zorn.
Er straffte sich wie bei einer wichtigen Rede.
„Wir werden die Eindringlinge jagen und ihnen ihre Beute wieder abnehmen. Niemand legt sich ungestraft mit mir an. Und dann werden wir all dies hier größer und schöner aufbauen als zuvor.“ Das neue Glasbläserviertel kam ihm gerade zur rechten Zeit; es würde ihm ein Leichtes sein, alles zu bezahlen. „Wir werden alle große Opfer bringen müssen dafür, aber ich verspreche euch, es wird sich lohnen.“ Mit zusammengekniffenen Augen musterte er die männlichen Sklaven, die sich etwas abseits vom Gesinde hielten. „Die Frauen werden hier bleiben und den Wiederaufbau vorbereiten. Ich werde alle freilassen, die sich im Kampf auszeichnen.“ Er sah das Aufleuchten in den Gesichtern der Männer und unterdrückte ein Grinsen. Was als Auszeichnung galt, würde sich erst zeigen. „Bereitet alles für den Abmarsch vor. Wir müssen uns beeilen, damit wir sie stellen, bevor sie in See stechen.“
„Wieso in See strechen, Herr?“, fragte einer der Kutscher.
Margoro wollte ihn schon abkanzeln für seine Dummheit, da fiel ihm ein, dass er sich vorgenommen hatte, die Männer zu höchstem Einsatz zu ermutigen. Dafür taugte der Honigtopf besser als die Peitsche. Er lächelte gnädig. „Lord xx hat gestern öffentlich Klage erhoben wegen der Pferde. Da können sie es nicht wagen, sie bei hellem Tage auf ihr Schiff zurückzubringen.Und sie werden den Schutz der Dunkelheit abwarten, um sich mit der Morgenflut aus dem Staub zu machen.“
„Die Diebe trugen nicht die Tracht der Sabienne, Herr.“ Der Kutscher stockte, runzelte die Stirn. „Freilich, sie hatten eiserne Waffen ... trotzdem.“
Was sollte das heißen? Margoro zerrte an seinem Ärmel und wartete darauf, dass er weitersprach. Wer sonst sollte Pferde stehlen wollen statt der Drachen?
Der Kutscher warf einen Blick in die Runde der Umstehenden, als suche er Bestätigung. Aber außer ihm - und Yawani – hatte niemand näheren Kontakt zu den Sabienne gehabt.
Die meisten schauten zu Boden, als der Blick des Kutschers sie traf.
Schließlich trat eine der Frauen einen Schritt vor. „Ich habe sie reden hören.“ Sie lief rot an. „Ich hatte mich im Holzlager versteckt, als sie begannen, die Hütten zu durchsuchen.“ Sie wagte nach einem Blick zum Kutscher Margoro anzusehen. „Sie sprachen den Dialekt von Dhaomond. Ihr wisst, Herr, meine Eltern stammten aus Sondharrim; sie haben genauso gesprochen.“
Margoro kniff die Augen zusammen. „Aus Dhaomond?“
Dass er sie nicht anfuhr, schien sie zu ermutigen. „Ja, Herr. Und ihre Kleidung ... Das war gewiss kein Material vom Kontinent, sondern stammt von unseren eigenen Webern.“
„Noch etwas?“ Er blickte von einem zum anderen.
Der Tischler meldete sich zu Wort. „Herr, ich glaube ... Es war dunkel, aber nachher, als das Haus brannte ... Ich meine, ein oder zwei könnten zu denen gehört haben, die auf der Rennbahn den Tumult veranstaltet haben, nachdem Ron die Piratin entführt hat.“
Die Holzfäller? Er hatte sich gleich gedacht, dass die nicht echt waren. Auch die hatten eiserne Waffen benutzt. Es passte alles zusammen.
Flüchtig registrierte er, dass der Tischler den Sklaven mit Vornamen genannt hatte, aber er versuchte zu überlegen, wie er den Dieben auf die Spur kommen konnte. Wenn sie aus Dhaomond gekommen waren, kehrten sie bestimmt nicht mehr nach Kruschar zurück und wären inzwischen über alle Berge. Außer, die Pferde würden ihnen Schwierigkeiten bereiten.
Yawani hätte gewusst, was nun zu tun war. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er die Gestalten, die vor ihm standen. Mit der Aussicht auf Freiheit würden sie wohl ihr Bestes geben; aber nur, wenn sie keine andere Möglichkeit sahen. Er durfte nur diejenigen mitnehmen, die eine Familie hatten. Oder zumindest eine Frau, die sie nicht im Stich lassen wollten. Da blieben nicht viele; möglicherweise hatte er an der falschen Stelle gespart, als er nur ledige Sklaven gekauft hatte.
Und er brauchte jemanden, der während seiner Abwesenheit dafür sorgte, dass hier die Arbeit weiterging und das Anwesen wieder aufgebaut wurde. Ratika! Er würde die Gildenmeisterin beauftragen, damit sie die Kontrolle übernähme.
„Ich fahre in die Stadt! Ist eine der Kutschen zu gebrauchen?“ Noch einmal musterte er seine Leute. Schließlich übergab er dem Tischler die Aufsicht bis zu seiner Rückkehr, indem er ihn anwies, die Aufräumarbeiten zu überwachen und aus dem vorhandenen Holz eine provisorische Unterkunft für ihn selber zu bauen. Er konnte unmöglich in eine der verwanzten Hütten ziehen.
Er brauchte Wachen für sein Anwesen, damit niemand davon lief. Unter dem Vorwand, einen weiteren Angriff abzuschlagen, würde der Rat die Stadtwache beauftragen. Sie würden ihren Dienst erfüllen, bis Ratika mit den Bauarbeiten beginnen konnte.
Abr Rr brauchte auch Hilfe für die Jagd auf die Diebe; aber noch wusste er nicht recht, wer den Überall verübt hatte. Immerhin schien sich eines abzuzeichnen: Die Sabienne waren es nicht.
Während der Drachenlenker und zwei Frauen eine der verrußten Kutschen notdürftig säuberten, ging Margoro sein Anwesen ab.
Vom Haus standen die gemauerten Grundmauern; darüber wölbte sich ein Berg aus Holz, Steinen und Ziegeln. Auch ein Teil der Holzbalken war nicht völlig verbrannt. Wie drohende Finger ragten sie daraus empor. Einzelne Fenster im Erdgeschoss waren noch zugänglich; nicht aber der Eingang. Auch die Hintertür war verschüttet, aber hier ließe sich das Material recht einfach abtragen, sodass man ins Innere gelangen konnte. Vielleicht auch durch die Fenster.
Er ließ sich vom Tischler und zwei weiteren Männern hoch heben und blickte durch mehrere Fenster ins Innere. Die Bibliothek war ein Chaos aus umgestürzten Bücherschränken, weitgehend von der darüber liegenden Decke verschüttet. Aber das Feuer, das in der Bibliothek reichlich Nahrung gefunden hätte, schien erstaunlicherweise erstickt zu sein, bevor es hierher gelangt war. Hier wäre wohl einiges zu retten, sofern es nicht vom Löschwasser ruiniert war. Der Esssaal mit seinen holzgetäfelten Wänden war völlig ausgebrannt; vielleicht hatte das Geschirr die Hitze überdauert. Onyx und Obsidian waren im Feuer der Vulkane entstanden; sie sollten dieses ausgehalten haben.
Margoro befahl, Gerüste zu bauen und von oben beginnend die Trümmer abzutragen und das Material zu sortieren. Die Frauen sollten sogleich beginnen, von den Steinen den Putz und Mörtel abzuklopfen.
Desgleichen befahl er den abgebrannten Teil der Ställe abzutragen und dann die Drachen auf die Weide zu bringen. Katran lief mit vor Aufregung peitschendem Schwanz an dem Teil der Ställe entlang, der nicht gebrannt hatte; irgend etwas missfiel ihm auch dort.
Margoro öffnete das Tor und trat ein. So gleich begann er zu husten. Es stank nicht nur nach Rauch; anscheinend offensichtlich war auch die Luft noch immer von Russ erfüllt, sodass das Atmen wurde. Kurzerhand befahl er, das Dach abzudecken. Die Drachen mussten eben ein paar Tage im Freien verbringen.
Verqualmt und verrußt waren auch die Kutschen, aber er hatte keine Zeit, auf die Säuberung zu warten. Er ließ die offene Kalesche anspannen.
Unterwegs fragte er sich wieder, wer außer den Sabienne sich für die Pferde interessieren sollte. Falls es tatsächlich die Aufständischen aus Dhaomond waren – was fingen sie mit den Tieren an?
Jedenfalls sollte es leicht sein, ihnen zu folgen. Früher oder später mussten sie durch Ortschaften: An die Pferde würde sich jeder erinnern.
Die Wache vor dem Haus des Rats ließ es sich angelegen sein, Margoro mitzuteilen, dass der Lord der Sabienne kurz vorher eingetroffen war. So war er vorgewarnt, als er das Zimmer der obersten Gerichtsherrin betrat und ihn dort antraf.
„Das trifft sich.“ Sie (Name?) stand auf und kam ihm mit einem herzlichen Lächeln entgegen, um ihm die Hand zu geben.
Der Lord rührte sich nicht von der Stelle und nickte ihm mit finsterem Gesicht zu.
„Allerdings.“ Margoro warf dem Lord einen Blick zu, sah dann aber xx an, als er weitersprach. „Mein Hof ist in der letzten Nacht überfallen worden. Das Haus ist abgebrannt und die Pferde sind fort.“
Der Lord sprang auf. „Wollt Ihr etwa behaupten ...?“
„ ... dass Ihr die Pferde nie mehr wieder sehen werdet.“
Der Lord schnappte nach Luft. Margoro wusste genau, dass er auf etwas anderes hinausgewollt hatte.
Auch der Gerichtsherrin schien es wohl das Naheliegendste. „Ihr habt nicht die Absicht, Anklage zu erheben?“
Margoro breitete die Arme aus. „Gegen wen denn? Noch weiß ich nicht ...“ Er brach ab und lächelte den Lord an. „Ich sagte schon, dass es nicht mehr Eure Pferde sind. Im Grunde wisst Ihr es selbst. Und darum würde ich Euch auch nicht zutrauen, dass Ihr versuchtet, sie zu stehlen.“ Es war die schiere Unlogik, was er da vorbrachte, aber er wollte, dass sie beide ins Brüten kämen. Umso leichter hätte er es.
Er wandte sich wieder der Gerichtsherrin zu. „Ich habe ein paar, wenn auch magere, Hinweise auf die Diebe. Sie sind wohl aus Dhaomond. Und ich hoffe sehr, es bedeutet nicht, dass Dahomond den Krieg gegen uns will. Sondern dass es nur eine Diebesbande war, derer es so viele gibt.“
„Margoro, was ist Euer Anliegen?“ Sie lächelte. Dann stand sie auf und kam auf ihn zu. „Mein Freund, Ihr wisst, dass Ihr alle Unterstützung bekommt, die ich Euch geben kann. Also scheut Euch nicht, darum zu bitten.“
In Gegenwart des Lords passte ihm ihr Tonfall überhaupt nicht. Aber er konnte sie unmöglich brüskieren. „Ich bitte um Vergebung für mein unhöfliches Eindringen. Ich konnte mich nicht bezähmen, auf Eure Worte zu reagieren; zu tief bin ich getroffen. Aber nun warte ich besser, bis Ihr unseren Gast von Thannes Lane zufrieden gestellt habt.“ Er verbeugte sich und wandte sich zur Tür.
„Bleibt!“, rief der Lord. „Gerade darum begrüße ich Eure Anwesenheit.“
Margoro bedachte ihn mit einem gewollt finsteren Blick. „Ich hatte die Pferde gekauft wie jede andere Ware auch.“
Zu spät merkte er, dass seine Worte zweideutig waren. Der Lord lachte sardonisch. „Das glaube ich euch sogar.“ Seine Mundwinkel senkten sich verächtlich herab.
Er; gedachte nicht, auf den Hintersinn einzugehen, sondern verschränkte die Arme und sah abwartend zwischen dem Lord und der Gerichtsherrin hin und her. Jetzt musste der wohl entweder seine Anklage auf den Tisch legen oder dürfte nie mehr einen Vorwurf gegen ihn erheben.
Aber der Lord überraschte ihn trotzdem. „Ihr habt guten Gebrauch gemacht von den Pferden. Immerhin dies. Wer sonst auf dieser Insel ist in der Lage, ihren Wert zu erkennen?“
„Niemand!“ Geschmeichelt von den Worten des Lords gab genoss Margoro noch einmal den Triumph, den er am Vortag gefühlt erlebt hatte, als der Sklave das Rennen gewonnen hatte. „Denn niemals zuvor hat es Pferde hier gegeben.“
„Es ist auch in meinem Sinn, wenn die Pferde nicht in Hände gelangen, die sie ruinieren. Doch jetzt sind sie wohl Gesindel in die Hände gefallen.“
Margoro witterte plötzlich die Chance, den Lord zu seinem Verbündeten zu machen. „Ich gebe zu“, er lächelte, „auch ich hätte größere Schwierigkeiten als erwartet gehabt ohne diesen fremden Reiter.“
„Dieser fremde Reiter, Fürst,“ unterbrach der Lord ihn hitzig, „ist ein Sklave, der mir entlaufen ist.“
„Noch etwas also, das ihr als euer Eigentum reklamiert?“ Die Gerichtsherrin wirkte plötzlich höchst amüsiert. „Wenn Ihr so weiter macht, gehört Euch bald ganz Kruschar.“
Der Lord schnaubte empört. „Ich habe schon oft gehört, dass die Gastfreundschaft auf der Dracheninsel einzigartig sei.“
„Ich gebe Euch gerne einen weiteren Beweis dafür.“ Margoro setzte das Lächeln auf, dass er für Volksversammlungen zu reservieren pflegte. An den zusammengekniffenen Augen der Gerichtsherrin erkannte er, dass sie mit einem hinterlistigen Manöver rechnete. Und die Grübchen neben ihrem Mund sagten ihm, dass sie es billigen würde, was auch immer es war. „Ich lade Euch zur Jagd ein!“
Der Lord ballte die Hände und schloss öffnete sie wieder als finge er in Gedanken etwas. Dann verschränkte er die Arme und sein Blick ging zur Gerichtsherrin.
Xx lehnte sich in ihre Polster zurück. „Mir scheint, Ihr seid recht unentschlossen. Lord, Ihr verschwendet meine Zeit, wenn Ihr nicht wisst, was Ihr eigentlich wollt.“
„Ich habe schon verstanden, dass ich hier keine Unterstützung zu erwarten habe.“
„Warum nehmt Ihr dann nicht die Einladung des /Handelsherrn an?“
Der Lord sah bedachte Margoro mit einem bösen Blick. „Ich traue ihm nicht.“
„Das passt gut. Ich Euch auch nicht.“ Margoro lächelte noch breiter. „Allerdings habe ich keinen Augenblick geglaubt, Ihr hättet letzte Nacht meinen Hof angezündet und die Pferde gestohlen.“ Er machte eine Pause und blickte zur Gerichtsherrin, während er dann weitersprach. „Wohingegen Ihr mich für einen Dieb haltet. Darauf sollte Eure Anzeige doch hinauslaufen, oder?“
Die Gerichtsherrin lächelte. „Und nun wisst Ihr nicht mehr, was richtig oder falsch ist.“
„Es ist mir gleich, wie Margoro zu den Pferden gekommen ist. Sie sind mir gestohlen worden und ich will sie wiederhaben. Und den Sklaven auch.“
„Dann kommt mit mir! Gemeinsam mit euren Schiffsbesatzungen werden wir den Dieben die Tiere wieder abjagen.“
„Es ist nur noch mein Schiff im Hafen.“ Wieder funkelte der Lord ihn zornig an. „Ich bin sicher, dass sich das herumgesprochen hat.“
„Auch die sind eine gute Verstärkung. Für den Rest“, Margoro wandte sich an die Gerichtsherrin, „wird ein Kommando der Stadtwache aushelfen.“
„Es sind Matrosen, keine Soldaten.“ Der Lord schien immer noch nicht bereit, auf Margoros Vorschlag einzugehen. Aber Margoro brauchte ihn; gegen die Rebellen mit ihren eisernen Waffen käme die Stadtwache nicht weit. Das hatten sie doch am Renntag erlebt.
„Meine Bediensteten sind es auch nicht. Dennoch werden sie sich an der Jagd beteiligen. Ich bin sicher, die eure Matrosen haben mehr Kampferfahrung als meine Bauern. Schließlich müsst ihr auf See immer mit einem Überfall rechnen.“
Der Lord kniff die Augen zusammen. „Habt ihr also die Absicht, mir die Pferde zurückzugeben?“
Er dachte nicht im Traum daran. „Es macht wenig Sinn, die Haut des Drachens zu zerteilen, bevor wir ihn erlegt haben.“
Der misstrauische Gesichtsausdruck verstärkte sich einen Moment, aber dann entspannten sich die Gesichtszüge des Lords und er nickte. „Wann wollt ihr aufbrechen?“
„So schnell wie möglich.“ Margoro wandte sich zur Gerichtsherrin. „Werte xx, Ihr habt meine Anklage gehört. Es scheint Gesindel aus Dhaomond zu sein, was mein Anwesen überfallen hat. Eine meiner Dienerinnen hat den Dialekt erkannt.“
„Meine Gerichtsbarkeit reicht nicht bis Dhaomond. Und wenn Kruschars Soldaten die Grenze überschreiten, bedeutet es Krieg.“
„Sie warten nur darauf; ich weiß.“ Margoro bewunderte sie dafür, dass sie es fertig brachte, ihre Gefühle für ihn zu ignorieren. Er wollte es ihr auch nicht zu schwer machen; für dieses Mal brauchte er sie nicht wirklich. „Aber so weit sind sie noch nicht. Es wird nicht schwer sein, herauszufinden, wo sie lang ziehen; und dann können wir sie einholen.“
„An meine Pferde wird sich jeder erinnern, nicht wahr?“ Der Lord hatte sich also entschieden. „Wie lange wird es dauern, bis wir erfahren, wo wir sie finden können?“
„Ein paar Stunden.“ Die Ratsherrin wandte sich wieder an Margoro. „Ich gebe Euch eine Kohorte der Stadtwache mit. Bis zur Grenze.“ Sie lächelte. „Wenn ihr sie vorher einholt, werden sie die Brandstifter und Diebe in Gewahrsam nehmen.“
„Und meine Pferde?“
Die Gerichtsherrin blickte den Lord hochmütig an. „Wir werden sie beschlagnahmen, bis geklärt ist, wem sie gehören. Die Stallburschen des Handelsherrn haben inzwischen Erfahrung mit ihnen.“
Das Gesicht des Lords lief rot an; er schnaufte und öffnete den Mund. Aber dann sagte er doch nichts und wandte sich zum Gehen. An der Tür blieb er noch einmal stehen. „Zur Mittagsstunde bin ich mit meinen Matrosen zum Abmarsch bereit.“
„Trau ihm nicht“, sagte die Gerichtsherrin, nachdem er fort war.
Margoro nickte. „Er hat irgendeine Teufelei vor. Ich brauche genügend Männer, um ihn daran zu hindern.“
Sie schüttelte den Kopf. „Es tut mir Leid, so viele kann ich dir nicht geben.“
Einen Moment starrten sie sich schweigend an. Dann lächelte sie. „Wenn sie aus Dhaomond sind, könntest du die Priestersoldaten bewegen, dir bei der Jagd zu helfen.“
„Die sind auf Hexenjagd. Und wollen ihren Einfluss in Kruschar stärken.“
„Darum ist es gut, wenn sie für eine Weile aus der Stadt verschwinden. Leg ihnen den Gedanken nahe, dass es Rebellen waren, die dein Anwesen überfallen haben.“
Die Gerichtsherrin war so schlau wie Yawani gewesen war. „Vielleicht stimmt das sogar. Habt ihr herausgefunden, wer den Aufstand auf der Rennbahn veranstaltet hat?“
„Diese Holzfäller, meint ihr? Es waren Fremde.“
„Sie hatten eiserne Waffen genau wie das Gesindel, das meinen Hof überfallen hat.“
„Es sind so viele in der Stadt, unmöglich, in der kurzen Zeit alle Herbergen durchsuchen zu lassen.“
„Ich wüsste eine Herberge, wo es sich zu fragen lohnt.“ Margoro hatte eigentlich mehr laut gedacht als dass er es ihr erzählen wollte. Eine Angewohnheit, wenn er mit Yawani zusammen gewesen war. So hatte der Hofmeister stets gewusst, was zu tun war.
Erst als sie ihn überrascht ansah, fiel es ihm auf. Es war nicht gut, dass sie von xxx und dem Kind erführe. Aber nun war es geschehen. Er zerrte an seinen Ärmeln auf der Suche nach einer plausiblen Erklärung. Und vor allem auf der Suche nach einer Möglichkeit, sie davon abzuhalten, ihre Stadtwache hinzuschicken. „Von wem haben sie eiserne Waffen? Von den Sabienne oder von Piraten.“
Sie nickte. „Das ist zu vermuten. Aber weder die Sabienne noch Piraten steigen in irgendwelchen Herbergen ab. Auf ihren Schiffen sind sie vor Wanzen und Läusen sicherer.“
„Wohl wahr.“ Er fuhr sich in den Halsausschnitt seines Gewands, als sei er am Ersticken. Ihm fiel nichts Rechtes ein. „Aber in den Spelunken trifft sich alle Welt. Die Piratin hat eine Heilerin gesucht und mein Drachenlenker hat sie irgendwohin begleitet, wo sie eine finden konnte. Vielleicht hilft uns der Zufall weiter.“
„Und was hat das mit den Rebellen zu tun?“
„Mit den Rebellen? Nichts.“ Plötzlich hielt er es für möglich, dass diese Männer ihre Waffen von Nanja bekommen hatten.
Die Gerichtsherrin schüttelte den Kopf. „Und wenn Ihr hier doch die richtige Spur hättet? Wer ist organisiert genug, in der Rennbahn eine Revolte zu wagen? Und dass in dem Augenblick, wo es dem Reiter und der Piratin bei der Flucht hilft?“
Margoro grinste. „Das ist jedenfalls ein überzeugendes Argument, das wir den Priestersoldaten liefern können. Dass die Piraten auf Seiten der Rebellen stehen, wäre allerdings eine neue Entwicklung.“
„Und eine gefährliche – für den Heiligen.“
Margoro grinste noch breiter. „Das kann uns nur recht sein, oder?“
Die Gerichtsherrin erhob sich und kam die zwei Stufen ihres Podests hinunter zu Margoro. „Mein Freund, um die Mittagszeit werde ich die Kohorte der Stadtwache zum Abmarsch befehlen. Sie werden hier meine Anweisungen entgegen nehmen. Gleichzeitig lade ich diesen Soidan dazu.“ Sie lächelte ein wenig. „Er muss wissen, was zu tun ist, wenn der Hauptmann die Stadt verlassen hat.“
„Wenn er erfährt, dass wir die Rebellen jagen, wird er vielleicht lieber an der Jagd teilnehmen wollen statt Kruschar zu hüten?“
Der Lord stand am Hafenkai und musterte seine Leute. Bis auf eine Bordwache hatte er alle zur Unterstützung Margoros befohlen.
„Und was passiert, wenn das Gesindel besiegt ist?“, fragte sein xxxx . Der Handelsherr wird euch die Pferde nicht freiwillig zurückgeben.“
„Ich hatte nicht die Absicht, mich darauf zu verlassen. Nur aus diesem Grunde nehmen wir an der Jagd teil.“
„Dann braucht Ihr das Schiff so nahe wie möglich am Ort der Festnahme.“
Der Lord entschied daraufhin, die Hälfte der Matrosen aufs Schiff zurück zu schicken, damit die Brigg manövrierfähig bliebe.
„Es war ein Fehler, dass die anderen beiden der Piratin hinterher gesegelt sind.“ Xxxs Bemerkung klang eher beiläufig, aber die Kritik konnte er dennoch nicht überhören. Immerhin war es sein Befehl gewesen.
„Niemand bestiehlt mich ungestraft!“ Der Lord schnaubte.
Xsx hielt sich nicht mehr zurück. „Aber es muss nicht gleich sein. Irgendwann hättet ihr sie in Thannes Lane erwischt. An Land sind sie leichter zu besiegen.“
Das Klima in Kruschar schien ihm nicht zu bekommen. Wenn er nicht aufpasste, würde seine ganze Mannschaft von diesem Geist der Regellosigkeit angesteckt werden. „Zwei gegen einen: So ist diese Piratin auch auf See zu schlagen.“
„Wenn sie nicht entkommen ist: Die Brigantine ist wendiger als unsere Schiffe, denn sie kann gegen den Wind segeln.“
„Was du nicht alles weißt!“ Die Stimme des Lords triefte vor Sarkasmus. „Wende deine Klugheit der Frage zu, wie wir die Pferde zurückbekommen; verschwende meine Zeit nicht mit Nörgeleien.“
Daraufhin ließ xxs ihn stehen und ging zurück an Bord. Kruschar bekam ihm tatsächlich nicht. Der Lord sah eine Weile zu, wie xxs mit der Mannschaft an Deck sprach und die Verteilung der Waffen organisierte.
Ein Trupp der Stadtwache kam in dem Moment vorbei, als die bewaffneten Matrosen das Schiff verließen.
„Halt, ihr da! Das Tragen von Kriegswaffen ist Fremden in der Stadt verboten.“ Mit einer Handbewegung ließ der Truppführer die Matrosen einkreisen. „Ich muss euch festnehmen.“
„Das wird eure Gerichtsherrin freuen. Und den Rat der Stadt noch mehr.“ Der Lord feixte. „Ratsherr Margoro hat uns um Hilfe gebeten.“
Tag der Veröffentlichung: 13.12.2011
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