Liebe Freunde,
für die Zeit, bevor ich nach Bünde kam, habe ich ein paar Bilder in meinem Kopf. Von Papa, Mama und meinen Geschwistern. Papa war groß und schlank, dachte ich jedenfalls, denn ich war sehr klein und da kann man sich täuschen. Schlank war er, aber groß war er nicht, vielleicht 1,60 m. Er hatte blonde Haare und eine Eselsgeduld, weil er auf jede Frage eine Antwort gab.
Papa war Soldat und nur selten zu Hause. Weihnachten, als wir unsere Geschenke betrachteten stand er am Wohnzimmerschrank und ich sah, dass an seiner Hand Finger fehlten. Das Bild habe ich immer im Kopf behalten, ja das war mein Papa. Von Beruf war er Kutscher bei einem Grafen oder Fürsten, jedenfalls bildete ich mir ein, dass der Chef von Papa eine Krone auf dem Kopf haben musste. Dann kam er einmal zu uns und trug einen Hut, ob er darunter seine Krone hatte, habe ich nicht erfahren.
Meine Mama, war dunkelhaarig, hatte lange Haare, mit denen sie immer schöne Frisuren machte. Sie war eine stille Frau und sprach nicht viel. Wenn sie aber mit uns redete, war sie immer freundlich. Sie konnte uns trösten wenn wir gefallen waren besonders Lena, sie war eine Heulsuse, und gerade deshalb liebten wir sie alle.
Mama war Schneiderin und nähte für uns aus Resten die schönsten Kleider. Meistens hatten wir rote Kleider an, weil Mama keine Gesichter erkennen konnte. So wusste sie immer, dass es von uns eines war, das gerade zur Tür hereinkam. Von ihr habe ich auch ein Bild in meinem Kopf. Da trägt sie ein schwarzes Kleid, mit weißen Punkten und hält einen Kochlöffel in der Hand.
Auf dem Bild hat sie die Haare offen, ich denke, sie hatte sich noch nicht frisiert.
Hans war fast so groß wie Lilibeth, er war immer viel zu mager. Ohne Hosenträger hatte er keine Chance seine Hose an zu behalten. Eines Tages bekam er eine Brille. Hans war mächtig stolz darauf und ich auf Hans, weil ich jetzt einen Bruder mit Brille hatte. Wenn er mit uns spielte, war er immer sehr lieb, sonst hatte er aber auch viel Blödsinn im Kopf.
Elisabeth, wir nannten sie Lilibeth, war meiner Meinung nach, das schönste Mädchen auf der Welt. Sie hatte lange dunkle Zöpfe. Sie konnte Märchen erzählen und vorlesen. Wir liebten sie. Sie sorgte mit Mama dafür, dass alles bei uns in bester Ordnung war.
Und dann war da noch Lena. Sie war jünger als ich blond und hatte Locken. Ihre Haare wollten nicht wachsen, sagte Lilibeth. Lena war unser Liebling und wenn sie weinte, und das war ständig, kamen alle zu ihr. Sie war die einzige die bei Mama in der Küche spielen durfte.
Lena und ich durften auf dem Sofa sitzen. Ich vermute, Lena war ein Jahr jünger als ich. Laufen konnte sie schon, aber mit dem Sprechen da haperte es noch ein wenig. Trotzdem verstanden wir uns prächtig.
Dann waren da noch Tante Lore und Onkel Franz.
Sie war gar nicht unsere Tante, aber sonst war weit und breit kein anderes Haus zu sehen. Tante Lore liebte Kinder und wir liebten sie. Deshalb gingen wir auch gern zu ihr. Bei ihr stand hinter dem Ofen immer ein Töpfchen für Notfälle, das war praktisch und immer angewärmt.
Tante Lore war nicht größer wie Mama, aber dicker, wenn sie uns im Arm hatte, war alles warm und weich. Sie trug die Haare kurz geschnitten und hatte Locken wie Lena. Onkel Franz hingegen war mager und wortkarg. Vielleicht mochte er uns nicht so doll, aber er war immer freundlich zu uns.
Es kam der Tag, an dem wir unser Zuhause verlassen mussten. Lena wurde nach Löhne gebracht, ihr soll es gut ergangen sein.
Hans und ich kamen nach Bünde. Den weiten Weg von Lockhausen, über Herford nach Bünde mussten wir zu Fuss zurücklegen. Meine völlig wundgelaufenen Füße konnte ich nie vergessen.
Zuerst wurde Hans abgeliefert, und dann kam ich in mein neues Zuhause.
Ich bekam also neue Eltern, die ich Vati und Mutti nennen sollte. Es war gut, denn Papa und Mama gibt es immer nur einmal im Leben.
Empfangen wurde ich von Mutti, erst am Abend kam Vati nach Hause. Vati hatte ein nettes Lächeln und so liebe Augen, ihn mochte ich sofort.
Kunz nach meiner Ankunft hatte ich Geburtstag, ich wurde vier Jahre alt. Da machten Vati und Mutti die ersten Fotos von mir.
Das war unsere Lieblingsbank. Hinter der Bank sieht man das Efeu, wo ein Igel sein Zuhause hatte. Rechts in der Mauer war ein rundes Guckloch, das jedoch hier vom weißen Flieder verdeckt ist.
Mutti war, als ich ins Haus kam, 44 Jahre alt. Was man auf dem Bild nicht so gut erkennen kann, sie trug ihre Haare aufgerollt auf dem Kopf. In mühsamer Arbeit wickelte sie ihre Haare mit Hilfe eines Federhalters zu Locken, die sie auf dem Kopf befestigte. Diese seltsame Frisur ließ sie etwas größer erscheinen. Mutti wollte immer mehr sein als sie war.
Das ist Vati, er war zu der Zeit 57 Jahre. Rechts sieht man den Pfirsichbaum, und vor der Bank ein paar seiner Rosen, die sein ganzer Stolz waren.
Links steht der Flieder mit den dunkelroten Blüten und im Hintergrund sieht man das Haus vom Malermeister, dessen Hund, Hexe mich immer so angebellt hat.
Ja und das war ich nun, an meinem 4. Geburtstag. Mein einziges Spielzeug war die Puppe, die ich von dem Nachbarmädchen Ulla bekommen hatte.
Und so wollte mich Mutti haben: Mit einem sauberen Kleid, mit weißem Kragen, Tolle auf dem Kopf und mit Schleifen im Haar. Die Schleifen waren immer passend zum Kleid.
Ich glaube, den Kummer der letzten Wochen sieht man mir noch an.
Jetzt will ich Euch auch Heidrun vorstellen, die absolute Lieblingsnichte von Mutti. Tante Anni, war die jüngste Schwester von Mutti. Mit ihr verstand sie sich immer so gut. Deshalb durfte sie Heidrun fast ein Jahr zu sich nehmen. Das Tante Anni ihr Kind wieder wollte, hat sie wohl nie verschmerzt. Das Haus war voller Bilder von dem kleinem Mädchen und was ich auch machte, ich wurde immer an ihr gemessen.
Sie war lieb und gehorsam und sie folgte aufs Wort, musste ich mir fast täglich anhören.
Auch mir hat sie immer weiße Kleider und Hüte genäht, ich hasste die weißen Kleider, an denen man jeden Flecken sofort sah.
Heidrun starb ein paar Jahre später, ausgerechnet an meinem Geburtstag. Sie ertrank in der Diemel, die durch das elterliche Hofgut floss. Mutti machte ihrer Schwester Vorwürfe und behauptete, dass so etwas nicht passiert wäre, wenn sie Heidrun bei ihr gelassen hätte.
Im Stillen triumpfierte ich. Ich hatte gehofft, dass der Fall Heidrun abgeschlossen war, aber nein es kam anders.
Von da an war mein Geburtstag zum Trauertag geworden.
Es geht noch weiter, irgendwann, wenn ich sonst nichts zu tun habe.
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Tag der Veröffentlichung: 02.06.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine lieben Freunde, speziell für meine "Ilsabein"-Leser.