Mein damaliger Mann wurde zum Militär eingezogen. Deshalb saßen wir in dem vorsintflutlichen Zug, der uns schnaufend in sein Heimatdorf bringen sollte. Dort, so dachte er, würde ich mit den Kindern bei seinen Eltern leben, bis er seine Militärzeit absolviert hatte.
Meine Kleidung hatte ich in einem Koffer, nur die Kinderwäsche, die ich während der Reise gebraucht hatte, steckte in einer Plastiktüte, im Netz des Kinderwagens. Mein Ex-Mann hingegen hatte seine ganzen Habseligkeiten in vielen Plastiktüten verstaut, die wir Deutschen scherzhaft „Türkenkoffer“ nannten. Der Zug fuhr durch die inzwischen eingetretene Dunkelheit und war total überfüllt. Selbst in den Mittelgängen standen die Menschen mit großen Körben und Taschen. Endlich erreichten wir unser Ziel. Wir kletterten aus dem Zug und mein Ex-Mann legte mir eine Jahrmarktpuppe in den Arm, die er für irgendjemanden mitbringen sollte. Der Bahnsteig war voller Menschen, doch niemand stieg in den Zug ein. Sie waren neugierig und wollen sehen, wer mit dem Zug ankam und was man mitbrachte. Natürlich hatte es sich herumgesprochen, dass auch eine „Deutsche“ ankam und das wollte anscheinend niemand verpassen. Das größere meiner zwei Kinder setzte ich schnell zu dem Kleinen in den Kinderwagen damit mir niemand verloren ging. Es waren mindestens hundert Menschen, die sich jetzt um mich herum drängten, mich knutschen wollten und mir unverständliche Wörter ins Ohr brüllten. Mein Ex-Mann versuchte mir zu erklären, wer mich da gerade küsste. Ich hatte den Eindruck das ganze Dorf war miteinander verwandt. Alle waren Tanten und Kusinen, ersten bis sechsten Grades. Für mich alles fremde Leute! Weit und breit leuchtete keine Straßenlaterne und meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Ein Lautsprecher dröhnte durch den Ort und versorgte alle Einwohner mit typisch griechischer Musik. Jemand schleppte meinen Koffer und zwei junge Mädchen nahmen den Kinderwagen mit. Ich bemühte mich dem Kinderwagen zu folgen, als plötzlich ein Mann neben mir stand. Besser gesagt: Es war ein Hüne und der war mindestens zwei Meter groß. Mit einer, für das Ausmaß seines Körpers mageren Stimme fragte er: „Anne?“ Da ich nichts anderes mehr bei mir hatte als die kitschige Puppe, nahm er mir die ab, um sie nach Hause zu tragen. Er bahnte den Weg durch die Menschen und da er glaubte eines der beiden Kinder auf dem Arm zu tragen, sagte er zu mir: „Ich Papu!“, das sollte heißen: ich bin der Opa. Wir kamen am Haus an, wo die beiden Mädchen schon mit dem Kinderwagen und den beiden Kleinen angekommen waren. Sie zündeten gerade eine Petroleumlampe an, die ein wenig Helligkeit in die spärliche Küche brachte. Mein Schwiegervater sah die beiden Kinder und fragte sich, was es denn wohl sei, was er ins Haus getragen hatte. Wie staunte er, als er sah, dass es eine Puppe war. Ja, er hatte sich schon Sorgen gemacht, weil er glaubte, dass meine Kinder so leicht waren. Das schallende Gelächter der beiden Mädchen wurde jäh unterbrochen, denn nun füllte sich das Haus schlagartig mit Schaulustigen. Alle schauten mich genau an, als ob sie erwarteten, dass an mir irgendetwas anders war. Mein Mann verteilte die mitgebrachten Geschenke und die Grüße aus Deutschland. Auch die Puppe fand ihren neuen Besitzer. Mein Schwiegervater holte seine Ouzo-Flasche und wollte mit mir unbedingt anstoßen. Nun hatte ich eigentlich Hunger und Durst. Für beides schien mir der Ouzo nicht nützlich zu sein. Vorsichtig schaute ich mich in der Küche um. Normal hatte ich einen gedeckten Tisch erwartet, denn schließlich waren wir 2 Tage unterwegs - ohne eine vernünftige Mahlzeit. Aber ich konnte nichts entdecken, was mich hätte satt machen können. In meiner Verzweiflung trank ich den Anisschnaps und hoffte, dann schnell einschlafen zu können, sofern sich ein freies Bett finden würde. Mein Schwiegervater zeigte mir das Zimmer, wo ich meine Kinder zu Bett bringen konnte und in dem auch ein Bett für mich stand. Ich verschwand in dem Zimmer, versorgte meine Kinder und ging mit ihnen ins Bett, denn ich war hundemüde. Im Halbschlaf nahm ich noch wahr, dass die Mädchen die Lampe aus meinem Zimmer holten und hin und wieder öffnete jemand die Tür, um auf die schlafende Deutsche zu schauen. Der „Papu“ war kein Dummkopf und es dauerte nicht lange, da merkte er, dass die die alten Frauen darauf warteten bis ich wieder auftauchen würde. Also rückte er mit seinem Stuhl vor meine Kammertür und von da an wagte niemand mehr, die Tür zu öffnen. Ich schlief lange und fest. Die beiden Mädchen, also meine Schwägerinnen, hatten inzwischen die Kinder versorgt und angezogen und meine Schwiegermutter war dabei, an einer offenen Feuerstelle in einem Kupferkessel, die Kinderwäsche zu waschen. Als ich endlich aufwachte, regnete es in Strömen. Gerade fiel ein Stück Verputz von der Decke und schreckte mich auf. Auf der Suche nach einer Waschgelegenheit kam ich durch die Küche. Der Hüne saß am Tisch und wartete scheinbar immer noch mit dem Frühstück auf mich. Er lud mich ein, zu ihm an den Tisch zu kommen. Als er merkte, dass ich mich waschen wollte rief er nach seinen Töchtern, die sollten mich mit den landesüblichen Körperreinigungsmöglichkeiten bekannt machen. Kurz darauf erschien ich zum Frühstück, obwohl ich ja den Eindruck hatte, dass es schon längst Nachmittag war. Das war es auch, aber mein Schwiegervater hatte stur meine Tür bewacht, dass niemand meinen Schlaf stören sollte und nebenbei muss er wohl die ganze Zeit gefrühstückt haben. Ich hatte Hunger auf richtiges Essen und sah, dass im Spülbecken Teller standen. Allem Anschein nach hatte man spät in der Nacht noch gekocht und gegessen. Der Papu schob mir seinen Teller zu, auf dem für mich lauter unbekannte Lebensmittel lagen. Natürlich kam auch gleich ein Ouzo auf mich zu. Er machte mir klar, dass ein Anisschnaps am Morgen gesund sei für Körper und Geist. Glücklicherweise konnte mein Schwiegervater ein paar Brocken Deutsch, da in seinem Haus während des Krieges deutsche Soldaten einquartiert waren und darauf war er mächtig stolz. Nein, auf nüchternen Magen einen Ouzo, niemals, zumal ich furchtbaren Hunger hatte. Ich gab ihm zu verstehen, dass ohne Kaffee bei mir gar nichts lief. „Kaffee“, kam es erfreut von ihm. Er erhob sich, ging an das Fenster und rief nach seiner Frau. Die sah ich nun auch das erste Mal bei Tageslicht. Sie war klein, schmächtig und hatte schneeweißes Haar, über das sie ein total verwaschenes Kopftuch gebunden hatte. Sie bekam den Auftrag, mir einen Kaffee zu kochen. Auf einem winzigen Spirituskocher kochte sie in einem winzigen Stieltopf eine dickflüssige Brühe die sie dann Kaffee nannte. Das Zeug war viel zu süß und es kostete mich Überwindung es zu trinken. Sie verschwand wieder nachdem sie mich bat, die Tasse nach dem Austrinken auf dem Teller umzudrehen. Das würde sich die Kaffeesatzleserin späte genau ansehen. Nun nahm ich zuerst ein Stück von dem Brot. Das war gut, wenn auch nicht frisch. „Das backt Eleni selber“, sagte er und meinte damit meine Schwiegermutter. Dann schob er mir die Butter hin und wieder wies er darauf hin, dass Eleni die Butter auch selber aus der Milch ihrer Kühe macht. Die Butter war viel zu salzig für meinen Geschmack, aber man muss bedenken, dass es hier ja keine Kühlmöglichkeit gab. Der Schaf- oder Ziegenkäse, was immer es war, schmeckte mir überhaupt nicht. Tapfer probierte ich auch von den Oliven, aß zwei eingelegte Peperoni und beschränkte mich aufs Brot. Auf dem Tisch stand ein Krug mit Wasser, davon schenkte ich mir ein wenig ein, obwohl ich mich nicht erinnern konnte, jemals Wasser zum Essen getrunken zu haben. Das Wasser sei gesund und direkt aus der Quelle, gab er mir zu verstehen. Als er sah, dass ich immer noch keine Grundlage für den Schnaps hatte, versuchte er heraus zubekommen was mir denn schmecken würde. Ich sagte „Marmelade“, was er sogar sofort verstand. Wieder rief er nach seiner Eleni und wies sie an, mir Marmelade zu geben. Auch die Marmelade war viel zu süß. Sie war aus Weintrauben und es knisterte zwischen den Zähnen. Mir war es peinlich, mich von der schmächtigen Frau bedienen zu lassen und nahm mir vor, einen Laden zu suchen, um mir das Nötigste zu kaufen. Papu war indessen zufrieden, hatte ich doch ein wenig gegessen und seinen Ouzo ausgetrunken. Er erhob sich und hatte es jetzt sehr eilig, denn er musste ins „Magazin“, was immer das auch sein mochte, es schien wichtig zu sein. Hungrig nahm ich meine Kinder und machte mich auf, einen Laden zu suchen. Die alles übertönende Musik machte mich neugierig, woher kam die nur? Wo war da ein Knopf zum Abstellen? Meine Neugierde brachte mich auf die Fährte von Papu´s dringenden Geschäften. Das Magazin schien eine Wirtschaft zu sein, oder eine Spielhölle. Dort saßen vorwiegend alte Männer an kleinen Tischen. Sie hatten auf jedem Tisch ein Brettspiel und daneben ein Getränk, das wahlweise aus Wasser und Ouzo oder Wasser und Kaffee bestand. Außerdem wurden gebratene kleine Fische und Fleischröllchen rumgereicht. Kein Wunder, dass es ihm egal war, ob gekocht wurde oder nicht. Genau daneben stand auf einem Tisch das Grammophon, das unentwegt seine Schallplatten abnudelte. Ganz in der Nähe saß mein Schwiegervater, da wundert es mich nicht, wenn er schwerhörig wurde. Wir fanden einen Laden und kauften Margarine, Marmelade und löslichen Kaffee, damit war mein Überleben zunächst gesichert. Am Abend, als ich meine Kinder ins Bett bringen wollte, kam mein Schwiegervater mit zwei Arbeitern. Ich hatte den Eindruck, als ob hier das Sprichwort wörtlich genommen wurde: „Abends werden die Faulen fleißig.“ Sie verputzten die Stelle an der Decke in meinem Zimmer und stellten einen Herd auf. Der sah zwar aus wie jeder Herd in Deutschland, war aber viel kleiner, Dafür bekam er aber ein langes Ofenrohr. Jetzt konnte ich heizen wenn es kalt wurde und kochen wenn ich Hunger hatte. Papu gab sich wirklich Mühe, mir alles recht zu machen. Jeden Morgen wartete er mit dem Frühstück. Ich brachte mein bestrichenes Brot und meine Tasse Kaffee mit und waren es beide zufrieden. Ob er schon mit seiner Frau gefrühstückt hatte, habe ich nie erfahren. Wann immer ich aufstand, sie war am arbeiten. Ich hatte den Eindruck, dass sie die einzige war, die hier überhaupt Arbeiten verrichtete. Mit der Zeit als ich mich schon etwas auskannte, nahm ich ihr einiges ab. Er hingegen ging jeden Morgen in sein „Magazin“, war immer gut gelaunt und egal wie viele Ouzo er im Laufe des Tages trank, man sah es ihm nicht an. Nun hatte er eine Landwirtschaft. Auf den Feldern pflanzte er Tabak und Korn an und einen Weinberg hatte er auch. Wann er das Feld bestellte war mir ein Rätsel. Einen Teil seiner Felder habe ich einmal gesehen, der Boden war knochentrocken, es wunderte mich, dass dort überhaupt etwas wachsen konnte. Meine Schwiegermutter hatte einen Garten, der lag gleich neben dem Flüsschen. Dort war der Boden fruchtbar und das Gemüse wuchs ganz ohne große Pflege. Sie brachte Paprika, Tomaten, Bohnen und vieles mehr aus ihrem kleinen Paradies heim. Jeden Morgen brachte sie die Kühe zur Quelle und dort wurden sie von einem Hirten zusammen mit allen Kühen und Ziegen aus dem Dorf auf die Wiesen geführt. Abends holte man seine Tiere dann wieder ab. Bei der Gelegenheit füllten die Frauen ihre Trinkwasserkrüge auf. Ich begleitete meine Schwiegermutter oft. Sorgfältig spülte sie jedes Mal den Krug aus und füllte ihn mit frischem Wasser. Das war also das gute Trinkwasser und es stand immer in der Küche unter der Ikone mit einem sauberen Tuch abgedeckt. Wer Durst hatte, der holte sich Wasser aus dem Krug. Nur mein Schwiegervater ließ sich auch hier bedienen. Sobald er sich an den Tisch setzte, erwartete er von seiner Eleni, dass sie ihm ein Glas mit Wasser füllte. Das machte sie auch ohne zu murren. Doch eines Tages, als sie mit dem Krug an den Tisch kam um das Glas einzuschenken, kam ein Socken aus dem Krug und war plupp in Papu´s Glas gelandet. Seine Augen wurden groß, mit zwei Fingern holte er den Socken aus dem Glas und betrachtete ihn. Dann stellte er fest, dass es ein Strumpf meines Kleinen war, der ja inzwischen schon munter durchs Haus lief. Er behielt vollkommene Ruhe, legte den Socken beiseite und trank das Glas aus. Für ihn war der Fall erledigt, zumal der Kleine allgemein der Liebling war und wie in Griechenland üblich, auch von allen verwöhnt wurde. Auch meine Schwiegermutter fand nichts Schlimmes an dem Vorfall. Als wir abends die Kühe holten und meine Schwiegermutter den Krug ausspülte, kam der zweite Socken zum Vorschein. Ein Lachen huschte über ihr Gesicht: „Na, Gott sei Dank, da ist ja auch der zweite Strumpf, jetzt ist alles in Ordnung!“, sagte sie erleichtert. Als ich Ostern wieder nach Deutschland fahren wollte, ging ich an die Schublade unter der Ikone, in der ich auf Anraten meines Schwiegervaters mein Fahrgeld gebunkert hatte. „Da hat noch nie jemand was gestohlen“, hatte er mir versichert. Wie erstaunt war ich, als die Schublade leer war. Mein Geld war weg und Papu war auch nicht da. Ich konnte es nicht fassen und fragte meine Schwiegermutter wo denn ihr Mann heute sei. Sie hatte keine Ahnung und wusste nur, dass er früh morgens das Haus verlassen hatte und mit jemanden zusammen in die Stadt gefahren sei. Glauben konnte ich ihr nicht. Am Abend kam er. Er hatte von meinem Geld ein Pferd gekauft und einen Pferdewagen. Was ich auch dazu sagte, ihn konnte nichts und gar nichts aus der Ruhe bringen. Ich lieh mir das Geld von meinem Schwager, der in der nächsten Stadt im Krankenhaus arbeitete und fuhr trotzdem. Als ich im Herbst zurückkam trug ich ihm nichts mehr nach, aber dafür trug ich jetzt mein Geld immer bei mir. Ein paar Jahre später, war ich längst wieder in Deutschland und reichte die Scheidung ein. Da besuchte mich mein Schwiegervater und versuchte mich umzustimmen. Für einen Griechen war es eine Beleidigung, wenn eine Frau die Scheidung einreichte. Ein paar Tage später brachte ich ihn zum Bahnhof und er weinte. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.
Das Bild unten zeigt meinen Schwiegervater, seine Eleni, seine jüngste Tochter und zwei meiner Kinder. So habe ich ihn gekannt. Das Bild auf dem Cover ist 20 Jahre später aufgenommen. Was auf dem Bild wie Risse aussieht, sind Luftschlangen, es war der Polterabend von der älteren meiner beiden Schwägerinnen.
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