Weil wir am Sonntag Zeit hatten und nichts Besonderes planten, gingen wir durch den Wald spazieren und ließen uns von Sat führen. Sat war unser Hund, ein gemütlicher alter Schäferhund mit zwei außergewöhnlich großen Ohren. Eines dieser Ohren konnte er in alle Richtungen drehen, dann sah es aus wie eine Satellitenschüssel, deshalb bekam er den Namen „Sat“. Plötzlich blieb der Hund stehen und fing an, mit seinem Ohr auf Empfang zu gehen. Dann hielt er das Ohr still und schaute in das Dickicht. Wir sahen ihm an, dass er etwas hören konnte. Vielleicht ein Tier, oder ein Hilferuf?
Lilly, die groß ist und daher alles sehen kann, entdeckte dann im Gebüsch eine Karte, die mit zwei weißen Bändern um einen Zweig geschlungen war. „Was ist das“?, fragte sie. Nun sah ich es auch. Zu gerne hätte Sat die Karte geholt, aber er wusste genau, dass er im Wald nicht vom Weg herunter durfte, und darum blieb er brav sitzen. Lilly machte sich auf, durch die Dornen und das Gebüsch. „Da hängt noch ein blauer Ballon an der Karte, ich bringe mal alles mit!“
Gleich machte sie sich wieder auf den Rückweg durch die Himbeer- und Brombeersträucher. Sat schnupperte aufgeregt an dem Ballon. Der hatte um Hilfe gerufen. Auf dem Heimweg betrachteten wir eingehend die Karte und das schöne Bild, auf der Rückseite. Am nächsten Tag würden wir herausfinden, woher die Karte kam, denn aus Deutschland war sie nicht. Der Luftballon sah schlapp und müde aus, drum legte ich ihn in meine Märchentruhe, damit er sich ausschlafen konnte. Es dauerte nicht lange, da schlief er auch schon tief und lächelte im Schlaf.
Leise holte ich meine rosarote Brille, damit ich ihn in seinem Traum begleiten konnte, und dann erlebte ich die unglaublichen Abenteuer eines blauen Luftballon:
Wir sind in einem kleinen Städtchen in der Schweiz, auf einem großen Platz – vielleicht ist das ein Schulhof. Die Kinder feiern ein Fest mit ihren Eltern. Alle haben Luftballons mit langen Bändern, daran binden sie Karten mit selbstgemalten Bildern fest. Da ist auch Niklas.
Er hat auf seine Karte einen blauen Luftballon gemalt, eine Sonne und natürlich sich selbst. Seine Karte bindet er an einen blauen Luftballon. Dann lässt er ihn los, und der Ballon steigt hoch in die Luft hinauf. Da oben sind schon viele Ballons in allen Farben, mit und ohne Gesicht. Sie schwätzen munter miteinander und lachen fröhlich. „Ich fliege nach Süden“ ruft einer und löst sich aus der Menge, und ein paar andere fliegen auch mit. „Da sind mir die Berge zu hoch“ meint ein anderer “ich fliege lieber ans Meer“ und wieder fliegen ein paar bunte Luftballons in eine andere Richtung.
Plötzlich kommt ein Windstoß und alle Ballons fliegen auseinander. Unser blauer Ballon schwebt jetzt allein in Richtung Norden.
„He, du“ hört er plötzlich eine Knabenstimme „Wo willst du hin?“ Vorsichtig schaut sich unser Ballon in alle Richtungen um, sieht aber niemand. „Ich glaube ich habe Höhenangst“, denkt der blaue Luftballon. Dann hört er wieder die Stimme. „Hier bin ich, ich bin ein kleiner Wind, und ich heiße Böbuuh. Wie heißt denn du?“
„Ich weiß es nicht“ sagt nach einer Weile der Ballon traurig. „Ich weiß nicht, wie ich heiße, und ich weiß nicht, wo ich hinfahre“
„Schwebe“ sagte Böbuuh. „Luftballons fahren nicht, und sie fliegen nicht, sie schweben. Wenn du nicht weißt wie du heißt, dann schau ich mal auf deine Fahrkarte.“ Es dauert eine Weile dann sagt Böbuuh: „Ich glaube das ist ein Reisepass und du heißt Niklas. Mit dem Pass kannst du auch über die Grenzen. Ich werde dich jedenfalls Nicki nennen.“
„Wie klug du bist“ sagt Nicki neidisch, „wo hast du denn lesen gelernt?“
Böbuuh antwortet stolz: „Natürlich in der Schule! Ich gehe oft zur Schule, immer wenn ein Fenster offen ist. Ich weiß auch wohin du kommst, wenn du immer geradeaus schwebst.“
„So" meint Nicki „wohin denn?"
„Natürlich zur Nordsee und dann nach Grönland, hui da ist es aber kalt! Am besten biegst du vor der Nordsee rechts ab nach Polen, da gibt es dann wenigstens nicht so hohe Berge.“
„Das reicht“ ruft Nicki. „So viel kann ich mir nicht merken! Kommst du denn nicht mit?“
„Nein, leider nicht. Siehst du da unten die Bäume, die sich alle in eine Richtung biegen? Da ist meine Mutter, die Frau Wind und die sucht mich. Mein Großvater, der Sturm, wird böse wenn ich zum Essen nicht zu Hause bin.“ Dann saust Böbuuh davon, kommt aber noch einmal zurück und schreit:
„Halt!“ Nicki erschrickt. „Ich denke du bist weg!“ „Gleich“, erwidert Böbuuh „Wenn du mal Hilfe brauchst, ruf mich. Ich komme bestimmt aber nur bis zur Grenze weiter darf ich nicht“ und weg ist der kleine Wind.
Jetzt ist Nicki ganz allein. Er schwebt immer geradeaus und steigt dabei immer höher. Zuerst ist es ihm etwas kalt, aber dann wird es ihm immer wärmer.
Langsam fängt er schon an zu schwitzen.
„Hallo, du da unter mir!“ hört Nicki eine sanfte Stimme, „komm nicht so nah zu mir herauf, sonst verbrennst du!“ Nicki schaut in die großen, gutmütigen Augen von Mutter Sonne, aber so viel er sich auch müht, er steigt immer noch höher.
„Hilfe“ schreit Nicki „ich kann die Kurve nicht kriegen, gleich werde ich verbrennen!“
„Ruhig“ sagt die gute Sonne, „warte einen Augenblick ich werde meine Strahlenkinder losschicken, um Hilfe zu holen.“ Also Kinderchen aufgepasst: Alle an meiner rechten Seite, holt schnell eine kleine Wolke und schiebt sie mir vors Gesicht, und alle Strahlen auf meiner linken Seite sucht schnell den kleinen Wind, er soll den Luftballon abschleppen!“
Eilig machen sich alle Sonnestrahlen an die Arbeit und es dauert nur kurze Zeit, da schwebt eine schöne weiße Wolke genau vor Mutter Sonnes Gesicht. „Huch“, sagt Nicki, „das ging aber wirklich schnell, und jetzt ist mir schon viel wohler.“ In diesem Augenblick kommt auch Böbuuh, gezogen von vielen Strahlenkindern. „Dachte ich`s mir doch, dass man dich nicht alleine reisen lassen kann!“ keucht Böbuuh, „komm schnell weg von hier. Du bist ganz dick geworden, gleich wirst du platzen. Ich bin mir ganz sicher, die Hitze tut dir nicht gut.“ Der kleine Wind fasst die zwei weißen Bänder und zieht den blauen Luftballon weit weg aus der Gefahr. Alle Strahlenkinder winken zum Abschied. „Sieh mal da unten“ schreit Nicki „da ist das Meer! Muss ich jetzt abbiegen?“ „Quatsch“ zischt Böbuuh, „das ist der Bodensee, bis zum Meer kommst du bestimmt nicht, du bist viel zu leichtsinnig!“
„Ich kann aber nichts dafür, dass ich so hoch gestiegen bin, es war doch kein Wind da!“
„Weiß ich“ entgegnete Böbuuh, „wir hatten Sitzung beim Großvater Sturm, er plant eine große Arbeitsaktion, am besten ist es, du bringst dich in Sicherheit. Gleich da vorn ist die Grenze, und hinter der Grenze sind wir nicht zuständig.“ Nicki bekommt noch einen gehörigen Schubs und weg ist Böbuuh.
Nicki beschließt, sich jetzt erst einmal den Bodensee anzusehen. Ach du liebe Zeit da ist ja ein Trubel schlimmer als auf dem Festplatz bei der Schule, in dem kleinen Städtchen in der Schweiz. Da schwimmen viele große und kleine Schiffe auf dem Wasser, und große weiße Vögel flattern um die Boote.
Auf einem Schiff steht ein kleiner Junge, er hält in einer Hand einen Keks, mit der anderen winkt er dem Luftballon zu. „Komm runter“, ruft er, „ich will dich haben!"
Weil Nicki vor Schreck ganz starr ist, fängt der Junge an, mit dem Vogel zu sprechen: „Siehst du den schönen Luftballon da oben? Setz dich darauf und drücke ihn runter, damit ich an den Bändern ziehen kann!“
Der Vogel hat verstanden und fliegt tatsächlich auf den Ballon zu und setzt sich oben drauf. Nicki schreit ängstlich: „Geh sofort runter von mir, du Ungeheuer!“
„Ich bin eine Möwe“, erwidert der weiße Vogel „und ich bin kein Ungeheuer! Wenn du aber mal ein richtiges Ungeheuer siehst, wirst du merken, wie harmlos ich bin.“ Der Junge winkt wieder und dabei fällt der Keks ins Wasser. Wie ein Blitz fliegt die Möwe weg, um sich den Leckerbissen zu holen. Nicki nimmt nun alle Kräfte zusammen, um hoch in die Luft aufzusteigen.
„Halt“, denkt Nicki „nur nicht wieder so nah an die
Sonne – aber wo ist denn die Sonne?“ Jetzt sieht Nicki wie die Sonne gerade ganz hinten am Rand des großen Sees in das Wasser untertaucht. “Oh je jetzt ist die gute Sonne ins Wasser gefallen“, stöhnt Nicki „und ich habe sie wirklich gern gemocht.“
Neben ihm flattert schon wieder ein Vogel.
"Du bist aber ein komischer Vogel!" meint Nicki neckisch und stellt gleichzeitig fest, dass es irgendwie immer düsterer um ihn herum wird.
"Ich bin kein Vogel, oder besser gesagt ich bin nur ein halber Vogel, die andere Hälfte von mir ist eine Maus, ich bin also eine Fledermaus, und ich bin stolz auf meinen Urururgroßvater, der ist ein Vampir."
Erschrocken fragt Nicki: "Ist das vielleicht ein Ungeheuer?"
"Ja", lautet die Antwort, "so kann man ihn auch nennen."
Nicki meint: "Aber du bist doch wohl keines?"
"Ich würde sagen" piepste die Fledermaus, "ein Ungeheuer bin ich sicher nicht! Aber dir tu ich sowieso nichts, du riechst nach Gummi, und das kann ich nicht essen. Du darfst Mausi zu mir sagen, wenn du mir erzählst wo du hinwillst und warum du so traurig bist."
"Weißt du Mausi, ich bin Nicki, und ich will zur Nordsee und dann rechts rum nach Polen, aber jetzt, wo die Sonne ins Wasser gefallen ist, will ich - glaube ich - gar nicht mehr weiter, höchstens noch über die Grenze, weil der große Sturm einen Plan hat. Das weiß ich von Böbuuh, dem kleinen Wind, der ist nämlich mein Freund."
"Gut dass du mir das erzählst," ruft Mausi, "ich fliege schnell in den Wald, um alle Tiere zu warnen. Vielen Dank!"
"Bleib doch bei mir," bettelt Nicki "Es ist schon ganz finster, und ich habe Angst! Wie soll ich auch so allein die Grenze finden?"
"Ich muss wirklich weg, aber pass gut auf: Die Sonne ist nicht ins Wasser gefallen, sie ist jede Nacht da unten, und am nächsten Morgen steigt sie frisch und strahlend auf der anderen Seite wieder herauf. Die Grenze findest du immer geradeaus ungefähr eine halbe Stunde von hier. Leb wohl."
Nun ist Nicki wieder allein und schwebt leise auf die Grenze zu.
Jetzt kann er auch schon einen Grenzbeamten sehen, der gerade im Schein einer Lampe über den Hof geht. Nicki ist dicht über seiner Mütze, die weißen Bänder streifen die Wangen des Beamten. Dem läuft es kalt über den Rücken, und weil er nur die Bänder sieht und den Schatten von dem Luftballon, glaubt er, dass ein Gespenst über die Grenze nach Deutschland geflogen ist. Plötzlich hat er es aber sehr eilig und verschwindet im Postenhaus, um seinem Kollegen von dem Erlebnis zu berichten. Nicki kichert leise und schwebt gut gelaunt immer geradeaus.
Plötzlich ist es ihm, als ob er von unten an seinen Bändern festgehalten würde.
"Hilfe" schreit Nicki "ein Ungeheuer!" Jetzt haben wir die Bescherung, Nicki hängt an einem Baum fest. Neben ihm hört er etwas flattern und nun sehen ihn zwei riesige gelbe Augen an.
"Was schreist du denn so?" fragt neben ihm eine alte Eule. „Hier im Wald darf man nur schreien wenn man wirklich in Gefahr ist. Dann kommen alle Tiere zur Hilfe."
Glücklicher Weise war der Schrei nicht so laut, aber immerhin hat es den Igel Stachelspitz aufgeweckt. Der hatte versehentlich das ganze Frühjahr verschlafen.
"Du solltest mich doch rechtzeitig zu Ostern wecken!" ruft er verärgert der Eule zu "und wie du dich verändert hast!"
"Wieso habe ich mich verändert?" fragt die Eule erstaunt.
"Na dann schau dich doch an, fett bist du geworden und du scheinst ganz blau im Mondlicht."
"Blödsinn" zischt die Eule, "das was du da siehst ist ein Eindringling, wir müssen sehen, dass wir ihn loswerden, aber er hängt fest!"
Stachelspitz meint, "dann mach ihn doch los, dann haben wir wieder Ruhe."
"Wenn das so einfach wäre, hätte ich das schon gemacht, aber da ist ein Knoten in den Bändern!"
Stachelspitz verspürt jetzt einen furchtbaren Hunger und schleicht sofort auf Nahrungssuche. Auch die Eule, die des Nachts ihre Mahlzeit sucht flattert von ihrem Ast herab, um nach Mäusen Ausschau zu halten.
Dieses Mal ist unser Nicki nicht nur allein, sondern auch noch gefesselt. Leise weint er vor sich hin und merkt gar nicht, dass er langsam einschläft.
Als er in den frühen Morgenstunden aufwacht, lacht die Sonne schon durch die Zweige der großen Bäume.
"Was machst du denn da in dem dunklen Wald?" fragt sie freundlich.
"Ich hänge fest," klagt Nicki und er fragt die Sonne ob sie nicht Ihre Strahlenkinder zur Hilfe schicken könne.
"Ich kann sie dir schon schicken, aber sie werden dich nicht losbinden können." Kaum hat die Sonne ausgeredet, da wimmelt es im Wald von Strahlenkindern. Sie hüpfen munter von Baum zu Baum um alle Tiere zu wecken, die sich fast alle erst schlafen gelegt hatten.
Da erhebt sich der Hirsch von seinem Lager und hebt stolz sein mächtiges Geweih: "Ich bin hier der König in diesem Wald, und ich möchte auf der Stelle wissen warum hier alles so durcheinander ist!"
"Da oben hängt ein Luftballon und kann nicht weg!" poltert Stachelspitz "Der hat mich heute Nacht schon gestört."
"Ein Luftballon hat hier im Wald nichts zu suchen!" stellt der Hirsch fest, "das Eichhörnchen soll ihn losmachen, und dann jagt ihn aus dem Wald!"
Das Eichhörnchen klettert den Baum hinauf und huscht über den Ast, auf dem nachts noch die Eule gesessen hatte, bis zu dem Zweig, der unserem armen Nicki zum Verhängnis geworden war. "Ich muss dir halt ein Stückchen von deinem schönen weißen Band abbeißen, aber das tut nicht weh und geht ganz schnell," flüstert das Eichhörnchen, "aber dann schau nur, dass du weiter kommst."
Dreimal bedankt sich Nicki bei dem Eichhörnchen. Als dann das Band endlich durchgebissen ist, schwebt er bald hoch über den Bäumen. Manche Tiere winken ihm nach. Die Sonne lacht erleichtert auf, und die Strahlenkinder klatschen vor lauter Freunde in die Hände, und weil Nicki zur Nordsee will, zeigen sie ihm noch ganz schnell den richtigen Weg.
"Du musst dich aber beeilen, weil vom Süden her ein großes Gewitter anreist," rät ihm die Sonne.
"Ein Gewitter - was ist das?" fragt Nicki ganz besorgt und auch etwas neugierig.
Die Sonne erklärt: "Zuerst kommt ein mächtiger Sturm, der bringt große schwarze Wolken. Die Wolken lassen Regen und Hagelkörner fallen, und dann kommen noch Blitz und Donner dazu. Ich kann dir dann nicht helfen, weil ich beim Gewitter nie da bin."
"Huch, du machst mir aber mächtig Angst!" Nicki stöhnt, "und wenn ich mich beeile und immer vor dem Wind bleibe, was ist dann?"
Besorgt kräuselt die Sonne die Stirn: "Wenn du das schaffst, dann bist du heute Abend schon am Ziel."
"Vielen Dank Mutter Sonne!" ruft Nicki "Ich bin schon unterwegs"
Tatsächlich ist schon ein bisschen Wind aufgekommen, der Nicki geradewegs nach Norden treibt. Er schwebt über Städte und Flüsse, über Felder und Wiesen, immer wieder stehen Kinder auf den Straßen still und zeigen auf den schönen blauen Luftballon. Gerade schwebt er über einem kleinen Dörfchen mit drei alten Häusern.
Auf einem Haus ist ein riesengroßes Vogelnest und zwei große Vögel stehen im Nest.
"Meine Güte, was sind denn das für große Möwen!" denkt Nicki und sieht sich das Nest aus der Nähe an. In dem Nest sind noch drei kleine Vögel, alle haben lange Schnäbel.
"Hast du noch nie einen Storch gesehen?" plappert einer der großen Vögel. "Nein," antwortet Nicki. "Ich bin ein Luftballon, habt ihr das denn schon gesehen?"
"Natürlich," sagt jetzt der andere große Vogel "Luftballons gibt es mehr als Störche!"
Jetzt ist Nicki beleidigt, und er gleitet weiter vor dem immer stärker werdenden Wind her. Als er sich jetzt umschaut, sieht er gerade, wie die Sonne hinter einer grauen Wand verschwindet. "Das sind bestimmt die Gewitterwolken," denkt Nicki und hört auch schon ein dumpfes Grollen hinter sich. "Das hört sich ja ganz gruselig an" murmelt er vor sich hin, "ich glaube, sie werden mich doch bald einholen."
Eben schwebt er wieder über einer großen Stadt. Auf den Straßen fahren viele Autos mit leuchtenden Augen. Menschen laufen eilig nach Hause. Als dann die letzten Häuser vorbei sind, sieht er eine große Wiese, da sind viele schwarze Vögel. Zwei davon sehen jetzt den Luftballon.
Sie zeigen mit den Flügeln auf Nicki und dann auf die schwarzen Wolken, die immer näher kommen. Schreiend fliegen sie dem Luftballon entgegen. "Bist du lebensmüde"? krächzt der Erste. "Schau dass du einen Landeplatz findest! Flieg noch zwei Städte weiter, dann kommst du an einen ruhigen großen Wald. Such dir da dann einen geschützten Platz! Vielleicht kannst du dann morgen weiterziehen."
"Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt noch weiter will" schnaubt Nicki "Überall lauern Gefahren und die Nordsee, dahin will ich eigentlich, ist immer noch nicht in Sicht."
"Die Nordsee ist sowieso nichts für dich, da ist es immer stürmisch. Dann fällst du ins Wasser und unter dir lauern die Haie und fressen dich."
"Ich bin aber aus Gummi, und ich schmecke nicht," wimmert Nicki leise.
"Den Haien ist das ganz egal, die fressen Alles, Hauptsache sie sind satt."
Die beiden Krähen verschwinden jetzt und verkriechen sich zwischen den Zweigen eines großen Baumes. Unser Nicki sieht jetzt schon den Wald, den die Krähen als ruhig beschrieben haben und steuert mutig darauf zu.
"Der ist ja ganz voll mit Bäumen," stellt Nicki fest "und die Bäume werden mich wieder festhalten!" Verzweifelt schwebt er über die Baumwipfel und sucht nach einem Landeplatz. "Da ist eine passende Stelle," denkt er "da werde ich hinabschweben, die Bäume rundherum werden mich vor dem Wind schützen."
Es ist gar nicht so einfach, dem immer stärker werdenden Wind standzuhalten und geradeaus nach unten zu zielen, aber Nicki ist inzwischen schon so klug geworden, dass er den Wind überlisten kann. Geduldig wartet er ab, bis der Wind Luft holen muss und in diesem Augenblick - nichts wie runter. Sanft landet der Luftballon auf den weichen Zweigen von kleinen Sträuchern. "Geschafft!" denkt Nicki und tut einen herzhaften Stoßseufzer. "Hier werde ich das Gewitter abwarten und vielleicht reise ich später doch noch weiter."
Es dauert gar nicht lange, da tobt ein fürchterliches Unwetter durch den Wald. Ängstliche Tiere huschen durchs Gebüsch. Ab und zu schreit eine Vogelfamilie, weil der Sturm ihnen das Nest gestohlen hat. Bäume fallen um, und Nicki zittert vor lauter Angst.
Da kommt ein winziges Etwas mit einer Laterne in der Hand auf den Luftballon zugeflogen.
"Darf ich mich bei dir verstecken?" fragt es schüchtern, "ich bin ein Glühwürmchen und ich habe kein Heim mehr."
"Natürlich darfst du, aber verbrenn mich nicht!" sagt Nicki und ist ganz stolz, dass er jemandem helfen darf. Die Beiden zittern nun gemeinsam die ganze Nacht durch, bis das Unwetter endlich weiterzieht.
Am nächsten Morgen kommt die Sonne nicht. Nicki ist traurig, denn er hatte seine Hoffnung auf die Hilfe der Strahlenkinder gesetzt. Im Wald beginnt inzwischen ein reges Treiben. Alle Tiere räumen ihre Wohnung auf und viele müssen sich schnell eine Neue bauen. Man hört die Spechte, wie sie fleißig hämmern. Sie sind die Zimmerleute im Wald und haben heute alle Schnäbel voll zu tun. Niemand hat Zeit, den Ballon zu entdecken.
"Ich fliege mal eine Erkundungsrunde," sagt das Glühwürmchen, "die Lampe lasse ich hier, die brauche ich am Tag nicht, und ich komme auch bald zurück." Nach wenigen Augenblicken ist es auch schon wieder da und erzählt: "Ein paar Meter von hier ist ein Trimm-dich-Pfad, da hast du vielleicht Glück, dass dich jemand findet."
"Ich will aber nicht gefunden werden!" meint Nicki trotzig.
"Wenn die Sonne wieder zurückkommt, die ist nämlich jetzt im Bodensee, werde ich weiterreisen!"
"Schade, und ich habe geglaubt, wir könnten jetzt zusammen bleiben weil wir doch Freunde sind und du ja nicht gefunden werden willst." Das hört sich richtig traurig an, und Nicki weiß nicht ob er darüber weinen soll oder nicht.
Das Glühwürmchen macht sich wieder auf, die Gegend zu erkunden. "Lass bitte meine Lampe hier, wenn du weiter ziehst," ruft es noch bevor es hinter den Büschen verschwindet.
Nach einer Weile hört Nicki ein seltsames Geräusch, so als ob ein kleines Flugzeug naht, und nun sieht er es auch, es ist ein Mückenschwarm, der geradewegs auf ihn zufliegt. Die Mücken lachen und plaudern miteinander. Nicki merkt genau sie lachen über ihn.
Plötzlich schreit der Anführer der Mücken: "Attacke!" Und alle Mücken stürzen sich auf den armen blauen Luftballon. Mit ihren spitzen Stacheln bohren sie winzige Löchlein in ihn hinein, und im nächsten Augenblick sind sie auch schon wieder weg. Nicki wird es ganz übel und er wird ohnmächtig. Er döst so vor sich hin bis ihn das Glühwürmchen weckt: "He du, was ist los mit dir? Du bist ja ganz klein geworden!"
"Was bin ich?" fährt Nicki erschrocken aus seinem Halbschlaf hoch und reißt die Augen weit auf. Tatsächlich, er fühlt sich auch ganz schlaff.
"Ich werde nie wieder schweben können!" jammert er.
Nun lächelt auch die Sonne durch die Zweige.
"Nicki," sagt sie sanft, "du bist weiter geflogen als die anderen Luftballons. Du musst glücklich sein, dass du so viel sehen durftest. Du hast sogar auf deiner Reise wahre Freunde kennengelernt. Warte ab, es wird dich jemand finden, dann hast du deine schöne Aufgabe erfüllt. Dafür haben dich die Kinder ja auch auf die Reise geschickt."
Soeben laufen auf dem Trimm-dich-Pfad ein paar Jogger vorbei. "Hier bin ich" ruft Nicki, aber wie sollen die ihn hören, wenn die es so eilig haben.
"Wart ab," tröstet das Glühwürmchen, "manchmal kommen auch Menschen auf dem Weg daher, die haben es nicht eilig."
Wieder schließt Nicki die Augen, er fühlt sich wirklich elend und er beschließt noch ein wenig zu schlafen. "Weck mich, wenn jemand kommt" sagt er noch schnell zum Glühwürmchen.
Eine Stunde vergeht, oder auch zwei, da ruft das Glühwürmchen ganz aufgeregt: "Da kommt wer, wach auf!" Nicki traut seinen Augen kaum, da schauen ihn zwei große Augen vom Weg aus an. Über den braunen Augen sind auch noch zwei große Ohren, "Bist du ein Wolf oder ein Bär?" fragt Nicki kleinlaut.
"Nein," kommt die Antwort vom Weg her, "ich bin Sat."
"Das hoffe ich doch, dass du satt bist," zischt Nicki. "Ich bin nämlich aus Gummi, und ich schmecke nicht."
"Sei doch nicht so ängstlich" sagt das Tier mit den großen Ohren, "ich bin ein Hund und ich heiße Satellit, aber alle meine Freunde nennen mich Sat. Ich habe viele Freunde, und du kannst auch mein Freund sein."
"Kannst du mich bitte hier herausholen?" fragt Nicki.
"Leider nicht, Hunde dürfen den Waldweg nicht verlassen, aber warte, bis meine Freunde kommen." Jetzt kommen zwei Frauen ganz langsam um die Biegung des Weges und wundern sich, dass der Hund nicht weiter will.
"Was ist los, Sat?" fragt die ältere der Frauen. Die jüngere Frau, die ein Stückchen größer ist, guckt nun genau in die Richtung, wo unser Luftballon ist, und die Sonne hilft noch etwas nach und schickt ein paar Sonnenstrahlen direkt in das Dickicht, genau zu dem Bildchen auf der Rückseite von Nickis Reisepass. Die Sonne, die auf dem Bild ist, strahlt hell im Glanz der Strahlenkinder. Jetzt kommt die junge Frau durch das Gestrüpp. Es geht ganz langsam, aber sie kommt immer näher.
"Mutti, es ist ein Luftballon mit einer Rücksendekarte, ich werde ihn vorsichtig losbinden."
Während sie die weißen Bänder löst, verabschiedet sich Nicki von seinem Freund dem Glühwürmchen, dies winkt ihm fröhlich zum Abschied hinterher.
Auf dem Weg wird Nicki von Sat mit lustigem Schwanzwedeln begrüßt: "Mit uns kannst du ruhig mitkommen. Mich haben sie auch mal gefunden, und mir geht es jetzt gut."
Ein paar Tage später wurde in einem kleinen Postamt in Oberschwaben ein Päckchen abgeschickt. Es ging an den kleinen Nicklas in der Schweiz. Außer ein paar Kleinigkeiten, die Kinderherzen erfreuen, war in dem Päckchen noch die Rücksendekarte.
Der kleine Luftballon blieb aber in seinem neuen Zuhause, in der Märchenkiste.
Bildmaterialien: Alle Bilder: Susanne Neuwerth-Weipert und Siggi Koch Cover: Ute Wunderling
Tag der Veröffentlichung: 18.06.2014
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