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Prolog


 

Fünf Jahre lang war Margot meine einzige Freundin. Dann zog sie in einen anderen Teil der Stadt und ließ mich allein. Nie wieder fand ich eine Freundin wie sie und ich habe sie bis heute nicht vergessen.

Ilsabein, mein Lieblingshuhn war auch schon in die Jahre gekommen. Aber sie legte immer noch fleißig schöne große Eier. Solange das der Fall war, musste ich mir keine Sorgen machen dass sie im Suppentopf landete. Mutti war immer noch unberechenbar, Vati hatte einen Herzfehler und musste jetzt noch zwei Jahre zur Arbeit, dann würde er in den Ruhestand gehen.

Mit unserer Klasse waren wir im Landschulheim. Mir hatte es dort sehr gut gefallen. Als die vier Wochen um waren, holte mich Vati am Bahnhof ab.

Fräulein Bockmann kam zu Besuch

 


Vati schob das Fahrrad, auf das er den Koffer gestellt hatte. Er wollte wissen ob wir auch gebadet hätten. Ich erzählte ihm, dass wir einmal beim Schwimmen waren und das Wasser sehr kalt war.

Dann sagte er bedrückt: "Mutti hat drei Hühner geschlachtet, aber Paula und Ilsabein leben noch." Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn Ilsabein und Paula im Einmachglas, war eine schreckliche Vorstellung.

So kamen wir daheim an und Mutti hatte Abendessen gemacht. "Du hast doch sicher Hunger," empfing sie mich. Ich sagte: Guten Abend, ich bin wieder da. Ja, Hunger habe ich auch." Im Schullandheim hatten wir nie Milchsuppe bekommen, jetzt musste ich mich wieder daran gewöhnen. Die "Wiedersehensfreude" wurde durch Milchsuppe mit Makkaroni getrübt.

    Während sie meinen Koffer auspackte erzählte sie, was sie alles im Garten gemacht hatte, und was ich noch machen musste.

Die Sachen, die sie aus dem Koffer holte, verglich sie mit ihrer Liste. Dann brachte sie die Schmutzwäsche in den Wäschekorb. Die Gelegenheit nutzte ich, das übriggebliebene Geld aus der Börse zu holen und es in meinem Strumpf zu versenken. Dreißig Pfennig ließ ich darin. Als sie fertig war, mit dem Auspacken sagte sie: "Jetzt habe ich alles, den Apfelsaft hast du ja getrunken." Dass der in einer Flasche war, hatte sie glatt vergessen.

  Wir hatten noch einen Tag schulfrei und Mutti ließ mich ausschlafen. Beim Frühstück fragte sie, ob ich denn in dem großen Schlafsaal gut geschlafen hätte. "Wenn die großen keinen Blödsinn gemacht haben, dann habe ich gut geschlafen." gab ich ihr zur Antwort. Sie meinte darauf: "Du hättest dich doch bei Fräulein Bockmann beschweren können." "So etwas tut man nicht, das ist Petzen," erwiderte ich.

Ich ging in den Hof, um meine Hühner heraus zu lassen und stellte fest, dass Paula und Ilsabein sich freuten als sie mich sahen. Sie hatten mir scheinbar viel zu erzählen, denn die gackerten unentwegt, leise vor sich hin. "Ich weiß“, sagte ich, "dass Mutti drei von euch geschlachtet hat." Liebevoll streichelte ich meine beiden Freundinnen.

Mutti hatte mich belauscht und rechtfertigte sich: "Das wird allerhöchste Zeit, dass die Hühner geschlachtet werden, die sind so zäh, dass man nur noch Suppe davon kochen kann." Da vergaß ich alle meinen guten Vorsätze und schrie: "Ich will aber, dass die beiden nicht geschlachtet werden, ich habe ja sonst nichts. Schließlich habe ich keine Geschwister mehr und keine richtigen Eltern, nur die zwei Hühner!"

Sie ging wutschnaubend ins Haus, und ich schaute den Garten an, wie weit sie mit dem Pflanzen und Säen gekommen war.
Als Vati zum Mittagessen kam, ging ich mit ihm ins Haus, vorher hatte ich mich nicht getraut. Mutti beklagte sich über meine Frechheit, und Vati schlug vor, die Hühner eines natürlichen Todes sterben zu lassen. Wenn sie unbedingt töten wollte, sollte sie die Drillinge schlachten, die wären auch noch nicht so zäh.

Dann ging wieder alles im alten Trott weiter: Morgens Schule, mittags Hausaufgaben und danach ging ich in den Garten, außer freitags, da musste ich beim Putzen helfen. Als wir im Herbst mit dem Garten fertig waren, sagte ich zu Vati, dass ich mir zu Weihnachten eine Uhr wünschte. Er meinte jedoch, dafür sei ich noch viel zu jung. Also bekam ich das übliche zu Weihnachten: selbstgestrickte Strümpfe, Handschuhe und ein Buch, es hieß "Spiel und Ernst", und ich habe es nie ganz durchgelesen.

Otto, der oben wohnte, hatte vor Weihnachten viel zu tun mit seinem "Ein-Mann-Betrieb". Mit seinem Fahrrad lieferte er Zeitschriften und Bücher aus und fuhr ständig hin und her. Vati spottete und nannte ihn den "illustrierten Otto mit dem Höckerpatent". Ich fand es geschmacklos, denn er tat mir leid, weil er so verwachsen war.

Aber Vati hatte sich verändert. Er hatte gehofft, dass man ihn in der Firma fragen würde, ob er nicht noch etwas länger arbeiten wollte. Aber niemand fragte ihn, und er konnte nicht glauben, dass der Betrieb ohne ihn weiter laufen konnte.

In der Schule sorgte die Bockmann für schlechte Noten. Ich konnte mir Mühe geben so viel ich wollte, sie fand immer etwas, wofür sie mir eine schlechte Note gab. Wir hatten in dem Fach Erdkunde, die Länder der Erde durch genommen und die dazu gehörigen Hauptstädte. An der Tafel hing eine große Landkarte und wir mussten die Städte und Flüsse zeigen, die sie uns abfragte.

So rief sie mich auf und ich sollte Kalkutta zeigen. Ich stand vor der riesigen Landkarte und schaute wo Indien war, dann suchte ich nach Kalkutta. Das ging ihr zu langsam und sie schickte mich zurück auf den Platz und trug eine sechs ein in ihr Heft. Wir hatten aber vorher schon viele Arbeiten geschrieben, bei denen sie mir nur gute Noten geben konnte, da war die schlechteste Note zwei minus. Da ich aber auch einige Arbeiten mit sehr gut dabei hatte, dachte ich, dass mir die sechs nicht schaden konnte. Im schlechtesten Fall rechnete ich mir befriedigend.

Bis zum Zeugnis war es noch eine Weile und ich vergaß den Vorfall. Dann trug mir Mutti auf, Fräulein Bockmann, zu ihrem Geburtstag einzuladen. Ich richtete es aus, und sie kam tatsächlich. Die beiden Frauen tranken in der Stube Kaffee und aßen von Muttis sagenhafter Torte. Ich wurde in der Küche abgespeist.

Als sie meine Lehrerin dann wieder gehen wollte, kam sie zu mir in die Küche und wollte sich verabschieden. "Anneliese," begann sie, "du hast es doch so gut hier, schau mal die leckere Torte an, und dann willst du nach Danzig gehen?" Zuerst traf es mich wie ein Blitz, dann fasste ich mich und log: "Ich habe gesagt, dass ich zu meinem Papa will, egal wo der ist, und wenn ich zu Fuß bis Danzig laufen muss. Sie sollten genau hin hören wenn sie schon petzen müssen."

Im Flur hatten die beiden alten Schulfreundinnen, noch eine Menge zu bereden. Mutti beteuerte wieder einmal, dass mein Vater gar nicht mehr leben würde. Alles sei nur in meiner Phantasie vorhanden, und ich würde nur Lügenmärchen verbreiten. Dann fing sie an zu weinen und beteuerte sie habe es nicht verdient, mit so einem Kind, so sehr gestraft zu werden.- Wer sollte ihr da nicht glauben!

Englisch hatten wir inzwischen bei einer anderen Lehrerin. Sie sprach nur englisch mit uns während des Unterrichtes. Tatsächlich war sie eine gute Lehrerin und hieß Fräulein Stoffel. Ihr Gesicht war die Bestätigung der umstrittenen Theorie, dass der Mensch vom Affen abstammte. Ihr Mund zog meine Augen magisch an, und dann befand ich mich in Gedanken im Urwald. Der Englisch-Unterricht ging meistens an mir vorbei.

Mein größter Wunsch war jetzt, einmal in den Urwald zu gehen, um mich mit Affen zu beschäftigen. Komischer Weise, überfiel mich diese Sehnsucht immer während der Englisch-Stunden. Ich bemühte mich redlich, nicht in den Rückstand zu gelangen, aber meine Leistungen lagen unter Durchschnitt.

Mutti, die selbst kein Wort Englisch konnte, wartete förmlich darauf meine Klassenarbeiten in Englisch zu bemängeln und fragte täglich, ob wir keine Klassenarbeit geschrieben hätten. So hatten wir wieder eine Arbeit geschrieben die nicht gut ausgefallen war. Als ich nach Hause kam, war Mutti dabei ihr Köfferchen zu packen. "Ich muss dringend weg, Oma ist gestorben." teilte sie mir noch schnell mit.

Beim Hinausgehen fragte sie schnell nach der Arbeit. "Die haben wir noch nicht bekommen“, rief ich ihr nach. Sie eilte zum Bahnhof und erreichte den Zug, mit dem auch ein Mädchen aus unserer Klasse fuhr. Als sie sah, dass die das gleiche Schulbuch hatte wie ich, war sie katzenfreundlich zu ihr und fragte sie aus. Das Mädchen erzählte bereitwillig, dass sie mit mir in die gleiche Klasse ging. Mutti fragte sie nach der Englisch-Arbeit. Das kleine rothaarige Teufelchen hatte nichts anderes zu tun, als mit ihrer Arbeit zu prahlen.

Sie holte das Heft aus ihrem Ranzen und zeigte es meiner Mutter. Sie hatte lauter gut in ihrem Heft. Meine Noten lagen immer mindestens eine Nummer höher. Mutti war ganz angetan von dem netten Mädchen aus dem Zug.

Bei Onkel Rudolf kamen nach und nach alle seine Geschwister an, und Mutti blieb bis einen Tag nach der Beerdigung.

In der Schule machte mich Lore darauf aufmerksam, dass ich mich beim Pastor anmelden musste, für die zwei Jahre Unterricht vor der Konfirmation. Da ich mich in Religion gut auskannte, nahm er mich gleich in die laufende Gruppe auf. So war ich in der gleichen Gruppe wie Lisa und Lore.

Stiene verfolgte mich täglich. Meistens hatte sie ein Fahrrad dabei und packte dann meinen Affen auf den Gepäckträger. Sie ging dann immer einen Umweg, nur um meine Freundschaft zu gewinnen. Unterwegs erzählte sie dann, wie sie daheim so viel arbeiten musste, und bei jeder Gelegenheit Prügel von ihrem großen Bruder bekam. Ja, sie tat mir leid, aber jammern konnte ich ja selbst, obwohl ich schon lange keine Schläge mehr bekommen hatte.

Mutti war also nicht da, und Vati musste sich heute selbst versorgen, weil ich bis um ein Uhr Schule hatte. Ich hatte morgens zwei Spiegeleier für ihn gemacht, von beiden Seiten angebraten. Die hatte er sich aufs Butterbrot gelegt für den Mittag.

Nun wusste ich also, dass ich heute den ganzen Nachmittag ohne Aufsicht war. Um Stiene aus dem Weg zu gehen, ging ich heute einen anderen Weg. Als sie ihr Fahrrad aufschloss, schlich ich hinter ihrem Rücken Richtung Marktplatz. Ganz sicher würde sie mir hier nicht nachkommen.

Am Marktplatz holte ich Renate und Ingrid ein. Sie waren schon lange Freundinnen und wohnten in der Ringstraße. Renate fragte mich: "Möchtest du nicht mir zu mir kommen? Wir machen immer zusammen Hausaufgaben." "Ja“, sagte ich erfreut, "bei uns ist heute niemand da." "Dann komm, und trödle nicht“, meinte Ingrid. Wir kamen zu Renate und die nahm uns mit in die Küche. Dort brachte sie das Feuer wieder zum brennen. Renate und Ingrid setzten sich aufs Sofa an den Küchentisch und ich nahm mir einen Stuhl.

Bald war es schön warm in der Küche, und wir machten zuerst die Englisch Aufgaben. Wir paukten Vokabeln, und Renate gab sich viel Mühe mir dabei zu helfen. Du solltest immer mit uns Hausaufgaben machen, dann wärest du in Englisch besser. "Schön, „ sagte ich, "aber meine Mutter lässt mich nicht zu euch, weil ihr keinen Vater habt. Sie behauptet aus Kindern, deren Mütter den ganzen Tag arbeiten müssen, wird nichts." Wir wurden fertig mit unseren Hausaufgaben und spielten noch eine Runde "Mensch ärger dich nicht".

Ich hätte so gern Renates Mutter gesehen, aber ich musste jetzt dringend nach Hause. Mir war die Heizung eingefallen, die war sicher schon aus.

Als Vati heimkam, brannte die Heizung wieder und in der Küche der Herd auch. Für den Rest der Woche hatte er Urlaub genommen, schließlich musste er auch zur Beerdigung von Oma. Von ihm ließ ich mir meine Klassenarbeit unterschreiben. Er schaute gar nicht hin und unterschrieb nur. Nun glaubte ich, sei die schlechte Arbeit vom Tisch, und steckte das Heft in meinen Ranzen.

Während ich Hausaufgaben machte, rechnete er Stundenzettel, die er von der Firma mitgebracht hatte. Mit den Worten: "Kannst du das nicht für mich rechnen," schob er die Zettel zu mir. Das war schon sehr ungewöhnlich, denn Vati war immer gut in Rechnen.

Nach dem Abendessen saß er am Tisch und spielte auf seiner Mundharmonika. Ich freute mich, dass er wieder mal spielte, dann merkte ich, er sah mich gar nicht und war ganz in sich versunken. Seine Abrechnungszettel heftete ich wieder in seine Mappe und ging die Heizung auffüllen. Als ich zurück in die Küche kam, war er schon im Bett.

Am nächsten Morgen richtete ich mich für die Schule und kochte nebenbei Kaffee. Vati stand auf und machte sich für die Beerdigung fertig. Er bemängelte den Kaffee, das sei ja Muckefuck. Wir hatten aber täglich nichts anderes. Ich stellte den Milchtopf vor die Tür und ließ die Hühner in den Garten. Dann ging ich zur Schule. Auf dem Feldweg sah ich schon Stiene kommen.

Sie nahm meinen Ranzen auf ihr Fahrrad, und schob mit mir zusammen durch die Eckstraße. "Wo warst du gestern?" Wollte sie von mir wissen. "Ich hatte es eilig, deshalb bin ich über den Marktplatz gegangen," gab ich ihr zur Antwort. Da ich gern wieder mit Renate heim gegangen wäre, fügte ich noch hinzu: "Heute habe ich es auch eilig." Wir brachten die Schule hinter uns, und ich hatte vor, mich wieder an Renate zu hängen.

Da kam Stiene mit ihrem Fahrrad hinter mir her. Sie schob mit mir über die Hauptstraße. Dann nahm sie ihren Ranzen auf den Rücken, und bot mir ihren Gepäckträger an. Sie fuhr nicht über den Marktplatz, sondern bog in die kleine Straße vor dem Lyzeum ein. Da ging es rasant die Straße bergab, bei der kleinen Katholischen Kirche vorbei, direkt auf die Eckstraße. Ich glaubte das Schild "Einbahnstraße" gesehen zu haben. Aber es kam kein Auto, kein Fahrrad und auch kein Fußgänger. Stiene meinte, "da fahren wir jetzt immer runter." Renate traf ich nicht mehr, und das war gut, also ging ich gleich nach Hause, um mir etwas zum Essen zu machen.

Als ich bei dem Hund um die Ecke bog, klopfte die Malermeisters-Frau ans Fenster. Ich blieb stehen und dachte was sie jetzt wohl wieder zu bemängeln hatte. Der Hund kläffte schon wieder und sie machte das Fenster auf. "Deine Mutti hat angerufen, Vati kommt erst morgen Abend, die Beerdigung ist morgen." "Danke“, rief ich der Nachbarin zu und war traurig, dass ich Renate nicht mehr getroffen hatte, denn heute hätte ich einmal richtig Zeit gehabt.

Als ich durchs Gartentor kam, warteten Ilsabein und die Drillinge auf mich, das war aber sehr ungewöhnlich. Ich lief mit ihnen ums Haus und stellte fest, dass die kleine Stalltür, die ich mit Sicherheit festgehakt hatte, zu gesperrt war. Die armen Hühner hatten nicht einmal zum Eierlegen hinein gekonnt. Hunger hatten sie auch, denn der Boden war noch nicht richtig aufgetaut. Wir hatten ja immer noch Februar.

Schnell machte ich die Stalltür auf und die Hühner rannten in ihren Stall an ihren Fressnapf. Dann schaute ich in den Unterschlupf auf der Wiese, da waren zwei Eier im Nest. Mit den eiskalten Eiern ging ich zur Hintertür, die war aber abgeschlossen. Das war noch nie der Fall. Ich schaute wo wohl der Schlüssel sein konnte.  Ich fand den Schlüssel nicht, mir blieb nichts anderes übrig als bei Bollmanns zu klingeln.

Frau Bollmann öffnete und fragte was denn heute los sei. Otto hatte sein Fahrrad zur Haustür hinaus tragen müssen. Der Schlüssel für die Hintertür sei nicht zu finden. Auch der Korridor-Schlüssel war weg, ich konnte gar nicht in die Wohnung. Ich ließ mich auf einen der Korbsessel fallen und schnallte meinen Ranzen ab. Jetzt musste ich erst überlegen. Im alten Küchenschrank im Keller waren zwei Schubladen, da hatte ich mal Schlüssel gesehen. Einer davon könnte an die Korridortür passen und ein großer war auch dabei, vielleicht passte der an die Hintertür.

Ich hatte Glück, die Wohnung war offen. Frau Bollmann war mit dem großen Schlüssel an die Hintertür gelaufen und der passte auch. Sie brachte mir den zurück und meinte: "Der klemmt ein bisschen, aber jetzt ist offen." In der Pfanne waren noch ein paar Bratkartoffeln, die würde ich mir warm machen. Also machte ich erst mal Feuer im Herd. Die Heizung war auch mausetot, aber mir reichte das Feuer in der Küche. Vielleicht werde ich morgen die Heizung wieder anmachen, dachte ich bei mir.

Mutti hatte, als ich an der Nordsee war, ein neues Radio gekauft, das stand in der Küche auf einem Wandbord. Das machte ich jetzt leise an. Ich hörte also leise Musik beim Mittagessen. Dann machte ich meine Hausaufgaben, dabei konnte ich die Musik nicht gebrauchen. Also machte ich den Kasten wieder aus. Heute hätte ich machen können was ich mochte, aber der Tag lief für mich ab wie immer. Nach den Hausaufgaben kochte ich mir Milchreis, darauf hatte ich Appetit, und das war besser als Milchsuppe.

Am nächsten Morgen schien die Sonne so schön, wenn das Wetter so bliebe, würde ich mir die Heizung sparen können. Auf das Feuer im Herd legte ich ein Brikett, das hatte ich in eine nasse Zeitung gewickelt. Ich ließ die Hühner in den Garten und ging in die Schule.

Unterwegs traf ich Jochen, der mir damals bei der Suche nach Hans geholfen hatte. Er fragte wie es mir geht, und ob ich denn von Hans und meinem Papa noch nichts gehört hätte. Ich erzählte ihm, dass mein Vater, Hans in ein Dorf in der Nähe von Vlotho geholt hatte.

Den Namen von dem Dorf hätte ich vergessen. "Da kann ich dir leider auch nicht helfen“, meinte er. Aber er wusste noch etwas, was mich vielleicht interessieren würde. "Von Hans?" fragte ich erwartungsvoll. "Nein, von den Leuten wo er damals war." Er machte mich neugierig. "Ich muss aber jetzt zur Schule“, sagte ich und bat ihn noch ein Stück mit mir zu laufen. Er ging also mit bis zum Museum.

Unterwegs berichtete er von dem süßen kleinen Mädchen, das nach Hans bei der netten Frau war. Die Kleine sei letzte Woche gestorben, sie hatte Leukämie. "Ach," seufzte er, "Die Leute haben auch gar kein Glück im Leben, das Haus ist auch vor ein paar Jahren halb abgebrannt." Ich wusste, dass es gebrannt hatte, der Blitz hatte eingeschlagen. Jochen drehte wieder um und ging heim, denn er war schon aus der Schule, und bewirtschaftete den Hof. Sein Vater war nicht aus dem Krieg zurück gekommen.

Nachdenklich ging ich jetzt das letzte Stück allein. Ich kannte das Mädchen und war mit ihr schon einige Male zur Schule gelaufen.

Da die Sonne so schön schien, bekamen wir ein Frühlingsgedicht auf, auswendig zu lernen. Auswendig lernen war für mich die aller leichteste Übung. Leider war es nicht das einzige was wir als Hausarbeit auf bekamen.

Stiene kam wieder mit ihrem Fahrrad um mit mir die gleiche Tour wie gestern zu machen. Ich sah das Schild "Durchfahrt verboten" und "Einbahnstraße", in die andere Richtung. Aber Stiene glaubte es nicht. Mit Karacho bog sie bei der kleinen Kirche nach rechts ab, und da stand ein Schutzmann.

Er notierte Namen und Anschrift und wollte unsere Hefte sehen, ob wir auch keinen falschen Namen angegeben hatten. Dann machte er uns einen Vorschlag: "Entweder ihr zahlt jeder eine Mark Strafe auf der Polizeiwache bis zum Ende der Woche, oder ich muss eure Eltern benachrichtigen. Dazu kommt noch eine Stunde Verkehrs-Unterricht am Sonntagmorgen um zehn Uhr."

Stiene wusste nicht, wie sie an die Mark kommen sollte, sie bekam auch kein Taschengeld. Ich sagte ihr nicht, dass ich noch zu Hause Geld versteckt hatte. Deshalb dachte ich gleich morgen meine Strafe zu bezahlen.

Drei Mark hatte ich damals vom Landschulheim wieder mit gebracht. Das Geld hatte ich im Hühnerstall versteckt. Ich hatte es sparen wollen, für den Fall, eines Tagen doch wegzulaufen. Stiene sollte selbst sehen wie sie an eine Mark kam, dachte ich. Zu Hause war alles in Ordnung, ich sammelte die Post auf dem Flur ein, brachte den Milchtopf in die Küche und legte Holz aufs Feuer. Was sollte ich bloß heute wieder essen?

Weil im Schrank kein Geld war, ging ich zum Kaufmann holte ein Brot und ließ es anschreiben. Der Kaufmann hatte schon längst gemerkt, dass Mutti jetzt meistens im Konsum einkaufte. Er war trotzdem freundlich zu mir und gab mir das Brot.

Brot holte Mutti ja immer noch bei dem Kaufmann, weil sie kein anderes mochte. Ich machte mir zwei Spiegeleier die ich aufs Brot legte, und am Abend würde ich notfalls das gleiche noch einmal essen.

Nach den Hausaufgaben, ging ich in den Hühnerstall um an mein Geld zu gehen. Der Stall war eigentlich als Schweinestall gebaut. Der Boden war deshalb vorn höher als hinten. Ganz am Ende wo es am niedrigsten war, befand sich eine Ablaufrinne, damit der Stall immer trocken war. Auf dieser Rinne lagen lose Ziegelsteine. Das Geld hatte ich in Silberpapier, von einer Tafel Schokolade gewickelt, und unter den Steinen versteckt. Ich holte es hervor und nahm eine Mark aus dem wertvollen Päckchen. Den Rest wickelte ich wieder ein und versteckte ihn erneut unter den Steinen.

Von Vati hatte ich gelernt, dass man immer alles gleich bezahlen sollte. Deshalb ging ich am nächsten Tag um sieben Uhr aus dem Haus, um vor der Schule noch zur Polizei zu gehen. Auch den Verkehrs-Unterricht würde ich gleich am Sonntag machen. Da würde ich die Kirche schwänzen, in die ich ja jetzt jeden Sonntag sollte, wegen der Konfirmation. Da ich beim Pastor ganz neu im Unterricht war, hoffte ich, dass er es nicht merkte.

Auf der Polizei nahm es der Schutzmann ganz genau, er füllte einen großen Bogen aus, dann nahm er die Mark und gab mir eine Quittung. Danach ging ich zur Schule. Stiene hatte das Geld noch nicht und fragte wie ich daran gekommen sei. Ich sagte es sei aus meiner Spardose.

Sie bettelte, ich sollte es ihr doch auch geben, aber ich dachte warum? Sie wollte doch die Straße unbedingt fahren. Und wenn sie mir dann böse war, würde ich es gut überleben. Schließlich meinte sie, dass sie es ihrer Schwester aus dem Geldbeutel stehlen wollte.

Wir kamen in die Klasse, und alle waren dabei, ihr Gedicht noch einmal aufzusagen. Lore fragte mich, "Kannst du es?" Natürlich konnte ich es und ich fing an aufzusagen dabei mischte ich in den Text drei Mal das Wort "Fürtzchen." Einmal zu Anfang, einmal an Stelle von Veilchen und noch einmal in der letzten Zeile. Die halbe Klasse grölte vor Lachen. Die andere Hälfte der Klasse wollten auch wissen was los war, und Lisa sagte das Gedicht noch einmal auf.

Jetzt waren alle am lachen, und unsere Lehrerin kam zur Tür herein. Sie fragte, ob es uns zu gut ginge, und fing gleich mit dem Abfragen an. Die Schwester einer anderen Lehrerin kam als erste ran, das Gedicht aufzusagen. Sie war noch so in Gedanken bei meiner Version, dass sie anstatt "streifen ahnungsvoll das Land", "streifen ahnungsvoll die Leute" sagte. Das war aber nicht von mir, trotzdem lachte wieder die ganze Klasse. Weil mich immer alle ansahen, kam ich dann an die Reihe. Ich riss mich zusammen und sagte das Gedicht auf.

Alle warteten gespannt ob ich mich nicht doch versprach. Den Gefallen tat ich ihnen nicht. Nachher klappte es auch bei den übrigen Mädchen. In der letzten Stunde verabschiedete Fräulein Bockmann, Heidrun Seidel. Sie war gar nicht lange in unserer Klasse gewesen, jetzt mussten sie nach Brasilien. Ihr Vater sollte da eine Zweigstelle seiner Firma leiten.

Auf dem Heimweg nutzte ich die Gelegenheit nach meiner Mark zu fragen, die ich ihr geliehen hatte, als sie unbedingt ein Eis wollte. Wenn ich sie bekommen hätte, dann hätte ich sie Stiene gegeben. Aber ich bekam sie nicht. Sie hatte scheinbar kein gutes Gedächtnis und konnte sich nicht erinnern, jemals von mir eine Mark bekommen zu haben. Also konnte ich Stiene nicht helfen.

Da das Wetter schon etwas besser geworden war, beschloss ich die Heizung nicht mehr an zumachen. Ich machte nur Feuer im Küchenherd. Danach setzte ich wieder Milchreis auf. Was anderes fiel mir nicht ein. Nach den Hausaufgaben wollte ich den dann essen. So war auch gleich die Milch verwertet.

Ich hatte gerade den Milchreis aufgegessen, da kam Vati, mit seinem Zylinder um die Ecke im Hof. Ach Gott, dachte ich, der will bestimmt auch noch essen. Als er zur Tür herein kam, zog er die Schlüssel aus der Manteltasche. Er hätte geglaubt ich wäre gar nicht da. Dann hatte er alles abgeschlossen und die Schlüssel mitgenommen. "Ja, ich war ja in der Schule, aber mittags komme ich dann immer nach Hause“, sagte ich ein wenig vorwurfsvoll.

Ich nahm die Ersatzschlüssel und brachte sie zurück in den Keller. Er hatte Kuchen mitgebracht. "Für morgen früh, Mutti kommt morgen Abend." Er ging ins Schlafzimmer um sich umzuziehen. In der Zeit versorgte ich meine Hühner, und sammelte die Eier ein.

Vati hatte mich doch sehr nachdenklich gemacht, aber er hatte mir ja gesagt, dass er vergesslich würde, weil er Arterien-Verkalkung hätte. Damals hatte er noch gewitzelt und hatte es Artillerie-Verkalkung genannt. Ach ja, seine Witze hatten schon sehr nachgelassen. Vielleicht hatte es ihm nicht gut getan, dass ich vier Wochen nicht da war.

Es war Samstag und ich ging in die Schule, Vati war zur Arbeit gefahren, obwohl er für den Rest der Woche frei hatte. Stiene hatte ihre Mark bei ihrer Schwester geklaut und wollte, dass ich mit ihr zur Polizei ging. "Das geht leider nicht, mein Vater ist da und will, wenn er von der Arbeit kommt, etwas zum Essen haben“, erklärte ich ihr.

Ich hatte keine Ahnung was ich kochen sollte. Seitdem wir nicht mehr schlachteten, waren im Keller keine Konserven mit halbfertigem Essen. Schließlich entschied ich mich, Bratkartoffeln zu machen aus frischen Kartoffeln. Vati fand das gut, er hatte noch eine Dose Ölsardinen die wollte er dazu essen. Mir reichte eine Essiggurke.

Als ich danach Hausaufgaben machte, ging Vati den Garten anschauen. Was er da wollte, wusste ich nicht, es war ja noch nichts gesät.

Am Abend kam Mutti heim. Das erste was sie erzählte, war die Begegnung im Zug mit meiner Mitschülerin. Sie wollte die Arbeit sehen, aber die hatte ich in der Schule abgegeben. "Und wer hat die unterschrieben?" Wollte sie wissen. "Die Arbeit hat Vati unterschrieben“, gab ich zur Antwort.

Sie machte mir Vorhaltungen, dass ich gelogen hätte, als sie nach der Arbeit gefragt hatte. Außerdem wollte sie die Arbeiten immer sehen, Vati hätte keine Ahnung von "Englisch". Da rutschte mir raus: "Aber du auch nicht." Sie konnte ihre Hand nicht im Zaum halten, und verpasste mir ein paar saftige Ohrfeigen.

Vati wurde jetzt ungeduldig und wollte essen, da vergaß sie nach meiner Note zu fragen. Ich deckte den Tisch und sie nahm die warme Milch und füllte sie in die Teller. Wir sollten Zucker hineingeben und Brot einbrocken. Ich verzichtete auf den Zucker und brockte nur das Brot hinein. Das war die beste Milchsuppe die ich je gegessen hatte.

Jetzt erfuhr ich, dass Vati und Mutti im August Silberhochzeit hatten. Sie hatte alle Geschwister dazu eingeladen.

Nach der Beerdigung hatten Mutti und ihre Geschwister sich Oma ihren Schmuck aufgeteilt. Stolz zeigte sie ihre Ausbeute. Mir gefiel das gar nicht, wie konnten sie nach der Trauerfeier an so etwas denken. Die große Bernsteinkette hatten sie zerlegt. Jedes Kind von der Oma hatte drei von den großen Perlen bekommen, die so groß wie Kastanien waren. Jedes Enkelkind hatte eine Perle bekommen. Mir legte sie die Perle auf den Tisch. Ursula, die sich immer um die Oma gekümmert hatte, bekam den goldenen Verschluss noch dazu.

Ich dachte: Als Mama gestorben war, wären wir nie auf die Idee gekommen nach ihrem Schmuck zu schauen. Sie hatte ganz sicher auch welchen. Ich stand auf, ließ die Perle liegen und ging ins Bett.

Am Sonntag stand ich auf, ließ die Hühner nach draußen und setzte mich an den Frühstückstisch. Mutti kam und erklärte mir, dass sie die Perle weggeräumt hatte. Wenn ich alt genug sei, würde ich sie wieder bekommen.

"Ich habe mich beim Pastor angemeldet für die Konfirmation, jetzt muss ich sonntags in die Kirche." Wechselte ich das Thema. "Ja, das habe ich ganz vergessen, ich hätte dich schon lange anmelden müssen“, sagte sie. Dann ging sie an den Schrank, holte zehn Pfennig aus ihrem Geldbeutel und sagte, dass sei für den Klingelbeutel.

Ich machte mich fertig für den Kirchgang, und stellte fest, dass der dunkelrote Mantel, den ich im Herbst bekommen hatte schon wieder zu klein war. Also ließ ich ihn offen und nahm das Gesangbuch und ging. Unterwegs steckte ich das Gesangbuch in meine Manteltasche und ging an der Kirche vorbei, in die alte Schule zum Verkehrs-Unterricht. Stiene war nicht gekommen, aber das sollte mir gleich sein.

Beim Pastor würde ich sicher noch nicht auffallen, da ich ja erst am Montagnachmittag zum ersten Unterricht musste. Die zehn Pfennig kamen in meinen Strumpf, im Sommer würde ich mir davon ein Eis kaufen, dachte ich auf dem Heimweg.

Zu Hause wollte Mutti wissen was der Pastor gepredigt hatte. Da wir im Religions-Unterricht gerade von den zehn klugen Jungfrauen hatten, sagte ich: "Von den zehn törichten, und den zehn klugen Jungfrauen hat er gepredigt." Das glaubte sie mir dann.

Am Montag wartete Stiene schon an der Ringstraße auf mich. Ihre Schwester hatte gemerkt dass ihr eine Mark gefehlt hatte, und ihr großer Bruder hatte sie verprügelt. Sie weinte und sie tat mir auch leid. Weil ich selbst schon sooft Schläge bekommen hatte, war ich schon richtig herzlos geworden. Ich konnte sie nicht trösten.

Unsere erste Klassenfahrt

 

Fräulein Bockmann kündete an, dass wir in diesem Jahr auch eine Klassenfahrt machen würden. Als erstes würden wir nach Enger fahren und die Kirche dort ansehen, denn da sei der Kirchturm neben die Kirche gebaut. Das wussten wir schon von der Heimatkunde. Danach ging es weiter zum Hermanns-Denkmal und die Externsteine. Zum Schluss würden wir noch das Kaiser-Wilhelm-Denkmal ansehen und die Schleuse bei Minden.

Lore, die unsere Klassensprecherin war, meldete sich und bemängelte, dass es viel zu viel sei für einen einzigen Tag. Die Lehrerin ließ sich von ihrem Plan nicht abbringen, das läge alles genau auf dem Weg, man könnte es sehr gut miteinander verbinden. Sie würde mit dem Busunternehmen einen guten Preis ausmachen und uns früh genug Bescheid geben. Wir würden ungefähr mit fünf Mark rechnen müssen.

Kurz vor Ostern, sollte der Ausflug stattfinden. Lore meinte, da hätten wir ja noch vier Wochen Zeit um unser Taschengeld zu sparen. Ich hatte auf der Landkarte in meinem Atlas nach dem Ort gesucht, wo ich früher mit Mama und Papa und meinen Geschwistern gewohnt hatte, der Ort muss so klein gewesen sein, ich konnte ihn nicht finden, aber der Ort war bei Lemgo. Das hatte ich auf der Karte gefunden und einen Hinweis auf das Hermanns-Denkmal und die Externsteine. Aber das nutzte mir ja gar nicht, weil Papa da nicht mehr wohnte.

Schade, sonst hätte ich nach Hause laufen können. Ich war mit meinen Gedanken weit weg, und die Bockmann hatte es gemerkt. Sie rief mich auf und fragte, "wie viel ist es?" Lore flüsterte vierundsiebzig. Ich stand auf und sagte "vierundsiebzig." "Genau," sagte Fräulein Bockmann, "ich habe nicht geglaubt dass du aufgepasst hast." Es ging weiter mit Kopfrechnen, und weil die Lehrerin wusste, dass ich im Kopfrechnen gut war, nahm sie mich jetzt auch nicht mehr dran.

Als wir mittags heim gingen, rief mir Lore noch nach: "Vergiss nicht heute Nachmittag um zwei Uhr, ist Unterricht im Gemeindehaus." Nach dem Essen ging ich also gleich wieder los, zum Unterricht. Da ich immer gut aufgepasst hatte, im Religion-Unterricht, kam ich beim Pastor gleich gut an.

Er gab uns jedes Mal ein Kirchenlied zum auswendig lernen auf, oder Sprüche aus der Bibel. Das machte ich abends in meinem Zimmer, immer bevor ich ins Bett ging. Von der Klassenfahrt war Mutti gar nicht begeistert, sie hätten nur einmal einen Ausflug mit der Schule gemacht. Sie wollte sich aber vor Fräulein Bockmann nicht blamieren und willigte ein. Bevor wir den Ausflug machten, kam wieder der Arzt vom Gesundheitsamt. Wir würden auch in diesem Jahr ins Schullandheim fahren, jedoch erst in den Sommerferien. Der Arzt untersuchte uns, und ich bekam auch dieses Mal meinen Antrag auf Erholung mit "dringend befürwortet." Weil ihr im vergangenen Jahr meine Abwesenheit angeblich so gut getan hatte, willigte Mutti sofort ein.

Ich glaubte der Grund lag eher im finanziellen Bereich, denn sie mussten für mich nichts zuzahlen. Meine einzige Sorge war der Badeanzug, den würde ich nicht noch einmal anziehen. In den Sommerferien war aber ganz sicher Badezeit an der Nordsee. Vielleicht werde ich Onkel Heini fragen, dachte ich, denn ich hatte ja noch Zeit. Nun näherte sich der Ausflugstag. Ausgerechnet einen Tag vorher bekamen wir eine Klassen-Arbeit zurück, mit befriedigend. Das war zwar nicht gerade schlecht für mich, aber für mein Taschengeld.

Die Lehrerin hatte vorgeschlagen drei Mark Taschengeld mit zunehmen. Mutti gab mir die Hälfte. Schließlich sei ich mit drei Mark, an der Nordsee vier Wochen ausgekommen. Sie hatte ja keine Ahnung, dass es insgesamt neun Mark waren, von denen ich drei Mark wieder heim gebracht hatte. Ich war es gewohnt, nichts kaufen zu können.

Am Tag, an dem es los ging, stand ich früh auf, denn ich konnte es vor lauter Vorfreude nicht im Bett aushalten. Mutti erzählte beim Frühstück, dass sie auch schon am Hermanns-Denkmal war. Damals sei noch im Kopf ein Tisch und Stühle gestanden. Sie packte meine Wandertasche mit belegten Broten und einem Apfel. Da die Sonne schön schien, nahm ich meine Strickweste mit, ich hatte ja immer noch keine Jacke. Zuerst zog ich jedoch meinen Mantel an, der war zwar warm, aber er ging nicht mehr zu.

Wir trafen uns auf dem Schulhof um 7.30 Uhr. Als sich unsere Lehrerin vergewissert hatte, dass niemand fehlte, stiegen wir in den Bus ein. Fräulein Bockmann setzte sich neben den Busfahrer. Da setzte ich mich auf die rechte Seite, ziemlich weit nach hinten, damit sie mich nicht immer beobachten konnte.

Auf der hintersten Bank saßen die, die immer am meisten Unsinn machten. Ich hatte einen Fensterplatz, dann kam noch Doris aus der Bäckerei. Sie nahm den Platz neben mir. Pünktlich um acht Uhr, waren wir in Enger und schauten die Kirche und den daneben gebauten Turm von außen an. Wir konnten nicht hinein, denn die Tür war noch verschlossen. Also stiegen wir wieder in unseren Bus, und die Fahrt ging weiter Richtung Hermanns-Denkmal.

Als wir durch Herford kamen, meinte ich genau hinsehen zu müssen. Nach einiger Zeit, tauchte der Baggersee auf. Jetzt wusste ich genau wo wir waren, in meinem Heimatdorf. Links müsste jetzt das Haus sein, und das von Tante Lore, aber ich saß auf der falschen Seite. Der Bus fuhr um die Straßenbiegung und schaukelte über die Schienen. Hier hatte Mama der Zug überfahren, und damit unsere kleine Familie kaputt gemacht.

Ich holte tief Luft, nur nicht weinen, dachte ich. Als wir dann an dem Friedhofstor vorbei kamen, holte ich verstohlen mein Taschentuch aus der Tasche. Mir schoss es durch den Kopf, ob Papa wohl manchmal kam, um das Grab von Elisabeth zu richten? Immer wieder putzte ich mit dem Taschentuch die Tränen weg. Doris fragte ob es mir nicht gut sei, dann wollte sie Fräulein Bockmann Bescheid sagen. "Nein, mir geht es gut, ich habe nur an etwas denken müssen." versicherte ich.

In dieser Klasse wollte ich niemandem etwas erzählen, die Mädchen konnten nichts für sich behalten. Doris ging an ihren kleinen Rucksack, holte ein gekochtes Ei heraus, schälte es und stopfte es mir in den Mund. "Du hast doch bestimmt Hunger, „ lachte sie, "neben mir ist noch nie jemand verhungert." Jetzt hatte sie mich zum Lachen gebracht.

Wir kamen am Hermanns-Denkmal an, und der Bus fuhr auf den Parkplatz, der gleich unten am Fuße des Berges war. Jetzt mussten wir die Straße hinauf gehen. Meinen Mantel ließ ich im Bus, und zog nur die Strickweste an. Die Tasche nahm ich mit, obwohl die Lehrerin meinte, wir würden bei der nächsten Station etwas essen. Ich war wieder ganz besonders langsam, und trottete immer hinterher.

Als ich endlich oben war, hatten die anderen Kinder schon ein Eis gekauft. Der Eismann fuhr gerade den Berg hinab um neues Eis zu holen. Der würde bestimmt nicht mehr kommen, denn mit dem Fahrrad musste er sicher den Berg hinauf schieben. Da stand nun das Denkmal vor uns, auf einem riesigen Sockel, viele Stufen führten hinauf. Wer in das Denkmal wollte, musste dreißig Pfennig bezahlen. Das wollte ich nicht, ich war noch ganz fertig vom Aufstieg.

Von oben winkten die Mädchen zu mir herunter. Das Denkmal sah von unten wuchtig aus. Als ich zu dem Kopf hinaufschaute, sah ich kleine Wolken über das Denkmal jagen. Das erweckte den Eindruck, als ob der Kriegsheld gleich auf mich herunter stürzen würde. Die Sicht oben war nicht so gut, deshalb konnten die Mädchen auch nicht viel sehen. Sie kamen enttäuscht die vielen Treppen wieder herab.

Ich zeigte den Mitschülerinnen, was ich inzwischen entdeckt hatte und sie schauten jetzt alle nach oben. Danach gingen wir in ein Holzhaus, wo wir noch einiges erfuhren, über den Bau des großen Denkmals. Dort konnten wir das ganze Denkmal in klein anschauen. Alle stürzten sich auf die Ansichtskarten, ich kaufte auch eine. Wir gingen den Berg wieder hinunter und unser Busfahrer brachte uns bis an die Externsteine.

Auch hier stiegen wir den Berg hinauf, der war aber nicht so beschwerlich. Dann standen wir vor den enorm großen Felsen. In zwei der Felsen waren Treppen hineingeschlagen und eine Brücke verband in schwindelnder Höhe die beiden Steine. Wer wollte, durfte die Treppen hinauf steigen und über die Brücke gehen, um in dem anderen Stein wieder herab zu kommen. Zwei Drittel unserer Klasse nutzten die Gelegenheit und winkten von der Brücke.

Ich war nicht die einzige die Höhenangst hatte. Wir blieben unten und winkten nach oben. Fräulein Bockmann war auch unten geblieben. Auf einer Gruppe von Bänken, machten wir eine Pause und packten etwas aus unseren Taschen aus. Danach gingen wir frisch gestärkt wieder bergab zu unserem Bus. Wir fuhren Richtung Minden und sahen die Weser. Ich hatte die Weser ja schon gesehen, aber viele meiner Mitschülerinnen sahen den großen Fluss zum ersten Mal.

Erstaunt schauten wir auf die Schiffe die voll beladen waren. Als erstes gingen wir zur Schleuse und Fräulein Bockmann erklärte uns die Funktion. Wir gingen direkt zu der Schleuse und konnten ganz nah zusehen, wie die Schiffe hinein fuhren, um im Kanal wieder heraus zukommen. Nachdem wir alle genug gesehen hatten ging es weiter zum Kaiser-Wilhelms-Denkmal. Da war der Aufstieg nicht so hoch, wie waren bald am Denkmal angekommen. Die Lehrerin hielt einen Vortrag über den Kaiser Wilhelm. Er unterschied sich kaum von dem, was Vati uns erklärt hatte, als wir den Familien-Ausflug gemacht hatten.

Danach ging es auch bei Fräulein Bockmann zur Wittekinds-Quelle. Dort hörten wir zu was die Lehrerin zu berichten hatte. Als ein paar Kinder und ich unaufmerksam waren, versprach sie uns eine Klassenarbeit, gleich morgen in der ersten Stunde. Ab sofort hatte ich ein komisches Gefühl im Magen. Ich hatte immer Angst vor Klassenarbeiten. Bevor wir wieder zum Bus gingen, machten wir noch eine Pause und aßen von unseren Broten. Dann gingen wir wieder zum Parkplatz und stiegen in den Bus. Von Minden aus war es gar nicht mehr so weit nach Hause. Wir kamen um fünf Uhr abends auf dem Marktplatz an.

Ich hatte wieder nur eine Ansichtskarte gekauft. Von dem Geld was ich noch hatte, nahm ich fünfzig Pfennig und steckte sie wieder in meinen Strumpf. Vati wartete am Gartentor mit Paula und Ilsabein. Erfreut kam ich durchs Türchen und nahm erst mal schnell Ilsabein auf den Arm. "Erzähl mal, wie war denn der Schulausflug“, forderte Vati mich auf. Heute ging es ihm scheinbar sehr gut, stellte ich fest.

Wir brachten die Hühner in den Stall und gingen in die Küche. Dort begann ich ihm alles genau zu erzählen, und er hörte mir zu. Ich holte die Ansichtskarte aus der Tasche und legte die restlichen fünfundsechzig Pfennig auf den Tisch. "Hast du sonst nichts mitgebracht?" Vati schaute mich erwartungsvoll an. "Nein, „ sagte ich, "ich soll doch immer sparsam sein, möchte Mutti." Da ich jetzt nicht unbedingt lügen wollte, sagte ich: "Ein Eis hat zwanzig Pfennig gekostet und dreißig Pfennig hat es gekostet auf das Hermanns-Denkmal zu steigen. Ja und da habe ich dann noch die Ansichtskarte gekauft, die hat fünfundzwanzig Pfennig gekostet." Vati erzählte, dass Mutti noch beim Einkaufen sei. Sie wollte den Samen kaufen für den Gemüsegarten.

Ich war richtig froh, dass es ihm heute so gut ging. Mutti hatte einen Plan gemacht, wo wir das Gemüse säen oder Pflanzen mussten, und wohin die Kartoffeln in diesem Jahr sollten. Vati und ich schauten uns den Plan an, und stellten fest, dass wir mit den Kartoffeln in den Osterferien anfangen müssten. Jetzt würde ich bis zu den Sommerferien keine Langeweile mehr bekommen. Als Mutti dann endlich kam, musste ich ihr noch vom Ausflug berichten. Wir aßen zu Abend, Mutti steckte mein restliches Geld wieder ein, und ich war froh, als ich endlich im Bett war.

Des Morgens konnte ich meine Finger kaum bewegen, aus lauter Angst vor der Klassenarbeit. Mutti sah, dass ich an den Fingern rieb, und machte mir freiwillig meine Haare. "Schreibt ihr heute eine Klassenarbeit?" fragte sie interessiert. "Wenn es die Bockmann gestern ernst gemeint hat“, antwortete ich etwas zögerlich, "dann schreiben wir einen Aufsatz vom Ausflug." Ich ging schlecht gelaunt in die Schule. Unterwegs tröstete ich mich damit, dass es schließlich kein Diktat ist, bei dem ich mithalten musste. Bei einem Aufsatz konnte ich mich immer zuerst in Ruhe einschreiben.

In der Klasse ging es unruhig zu. Alle wollten von Lore, dass sie mit der Lehrerin verhandeln sollte, die Klassenarbeit zu verschieben. Vor Ostern wollte niemand mehr eine Arbeit schreiben. Lore wollte Fräulein Bockmann aber keine Vorschriften machen. Einige Mädchen waren daraufhin ziemlich böse, und wollten jemand anderes als Klassensprecherin im nächsten Schuljahr wählen. Lore drehte sich um und flüsterte mir zu: "Blöde Zicken, ich bin nicht scharf darauf." Die Lehrerin kam herein, und Ute sollte die Hefte verteilen. Sie warf die Hefte wieder auf das Pult und sagte: "Wir wollen heute keine Arbeit schreiben." Fräulein Bockmann verteilte die Hefte selber und wies darauf hin, dass niemand die Arbeit schreiben musste. "Wer nicht schreibt, bekommt einfach eine sechs." Wir sollten uns entscheiden. Drei "Großschnauzen" machten ihr Heft zu und wurden vor die Tür geschickt, darunter auch Ute. Alle anderen fingen an zu schreiben. Fräulein Bockmann gab uns Zeit, wir konnten zwei Stunden ausnutzen.

Durch das Gezicke der drei Mädchen, hatte sich meine Angst schon gelegt. Meine Finger taten kaum noch weh, und ich schrieb gleich drauflos. Als ich mit meinem Aufsatz fertig war, hatte ich noch Zeit das ganze durchzulesen. Bei der Gelegenheit verbesserte ich noch ein paar Flüchtigkeits-Fehler. Die Lehrerin sammelte die Hefte ein und dann ging es in die Pause. Wir hatten noch eine Stunde bei Fräulein Bockmann, dann gingen wir in die Turnhalle.

Wie üblich waren Stiene und ich die letzten, die in die Turnhalle kamen. Von weitem sahen wir dass Lore mit den drei Arbeits-Verweigerern stritt. Wir wussten nicht um was es ging. Lore weinte und wollte mit niemanden mehr sprechen. Sie saß auch beim Turnen die ganze Zeit auf der Bank und schluchzte unaufhörlich. In der letzten Stunde hatten wir dann noch Religion bei Herrn von Bock.

Wir kamen wieder in die Klasse zurück und weil Lore immer noch weinte, legte ich meinen Arm um sie. Voller Anteilnahme fragte ich, was man ihr denn angetan hätte. "Ute hat gesagt, dass meine Eltern nicht meine Eltern sind, ich sei angenommen,“ schluchzte sie. “Ja, das stimmt", flüsterte ich, "ich weiß das schon lange, aber ich hätte es dir nie gesagt. Du warst ja noch ganz klein, und deine Eltern sind doch richtig lieb zu dir." Herr von Bock ließ die Tür ins Schloss fallen und Lore beruhigte sich. Ich flüsterte noch: "Irgendwann hätten sie es dir bestimmt gesagt."

Die Stunde ging vorbei, und bevor wir nach Hause gingen, wollte sie noch etwas wissen. "Darf ich dich noch was fragen?" begann sie. "Natürlich, „ munterte ich sie auf, "aber mach schnell, ich muss pünktlich nach Hause." "ja ich weiß“, mit diesen Worten hakte sie sich bei mir ein und begleitete mich ein Stück Richtung Eckstraße. "Was ich zu gern wissen möchte ist, warum weißt du, dass du angenommen bist, und ich nicht."

"Ich war fast vier Jahre alt“, begann ich ihr zu erzählen, "Es war ein paar Tage vor meinem Geburtstag da wurden wir von zu Hause abgeholt. Mein Bruder war älter als ich, und meine Schwester war kleiner. Meine Schwester hat bestimmt auch keine Ahnung, in dem Alter vergisst man schnell. Sie konnte auch noch keine richtigen Sätze sprechen. Ich konnte aber Mama und Papa und meine Geschwister nicht vergessen. Also weiß ich noch genau wie ich hier angekommen bin."

"Erzähl weiter," bettelte Lore. "Nein, die Geschichte ist zu lang, vielleicht erzähl ich es dir im „Landschulheim“, machte ich ihr Hoffnung. Lore drehte um, sie wollte jetzt heim gehen. Ich lief ihr noch nach, und sagte schnell: "Deine Eltern sind doch die besten Eltern auf der Welt, wärst du lieber im Kinderheim gewesen?" Sie winkte und bog um die Ecke, morgen wird sie den Schreck verkraftet haben.

Es dauerte zwei Tage bis wir unsere Aufsätze zurück bekamen. Meine Arbeit war gut ausgefallen, bei Aufsätzen hatte ich immer gute Noten. Lore hatte sich wieder beruhigt, ich glaube, sie war froh, dass sie von ihren Eltern adoptiert war. Wir hatten fast die gleichen Strickröcke an.

Lore ihr Rock war so gearbeitet, dass die Falten den Rock nicht zusammenzogen er war also mehr glockig. Bei meinem Rock jedoch zogen sich die Falten zusammen. Lore schaute auf meinen Rock und sagte: "Du hast ja einen Plissee-Rock." Ja dachte ich, Lore kennt sich jetzt schon sehr gut aus, was Textilien betraf, sie wird einmal das Geschäft ihrer Eltern weiterführen.

Als diese aufregende Woche zu Ende ging, bekamen wir unsere Zeugnisse. In einigen Nebenfächern hatte ich „gut“. Bei allem was wichtig war, hatte ich befriedigend. Ich war froh, dass dieses Mal kein ausreichend dabei war. Mutti hatte genug zu meckern an meinem Zeugnis, aber es gefiel mir auch nicht. Da ich aber nun Ferien hatte, konnte ich ja täglich im Garten arbeiten, und für Gartenarbeiten war mein Zeugnis gut genug.

Ich zog ins Dienstmädchen-Zimmer

 

Vati und ich machten uns an die Arbeit. Im Garten legten wir die Beete an und fingen an zu säen. Wir pflanzten wie jedes Jahr drei Sorten Kartoffeln, wobei wir mit den Frühkartoffeln anfingen. 

Als Mutti wie immer Ostern zu Tante Martha und Onkel Rudolf wollte, blieb ich daheim. Ich musste ja in die Kirche und nachmittags wollte ich lieber zum Freundeskreis.

Da ich sehr gut allein zurecht kam, war es meinen Eltern gerade recht. Mir fehlte ja sowieso etwas schönes zum Anziehen. Ich hatte keine Jacke und keinen leichten Mantel und für eine Strickweste war das Wetter zu ungewiss. Mutti hatte am Samstag Butterkuchen gebacken, und ich konnte so viel davon essen wir ich wollte.

Da es am Ostermorgen regnete, zog ich meinen einzigen Mantel an. Der war sowieso eine Fehlkonstruktion. Er war viel zu schmal geschnitten und die Ärmel waren viel zu eng. Lore hatte schon wieder einen neuen Mantel, neidisch bewunderte ich ihn. "Den soll ich aber nächstes Jahr noch zur Konfirmation anziehen“, verriet sie mir. Der Mantel war weit geschnitten und hatte auch noch einen Saum.

Lore war wieder richtig gut gelaunt, sie hatte die Aufregungen schon verdaut. Nach der Kirche fragte Lore mich, ob ich überhaupt mit dürfte, ins Landschulheim. Ich lachte: "Natürlich darf ich, für mich kostet das ja nichts, und wenn’s nichts kostet, darf ich immer." "Das wollte ich nur wissen“, erklärte sie mir, "weil ich dann meinen alten Badeanzug aufhebe für dich." "Danke“, freute ich mich, "Ich habe schon gedacht ich könnte nicht zum Schwimmen." Da wir im Juni auch noch Schwimm-Wettbewerbe haben würde, versprach sie, mir den Badeanzug dann auch mit zubringen. "Wir brauchen dich da bei der Staffel ganz dringend“, fügte sie noch hinzu.

Das war für mich eine viel größere Freude als ungekochte Ostereier, auf die Mutti in diesem Jahr verzichtet hatte. Mutti hatte für das Essen heute nichts vorbereitet. Sie wusste ja nicht, dass ich nicht mit zu Tante Martha wollte. In der Speisekammer fand ich außer einem Stück Speck und ein paar Eiern nichts, was ich hätte schnell machen können, so machte ich Spiegeleier mit Speck. Morgen würde ich mir mehr Zeit nehmen, dann wollte ich Sauerkraut-Salat und Bratkartoffeln essen.

Natürlich konnte ich mir auch ein Glas mit Hühnersuppe aus dem Keller holen, aber in Gedanken hörte ich Margot sagen. "Wo ich mich vorher mit unterhalten habe, das kann ich nachher nicht essen." Sie hatte recht, das wollte ich jetzt auf keinem Fall.

Nachmittags ging ich in den Freundeskreis, der Nachmittag war schön und ging schnell vorbei. Dort hatte ich ein Mädchen kennengelernt, die hatte wunderschöne Augen. Sie war ein Jahr jünger als ich, und ihre Eltern waren beide blind. Sie musste auch immer viel arbeiten zu Hause. Elfi wollte auch am zweiten Ostertag wieder für uns da sein. Wir könnten kommen wenn wir Lust hätten, sagte sie, als wir gingen. Ich würde ganz sicher wieder ins Gemeindehaus gehen.

Daheim hatte ich immer Milch statt Kaffee getrunken, damit Mutti nicht gleich wieder Milchsuppe machen konnte. Aber die Rechnung ging nicht auf. Sie zauberte, als sie in die Küche kam, eine Flasche Milch aus ihrer Tasche. Dann überraschte sie uns mit Milchsuppe aus richtig guter Vollmilch von Tante Martha.

Wir konnten schon seit längerer Zeit wieder Vollmilch beim Milchmann holen. Aber die Milch direkt von den Kühen war schon besser. Sie stand am Herd und kochte die Suppe, da fasste ich mir ein Herz und fragte: "Kann man den Zucker nicht in den Teller tun? Ich würde die Suppe so gerne ohne Zucker essen." Sie war scheinbar gut gelaunt und wollte das ausprobieren. Sie tat zuerst in die Teller einen Löffel Zucker und die Suppe obendrauf. Dann rührte sie einmal um und stellte fest dass es genauso gut war.

Erfreut meinte sie nachher: "Jetzt habe ich nur halb so viel Zucker gebraucht wie sonst." Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, dass die Milchsuppe ohne Zucker gut war. Die Ferien gingen zu Ende, und mein Zeugnis war noch nicht unterschrieben. So nahm ich wieder mal allen Mut zusammen und bat Mutti, mein Zeugnis doch bitte zu unterschreiben. "So ein schlechtes Zeugnis, das kann ich nicht unterschreiben." sagte sie mit gespielter Freundlichkeit.

Genau so freundlich erwiderte ich: "Na gut, dann nehme ich es so mit, und gebe es gleich beim Rektor ab. Dann bitte ich ihn, mich wieder auf die Volksschule zu lassen, und du kannst jeden Monat fünf Mark sparen." Ihr Gesicht verfärbte sich, dann verlangte sie meinen Füller und unterschrieb.

In meinem Bauch zog sich alles zusammen, danach hatte ich einen seltsamen Druck in der Magengegend. Als ich zur Tür hinaus war, holte ich tief Luft. Da ich am nächsten Tag wieder in die Schule musste, ging ich in den Hühnerstall, um den sauber zu machen. Vati hatte gemeint, dass wir den Mist noch untergraben könnten. Freilich hätte Vati den Stall auch ausgemistet, aber ich hatte Angst, dass er mein Versteck fand.

Mit einer Spachtel kratzte ich die Stange, die Leiter und das Holzgestell mit den Nestern ab. Danach pinselte ich alles mit einer desinfizierenden Flüssigkeit ein, damit die Hühner nicht krank wurden. Mit dem Schubkarren brachte ich den Dreck in den Garten. Dann holte ich das Geld aus dem Versteck und spritzte den Stall mit dem Schlauch sauber aus. Da die Hühner wieder im Gehege waren, konnte ich alle Türen aufmachen. Nach dem Mittagessen würde ich dann Stroh in dem Stall verteilen, und die Nester frisch machen.

Mein Geldpäckchen versteckte ich schnell in der Werkzeugtasche von meinem Fahrrad. Dann ging ich schnell noch einmal in den blitzsauberen Stall, um die Steine wegzunehmen, damit die Abflussrinne richtig trocken wurde. Ich dachte, nicht das mein Geld am Ende noch rostig wird, und ich es nachher wegwerfen muss.

Nach dem Mittagessen war der Stall trocken und ich streute zuerst einen Eimer Sand auf den Boden und danach kam noch Stroh in den Stall. Jetzt war der Stall wieder für die nächsten sechs Monate fertig. Mein Geld war auch wieder in der Abflussrinne. Mutti kam aus der Küche und bestaunte den sauberen Stall. "Ausmisten kannst du ja gut, wenigstens kannst du mal zum Bauern als Magd gehen, wenn deine Zeugnisse nicht besser werden." Sie wollte jetzt in die Stadt gehen, für mich würde sie Wolle mitbringen, damit ich mir einen Sommerpullover stricken könnte. Dann hätte ich eine sinnvolle Beschäftigung für meine Freizeit. Am späten Nachmittag kam sie zurück, mit mehreren Knäueln himmelblauer Wolle.

Ich sollte einen Pulli mit Lochmuster stricken, dafür hatte sie einen Prospekt mit verschieden Mustervorschlägen mitgebracht. Als besondere Überraschung versprach sie mir, für jedes verstrickte Knäuel ein Taschengeld von fünfzig Pfennig zu bezahlen. Das traf mich ganz unerwartet, sie hatte gar keine Ahnung, wie schnell ich stricken konnte, wenn ich wollte. Voller Vorfreude ging ich nach meiner Arbeit, ins Haus, um einen Musterlappen zu stricken. Sie half mir bei der Auswahl des Lochmusters, nebenbei knüpfte sie Bedingungen an ihr Versprechen. "Ich möchte dass du dich im Stenographen-Verein anmeldest und die Unkosten dafür selber trägst. Ein Schreibmaschinen-Kurs wäre auch nicht schlecht." "Ja," sagte ich ironisch, "und vielleicht noch einen Tanzkurs und ein Kleid für den Abschlussball."

Sie merkte nicht, dass ich sie veräppeln wollte und ging darauf ein: "Egal, was du alles damit machst, ich will nur wissen für was du es ausgibst." Na jetzt war meine Freude doch sehr gedämpft. Als erstes richtete ich meine Schultasche. An dem Schulranzen hatte sie die Schulterriemen abmachen lassen, und der Schuster hatte auch gleich einen Griff angebracht. Ich hatte mir eine Aktentasche gewünscht, wie es die anderen Mädchen in meiner Klasse auch hatten. Jetzt hatte ich ja eine. Warum ich immer so doofe Sachen haben musste, wollte mir nicht in den Kopf.

Am nächsten Morgen, musste ich wieder in die Schule. Stiene wartete schon beim Feldweg auf mich und redete ohne Pause. Bei ihr waren wieder alle Geschwister zu Ostern zu Besuch. Ihre älteste Schwester hatte einen Sohn, der älter war als Stiene. Ihre Geschichten interessierten mich nicht so sehr. Trotzdem tat ich, als ob ich ihr zuhörte. Als sie eines Tage hörte, dass ich adoptiert war, wollte sie alles gerne wissen. Ich log sie an, dass sich die Balken bogen und sie glaubte alles. So log ich beispielsweise, dass ich aus einem adeligen Hause stammte und wir aus Schweden gekommen wären. Sie meinte, dass könnte man auch an meinen guten Manieren sehen. Da ja niemand in der Klasse mit ihr sprach, brauchte ich keine Angst zu haben, dass sie es weiter erzählte.

Sonst lief alles wie gewohnt, morgens Schule, nach dem Mittagessen Hausaufgaben und danach Gartenarbeit. Wobei die Arbeit im Garten sich noch in Grenzen hielt, da den Blumengarten Mutti selbst machte. Da wurde sie ja auch von den vorbeigehenden Leuten gesehen. Die sagten dann immer: "Na, Frau Teichmann schon wieder fleißig?" Daraufhin war ihr Spruch: "Och ja, einer muss die Arbeit ja machen." Wenn mir dann abends noch Zeit blieb, strickte ich an meinem Pullover.

Wenn ich dann einen Garnknäuel aufgestrickt hatte, bekam ich tatsächlich fünfzig Pfennig. Die musste ich in meine Spardose werfen, die man nicht abschließen konnte. So hatte sie die Möglichkeit das Geld täglich zu kontrollieren. Sie fragte ob ich mich bei dem Steno- Verein schon angemeldet hätte. "Nein, noch nicht, erst wenn die Konfirmation war, mir wird das sonst zu viel“, antwortete ich ihr.

Sie schien enttäuscht und meinte, dass ich immer noch genügend freie Zeit hätte. Am liebsten hätte ich zu ihr gesagt, dass eine Magd kein Steno können musste, aber ich wollte sie nicht reizen.

In der Schule hatten wir wieder ein neues Klassenzimmer bekommen. Die Tische schienen aus der Zeit zu stammen, als Vati noch in die Schule ging. Der Klassenraum war im Dachgeschoss. Andauernd musste ich den Platz wechseln, am liebsten hätte mich Fräulein Bockmann direkt vor ihrem Pult gehabt, aber da war Lore schon mit ihrer Clique. Herr von Bock war in den Ruhestand gegangen und Musik hatten wir jetzt bei Herrn Kunze, der mich gut leiden konnte. Aber das nutzte mir nichts, in Musik war ich schon immer gut.

Nun sollte in der Stadthalle die neunte Sinfonie gespielt werden. Dazu brauchte das Orchester noch einen großen Chor, für das Lied an die Freude. Wir übten für diesen Tag und Herr Kunze sortierte die guten Sänger aus, die dann mehrmals zur Probe kommen mussten. Da war ich auch dabei. Als dann unser großer Auftritt kam, hatte ich kein Festkleid. Ich dachte schon nicht mitgehen zu können. Da kam Mutti mit dem Seidenkleid, das sie sich hatte nähen lassen. Weil ihr das Muster nicht gefiel, und sie auch nicht kleidete, hatte sie es schwarz färben lassen. Nach dem Färben sah man das Blumenmuster immer noch durchscheinen, es war zwar jetzt nicht mehr bunt, aber man sah das große Muster noch. Ich probierte das Kleid an, es passte und kleidete mich.

 Ich ließ mir nicht merken, wie sehr mir das Kleid gefiel, sondern sagte nur: "Ja das geht, das kann ich anziehen." Als ich mit dem Kleid in die Stadthalle kam zur letzten Probe kurz vor dem Konzert, staunte Lore und bemerkte: "Das ist aber ein schönes Kleid, das ist ja aus reiner Seide." "Ich weiß, „ sagte ich zu ihr, "aber das gehört meiner Mutter."

Wir mussten stundenlang warten, bis wir endlich zu unserem Auftritt kamen. Hoffentlich mussten wir das jetzt nicht öfters machen, dachte ich.

Am ersten Mai, wollte Vati unbedingt zum Maifest. Ich hatte in Wirklichkeit keine Lust aber er meinte es sei sehr dringend, er würde eine Auszeichnung bekommen, für 50 Jahre Mitglied in der Gewerkschaft und 50 Jahre Mitglied in der SPD.

Ich ging also mit ihm zum Kinderfest. Wir mussten pünktlich um drei Uhr dort sein, denn es wollte jemand eine Rede halten. Ich langweilte mich während der endlosen Rede. Dann wurde Vati mit zwei goldenen Nadeln ausgezeichnet, und er war richtig stolz. Nun war ich froh, dass ich ihn begleitet hatte. Wir aßen noch eine Bratwurst, dann gingen wir, nach einem kurzen Abstecher auf den Friedhof wieder heim. In den Pfingstferien arbeitete ich den ganzen Tag im Garten. Ich wollte alles in die Erde bringen was noch in Tüten oder im Frühbeet war. Als ich die Erbsen gesät hatte, half Mutti mir alte Vorhänge auf die Beete zu legen, weil bei uns wimmelte es von Elstern.

Dann war ich vorerst fertig mit dem Garten, ich musste jetzt nur noch aufs Unkraut warten. Wir hatten wieder Spargelzeit und eine gute Spargelernte. So kam es, dass Mutti für einen Augenblick ihren Geiz vergaß, und mich mit Spargel zu Frau Bollmann schickte.

Frau Bollmann war dabei Kisten zu packen und ich fragte: "Wollen sie ausziehen?" "Ja, weißt du das denn noch nicht, fragte sie erstaunt, "wir können wieder in unser Haus zurück, Die Handwerker sind schon im Haus zum Renovieren." Nein, ich hatte keine Ahnung, aber ich dachte bei mir, vielleicht kommt ja jetzt ein Mieter mit einem Mädchen in meinem Alter.

So kam zwei Tage vor Pfingsten der Umzugswagen und holte die Kisten und Möbeln ab. Während die Möbel aus dem Haus gebracht wurden, saß ich noch einmal mit Kurt im Garten auf der Bank. Er ging inzwischen aufs Gymnasium und gab gehörig an, mit seinen Latein-Kenntnissen. Nun hatte ich aber im Konfirmanden-Unterricht gerade die Namen der Sonntage auf lateinisch gelernt, mit samt den deutschen Übersetzungen. Also nannte ich ihm einen Namen nach dem anderen, und er konnte tatsächlich alles übersetzen. Da er noch keinen Konfirmanden Unterricht hatte, wusste er auch nicht woher ich mein Wissen hatte. Er staunte nur und meinte ich sei ein Sprachen-Genie. Im nächsten Jahr würde er den Schwindel schon merken, wenn er in den Konfirmanden-Unterricht kam.

Der Abschied fiel mir nicht schwer, mit Bollmanns hatte ich nie große Freundschaft. Herr Bollmann bekam eine Anstellung an einem Gymnasium in einem anderen Ort. Die beiden Mädchen hatten gute Arbeitsstellen. Otto wollte eines Tages nicht mehr leben und hängte sich auf. Kurt wurde Pastor, und Frau Bollmann lebte ihre letzten Jahre in einem Altersheim, was in der damaligen Zeit nicht gerade üblich war.

Über die Pfingsttage fuhren meine Eltern wieder zu Tante Martha. Mutti fragte mich früh genug, ob ich zu Hause bleiben möchte. Weil ich nicht mit fahren wollte, machte sie mir einen Topf voll Schnippelbohnen damit ich mir wegen dem Essen keine Gedanken machen musste. Sie fuhren am Samstagnachmittag, und Vati fragte mich, ob ich denn keine Angst hätte, so allein im großen Haus. "Nein habe ich nicht“, beruhigte ich ihn, "ich werde alles gut abschließen." Einen Kuchen hatte Mutti auch gebacken.

Also brauchte niemand Angst zu haben, dass ich verhungerte. Als ich dann Samstag nachmittags endlich allein war, setzte ich mich im Vorgarten auf die Bank. Da dachte ich an die schönen Stunden, die ich mit Vati hier geklönt hatte. Bevor ich ins Haus ging, spielte ich eine Weile mit Ilsabein und Paula im Sand. Dann brachte ich die Hühner in den Stall, schloss die Türen und brachte den Milchtopf vor die Tür.

Morgen früh wollte ich so lange schlafen wie ich Lust hatte. Wegen der Milchfrau, wollte ich nicht extra früh aufstehen. Ich sollte zwar morgens früh den Spargel stechen, aber ich hoffte dass die nicht gleich blau wurden. Spargel kann nämlich keine Sonne vertragen. Nach dem Essen strickte ich noch ein wenig, und hörte leise Radio. Das Rückenteil hatte ich fertig, und ich war dabei das Vorderteil zu stricken.

Am Sonntag ging ich in die Kirche und nachmittags zum Freundeskreis. Am Montag verzichtete ich darauf in Gemeindehaus zu gehen, weil ich nicht wusste wann meine Eltern nach Hause kommen wollten. Sie hatten keinen Schlüssel mitgenommen. Also blieb ich im Hof und strickte. Schade dass Frau Lindemann verreist war. Mit ihr zusammen hätte ich auch gern den Nachmittag verbracht.

Gegen Abend wurde es kühl im Hof, und ich versorgte meine Hühner, nahm die Eier aus den Nestern und ging in die Küche um den Tisch fürs Abendessen zu richten. Es dauerte nicht lange da kamen sie vom Bahnhof. Vati schien es wieder nicht besonders gut zu gehen, kein Wunder, es wird sich wieder niemand mit ihm unterhalten haben.

Ich erzählte Vati wie ich die Tage verbracht hatte, und fragte ihn, wer denn wohl jetzt da oben einzieht. Er meinte, dass er erst die Wohnung renovieren lassen musste. Mutti räumte ein: "Die Mieter werden immer noch vom Wohnungsamt geschickt, man kann sich die Mieter immer noch nicht aussuchen."

Morgen wollte Vati zu einem seiner Vetter fahren, der hatte einen Sohn, der Maler war. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Vati noch mehr Verwandte hatte. Mutti wollte, dass ich Vati begleiten sollte. Zwar hatte ich morgen noch einen Tag Ferien, und ganz nebenher Geburtstag, aber das war ja schon lange nicht mehr wichtig. Mein letzter Ferientag ging zu Ende. Beim Mittagessen gratulierte Vati mir zum Geburtstag und Mutti tat, als ob sie es vergessen hätte. "Entschuldige," sagte sie das habe ich ganz vergessen, heute ist ja auch der Todestag von Heidrun.

Daran hatte ich auch gar nicht gedacht. Als Vati und ich abends zu seinem Vetter fuhren, war er sehr gesprächig. Helmut, der Maler versprach gleich am nächsten Tag vorbei zu schauen. Auf dem Rückweg wollte er bei der Mühle vorbei und einen Aal holen. Ich hatte keine Lust und versprach Stiene zu bitten einen Aal zu bringen, die sei ja in meiner Klasse.

Am Feldweg stieg er plötzlich ab und holte aus seinem Geldbeutel eine Mark. "Die kriegst du von mir zum Geburtstag, stecke sie weg, sonst kommt sie zu Hause in die Spardose."

Am nächsten Tag ging ich wieder in die Schule, und die Lehrerin gab uns einen Aufsatz auf. Da sie annahm, dass alle Familien am Himmelfahrts-Tag einen Ausflug gemacht hatten, sollten wir darüber schreiben. Die Überschrift mussten wir selbst auswählen. Am nächsten Tag mussten dann ein paar Mädchen ihre Aufsätze vorlesen. Fräulein Bockmann nahm Stiene ran. Sie belustigte schon mit der Überschrift die ganze Klasse. Die lautete: "Meine Himmelfahrt zur Mergelkuhle."

Um fünf Uhr, nach Feierabend kam Helmut der "Pinselmatador", so nannte ihn Vati. Es machte mir Spaß ihm beim Tapezieren zur Hand zu gehen. Als die Wohnung fertig war, musste er noch das Zimmer streichen, in dem Otto gewohnt hatte. Das war Muttis Dienstmädchen-Zimmer. Helmut hatte zwei Wochen Arbeit bis er alles fertig hatte.

Der Flur, das Treppenhaus, alles war wieder wunderschön. Die neuen Mieter waren auch schon gekommen um die Wohnung anzusehen. Vier Personen: Eine Frau mit ihrer Mutter und einem geistig behinderten Sohn, sowie ihr geschiedener Mann. Der suchte aber selbst eine Wohnung mit Büro, denn der war Steuerberater. Der Mann würde also bald wieder ausziehen. Mutti passten die neuen Mieter gar nicht, aber sie konnte nichts machen. Es waren zu viele Flüchtlinge da, die in Behelfsheimen wohnten.

Als Helmut mit seinen Arbeiten fertig war, wollte Mutti, dass er noch einmal vorbei käme, wenn er Feierabend hatte. Mutti fing morgens an meine Kleider und Wäsche in den großen Wäschekorb zu packen. Als ich mittags nach Hause kam, hatte sie das Bett auseinander gebaut und war dabei den Schrank zu demontieren. Ich wunderte mich sehr, was hatte sie jetzt vor. Ich rechnete damit, dass sie mich in ein Heim bringen wollte.

Beim Mittagessen wartete ich gespannt, was sie berichten würde. Schließlich sagte sie: "Das Herrenzimmer und das Wohnzimmer soll Helmut auch frisch tapezieren und streichen. Wir haben doch im August Silberhochzeit. Im nächsten Jahr hast du Konfirmation, da brauchen wir auch beide Zimmer für die Feier. Deshalb ziehst du in mein Dienstmädchen-Zimmer." "Ja gut," meinte ich, "aber wer weckt mich, wenn ich verschlafe? Ich habe doch keine Uhr und keinen Wecker."

Mutti zeigte mir eine Klingel, die im Korridor war, da würde sie morgens läuten. Ja sie hatte an alles gedacht. Um fünf kam Helmut, und ich musste mit ihm das Bett und den Schrank hinauf tragen. Helmut baute den Schrank wieder zusammen und Mutti und ich brachten die Kleidung hinauf. Zum Schluss durfte ich noch einen kleinen runden Tisch mitnehmen und zwei Stühle, die ihr schon lange im Weg herum gingen. Vors Bett bekam ich noch einen Läufer und ich fand, dass mein Zimmer schön war.

Ganz zum Schluss testeten wir die Glocke die war so laut, dass ich mir die Ohren zu halten musste. Helmut stieg auf die Leiter und verbog den Klöppel in der Glocke und es war schon viel besser. Vati wollte Helmut bezahlen, aber er wollte nur das Geld für das Material, für die Arbeit wollte er nichts. Er war ja schließlich Vatis Großneffe. Das gefiel Mutti, und sie fragte gleich, ob sie ihn denn mal wieder holen dürfte. Helmut lachte "Ja gern, jederzeit." Mir ging durch den Kopf: Einen billigeren Tagelöhner findet sie nie wieder, den wird sie sich warm halten.

Helmut verabschiedete sich und hob den Finger und tat ganz wichtig: "Merk dir was du heute Nacht träumst, es wird in Erfüllung gehen." In der Nacht schlief ich gut, ob ich geträumt habe oder nicht, weiß ich nicht mehr. Ich war schon wach und gerade dabei mich anzuziehen, da klingelte die Dienstmädchen- Glocke. Das Zimmer selbst war nicht besonders groß, aber es war mit einem Holzfußboden und von allen Seiten mit doppelten Wänden. Da zwischen war eine Isolierung aus Glaswolle. Im Sommer war es schön kühl und im Winter war es nicht richtig kalt. Mutti verlangte, dass ich es immer ordentlich und sauber halten sollte, hin und wieder würde sie es kontrollieren. Da hatte ich keine Angst, denn ich hatte schon als kleines Kind die Angewohnheit immer alles sofort dahin zu legen, von wo ich es vorher genommen hatte.

Ich ging wieder in die Schule und den Konfirmanden-Unterricht. Meine Hausaufgaben machte ich sofort nach dem Essen ,und dann ging ich in den Garten. Meine Beete waren alle bestens in Ordnung, und ich war stolz darauf. Im Juni hatten wir unsere Schwimm-Wettbewerbe. Mit Lores Badeanzug sah ich gut aus, es war ein ganz besonders schönes Stück, in kräftigem Blau. Vom Turm springen wollte ich nicht, da hatte ich Angst. Ich schwamm nur beim 100 m Brustschwimmen und bei der Staffel. Rückenschwimmen und Kraulen konnte ich auch nicht. Bei den 100 m war ich durchschnittlich, bei der Staffel gewannen wir. Plötzlich waren die anderen drei stolz auf mich. Wir schauten dann noch den Turmspringern zu, und als ich vor Hunger, fast nicht mehr stehen konnte, musste ich heim, denn ich hatte nichts zum Essen mitgenommen.

Vati erinnerte mich an den Aal, den ich ihm versprochen hatte. Er gab mir drei Mark und ich sollte zu Stiene fahren, um von dem alten Müller einen Aal zu kaufen. Seit Jahr und Tag würde der Aal drei Mark kosten. Stiene hatte ich schon in der Schule Bescheid gesagt, dass ich nachmittags käme. Also fuhr ich los mit einer Tasche und den drei Mark. Als ich bei der Else-Mühle ankam, wartete Stiene schon auf mich. Sie hatte wieder eine Tracht Prügel bekommen, weil ihr Bruder behauptet hatte, Stiene hätte mir verraten, dass sie einen Aalfang hatten. Ich versuchte die Sache aufzuklären, aber der Bruder war ein komischer Kauz. Da fragte ich wo denn der Müller sei. Aber da erfuhr ich, dass der Müller an seinen Sohn übergeben hatte. Der Müller hatte die gleiche Krankheit wie Vati und er war auch verkalkt. Nur ging es dem Müller viel schlechter. Ich sagte, dass mein Vater und der alte Müller Freunde waren. Schließlich bekam ich was ich wollte, aber das Geld nahm er nicht an, er misstraute mir. Er meinte wenn er mir den Fisch schenkt, dann könnte ich ihn nicht anzeigen wegen dem Aalfang. Das hätte ich ja gar nicht vor, aber so hatte ich jedenfalls drei Mark verdient.

Das Geld ließ ich schnell verschwinden. Ich erinnerte Mutti daran, dass mein Mantel nicht mehr passt und wenn ihre Silberhochzeit vorbei sei, dann würde ich ihn auch bald wieder brauchen. Sie nahm sich den Mantel genau unter die Lupe, wo da vielleicht noch etwas zum raus lassen wäre. Dann fand sie heraus, dass in den Nähten noch überall ein Zentimeter Stoff war. Sie würde die Nähte und Knöpfe versetzten, und dann müsse es im nächsten Winter noch einmal gehen. "Ja aber der ist doch auch viel zu kurz“, jammerte ich. "Da setzte ich unten was an, ich werde es in den nächsten Tagen kaufen“, bestimmte sie energisch.

Wenn sie anfing an den Sachen zu ändern war das Ergebnis immer grausam. So rückten die Sommerferien immer näher und unsere Lehrerin fuhr mit uns nach Nettelstett zur Freilichtbühne. Dort wurde die "Jungfrau von Orleans" aufgeführt. Vorher hatten wir das Thema im Unterricht durchgenommen. Wir mussten ganze Passagen auswendig lernen. Die Bühne war im Gebirge und sagenhaft, dazu eine richtig gute Aufführung. Ich war ganz beeindruckt.

Den Garten hatte ich bestens im Schuss, das war auch ganz wichtig. Als die Sommerferien anfingen, hatte ich genau noch eine Woche Zeit. Die Hühner durften wieder in den Garten. Weil Mutti für den Garten gar keine Lust mehr hatte, konnte ich ruhig einmal ausgiebig mit den Hühnern spielen.

Also ging ich in den Keller um Maiskörner zu holen. Ich buddelte Löcher, in die immer ein paar Körner hineinkamen. Die Hühner mussten richtig arbeiten damit sie an ihre Belohnung kamen. Na, dachte ich, die werden heute Nacht vor Müdigkeit von der Stange fallen. Am nächsten Tag packte Mutti meinen Koffer. Sie gab mir einen Zettel mit, auf den sie aufgelistet hatte, was ich alles aus meinem Zimmer bringen musste. Dann packte sie meinen Koffer, wie im vorigen Jahr sehr sorgfältig. Ich bekam eine Flasche Johannisbeer-Saft mit, fünf Briefmarken und wieder drei Mark Taschengeld. Dann hatte sie noch "Oh Wunder" eine Packung Kekse und eine Tafel Schokolade.

Eine Tafel Schokolade hatte ich noch von Frau Lindemann bekommen und fünf Mark, die ich sorgfältig versteckt hatte. Die musste ich morgen früh mit herunter bringen. Da ich jetzt schon zwölf Jahre alt war, meinte Mutti sie müsse mich mal kurz aufklären. So erfuhr ich dann, dass alle Mädchen ungefähr in meinem Alter die Periode bekämen, wenn man das nicht hätte, könnte man auch keine Kinder bekommen. Alles andere würde sie mir später einmal erzählen.

Dann brachte sie einen Leinengürtel mir einem Knopf zu verschließen daran waren noch zwei Halterungen mit Knöpfen. Sie zeigte mir wie man daran die selbst genähten Binden mit Knopflöchern anbrachte. Sie packte mir die Sachen auch in meinen Koffer und bemerkte, dass ich da wohl mit fertig würde. Im Lexikon schlug ich nach, was dort unter dem Wort Periode zu finden war. Dort wurde ich dann auf Menstruation verwiesen und erfuhr dann, was man darüber wissen musste. Für den Rest des Tages machte ich nichts mehr.

Mein Pullover war fertig, ich würde ihn morgen auf der Fahrt anziehen. Ich fand er war sehr hübsch, er hatte einen viereckigen Ausschnitt und kurze Puffärmel. Alles mit Lochmuster in Form von Rauten, und ich war richtig stolz darauf. Mein Geldpäckchen im Hühnerstall ließ ich in meinem Versteck. Den Hühnerstall hatte ich ja sauber gemacht, da war es sicher. Ich hatte sowieso nicht vor, viel Geld auszugeben. Denn in unserem Schullandheim gab es nur Ansichtskarten. Nicht einmal ein Eis konnte man da kaufen. Wahrscheinlich würde ich nicht einmal ins Dorf gehen, weil es mir zu weit war. Den ganzen Weg vom Dorf bis in Erholungsheim gab es keinen einzigen Baum. Der Weg lag in der prallen Sonne, ich würde es mir nicht antun.

Morgens stand ich recht früh auf, um nach dem Waschen mein Waschzeug in den Koffer zu packen. Ganz unten unter die Wäsche schob ich das Geld, das ich von Frau Lindemann bekommen hatte. Dann hatte ich Zeit, ganz gemütlich zu frühstücken. Mutti richtete mir die Wandertasche mit Broten und Äpfeln für unterwegs.

Vati wollte mich wieder zum Bahnhof bringen. Mutti wollte uns nicht begleiten. Sie sagte, dass sie kochen müsste. Sie kämmte mich noch und drückte mir noch den Milchtopf in die Hand. "Den kannst du noch mitnehmen, wenn du die Hühner in den Hof lässt," meinte sie. Sie stopfte noch das Regencape in meinen Koffer, und Vati nahm ihn und stellte ihn auf sein Fahrrad. Dann gingen wir los. Mutti winkte vor der Haustür, und ich dachte: warum hat sie ihren Milchtopf jetzt nicht selber mitgenommen?

Am Bahnhof war alles wieder in großer Abschieds-Stimmung. Die anderen Klassen waren jüngere Kinder. Wir waren dieses Mal "die Großen". Vati kramte in seinem Geldbeutel und gab mir noch etwas Kleingeld, und meinte: "Für unterwegs, wenn’s was zum Trinken gibt." Als die Lehrerin dann rief, dass wir einsteigen sollten, nahm ich Vati noch schnell in den Arm und gab ihm einen dicken Kuss. Er trug mir den Koffer in den Zug. Ein paar Schüler verstauten die Taschen und Koffer über den Bänken in den Netzen. Dann hatte ich Zeit Vati noch einmal zu winken, und der Zug fuhr ab.

Die Kinder waren wieder am heulen, mir war es nicht zum Heulen zumute. Ich hatte wieder einen Fensterplatz und wollte dieses Mal die Gegend ansehen. Das Mädchen die neben mir saß, fragte ob sie denn auch mal ans Fenster dürfte. Da ich aber inzwischen gelernt hatte, wie man egoistisch ist, sagte ich ganz frech: "Ich sitze auf der Hinfahrt am Fenster, und du kannst auf der Rückfahrt am Fenster sitzen." Sie fragte: "Die ganze Rückfahrt?" "Ja, sicher“, gab ich ihr zur Antwort und dachte, das müsste ja ein großer Zufall sein, wenn sie bei fast zweihundert Kindern, wieder neben mir sitzen würde.

Die Bockmann kam durch den Waggon um uns zu ermahnen nicht so viel zu essen. "Warum", wollte die Kleine neben mir wissen. "Weil dir sonst auch schlecht wird, wenn die anderen seekrank werden“, Mehr wollte ich nicht sagen, weil die Lehrerin immer noch hinter uns stand.

Die Landschaft neben dem Zug wurde immer flacher und wir kamen langsam in die Nähe der Nordsee. In Carolinensiel gingen wir wieder aufs Schiff, und das brachte uns im üblichen Schaukelgang zur Insel.

Wir bezogen unseren Schlafsaal und Fräulein Bockmann bestand darauf, dass alle aus unserer Klasse in den Schlafsaal gingen, in dem sie Aufsicht hatte. Wir machten lange Gesichter. Ich glaubte besonders klug zu sein, wenn ich das Bett nahm, das gleich rechts von der Tür war. Wenn sie die Tür aufmachen würde, wäre mein Bett zur Hälfte von der Tür verdeckt. Mein Kopfkissen legte ich auf die Seite die in der Ecke stand.

Da das Bett gleich das erste war, wollte niemand in das untere Bett und es kamen wieder Koffer darein. Von meinem Bett aus, konnte ich den ganzen Schlafsaal überblicken. Wir hatten alle eine Taschenlampe dabei und die wurden gleich am ersten Abend getestet. Wir machten mit den Lichtkegeln lustige Figuren unter die Decke und hatten unseren Spaß.

Plötzlich ging die Tür auf, und die Bockmann sammelte alle Taschenlampen ein. Wir dachten, dass wir die sicher am nächsten Tag zurück bekämen und machten uns nichts daraus. Fräulein Bockmann hatte wieder ein Mädchen ausgesucht, die ihr täglich fegen und Staub wischen sollte. Die erzählte uns, dass die Taschenlampen angezündet auf ihrer Kommode lagen. Als die Lampen dann alle nicht mehr brannten, bekamen wir sie zurück. Jetzt hatten wir nicht einmal eine Lampe, wenn wir nachts mal aufs Klo mussten.

Wir stellten fest: Die Bockmann war die fieseste Lehrerin an unserer Schule. Lore wusste, dass ich mir, bei ihr nichts erlauben durfte, und machte mit den anderen Kindern aus sie auszulachen wenn wir zum Baden gingen. Frau Roth war mit der anderen Mädchenklasse da und hatte ihre kleine Tochter dabei. Sie war auch nicht besonders nett, aber besser als unsere Lehrerin. Mit den beiden Lehrern war auch nicht zu spaßen.

Niemand unternahm etwas mit uns, es war stinklangweilig. Wir bildeten Gruppen unter uns und unternahmen etwas auf eigene Faust. So bauten wir Burgen, lagen faul in den Dünen und badeten sooft wir durften. Ich war so stolz auf den tollen Badeanzug von Lore und hätte ihn am liebsten behalten. Das Essen war uns das Wichtigste.

Mir schmeckte es am besten, wenn es Fisch gab, und den gab es wieder reichlich. Ich kaufte drei Ansichtskarten und schickte sie an Elfi, Frau Lindemann und an Vati. Da bestellte ich dann Grüße an Mutti. In zwei Wochen, kurz bevor wir wieder heim mussten, wollte ich noch eine Karte an Mutti schreiben. Weil ich solange nicht schrieb, machte Vati sich Sorgen und er wollte, dass Mutti mir nach fahren sollte, um nach mir zu schauen. Aber das war ihr wohl zu teuer.

Sie schrieb mir ein paar Mal und fragte nach, ob es mir gut ginge, und warum ich mich nicht meldete. Ich hielt durch und schrieb erst in der letzten Woche. Da wusste ich auch schon wann wir mit dem Zug ankamen. Uns fielen täglich neue Spiele ein, und so war der Rest unserer Ferienzeit doch noch sehr schön.

Um den Strand und über die Dünen, die zu unserem Schulheim gehörten war ein niedriger Zaun, bis dahin durften wir gehen. Manchmal machten wir einen Abenteuer-Ausflug und stiegen über den Zaun. Das war natürlich ganz besonders spannend. Wir wurden erwischt, als wir zurück kamen.

Der Lehrer, der uns am Zaun in Empfang nahm, wollte uns für den Rest Hausarrest geben. Lore sagte: "Wir haben mit dem Ball gespielt und der ist über den Zaun. Wir haben ihn aber nicht finden können." Da hatten wir aber noch einmal Glück. In der letzten Woche, weckte mich Lore in aller Herrgotts-Frühe. "Komm, wir gehen an den Strand, du musst mir noch deine Geschichte erzählen."

Wie blieben in den Dünen damit wir die Glocke vom Speisesaal nicht verpassten und ich erzählte ihr von meiner Familie. Als ich von der Beerdigung von Lilibeth erzählen wollte, läutete die Glocke. Wir gingen in den Speisesaal und Lore meinte morgen früh würden wir wieder hinausgehen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht mit Lore allein zu sein, sie hatte zu viele Freundinnen. Bevor wir wieder nach Hause fuhren, hatte ich ihr alles erzählt.

Lore meinte, dass es viel besser wäre, wenn man sich nicht erinnern könnte. Ich stellte fest, dass ich auf meine Erinnerungen nicht verzichten möchte. Einen Tag vor unserem Abreisetermin, packten wir am Abend unsere Koffer. Ich schaute auf die Liste ob ich auch nichts vergessen hatte. Es war alles da, außer die Flasche, wir hatten natürlich wieder eine Flaschenpost auf die Reise geschickt. Den Badeanzug hatte ich zurück gegeben.

Morgens ging es los, nachdem wir jedes ein Päckchen mit Butterbroten bekommen hatten. Wir bekamen ein leichtes Frühstück und dann hieß es Abschied nehmen. Als ich mich auf dem Schiff wieder nicht übergeben musste, sagte Lisa: "Du bist zu geizig zum Kotzen." Im Zug war es mir gleich ob ich einen Fensterplatz hatte oder nicht. Ich wollte ganz einfach die letzten Stunden genießen.

Am Bahnhof war niemand um mich abzuholen. Ich überlegte was ich machen sollte. Schleppte ich den Koffer den ganzen Weg, oder wollte ich mit dem Bus bis zu Herforderstraße fahren?

Zunächst entschloss ich mich eine halbe Stunde zu warten. So nahm ich meinen Koffer und setzte mich auf eine Bank auf dem Bahnsteig. Da sah ich zu, wie die anderen Kinder nach und nach mit ihren Eltern in der Unterführung verschwanden. An der großen Treppe stand Frau Roth, mit ihrer kleinen Tochter. Die Oma war zur Begrüßung gekommen. Frau Roth verabschiedete sich von jedem ihrer Schülerinnen.

Unsere Lehrerin war schon nicht mehr da, und auch die anderen beiden Lehrer waren gegangen. Da schaute sie noch einmal über den ganzen Bahnsteig und sah mich auf der Bank sitzen. Sie kannte mich, denn sie wohnte ganz bei uns in der Nähe. "Was machst du denn so allein noch hier?" fragte sie erstaunt, "hat dich denn niemand abgeholt?" Ich schämte mich und sagte kleinlaut, "vielleicht kommt mein Vati nach Feierabend." "Solange wirst du aber doch nicht hier warten wollen!" Energisch nahm sie meinen Koffer und forderte mich auf, mit zukommen.

Ich wollte meinen Koffer selbst tragen, aber die kräftige Lehrerin fauchte mich an, meine Finger davon zu lassen. Vor dem Bahnhof winkte sie einem Taxi und ließ die Koffer einladen. Frau Roth stieg vorn ein und die Oma nahm die Kleine und mich mit, nach hinten in das Taxi.

Ängstlich fragte ich: "Was kostet das denn? Ich habe nicht mehr so viel Geld." "Das kostet ohne dich auch nicht weniger, also mach dir keine Gedanken." Frau Roth konnte schon sehr energisch sein, also hielt ich jetzt meinen Mund. Die Kleine plapperte munter darauf los, sie nannte ihre Mutter beim Vornamen, das hatte ich auch noch nie gehört.

Dann erzählte die Kleine ihrer Oma, dass ihre Mutter trotz ihrer Fülle einen Bikini an hatte. Der Träger vom Oberteil sei dann auch gleich gerissen und alle Kinder hätten dahin geschaut. "Ich habe nichts gesehen“, bemerkte ich leise.

"Fahren Sie in die Lindenallee“, verlangte die Lehrerin vom Fahrer. Als er dann vor unserem Haus hielt, war Frau Roth blitzschnell aus dem Auto ausgestiegen. Sie schnappte sich meinen Koffer und stürmte auf die Haustür zu. Dort drückte sie die Klingel. Ich dachte jetzt bricht gleich ihr Finger ab. Mutti kam wutschnaubend an die Haustür und ohne auf meine Begleitung zu achten, schlug sie wie wild auf mich los. Frau Roth ergriff ihre Hand, es sah aus, dass sie Mutti jetzt den Arm abbrechen wollte.

Sie schob mich nach hinten und bat mich, dem Taxifahrer zu sagen er soll schon mal wenden, es würde noch fünf Minuten dauern. Dann ging sie mit Mutti in den Flur, und ihre gewaltige Stimme ließ das Haus beben. Mir zitterten die Knie, und ich schlich durch den Hintereingang um zu lauschen.

Da das aber gar nicht meine Art war, merkte ich, wie ich ganz rote Ohren bekam. An der Hintertür hörte ich, wie Frau Roth Mutti versprach, dass sie heute noch bei der Fürsorge anrufen wollte. Die rief zurück: "Das haben schon einige versucht, aber die Fürsorgerin hat am Ende doch immer mir geglaubt." Frau Roth eilte zur Tür hinaus und Mutti schlug die Tür hinter ihr zu.

"Was stehst du da rum," fragte sie zornig, "Pack deinen Koffer aus!" Ich räumte den Koffer aus und brachte meine schmutzige Wäsche ins Bad. Ihr Notfall Päckchen für die Periode hatte ich nicht gebraucht, darum gab ich es ihr zurück. Dann nahm ich aus dem Geldbeutel, das Geld von Frau Lindemann und steckte es weg, den Rest Geld und eine Briefmarke legte ich ihr auf den Küchentisch. Nun wollte ich allein sein und ging ich hinauf in mein Zimmer. Ich behauptete müde zu sein. Warum sie mich nicht abgeholt hatte, wollte ich gar nicht wissen.

Sie schrie mir nach: ich solle auch den Koffer mit nach oben nehmen. Jetzt hatte ich noch zwei Ferientage und dann musste ich wieder in die Schule. In meiner Umhängetasche hatte ich noch ein Brot vom Schullandheim, das war für den Abend gerade recht. Das aß ich in meinem Zimmer.

Als Vati nach Hause kam, stieg er die Treppe herauf zu meinem Zimmer. Es tat ihm leid, dass er mich nicht abgeholt hatte, Mutti hatte behauptet ich käme morgen. "Ich habe Euch eine Karte geschrieben, auf der stand genau wann der Zug ankam“, sagte ich freundlich und tat so, als ob ich nicht verärgert wäre.

Warum ich denn nicht öfters geschrieben hätte, wolle er noch wissen. "Weil ich immer so wenig Taschengeld bekomme und die Briefmarken auch abgezählt werden. Da habe ich eben auch noch ein bisschen gespart. Am Ende hätte es mir auch nicht gereicht für ein Taxi. Im nächsten Jahr fahre ich erst gar nicht mit, dann braucht mich niemand abzuholen."

Innerlich war ich verärgert, aber Vati sollte das nicht merken. Ich fragte wie es ihm geht, und er erzählte dass Frau Böker nach mir gefragt hatte. Die Taschenlampe, erzählte ich ihm, sei leider aufgebraucht. "Das macht nichts“, beruhigte er mich, die Batterie sei auch schon ein paar Jahre alt gewesen. Mutti schrie unten nach Vati, wahrscheinlich hatte sie ihre Milchsuppe fertig.

In meinem Koffer hatte ich noch ein paar saubere Sachen, die räumte ich in den Schrank. Weil ich gar nicht müde war, legte ich alles neu in den Schrank besonders sorgfältig gefaltet. Niemand der hier herauf kam, sollte behaupten, mein Zimmer sei nicht aufgeräumt.

Den Koffer stellte ich oben auf den Schrank, er gehörte ja mir, es stand Papas Name darin. Am nächsten Morgen freute ich mich, meine Hühner wohlbehalten vorzufinden. Ich ging mit ihnen in den Garten und schaute gleich mal wie es dort aussah. Das Unkraut war in den Kartoffeln riesig gewachsen, daran musste ich mich gleich nach dem Frühstück machen.

Also ging ich in die Küche um meine Haare zu kämmen und nach Frühstück zu schauen. "Ach ja, den Tisch habe ich schon abgeräumt, ich hatte ganz vergessen, dass du wieder da bist," heuchelte sie. Ich zahlte mit gleicher Münze zurück: "Macht gar nichts, ich hole mir etwas, wenn ich das darf." Zuerst kämmte ich meine Haare und Mutti machte mir eine Tasse Milch heiß.

Als ich dann am frühstücken war, erklärte sie mir: "Du musst den Garten picobello in Ordnung bringen, damit wir uns nicht schämen müssen, wenn meine Schwestern zur Silberhochzeit kommen." "Gleich fange ich damit an, ich habe das Elend schon gesehen“, gab ich ihr zur Antwort.

Was ich im Stillen dachte konnte sie ja nicht sehen. Sie hatte mir vor ein paar Jahren das Lied beigebracht: "Die Gedanken sind frei." Etwas Besseres habe ich von ihr nie gelernt. Das Lied half mir, immer wenn ich total am Boden war.



 

Die Silberhochzeit

 

Ich ging durch den Keller um mir mein Gartenwerkzeug zusammen zu stellen. Dann nahm ich die Schubkarre mit, denn ohne die würde es kaum gehen. Es hatte keinen Sinn zu überlegen wo ich anfangen wollte, es sah überall gleich aus. Also fing ich vorne an. Mit dem Unkraut machte ich zuerst am Gartenweg in jeder Reihe einen Haufen. Das freute die Hühner, so konnten sie in Ruhe die Würmer absuchen. Ich hatte keine Angst vor einem Haufen Arbeit, im Gegenteil dabei konnte ich nachdenken, die Arbeit funktionierte von selbst.

Solche Mengen Unkraut hatte ich noch nie bewältigt, und der Komposthaufen wuchs. Nach dem Mittagessen nahm ich mir eine Flasche Saft mit nach draußen und machte weiter. Als es Abend war, wollte ich nur noch ein wenig essen und dann ins Bett. Mutti meinte, "So müde kannst du doch gar nicht sein, du hast dich doch vier Wochen im Landschulheim ausgeruht. Wenn du geschlafen hast, bist du morgen früh wieder frisch."

Obwohl mir abends noch so viel durch den Kopf ging, ich war frisch am nächsten Morgen. Mutti scheinbar nicht so, denn sie hatte angeblich vergessen, dass ich da war, und dass ich auch frühstücken wollte. Sie machte mir eine Tasse heiße Milch und holte Brot, Butter und Marmelade. Ich aß in Ruhe ein Brot, kämmte meine Haare und band meine Schürze um, und ging in den Garten.

Die eine Seite hatte ich schon fertig, bis auf die Feinarbeit. Ich hatte ungefähr eine Stunde gearbeitet, da kam Mutti mit einer Frau in den Garten. "Aber Anneliese," säuselte sie mit zuckersüßer Stimme, "du hast genug Unkraut gejätet, wir haben Besuch, komm bitte mit ins Haus." "Aber Mutti", säuselte ich zurück, "Du hast doch gesagt ich soll den Garten picobello machen wegen der Silberhochzeit." Die Frau stellte sich vor: "Ich bin Frau Sorge, Fürsorgerin für Kinder und Jugendliche. Ich möchte mich gern mit dir unterhalten." Ich wollte im Hof auf die Bank, damit ich nachher wieder an die Arbeit konnte. Mutti war das nicht recht, sie hatte Angst Frau Lindemann könnte lauschen.

So gingen wir also in die Küche und Mutti glaubte, dass sie die Hauptperson war und begann sofort zu reden. Frau Sorge bat, sie sollte uns allein lassen, sie sei gekommen um mich kennen zu lernen. "Sie waren doch schon ein paar Mal bei mir, und haben mir alles erzählt." Wir waren uns sicher, dass Mutti jetzt vom Korridor aus ins Schlafzimmer schlich, um dort zu horchen. Als sie dort an den Wäscheschrank stieß, sagte Frau Sorge: "Am besten zeigst du mir jetzt zuerst dein Zimmer, du hast doch eines, oder?"

"Ja natürlich habe ich ein eigenes Zimmer," gab ich ihr zur Antwort, und ging mit der Fürsorgerin die Treppe hinauf ins Dachgeschoss. Sie fand mein Zimmer schön, und schaute auch gleich in meinen Schrank und in die Kommode. "Räumt deine Mutti dir den Schrank ein?" fragte sie, überrascht von der Ordnung. "Nein, das mache ich selbst," sagte ich stolz. Sie schaute in den Nachtschrank, in dem ich ein Gesangbuch hatte und ein paar schön gefaltete Taschentücher. Auf dem Nachtschrank hatte ich ein Bildchen mit einem frommen Spruch, das hatte mir Elfi zum Geburtstag geschenkt.

Sie war sichtlich beeindruckt. Dann schaute sie meine Kleidung an und fand den Mantel aber sehr komisch, Mutti hatte die Nähte herausgelassen. Unten an den dicken Wollstoff hatte sie ein viel dünneres glänzendes samt ähnliches Stück Stoff genäht ungefähr zehn Zentimeter breit. Es sah zu komisch aus. "Deine Mutter hat erzählt, dass du nur Kleidung hast vom Feinsten. Wo ist die denn?" Dann zog sie den alten schafwollenen Unterrock hervor und fragte ob das die Mode sei, die junge Mädchen heute tragen. "Ich glaube nicht, aber warm ist er", gab ich zur Antwort.

Sie stellte mir Fragen und ich sollte ihr darauf antworten. Zum Schluss wollte sie wissen warum ich meine Mutter gebissen und getreten hätte. Dann erzählte ich ihr von dem Stock, mit dem sie mir ständig auf die Waden schlug. Immer ohne vorher nachzudenken. "Ich bekam Schläge und hatte nichts verbrochen. Dann habe ich mich gewehrt." Sie holte einen Schreibblock aus der Tasche und wollte alles notieren. Woher die fünfzig Pfennig waren, für die sie mich als letztes geschlagen hatte. Die Sache mit dem Sofa. Sie schrieb alle Namen auf ihre Liste und meinte: "Du musst nicht denken, dass ich dir nicht glaube, aber ich werde es nachprüfen. Ich werde alle Leute aufsuchen die hier auf meiner Liste stehen. Auch Frau Roth und Fräulein Schneider. Danach werde ich sehen ob ich dir helfen kann." Sie gab mir eine Kladde und einen Drehbleistift und bat mich ab jetzt Tagebuch zu führen. Das Buch sollte ich in einem anderen Dachzimmer verstecken, damit es niemand findet.

Dann gingen wir die Treppe hinab, wo Mutti schon sehnsüchtig wartete. Mutti wollte jetzt auch etwas sagen, aber Frau Sorge meinte: "Ein andermal Frau Teichmann." Mutti kriegte vor Schreck ihren Mund nicht mehr zu. Frau Sorge verabschiedete sich und bat mich noch mit ans Auto zu kommen. Dort gab sie mir einen Zettel mit einem Stempel von ihr. "Ruf mich an wenn du mich brauchst.

Telefonieren kannst du bei der Gemeindeschwester oder bei Frau Roth." Sie stieg in ihren dunkelbraunen Mercedes mit schwarzem Stoffdach. In Gedanken versunken ging ich zurück ins Haus und sah auf dem Nummernschild hinten zwei Nullen und davor HF. Mehr hatte ich nicht mitbekommen. Ich ging in den Garten um mich zu beruhigen. Während ich das letzte Stück vom groben Unkraut befreite, dachte ich noch einmal in Ruhe über alles nach.

Mutti war also schon mehrfach in Herford gewesen, um mich los zu werden. Frau Roth muss wohl bei der Fürsorgerin angerufen haben. Ich stellte mir vor, wie Frau Roth ins Telefon gebrüllt hatte. Unwillkürlich ging mir durch den Kopf wie Vati sie beschreiben würde: Sie hat einen Arsch wie ein Zehn-Thalers-Pferd, eine Figur wie ein ausgewachsener Elefant und eine Stimme wie ein Beimdieke. Ich musste schmunzeln. Mutti rief zum Essen und Vati kam auch schon um die Ecke.

Mir zitterten die Knie als ich in die Küche kam, sie würde ihre Wut an mir auslassen. Sie regte sich auf, dass die Fürsorgerin hier war. Wer die denn bloß bestellt hatte? Dann sollte ich erklären was sie von mir wollte. "Sie wollte mein Zimmer sehen und hat geschaut ob es sauber war," "Ja und, weiter," wurde sie laut, "sie war eine Ewigkeit bei dir oben!" Ich überlegte was ich sagen konnte: "Dann hat sie meine schönen Kleider angesehen und den Mantel. Sie hat nach meinen Freundinnen gefragt, und was ich denn für Bücher habe."

Das fand ich war schon genug. Vati sagte: "Jetzt erzähl schon, und lass dir nicht alles aus der Nase heraus ziehen!" Also fügte ich noch hinzu: Sie wollte wissen warum ich dich gebissen hatte." "Woher wusste sie das," wollte Vati wissen. "Das hat ihr Mutti erzählt, als sie in Herford bei der Fürsorge war", erklärte ich ihm. "Wann ich da wohl gewesen sein soll", ging Mutti dazwischen, "ich bin doch jeden Tag hier." Ich stand auf und ging in den Garten, schließlich musste ich morgen wieder in die Schule.

Vati kam in den Garten, bevor er wieder in die Fabrik fuhr. "Du machst unsere Familie kaputt," beschuldigte er mich, "versöhne dich mit Mutti, so geht das nicht weiter." Er hatte nichts begriffen. Das grobe Unkraut hatte ich beseitigt, jetzt würde ich noch alles hacken, jeden Tag ein wenig. Es waren noch zwei Wochen bis zur Silberhochzeit.

Am nächsten Tag ging ich schlecht gelaunt in die Schule. Auf dem Flur sah ich Fräulein Bockmann, die beiden Lehrer die mit im Schullandheim waren und Frau Roth. Die hatten es sehr wichtig. Jedenfalls als die Bockmann in den Klassenraum kam, war sie auch schlecht gelaunt. Als erstes setzte sie mich wieder auf einen anderen Platz, sie wollte mich nicht so nah vorm Pult haben. Ich saß jetzt hinten links, was mir gefiel. Hier konnte sie mir nicht auf die Finger sehen.

Sie wies darauf hin, dass unser Wandertag, der schon mehrfach verschoben wurde, jetzt nächste Woche stattfinden würde. Wir sollten Vorschläge machen. Nachdem mehrere Mädchen ein Ziel vorgeschlagen hatten, zog sie einen Zettel aus der Tasche und las ihren Vorschlag vor.

Zuerst die Kirche von Enger besichtigen, weil wir letztes Mal nicht hinein konnten. Dann Bad Salzuflen, die Salinen besichtigen, danach Bückeburger Schloss mit Besichtigung. Auf der Rückfahrt das Hexenbürgermeisterhaus und das Junkerhaus beide in Lemgo. Lore meldete sich: "Das ist ja alles viel zu viel!" Die Lehrerin wusste sogar schon was es kosten sollte: sieben Mark inklusive Eintrittsgelder. Lisa fragte: "Wo ist da unser Mitspracherecht?" Die Lehrerin darauf: "Eure Vorschläge sind alle nicht durchführbar." - Wie sie doch Mutti ähnelte, dachte ich.-

In der letzten Stunde hatten wir Turnen. Wir mussten an die Ringe. Ich konnte mich mit den Händen nicht halten und stürzte auf die Matte. Obwohl mir nichts weh tat, klagte ich über Kopfschmerzen. Da sollte ich mich auf die Bank setzen und zugucken. Das saß auch Ulla und sie versuchte immer mit mir ein Gespräch anzufangen.

Mir war aber nicht danach, und so sagte Ulla plötzlich: "Mann bist du eingebildet, kein Wunder hast du keine Freundin." Das war zu viel für mich, all mein Ärger und Kummer der letzten Zeit quoll wie ein Platzregen aus meinen Augen. Fräulein Talmann kam angesprungen und glaubte mich zum Arzt bringen zu müssen. "Nein, mir fehlt nichts", schluchzte ich, "aber alle hacken immer auf mir herum."

Ein paar Mädchen kamen, mich in den Arm zu nehmen, die anderen lachten schadenfroh. Auf dem Heimweg begleitete mich Stiene wieder. Sie erzählte was sie alles gemacht hatte als wir an der Nordsee waren. Im nächsten Jahr wollte sie aber auch mit. "Da gehe ich nicht mehr mit," sagte ich kurz angebunden. Sie meinte: "Du bist aber heute schlecht gebürstet." "Was soll das heißen," fragte ich.

Stiene erklärte mir, "Kühe und Pferde werden jeden Tag gebürstet, dann fühlen sie sich wohl. Wenn man sie schlecht bürstet, dann sind sie dreckig und fühlen sich nicht gut." Na gut, da hatte ich wieder etwas gelernt. Stiene bog ab, und ich wurde nachdenklich. War es richtig, dass Frau Roth sich eingemischt hatte? Vati hatte immer gepredigt: Was sich bei uns im Haus abspielt, geht niemanden etwas an.

Beim Mittagessen berichtete ich von dem Schulausflug. Zur Strafe, dass ich die Fürsorge ins Haus gebracht hatte, durfte ich nicht mit. Ich sollte mir das für die Zukunft merken. Meine Hausaufgaben waren schnell erledigt, denn auf meinem neuen Platz in der Klasse, hatte ich viele Gelegenheiten meine Hausaufgaben nebenbei zu erledigen. Als ich in den Garten ging winkte mir Frau Lindemann.

Gerne wäre ich zu ihr gegangen, aber ich wurde vom Küchenfenster aus beobachtet. Mutti hatte Erbsen und Bohnen gepflückt und wollte, dass ich ihr noch Möhren brachte. Das machte ich zuerst, dann hätte sie genug Arbeit und würde mich in Ruhe lassen. In der Schule hatten die Mädchen nur noch ein Thema: der Wandertag. Lore forderte mich auf doch auch etwas dazu zu sagen. "Es interessiert mich nicht", sagte ich ihr, "ich darf nicht mit." Als wir in die Klasse gingen stellte sie sich vorn ans Pult und bat die Mädchen jedes zwanzig Pfennig mehr mit zubringen, dann könnte ich auch mit fahren.

Alle waren einverstanden. Mir war es sehr peinlich, und ich erzählte es mittags beim Essen. "Was sollen da die Leute von uns denken!" Mutti war entsetzt. Sie legte mir sieben Mark auf den Tisch und schimpfte: "Dann fahr eben auch mit, das wird jedes Jahr teurer." Der Garten machte Fortschritte. Als ich gerade in der Nähe von Frau Lindemanns Garten war, rief Frau Lindemann leise nach mir. Ich ging an den Zaun und sah sie mit Frau Sorge im Garten stehen. Hatte Frau Lindemann auch an die Fürsorge geschrieben? Wenn Mutti das merkte, dachte ich, würde es mir nicht gut ergehen.

Mein Ehrgeiz trieb mich wieder an die Arbeit, ich wollte den Garten schön haben, bis zur Silberhochzeit. Einen Tag vor unserem Ausflug holte ich mein Geldpäckchen aus dem Hühnerstall. Ich wollte mir ein wenig Taschengeld mitnehmen. Vielleicht für ein Eis, oder vielleicht hätte ich ja Durst. Ansichtskarten konnte ich keine kaufen, sonst würde Mutti fragen woher ich das Geld hätte.

Von dem Geld nahm ich zwei Mark. Das übrige Geld und das, was ich noch vom Schullandheim hatte, wickelte ich wieder ein. Das versteckte ich in der kleinen schrägen Dachkammer auf einem Balken.

Morgens brachte ich gleich meine Wandertasche mit nach unten, und Mutti packte mir ein paar Brote und Äpfel in die Tasche. Es waren ganz kleine Äpfel, von Vatis neuem Zwergobst. Der Ausflug war von unserer Lehrerin bis aufs Detail geplant.

In Enger konnten wir die Kirche besichtigen, und in Bad Salzuflen gingen wir durch den Kurpark. Lang und breit erklärte uns Fräulein Bockmann die Salinen, wir sollten daran riechen und lecken. Danach ging es wieder die gleiche Straße entlang wie beim letzten Ausflug. Ich saß im Bus auf der richtigen Seite und sah das Haus in dem ich geboren war. Es kam mir klein und ärmlich vor, vielleicht hatte Mutti recht, als sie behauptete dass wir arme Leute waren.

So war ich in Gedanken und der Bus ratterte über die Gleise. Da dachte ich wieder an Mama, und an Lilibeth. Vorbeugend holte ich mein Taschentuch aus der Tasche, aber ich brauchte es nicht. Ich hatte gelernt meine Tränen zu unterdrücken. Wir kamen nach Bückeburg und besichtigten das Schloss. Mit riesigen Filzpantoffeln schlitterten wir über das Parkett. Es war prächtig und ich träumte davon, einmal in so einem Schloss zu wohnen. Danach ging es nach Berlebeck. Dort gingen wir zu den Quellen.

Unterwegs machten wir dann noch eine größere Pause. Der Busfahrer war auch zum Essen gegangen, so hatten wir noch Zeit für ein paar Spiele. Als ich von meinen kleinen Äpfeln aß, wollte jeder von den niedlichen Äpfeln probieren. Sie waren zuckersüß und hießen Zucclo Maglinot. Niemand hatte so schöne Äpfelchen vorher gesehen. Nach der Mittagspause gingen wir wieder zum Bus und fuhren den Weg zurück bis Lemgo.

Da besuchten wir zuerst das Hexen-Bürgermeisterhaus. Es gab dort viel zu besichtigen, woran ich mich aber nicht mehr erinnern kann. Das Junkerhaus dagegen hat mich doch mehr beeindruckt. Ich erinnere mich an das Treppengeländer, das habe ich mir damals lange angesehen. Danach fuhren wir wieder zurück. Im Bus war es ruhig, es sah so aus als ob alle müde waren. Ich hatte wieder kein Geld ausgegeben, als ich gern ein Eis gewollt hätte, gab es keines. Das Geld verschob ich wieder in meinen Strumpf. Von dem Ausflug war ich so gerädert, dass ich lange brauchte um einzuschlafen.

Morgens wurde ich von Muttis Dienstmädchen-Glocke wach. Ich beeilte mich und hatte Schwierigkeiten in die Gänge zu kommen. Sie war wieder auffallend freundlich und half mir bei den Haaren. Ob ich mit dem Garten fertig sei, wollte sie wissen weil sie jetzt noch Großputz machen müsste. Sie gab mir eine Adresse mit und nach der Schule solle ich fragen ob die Frau zum Fenster putzen kommen könnte. Meine Fensterputzerei sei ja nicht so "lobe den Herrn". Ich ging nach der Schule bei der Adresse vorbei. Die Frau war sehr freundlich und eine Verwandte von Vati.

Sie versprach am Freitag gleich in der Frühe zu kommen. Also putzten wir am Donnerstag alles andere, nur die Fenster ließen wir ungeputzt. Als ich am Freitag in die Schule ging, kam die Frau zum Fenster putzen. Mittags war sie schon wieder weg. Mutti war zufrieden und ich sollte noch den Hof fegen, weil ihre Schwester Lina heute noch aus Schleswig-Holstein käme.

Sie kam nicht allein, sie hatte Onkel Karl mit gebracht. Onkel Karl gefiel mir, er hatte Ähnlichkeit mit dem alten Seemann vom Landschulheim. Jedenfalls sprach er auch genauso. Er schickte mich gleich zum Kaufmann um "Rittstecken" zu besorgen. Auf Grund seiner Handbewegung wusste ich, dass er Streichhölzer wollte. Tante Lina hatte ihr Strickzeug dabei. Sie strickte an einer roten "Lumberjacke", so nannten wir die Strickwesten mit dem Reißverschluss vorn. Ich sagte: "OH, die wird aber schön, ich könnte auch sehr gut eine neue Strickweste gebrauchen." Von Mutti traf mich ein bitterböser Blick.

Schließlich war sie auch dabei mir eine ärmellose Weste zu stricken. Sie war aber gerade erst angefangen und fragte ihre Schwester, was sie denn für ein Muster stricken sollte. Tante Lina schlug Dornröschenmuster vor, und zeigte ihr wie man es macht. Ich zeigte ihr mein Strickzeug und sie war ganz angetan von meiner Arbeit. Onkel Karl wollte jetzt noch "`n Lütten" trinken gehen und nahm Vati mit. Die beiden schliefen auf den Sofas in den Stuben. Als ich am Samstag in die Schule ging, kam Tante Lina mit, sie wollte in der Stadt etwas besorgen. Wir gingen die Lindenallee hinauf damit mir Stiene nicht in die Quere kam. Sie erzählte von ihren Kindern, die jetzt den Hof ein paar Tage allein bewirtschafteten. "Die machen das gut," wusste Tante Lina.

Sie ging mit mir bis zur Schule und dann die Treppe hinunter zur Bahnhofstraße. Als ich mittags heim kam, hatte sie mir 500 Gramm rote Wolle gekauft, und eine Strickanleitung für eine Weste mit Reißverschluss. "Den Reißverschluss musst du nachher selbst kaufen, den muss man dann abmessen," bedauerte sie. Am späten Nachmittag kamen Tante Anni und Onkel Egon aus dem Sauerland. Ich sollte ihnen mein Zimmer geben und bei Mutti schlafen. Das passte mir gar nicht. Ich ging mit Tante Anni in mein Zimmer und die fragte gleich: "Und wo ist das Klo?" "Na unten, wo es immer ist", gab ich zur Antwort. "Das geht gar nicht," Sagte Tante Anni, "Onkel Egon muss mindestens drei Mal aufstehen." Ich hätte ja den Nachttopf holen können, aber dann hätte ich ihn vielleicht auch noch leeren müssen. Also hielt ich meinen Mund.

Ich stellte mir vor, wenn er drei Mal in den Nachttopf pinkelt und Tante Anni vielleicht auch noch einmal, dann ist der Topf randvoll. Danach darf ich damit die Treppe hinab gehen, nein danke. Tante Anni ging wieder zu Mutti in die Küche und meinte, das ginge aber gar nicht. Dann müssten sie eben in ihrem Schlafzimmer mit schlafen. Am Ende kam es so: Tante Lina schlief mit mir in meinem Bett, die beiden Onkel schliefen auf den beiden Sofas und Tante Anni holte sich den Liegestuhl aus dem Keller. Darauf hatte sie "spartanisch" geschlafen, wie sie am nächsten Morgen berichtete.

Tante Lina und ich hatten noch einen schönen Abend in meinem Zimmer. Sie wollte meine Kleider sehen und fragte was ich denn morgen anziehen würde. "Ich denke ich bekomme das Seidenkleid von Mutti," sagte ich nachdenklich, darüber hatte ich noch nicht nachgedacht. "Was wünschst du dir denn?" fragte sie mich. Ich überlegte: "Ich möchte gerne eine Armbanduhr, alle in unserer Klasse haben eine. Oder silberne Ohrringe, wegen meiner Mittelohrentzündung. Vielleicht auch einen schönen Fingerring." "Du hast keinen Fingerring und keine Uhr? Schade, dass ich am Montag wieder nach Haus muss, ich wäre zu gern mit dir Einkaufen gegangen. Aber ich werde mit Mutti sprechen."

In der Nacht träumte ich von Ringen mit blauen Steinen. Wir wurden wach, als Mutti klingelte. "Was ist denn das?" fragte Tante Lina. Ich lachte: "Muttis Dienstmädchen-Glocke." Wir gingen hinunter und Tante Lina scherzte, als wir in die Küche kamen: "Die Dienstmädchen sind da." Mutti daraufhin entsetzt: "Was hat Anneliese jetzt schon wieder für Lügengeschichten erzählt?" Tante Lina wurde böse: "Mensch, bist du humorlos, der Witz war von mir, wegen der Klingel."

"Jetzt lasst uns schnell frühstücken, damit wir mit dem Kochen anfangen können", sagte Tante Anni. Mutti und Vati sollten sich schon schön machen und in die Stube gehen, damit sie gerichtet wären, wenn die Gäste ankamen. In den Flur kam ein Blech Butterkuchen, für die Gratulanten. Die sollte ich empfangen. Tante Anni zeigte mir wie man den Tisch festlich eindeckt. Ich musste aus dem Garten Blumen und Spargellaub holen. Am Ende sah der Tisch prächtig aus.

Mutti glaubte immer zwischendurch Anweisungen geben zu müssen. Tante Anni machte ihr noch einmal klar, dass sie und Vati das Jubelpaar seien, und die müssten sich bedienen lassen. Um elf Uhr kam dann Frau Bollmann und Ute, die übernahmen jetzt die Küche und die beiden Tanten zogen sich um. Nach und nach kamen die übrigen Geschwister von Mutti. Von Vatis Verwandtschaft war nur Onkel Heini eingeladen, natürlich mit Tante Minna.

Es war auffallend, kein einziges Kind war mitgekommen, dabei hatten doch fast alle Kinder. Ich bekam das schwarze Seidenkleid von Mutti und eine weiße Schürze. Ich sollte dafür sorgen, dass jeder zum Essen auf dem Teller hatte, also Schüsseln anreichen. Zuerst gab es Eierstichsuppe. Danach kam das Hauptgericht, es gab drei Sorten Fleisch, mehrere Sorten Gemüse, und Kartoffeln. Es gab Rotwein von Vatis wunderbarem Johannisbeerwein, der schmeckte allen. Nebenher sollte ich an die Haustür gehen wenn es klingelte.

Es klingelte nicht zu oft, Mutti war nicht beliebt in der Nachbarschaft. Bollmanns und ich aßen in der Küche. Dann räumten wir ab und brachten den Nachtisch. Das war Welfenspeise. Nach dem Essen zeigte Mutti stolz ihren Garten. Da erntete sie reichlich Lob. Bollmanns und ich spülten das Geschirr und deckten die Kaffeetafel.

Vati machte mit dem Männern einen kleinen Sparziergang, dann zeigte er stolz seine Obstbäume. In der Küche arbeiteten wir auf Hochtouren. Tante Minna hatte einen Kaffeefilter mitgebracht und wir begannen Kaffee zu kochen. Ich mahlte mit der Wandkaffeemühle ohne Unterlass. Wir hatten den Herd an und jede Menge Wasser aufgesetzt, aber nur einen Filter. Als die Tanten wieder in die Stuben gingen, gossen wir die erste Kanne Kaffee auf und stellten die warm. Dann brachten wir die Kuchen an den Tisch, Frau Bollmann hatte alles schön geschnitten. Ute und ich verteilten die Kuchen und Torten auf den Tisch.

Der Tisch im Herrenzimmer war ausgezogen und hatte eine Länge von fünf Metern. Da sollte ich jetzt um den Tisch gehen und fragen welche Torte gewünscht wurde. Mit dem Tortenheber sollte ich dann immer das gewünschte Stück auf den Teller tun. Nebenbei möglichst noch Kaffee einschenken und Zucker anreichen. Ich hatte Angst, dass mir die Torte vom Tortenschäufelchen fiel, da kam Ute und half mir. Frau Bollmann wurde nicht müde Kaffee zu kochen.

Als die Schlacht geschlagen war, wollte Onkel Karl wieder in die kleine neue Wirtschaft im übernächsten Haus. Er sagte: " Jetzt muss ich mal ´n Lütten zu mir nehmen." Vati meinte er habe auch ´n Lütten da. "Nee lass man, der schmeckt außer Haus besser." sagte Onkel Karl und die Männer schoben geschlossen ab. Die Frauen donnerten sich auf und machten einen "gepflegten Sparziergang". Alle mit Hut, außer Tante Martha, die hasste Hüte. Onkel Heini und Tante Minna verabschiedeten sich, sie wollten nicht zum Abendessen bleiben.

Frau Bollmann, Ute und ich räumten das Schlachtfeld auf, und setzten uns in die Küche, um auch von der Torte zu essen. Anschließend spülten wir und deckten die Tafel neu ein. Ich musste noch einmal ein paar Blümchen holen, denn die Dekoration hatte gelitten. Frau Bollmannn wollte die Aufschnittplatten noch herausputzen und kochte Eier ab und Ute und ich putzten Salat und Radieschen.

Die Platten waren so schön, dass es ein Jammer war, davon zu essen. Als sie Brot schneiden wollte, sah sie, dass wir gar keine Maschine hatten. Sie fragte unsere neue Mieterin ob sie eine Brotschneidemaschine hätte. Sie hatte, alle hatten, nur wir nicht. Sie lieh uns die Maschine und Frau Bollmann schnitt drei Sorten Brot, das sie in Brotkörbchen verteilte. Zum Abendessen gab es wieder Wein. Wer keinen wollte bekam Tee oder Johannisbeersaft. Zuerst kamen die Frauen wieder zurück und saßen in der kleinen Stube und schwätzten. Als dann die Männer auch wieder da waren ging es in die dritte Runde. Wir trugen die Platten auf und verteilten Tee und Wein. Onkel Rudolf hatte ein neues Auto und wollte keinen Wein mehr trinken. Er sagte: "Wenn ich mit dem Pferdewagen da wäre, dann wäre es einfach, das Pferd findet immer heim, aber das Auto kennt den Weg noch nicht. Tante Liese und Onkel Uwe waren mit Tante Martha gekommen. Tante Alma und ihr Mann mit dem Zug. Sie hatten es eilig, denn der letzte Zug ging um neun Uhr. Ich dachte bei mir, und dann müssen die im Dunkeln noch durch den Wald, da wäre ich früher gefahren.

Tante Alma erzählte sie hätten am Bahnhof ihre Sturmlaterne abgestellt, vorsichtshalber, falls es spät würde. Na die würden sie auch brauchen, bei der Schlagseite die Onkel Fritz hatte. Nach dem Abendessen räumten wir ab, und schoben den großen Ausziehtisch zusammen. Jetzt war wieder Platz im Herrenzimmer. Bollmanns und ich aßen noch einmal in der Küche und spülten das viele Geschirr. Frau Bollmann lobte das Spül-Pulver, was es seit einiger Zeit gab, damit spülte es sich leichter. Als die Küche wieder blank war, kam Mutti und nötigte Frau Bollmann und Ute, doch auch noch in die Stube zu kommen und ein Glas Wein zu trinken. Ich ging auch mit und setzte mich zu Tante Anni, die war immer so lustig. Nach dem ersten Glas Wein wurde Ute gesprächig, nach dem zweiten wurde sie lustig. Sie saß mitten zwischen den Männern und erzählte Witze. Dann fing sie an zu singen, sie sang "Freut euch des Lebens" und "Aber dennoch hat sich Polle ganz köstlich amüsiert." Mutti fand das anstößig, und machte eine entsprechende Bemerkung. Daraufhin verabschiedeten sich Bollmanns und gingen.

Die gute Laune war jetzt dahin. Plötzlich wollte niemand mehr bleiben. Mir fiel die Maschine ein von der neuen Mieterin und ich brachte sie schnell wieder hinauf. Das hätte Mutti nicht gefallen wenn sie es gemerkt hätte. Vati lag schon im Bett, irgendwann hatte er sich heimlich davon gemacht. Heute Nacht wollte Tante Anni bei mir schlafen, sie hatte letzte Nacht nicht gut geschlafen. Onkel Karl schlief freiwillig auf dem Liegestuhl, er meinte er könnte morgen im Zug auch noch schlafen. Früh am Morgen klingelte Mutti, ich musste ja zur Schule.

Tante Anni verabschiedete sich von mir, sie würden noch vor dem Mittagessen abreisen. Jetzt wollte sie noch ein Stündchen schlafen, das Bett wollte sie dann machen. Tante Lina saß schon am Frühstückstisch und lobte mich weil ich gestern so fleißig war. Sie bemängelte dass ich so still sei. Dann ging sie an ihre Tasche und holte mir fünfzig Mark. Ich konnte es nicht glauben. "Kauf dir eine Uhr und silberne Ohrringe", sagte sie zu mir. Muttis Blicke verrieten nichts Gutes. "Aber Lina" wetterte sie, "du wirst dem Kind nicht so viel Geld geben!" "Doch das will ich," antwortete sie. Onkel Karl kam zur Tür herein und wollte wissen, was Mutti zu schimpfen hätte.

Er fand es gut, dass ich mir eine Uhr und Ohrringe kaufen sollte. "Sonst möchtest du nichts?" fragte er und wollte Mutti damit provozieren. "Doch", sagte Tante Lina, "einen Ring mit einem blauen Stein." Mutti verfärbte sich und rang nach Luft. "Alle Kinder in dem Alter haben eine Uhr und einen Ring", sagte Onkel Karl. Er legte noch zwanzig Mark dazu und sagte: "Kauf die was Ordentliches, und keinen Blechring."

Mutti schnappte das Geld und brachte es in ihren Wäscheschrank. "Ich werde es aufheben bis sie größer ist, sie ist noch viel zu jung für Schmuck!" Ich verabschiedete mich und dachte, lass sie weiter streiten. Dann nahm ich meine Schultasche und ging die Hühner hinaus lassen. Als ich dann auf dem Schulweg war, kullerten mir die Tränen über das Gesicht. Mir war klar, das Geld konnte ich vergessen. Völlig geknickt kam ich in der Schule an. "Was ist denn los", fragte Lore. Ich berichtete von der Silberhochzeit und von dem Geld, von Tante Lina und Onkel Karl.

Reni kam auch und wollte wissen, ob ich denn kein Gedicht aufgesagt hätte. "Wollte ich ja, aber da musste ich immer die Verwandtschaft bedienen, dann hatte ich am Abend keine Lust mehr", seufzte ich, "dabei hatte ich extra eines gedichtet mit Frau Lindemann zusammen." "Mensch, Anne", bemitleidete mich Reni, "hast du wieder den ganzen Tag gearbeitet?" Lore wollte wissen:

"Und wer bedient an deiner Konfirmation?" Reni kicherte und malte genau aus, wie ich mit meinem schönen Konfirmations-Kleid das Essen auftrage. "Ja," eiferte Lore, "alle feiern und lassen sich von der Hauptperson bedienen." Ich schüttelte den Kopf und meinte: "Da wird dann schon eine der großen Kusinen kommen,- denke ich." Die Bockmann hatte wieder was an mir zu meckern, und Reni glaubte erzählen zu müssen, dass wie Silberhochzeit hatten.

Nach der großen Pause gab mir Fräulein Bockmann eine Glückwunschkarte mit, für meine Eltern. Mittags eilte ich heim, ich musste ja um zwei Uhr zum Konfirmanden-Unterricht. Unterwegs traf ich Tante Lina und Tante Anni mit ihren Männern. die waren unterwegs zum Bahnhof. "Pass auf", sagte Tante Anni, "Deine Mutter hat üble Laune." "Ja, aber Anni ist schuld, die hat zu deiner Mutter gesagt, sie sei immer noch die gleiche blöde Ziege wie früher." Das zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Onkel Karl meinte nur, "wo meine Frau recht hat, da hat sie Recht." Er fügte noch hinzu: "Lass dir das Geld zurückgeben! Es gehört dir!"

Die Konfirmation

 

Beim Mittagessen vermied ich jegliche Unterhaltung. Vati war der Ehrentag nicht bekommen, er stand vollkommen neben sich selbst. Da fragte er doch tatsächlich wo ich denn gestern war. Mutti winkte ab, und ich sagte zu ihm: "Kein Wunder, bei so vielen Leuten, dass du mich nicht gesehen hast. Jetzt fing er an zu quengeln: "Ich will zu Lisbeth, die hat heute Geburtstag." Ich hatte mir nie gemerkt, wann sie Geburtstag hatte, es konnte sein. Darum beruhigte ich ihn und versprach, dass ich mit ihm gehe, nach dem Konfirmanden-Unterricht.

Er wollte wissen, wann ich von der Schule kam. Um halb vier versprach ich und wusste, dass er die Uhr nicht mehr aus den Augen lassen würde. Zu Mutti sagte ich, dass ich aber dann noch Hausaufgaben machen müsste. Für zusätzliche Arbeiten hätte ich heute wirklich keine Zeit. Sie ließ sich ungern etwas vorschreiben, warf den Kopf in den Nacken und ging aus der Küche.

Wir hatten im Konfirmanden Unterricht einen Jungen, wie alt der war wussten wir nicht, in der Schule hatten wir ihn nie gesehen. Im Gesicht sah er schon älter aus, er hieß Oskar. Er war Boxer und unser Pastor ging zu jedem Boxkampf von ihm. Dann unterhielt er sich mit ihm über den Kampf. Außer Boxen konnte Oskar nichts. Er konnte auch nichts auswendig lernen. Er sagte immer: "Ich habe gelernt und ich weiß es nicht mehr." Der Pastor war immer gut zu ihm.

Nun fragte er: "Oskar, gibt es etwas was du noch weißt von dem was wir gelernt haben?" "Ja," antwortete Oskar, "Jesus meine Zuversicht." Der Pastor sagte: "Wenn du das kannst, brauchst du sonst nichts zu lernen. Das reicht für dein ganzes Leben."

Nun hatte man früher vor der Konfirmation, immer eine Konfirmanden-Prüfung. Das war einen Sonntag vorher, und da würden wir auch schon unsere Kleider anziehen. Jeder musste dann etwas aufsagen oder auf Fragen antworten. An diesem Tag würde er Oskar nach dem Lied fragen und wenn er nicht mehr weiter könnte, dann solle er sein Taschentuch aus der Tasche holen. Dann wollte der Pastor jemand anders aufrufen. Der Pastor war ein Ausnahmetalent, ich habe ihn niemals mit einem Zettel gesehen, er hatte alles im Kopf. Einen einzigen Fehler hatte er: Die Namen Anneliese und Lieselotte verwechselte er immer.

Nach dem Unterricht wollten die anderen Mädchen noch ein Schwätzchen, aber ich musste dringend los. Ich beeilte mich und konnte Vati überraschen, indem ich fünf Minuten früher heimkam. Mir blieb keine Zeit für eine Tasse Kaffee, Vati stand schon fix fertig am Gartentor. Wir gingen los und Vati gab mir die Rosen zum Tragen. Ingrid und Renate kamen auch gerade vom Unterricht. Renate meinte: "Darum hattest du es so eilig."

Auf dem Friedhof erzählte er seiner Lisbeth, dass er gestern Silberhochzeit gefeiert hatte ohne sie. Als er dann an dem Efeu rum schnippelte, schien er mir wie immer. Wir saßen noch auf der Bank und er erzählte mir, dass Mutti heute mit ihren Schwestern gestritten hatte. Anni hätte Ziege zu ihr gesagt. Ich hielt mich zurück, um ihn nicht wieder durcheinander zu bringen.

Er rauchte eine Zigarre und schaute ein paar Mal auf die Uhr. Ich fragte: "Bist du in Eile?" Er meinte nur, wir müssten um fünf zu Hause sein. "Das schaffen wir“, beruhigte ich ihn, "rauch deine Zigarre in Ruhe, dann gehen wir." Pünktlich um fünf kamen wir heim. Ich durfte ja jetzt schon bis sechs wegbleiben, wenn es einen Grund dafür gab. Aber Vati wusste das heute nicht, und ich wollte ihn auf gar keinem Fall verwirren.

Nach dem Essen nahm ich mir noch Zeit für Vati, und hörte zu was er mir alles zu erzählen hatte. Mutti meinte ich soll doch ins Bett gehen: "Er redet heute lauter dummes Zeug." "Ich finde aber, das ist alles ganz wichtig." sagte ich, um Vati ein gutes Gefühl zu geben. Sie winkte ab, ging in die Stube und bruddelte: "Blödsinn". Da holte ich das Deutschlandspiel, das hatte ich schon eine Ewigkeit nicht mehr gespielt. Vati freute sich und wir spielten bis halb neun. Ich hatte meine Hausaufgaben immer noch nicht gemacht. Mit meiner Schultasche ging ich hinauf in mein Zimmer und saß noch zwei Stunden an meinen Aufgaben.

Am nächsten Morgen verdrängte ich meine Müdigkeit und schaute nach Vati, der war zur Arbeit gefahren. Heute sei es ihm wieder gut gegangen, behauptete Mutti. Die Schule verging zwischen Wachen und Schlafen. Aber ich brachte die Zeit herum ohne aufzufallen. In der letzten Stunde hatten wir Musik, da war ich dann richtig wach. Auf dem Heimweg sah ich das Auto von Frau Sorge. Ob sie wohl wegen mir unterwegs war, oder wollte sie gar zu mir? Ich wollte gar nicht mehr daran denken. Seit ein paar Tagen hatte ich keinen Satz ins Tagebuch geschrieben.

Es kehrte wieder Normalität ein, mittags machte ich zuerst Hausaufgaben und dann ging ich in den Garten. Mutti kochte ein, und erwartete jeden Tag geerntetes Gemüse. Zum Glück grub Vati die abgeernteten Beete um. Im Gegenzug half ich ihm beim Obst, das ja nun auch von den Bäumen musste. Zum Schluss waren noch die Kartoffeln an der Reihe. Als ich Herbstferien hatte, bekam Vati seinen letzten Urlaub, und nachher brauchte er nicht mehr zu arbeiten. Er war jetzt Rentner.

Wir waren im Garten fertig, und die Schule hatte wieder begonnen, da fuhr Vati morgens einfach zur Arbeit. "Du musst nicht mehr zur Arbeit," sagte ich. Mutti winkte ab und meinte: "Lass ihn doch“, Vati glaubte, dass die Firma ohne ihn nicht auskommen konnte. So kam es, dass er immer wieder zur Arbeit fuhr, obwohl dort alles bestens ohne ihn lief. Eines Tages kam er nach Hause und war ganz geknickt. Man hatte ihm klar und deutlich mitgeteilt, dass er nicht mehr kommen sollte, er würde den Betrieb aufhalten.

Er tat mir leid und ich hatte Angst, dass er jetzt verkümmerte. Als er an die Obstbäume ging um die zu schneiden, ging ich mit ihm und fragte, ob er mir das beibringen könnte. Dann zeigte er es mir genau. Zum Schluss wollte er den wilden Kirschenbaum veredeln. Ich fand das zwar überflüssig, weil wir die wilden Kirschen, immer für die Vögel im Winter hängen ließen. Trotzdem schaute ich interessiert zu, und er machte es sehr gewissenhaft. Zum Schluss wurde die Stelle mit Wachs versiegelt. Ob der Baum nachher andere Kirschen trug, oder nicht, habe ich nie erfahren.

Der Winter kam mit Schnee und Glatteis, und ich blieb montags in der Schule, damit ich gleich von da aus zum Unterricht gehen konnte. Mutti gab mir dann immer ein Brot mit, das aß ich dann in der Klasse, und danach machte ich meine Hausaufgaben. Eines Montags wollte Lore mich unbedingt mit nach Hause nehmen.

Sie führte mich durch den ganzen Laden, stellte mich ihren Eltern vor, und nahm mich mit in die Wohnung. Da war ein junges hübsches Dienstmädchen, die uns beiden das Essen schöpfte. Dann war es schon Zeit zum Gehen. Ich stellte fest, dass ich in der Zeit auch nach Hause laufen konnte. Lore hatte mir stolz ihr Zimmer gezeigt und ihren ganzen Schmuck. Da fiel mir das Geld ein von Tante Lina. Jetzt da wir im Garten keine Arbeit mehr hatten, hatte ich Zeit.

Das Geld würde ich mir aus ihrem Schrank holen und kaufen was ich mir wünschte, nahm ich mir vor, und dachte gar nicht lange darüber nach. Zum 1. Advent hängten wir in der Schule den Adventskranz auf. Es wollte mich zwar niemand dabei haben, aber ich nutzte die Gelegenheit mit "meinem Geld" zu verschwinden. Angeblich musste ich in die Schule, den Kranz zu schmücken.
Einen eigenen Geldbeutel hatte ich nicht, ich hatte die siebzig Mark lose in einer Stofftasche.

Zielgenau nahm ich Kurs auf das erste Geschäft mit Schmuck und Uhren. Zuerst kaufte ich silberne Ohrringe mit blauen Steinen, die ließ ich mir gleich anbringen. Mir wurde übel, als der Meister die Löcher stach. Dann riss ich mich zusammen, zahlte die Ohrringe und verlangte eine Sportuhr. Da entschied ich mich passend zu den Ohrringen eine silberfarbene zu nehmen. Ich holte den 50-Markschein aus meiner Tasche und zahlte die Uhr. Dann fragte ich nach einem Ring in Silber mit blauem Stein. Das Geld reichte bis auf eine Mark.

Der Uhrmacher gab mir den Ring trotzdem und schenkte mir die Mark. Ich legte die Uhr an, steckte den Ring an den Finger, schaute in den Spiegel und ging stolz aus dem Laden. Je näher ich mich unserem Haus näherte, umso mehr merkte ich ein komisches Gefühl in der Magengegend. Langsam war ich mir bewusst, dass es nicht gut enden konnte.

Kurz vor unserem Haus, nahm ich die Uhr und den Ring und steckte sie in meine Tasche. Das musste sie ja nicht gleich sehen. Erst am Abend beim Essen merkte sie, dass ich Ohrringe hatte. Sie machte abfällige Bemerkungen und ich nahm meine Schultasche mit nach oben weil ich noch etwas lernen wollte. Dann verschwand ich nach oben. Mir war es schlecht vor Angst, was sie machte wenn sie merkte, dass ich das Geld genommen hatte.

Am nächsten Morgen kam ich zum Frühstück in die Küche und Mutti war ganz scharf darauf meine Haare zu kämmen. Geschickt fuhr sie mit den Zinken vom Kamm in den linken Ohrring und zog bis es blutete. "Woher hast du die Ohrringe?" wollte sie wissen. "Von Lore, log ich sie an, "Ich war doch am Montag bei ihr." Ich hatte Ruhe bis Samstag. Als ich da von der Schule kam, hatte sie ihr ganzes Geld aus dem Wäscheschrank auf ihrem Bett ausgebreitet, immer Häufchen mit 100 Mark. Angeblich wusste sie genau wie viel Geld sie da hatte, und es fehlte ihr ein Haufen Geld. Wie viel wusste sie noch nicht, sie musste noch ein paar Mal zählen.

Dann kam Vati und fragte wie viel Geld ich gestohlen hatte. "Ich habe gar nichts gestohlen, ich habe nur mein Geld genommen. Das Geld von Tante Lina. Mutti kam und hatte gehorcht. Jetzt wusste sie plötzlich genau wie viel Geld ihr fehlte. "Was hast du sonst noch gekauft“, wollte sie wissen. "Eine Armbanduhr und einen Ring“, sagte ich zögerlich.

Vati wollte dass ich es zeigte. Dann nahm sie die Uhr und den Ring und verlangte, dass Vati es zurück bringen sollte. Ich sei nicht "geschäftsfähig" und der Uhrmacher hätte mir nichts verkaufen dürfen. Jetzt wollten sie wissen wo ich es gekauft hatte. Ich verriet es nicht. Immer wieder zog sie an meinen "Lügenohrringen", wie sie die Dinger nannte. Mein linkes Ohr war ganz entzündet. Am Sonntag hatten wir dann einen großen Schneesturm und es schneite unaufhörlich.

Sie drohte mir, wenn ich jetzt nicht sage wo ich die Sachen gekauft hätte, würde sie mich windelweich schlagen. Ich sah das Wetter, den hohen Schnee und sagte: "Meine Schulfreundin hat es mir verkauft." Die haben zu Hause ein Uhrmacher-Geschäft. Nun hatte ich eine Schulkameradin, Hedda. Die wohnten in einem entlegenen Dorf, wo normal kein Mensch hinkommt. Das die Eltern zwei Uhrengeschäfte hatten, wusste ich gar nicht, es war reiner Zufall. Ich dachte nicht im Traum daran, dass Mutti den armen Vati bei dem Wetter dahin schickte.

Sie schickte ihn los. Da Vati ja schon immer hier gewohnt hatte, kannte er auch jedes kleine Nest. Er machte sich am Sonntagmittag auf den Weg zu Hedda, die hatte keine Ahnung. Aber ich hoffte, dass er dort niemals ankam. Ich saß in der Küche und Mutti beschimpfte mich in einer Tour. Es wurde Abend und es war schon lange dunkel. Vati kam wie ein Schneemann zur Tür herein.

Dann setzte er sich. "Deine Freundin Hedda ist ein ganz liebes Mädchen. Sie war sehr freundlich zu mir und hat mir Kaffee gekocht. Ihre Eltern waren nicht da, die waren im Theater. Sie hat mich noch zum Bahnhof gebracht. Von ihr hast du den Ring und die Uhr nicht." Sie fingen aus Neue an mich zu bearbeiten, ich sollte sagen woher ich die Sachen hatte. Jetzt hatte ich die Nase voll und sagte: „ ich habe es in der Bahnhofstraße gekauft. In welchem Laden, weiß ich nicht mehr.“

Na, da waren drei Läden, dann sollte er mal gucken in welchem Laden ich war. Die Ohrringe ließen sie mir, damit Mutti was zum ziehen hatte. Ich ging in die Schule, und da standen die Mädchen aus meiner Klasse und tuschelten. Ich hielt mich von ihnen fern, weil ich mich schämte. Im Stillen hoffte ich, dass Lore vielleicht die Sache aufklärte. Ihr hatte ich doch erzählt, dass mir meine Tante Geld gegeben, und Mutti es mir wieder genommen hatte. In der Schule sprach ich mit niemandem mehr, ich zog mich von allen zurück.

Die Lehrerin merkte, dass ich so still geworden war, und sie setzte mich wieder um. Weil vor ihrem Pult die besten und die reichsten waren, wagte sie es nicht jemanden da weg zunehmen. Sie wollte mich genau beobachten und setzte mich zwischen Lore und Hedda. Nun war es eng an dem Tisch. Und ich wäre in jedes Mauseloch gekrochen, so peinlich war es mir. Ich vermutete Mutti war bei der Bockmann ,und hatte ihr alles aus ihrer Sicht erzählt. Bestimmt war sie auch bei Frau Sorge gewesen.

Am Montag ging ich in die Schule und blieb wieder nach dem Unterricht in der Klasse, um nachher zum Konfirmanden-Unterricht zu gehen. Als ich danach heim kam, hatte Vati den Uhrmacher ausfindig gemacht, bei dem ich eingekauft hatte. Die Uhr und den Ring hatte er zurück genommen, wobei Vati ein neues Armband für die Uhr bezahlen musste. Der Uhrmacher hatte sich schon gewundert, dass ich das Geld lose in der Tasche hatte.

Ich saß immer allein beim Essen, ich war jetzt schließlich ein Dieb und ein Lügner und mit so etwas setzte man sich nicht an einen Tisch. Am Dienstag ging ich zur Post, kaufte von meinem heimlichen Geld, eine Postkarte mit Briefmarke und schrieb an Tante Lina.

In der Schule hielt ich mich zurück, und sprach mit niemand. Sie wussten bestimmt schon alle Bescheid und dachten ich sei ein Dieb. Weihnachten gab es keinen Tannenbaum und außer ein paar Plätzchen auch keine Geschenke. Mein Ohr war entzündet, und ich erlöste die Ohren, nahm die Ohrringe ab und warf sie weg. Zwei Wochen später waren die Ohren verheilt und ich habe nur noch ein einziges Mal Mittelohr-Entzündung bekommen, das war 40 Jahre danach.

Im neuen Jahr kam Frau Sorge. Sie ging nicht mit mir hinauf. Wir saßen unten in der Küche und Mutti ließ sich nicht abweisen, Sie wollte wissen was ich der Fürsorgerin für Lügen-Märchen auftischte. Ich war völlig verstockt und sprach kein Wort. Mutti log, es war nicht auszuhalten. Auch Vati sagte "ja,ja" als sie wissen wollte, was er zu sagen hätte, sonst nichts. Frau Sorge verabschiedete sich und sagte scharf zu mir: "Wenn du nicht einsichtig bist und nicht redest, kann ich dir auch nicht mehr helfen." Zu meinen Eltern meinte sie, dass ich die Schule noch zu Ende machen sollte. Dann hätte sie vielleicht eine Möglichkeit mich unterzubringen.

An einem der nächsten Sonntage marschierten wir dann zu Onkel Heini. Mutti ging mit Vati voraus, und ich mit einem anständigem Abstand hinterher. Sie brauchte ein neues Festtagskleid, denn bei der Konfirmation konnte sie nicht das gleiche Kleid anziehen wie bei der Silberhochzeit. Mir müsse man auch einen Stoff kaufen für ein Konfirmationskleid. Wir kamen bei Onkel Heini an, und während Mutti ihren edlen Stoff auswählte, holte ich Tante Minna. Ich hoffte auf ihre Hilfe ich wollte ein schwarzes Taftkleid, wie alle Mädchen aus unserer Klasse.

Tante Minna wollte es versuchen, aber sie sah schwarz, "wenn Mutti merkt, dass du etwas willst, kriegst du es nicht." Wir kamen in den Laden und ich wurde gleich angefahren, wo ich denn schon wieder war. "Na, sie wird mich doch wohl begrüßen dürfen," versuchte Tante Minna die dicke Luft durch zu schneiden. Als Mutti ihren Stoff ausgesucht hatte, brauchte sie noch schöne Strümpfe. Dann war ich an der Reihe. Tante Minna legte schwarzen Taft auf den Tresen in allen Variationen. "Das kommt mal gar nicht in Frage," bestimmte Mutti, und der Stoff kam wieder ins Regal. Meine Tante warf mir einen traurigen Blick zu und zuckte mit den Schultern.

"Kein schwarzes Kleid, dunkelblau, sie soll es ja auch sonst anziehen können." Sie ging ans Regal und suchte dunkelblaue Stoffe aus von denen mir keiner gefiel. Onkel Heini versuchte die Situation zu retten, und erklärte, was die Mädchen in diesem Jahr tragen: "Wenn schon dunkelblau, dann aber bitte die naturkrause Seide. Ich will mich nicht schämen müssen, mit dem Stoff den ich verkauft habe. Ich bekam von der Seide, mir gefiel es aber nicht.

Dann brauchte ich noch Strümpfe. Nylon-Strümpfe war das was alle Mädchen bekamen. Mutti wollte das nicht für mich, die wären viel zu dünn und gleich kaputt. Sie nahm ein schwarzes und ein braunes Paar "Altweiberstrümpfe" für mich. Tante Lina kam mit einem Strumpfhaltergürtel, "den braucht sie auch." "Ja," sagte Onkel Heini an Seidenstrümpfe kann man keine Knöpfe nähen." Dann holte er noch die Schublade mit BHs und Mutti schob die gleich an die Seite, "Sie hat doch noch nichts für darein."

Als Onkel Heini zusammenpackte, sah Mutti einen blau karierten Stoff, und den wollte sie auch noch, der gefiel ihr. Mir war klar, das Karo war zu groß für Muttis kleine pummelige Figur das würde sie merken, wenn es fertig ist. Zu mir meinte sie, ich könnte von dem grün karierten nehmen, wenn ich ein Schulkleid wollte. Ich nahm davon, und wusste genau, dass er mich kleiden würde.

In unserer Nachbarschaft wohnten eine Schneiderin, und eine Frau die auch nähen konnte, Ich sollte fragen wer mein Konfirmationskleid näht. Die Schneiderin hatte keine Zeit so blieb mir nur die Frau, deren Haus an unseren Garten grenzte.

Mutti bestellte für sich die Schneiderin aus ihrem Dorf. Aber die wollte das Konfirmationskleid nicht nähen, weil Mutti ihre Maschine keinen Zickzack-Stich hatte und sie immer alles von Hand versäubern musste. Der Stoff von mir war ihr zu fusselig. Das Festkleid für Mutti wurde ja ganz schön, aber das karierte sah richtig blöd aus. Ich war schadenfroh und Mutti war ärgerlich.

Die Schneiderin nähte dann noch mein grün-kariertes Schulkleid. Ich wollte ein ganz einfaches Kleid, mit Passe und vorn und hinten vier Falten. Einen Gürtel hatte ich ja. Als es fertig war, wurde es mein Lieblingskleid. Mein Konfirmation-Kleid hingegen gefiel mir überhaupt nicht. Der Schnitt, den Mutti im Geschäft gekauft hatte, war überhaupt nicht schön. Vorn hatte es einen angekrausten Rock, hinten war er glockig. Das Oberteil war vorn mit zwei angekrausten Bahnen besetzt die dann auf der Schulter angerüscht waren. Kurzum das Kleid war bescheuert. Ich fühlte mich in dem Kleid unwohl.

Eines Tages bekam ich dann auch noch Schuhe. Zu gern hätte ich Lackschuhe gehabt, sie kaufte Wildlederschuhe. Von der Größe her reichlich bemessen, denn es konnte ja sein, dass meine Füße noch wachsen würden. Da ich mich totunglücklich fühlte, dachte ich an Mamas Mantel, der immer noch in Lisbeths Zimmer, im Schrank hing.

Ich ging hinauf ihn anzuprobieren, und er passte. Den wollte ich anziehen, damit ich wenigstens einen schönen Mantel hatte. "Den Mantel kannst du anziehen, wenn du willst, aber nicht zur Konfirmation“, dämpfte Mutti meine Freude. Sie holte aus ihrem Schrank einen beigen Wollmantel mit Fischgrätenmuster. Der hatte schon lange ausgedient, und ich musste die ausgerissene Tasche stopfen. Den sollte ich anziehen.

Wenn ich abends in meinem Zimmer saß, tat ich mir selbst leid und heulte. Allen Tanten hatte ich Einladungskarten geschickt und ich war gespannt ob sie kommen würden.

Dann kam der Sonntag vor der Konfirmation. Da hatten wir Konfirmanden-Prüfung. Wir mussten eine Stunde früher in der Kirche, sein als die Eltern. Unser Pastor ließ vom Fotograf ein Foto machen. Danach zeigte er uns unsere Plätze direkt vor dem Altar. Ich war froh, dass ich von vorn gesehen, ganz hinten saß. Alle hatten ihre schönen Kleider an, nur ein Mädchen hatte ein himbeerfarbenes Ballkleid an. Sie sagte stolz sie habe zwei Kleider bekommen, das was sie an hatte und ein schwarzes für die Konfirmation. Beide Kleider waren aus rauschendem Taft.

Lore saß wie immer vor mir, sie drehte sich zu mir um, schaute mein Kleid an und sagte, "das ist ja aus Seide." Sonst sagte sie nichts. Meine Hände waren ganz blau, weil mein Kreislauf an dem Tag total unten war. Vati erzählte nachher, dass er mich an meinen blauen Händen erkannt hätte, wenn ich angezeigt hatte. Auf dem Heimweg schauten alle Leute auf meinen total bescheuerten Mantel. Das entging Mutti nicht, und ich glaube sie schämte sich mit mir.

Am Freitag vor dem "großen Tag", kam ich von der Schule und Mutti bügelte einen neuen Popelinmantel. Als sie fertig mit bügeln war sollte ich ihn anprobieren. Er passte und war auch noch sehr schön. Ich war klug genug meine Begeisterung für mich zu behalten.

Linda, meine Kusine hatte am letzten Sonntag schon Konfirmation gehabt. Alle Tanten waren mit ihren Männern schon bei Tante Martha und würden am Sonntagmorgen geschlossen zu uns kommen.

Wegen Schlafgelegenheiten brauchten wir uns also keine Gedanken zu machen. Annis älteste Tochter und Lindas große Schwester würden sich um das Essen kümmern.

Sie kamen alle pünktlich bevor wir in die Kirche gingen. Nur Onkel Heini und Tante Minna nicht. Sie hatten selbst ein Konfirmations-Kind. Bernd hatte am gleichen Tag, aber bei einem anderen Pastor Konfirmation. Onkel Heini und Tante Minna standen an der Kirchentür, als wir aus der Kirche kamen. Sie gratulierten mir und gaben mir ein Päckchen als Geschenk mit. Das war jetzt mein erstes Geschenk.

Die beiden Kusinen waren zu Hause geblieben und die Gratulationen der Nachbarn angenommen. Es waren viele Karten und kleine Geschenke abgegeben worden. Meistens bestickte Taschentücher, Sammeltassen und Handtücher für die Aussteuer.

Ich durfte die Karten behalten und schrieb mir auf was dabei war, damit ich wusste für was ich mich nachher bedanken musste. Die Tanten hatten auch alle Karten und kleine Geschenk. In die Karten hatten sie Geld gesteckt. Mutti sammelte die Karten ein und schrieb auf wie viel darin war, das Geld nahm sie aber heraus. Sie hatte ja auch Unkosten und Mutti machte nichts ohne Berechnung.

Das Essen war sehr gut es ähnelte dem Essen an der Silberhochzeit. Ich bekam auch ein Glas von dem selbstgemachten Wein. Es sei ja mein Ehrentag meinte Mutti. Nach dem Nachtisch, zog es den Onkel aus Schleswig Holstein wieder in die kleine Kneipe in der Nachbarschaft. "Nach dem guten Essen, müssen wir schon noch n´Lütten heben, „ stellte er fest, und sie Männer schoben geschlossen ab. Die Tanten folgten Mutti zur Runde durch die Nachbarschaft. Nach dem Kaffee wollte man dann noch einen Schaufensterbummel machen.

Niemand merkte, dass ich allein zurückblieb.

Ich nutzte die Zeit um meine Geschenke zu bewundern. Frau Bollmann hatte mir ein Reiseetui geschenkt, mit Haarbürste, Spiegel und was man sonst noch im Bad brauchte. Von Frau Lindemann hatte ich alles für die Maniküre bekommen. Es war ein schönes rotes Etui.

Die Tanten hatten Sammeltassen und Handtücher geschenkt. Nur Tante Anni hatte mir eine kleine silberne Schale geschenkt. Im Päckchen von Onkel Heini waren zwei Kleiderstoffe für Sommerkleider. Der eine Stoff war ein roter Baumwollstoff mit kleinen Blümchen, der andere war weiß mit bunten Blumen aus dünnem Baumwollkrepp.

Die Männer kamen zuerst wieder ins Haus. Sie schienen leicht angesäuselt. Als Mutti kam, machte sie eine recht dumme Bemerkung. Daraufhin setzten sich Vati und die anderen Männer ans untere Tischende, wo ich auch meinen Platz hatte. Den Frauen war das Recht, jetzt waren sie unter sich und konnten tratschen. Sie sprachen über ihre Männer. Tante Anni erzählte dass ihr Mann heute Morgen einen Socken in der Hand hatte und einen am Fuß, und trotzdem immer noch den zweiten Socken gesucht hatte.

Mutti lästerte auch und Vati seufzte: "Ein Weib, ein Weib, ein bitterböses Weib, hat mir der Herr gegeben.- Nimms Weib von mir, nimms Leid von mir, dann kann ich ruhig leben." Die Männer lachten beifällig. Ich wusste nicht, wie ernst er es meinte und konnte darüber nicht lachen.

Nach dem Kaffee gingen die Tanten mit Mutti zum Bummel durch die Geschäftsstraßen. Sie nahmen ihre Männer mit, ob die sich unterwegs abseilten, weiß ich nicht.

Ich wollte nicht mit, meine Schuhe waren unbequem. "Hast du die denn nicht anprobiert?" fragte Tante Anni. "Doch, aber ich wollte die ja auch nicht," sagte ich etwas zögerlich. Mutti erklärte dann, dass ich mit meinem Dickkopf unbedingt Lackschuhe gewollt hatte. "Und warum hat sie die nicht bekommen?" wollte Tante Martha wissen. "Weil Kinder nichts zu wollen haben“, war Muttis kurze Antwort.

Ich war froh, als alle draußen waren und blieb bei den beiden Kusinen in der Küche. Die beiden hatten schon einen Führerschein gemacht und waren mit zwei Autos gekommen. Wenn die Feier aus sei, wollten sie dafür sorgen, dass alle gut nach Hause kämen. Am Abend gab es noch ein gutes Abendessen, dann verabschiedeten sich alle und das Haus war wieder leer.

Die beiden Etuis durfte ich mit in mein Zimmer nehmen, und die Taschentücher auch. Alles andere räumte Mutti in die Schränke.

Die Konfirmation war vorbei, das Schuljahr auch und das Zeugnis war nicht gerade zum Angeben. Wie auch, ich hatte ja fast alle Fächer bei Fräulein Bockmann.

Das änderte sich im nächsten Jahr. Die Klassen wurden gemischt, Jungen und Mädchen also die Hälfte unserer Mädchen kamen in eine andere Klasse. Ich hatte eine Chance von 50% in eine andere Klasse zu kommen.

Aber wie bei jedem Spiel, ich hatte schlechte Karten. Ich wurde die Bockmann nicht los. Aber wir bekamen noch zwei Lehrer dazu, der eine war Herr Kunze. Das war für mich ein Lichtblick. Bei ihm hatten wir Musik, Zeichnen, Naturkunde, Geschichte und Steno, als Wahlfach. Er war immer gerecht. Der andere Lehrer war der Verlobte von Fräulein Schneider. Bei ihm hatten wir alles was mit Mathematik zu tun hatte.

Ach ja, dann war da noch Physik und Chemie, dazu mussten wir in einen großen Raum, den Physiksaal, zusammen mit einer zweiten Klasse. Den Lehrer nannten wir Tretmine, wenn man ihm zu nah kam, konnte er explodieren. Ich kam ihm nie zu nah, weil ich den Unterricht meistens schwänzte. Man konnte ihn sowieso nicht verstehen, er hatte einen Sprachfehler. Ich lernte zu Hause aus meinem Buch und tauchte dann auf, wenn eine Arbeit geschrieben wurde. Die fielen dann auch mittelmäßig aus.

Mein letztes Schuljahr

 


    Wieder bekamen wir ein neues Klassenzimmer. Wir saßen auf Stühlen, an quadratischen Tischen. Überall saßen vier Schüler an einem Tisch, nur bei mir am Tisch saßen drei. Ich saß gleich am ersten Tisch neben der Tür. Bei mir saßen Stiene, und Greta, die Bäckerstochter.

Gleich zu Beginn des Schuljahres, kam der Arzt zur Untersuchung. Ich wollte ja nicht mit ins Schullandheim, wurde aber trotzdem untersucht. Meine Kreislaufstörungen störten den Arzt so sehr, dass er mir eine Kur verordnete. Meine Eltern würden von ihm informiert, versprach er. Wegen meiner Schilddrüse sollte ich dringend meinen Hausarzt aufsuchen. "Du gefällst mir gar nicht“, sagte er abschließend. Die Mädchen kicherten wieder albern und tagelang äfften sie den Doktor nach: "Du gefällst mir gar nicht!"

Zu Hause erzählte ich nichts von der Kur, ich sagte nur, dass ich zu meinem Hausarzt sollte. Vati wollte meine Augen durchleuchten, um eine Diagnose zu stellen. Er wollte auch gleich nach meinem Magen schauen, weil ich immer Beschwerden hatte. Die Schilddrüse würde ich mal operieren lassen müssen, meinte er. Am Magen konnte er nichts finden, er glaubte es sei die Galle. "Blödsinn, Kinder haben es nicht an der Galle," war Muttis Kommentar dazu. Ich hielt mich zurück und wollte in der nächsten Woche zum Hausarzt gehen.

Zum Arzt konnte ich allein gehen, dafür war ich nicht zu klein. Auch nicht für die Gartenarbeiten die jetzt wieder auf mich zu kamen.

Beim Arzt klagte ich wegen meiner Schilddrüse, die mir zu schaffen machte. Schließlich gab er mir ein Attest für die Schule, dass ich am Turnunterricht nicht teilnehmen sollte. Es sei zu anstrengend für mich. Ich freute mich darüber, denn Turnen war überhaupt nicht mein Lieblingsfach. Dass ich es an der Galle hätte, sei höchst unwahrscheinlich, aber er wollte das im Auge behalten.

Mit dem Teilerfolg in der Tasche, ging ich glücklich nach Hause. Zwar durfte ich dann auch nicht mehr schwimmen, aber ich hatte ja auch keinen Badeanzug. Ob mir Lore wieder einen leihen würde, war ungewiss. Meiner Turnlehrerin gab ich die Bescheinigung vom Arzt, und musste fortan auf der Bank sitzen und zuschauen.

Bei Herrn Kunze machte mir der Unterricht Spaß, und ich hatte durchweg gute Noten in den Fächern , die wir bei ihm hatten. So nahm ich auch freiwillig an Stenographie teil, was mir ausnahmsweise besonders gefiel. Das war jetzt wieder etwas, was zu Hause keiner konnte. Ich konnte schreiben was ich wollte und war sicher, dass es niemand lesen konnte. Die Mitschülerinnen sagten neidvoll, ich sei das absolute Steno-Ass. Wir hatten auch Französisch als Wahlfach, darauf verzichtete ich, weil mir das Lernen zu viel war, und ich doch nur noch dieses Jahr zur Schule gehen würde.

In der Schule lernten wir Bewerbungen schreiben und ich bewarb mich bei mehreren Firmen.

Auf Drängen von Herrn Kunze ging ich in den Stenoverein. Das war auch ganz im Sinne von Mutti. Sie wollte, dass ich auch einen Schreibmaschinenkurs belegen sollte. Denn wenn ich das könne, bekäme ich eine gute Stelle und würde auch gut verdienen. Ich schob die Anmeldung auf, es war mir alles zu viel. Da war ja auch noch der Garten.

Lange Zeit hörte ich nichts vom Gesundheitsamt wegen der Kur. Bis eines Tages eine junge Dame an unserer Klassentür klopfte. Da ich gleich neben der Tür saß, machte ich auf. Sie bat die Lehrerin mich für eine halbe Stunde zu beurlauben, da sie mit mir etwas zu besprechen hätte. Da erfuhr ich nun, dass Mutti behauptet hatte, dass ich die Kur nicht wollte. "Du bist nie zu Hause wenn ich komme," klagte die junge Frau. Ich erklärte ihr, dass ich nach den Hausaufgaben im Garten sei.

Natürlich wollte ich die Kur. Jetzt würde sie sich intensiv darum kümmern, versprach sie. Geduldig stattete sie Mutti immer wieder einen Besuch ab. Aber sie hätte siebzig Mark dazuzahlen müssen, und das wollte sie nicht. Schließlich trieb die Frau das Geld anderweitig auf. Als sie mir eines Mittags begegnete, triumphierte sie: "Jetzt hat sie zustimmen müssen, sie braucht nichts zuzuzahlen, und ich habe ihr mit dem Jugendamt gedroht." Oh sagte ich: "Da hat sie aber doch keine Angst davor." Du wirst in der zweiten Februarwoche fahren, und am ersten April zurück kommen. Ich sage dir noch Bescheid wohin du fährst."

Wir machten wieder einen Schulausflug zum Steinhuder Meer. Ich durfte mitfahren, kann mich aber an nichts mehr erinnern. Als wir danach auch noch zur Freilichtbühne nach Tecklenburg fahren wollten, war Mutti strikt dagegen. Wir könnten doch nicht immer in der Weltgeschichte herumfahren. Lore sorgte dafür, dass ich auch dabei war. Das Wetter war so schlecht, es regnete in Strömen und die Vorstellung "Wilhelm Tell", fiel aus.

Auf meine Bewerbungen bekam ich auch Zusagen, aber ausgerechnet das waren Stellen, die Mutti nicht gefielen. Im Konsum zum Beispiel, würde man täglich mit Fisch zu tun haben und danach stinken. Im Sanitätshaus, habe man mit seltsamen Dingen zu tun, und das sei ein peinlicher Beruf. Sie hatte immer etwas auszusetzen.

Vati ging eines Tages in die Stadt und fand für mich eine Arbeitsstelle in einem Warenhaus als Bürolehrling. Den Chef kannte er von der Schule her. "Wie kommst du so schnell an die Lehrstelle“, fragte ich, "und das ganz ohne Bewerbung." Vati schmunzelte und meinte: "Er musste ja sagen, ich hatte noch ein Ass im Ärmel."

Ich stellte mich dort vor und bekam einen Lehrvertrag. Jetzt war Mutti auch zufrieden. Im ersten Lehrjahr sollte ich 39 Mark verdienen, das war zwar wenig, aber immerhin besser wie gar nichts.

In den Sommerferien durfte ich ein paar Tage zu Tante Martha in die Mühle, weil dort auch alle Mädchen von Tante Anni zu Besuch waren. Tante Anni selbst war im Krankenhaus, sie bekam wieder ein Kind und wollte dieses Mal nicht zu Hause entbinden. Sie hoffte auf den langersehnten Sohn. Zwei Tage später erfuhren wir, dass sie wieder enttäuscht wurde. Das Mädchen hieß Anne-Marie.

Die Mädchen von Tante Anni, bekamen von Helena und Ursula, jedes ein neues Kleid genäht. Alle vom gleichen Stoff, rot mit bunten Luftballons. Wir schliefen in zwei aneinander liegenden Zimmern, mit Verbindungstür. Mutti hatte mir ihren kleinen Koffer mitgegeben, und vergessen, mir ihr Notfallpaket mitzugeben. Gleich nach meiner Ankunft, hätte ich es dringend gebraucht. Schon von der Wäsche her, fühlte ich mich gar nicht wohl, und vermied es mit den anderen Kindern zu spielen. Weil mir das peinlich war, sagte ich auch zu niemandem etwas und lief die ganze Zeit mit meiner schmutzigen Wäsche herum.

Ich kam mir ziemlich überflüssig vor, und fuhr am vierten Tag wieder zurück. Nie wieder würde ich zu Tante Martha fahren, nahm ich mir vor.

Als ich zu Hause ankam, war Mutti im Garten und pflückte Bohnen. Sie war schon wieder angefangen einzukochen. Die Neuigkeit von Tante Annis neugeborenem Kind, wusste sie noch nicht. Sie hätte es gern ganz genau gewusst, aber ich hatte es auch nur am Rande mit bekommen. Aber ich konnte ihr sagen wie die Kleine hieß, und der Name gefiel ihr. Sie nahm ihre Bohnen mit und wir gingen zum Kaffee trinken in die Küche. "Du siehst schlecht aus“, stellte sie fest, hast du denn nicht gut geschlafen?" Ich erzählte ihr was passiert war und sie holte ihr Notfallpäckchen. "Das werde ich jetzt nicht mehr gebrauchen ich glaube es ist vorbei," sagte ich zu ihr. Ich solle es trotzdem mit in mein Zimmer nehmen, denn ich würde es ja bald wieder benötigen.

Vati kam aus der Stube, er hatte ein Mittagsschläfchen gemacht, ich glaube er hatte gar nicht mitbekommen, dass ich ein paar Tage weg war. Seit dem Vati nicht mehr zur Arbeit musste, schliefen meine Eltern morgens länger. Ich durfte den Wecker abends mitnehmen, damit ich wusste wie spät es war.

Die Sommerferien verbrachte ich fast nur im Garten, da hatte ich immer etwas zu tun, und auch Gelegenheit, mich nebenher mit meinen Hühnern zu beschäftigen. Vati kam selten zu mir in den Garten, ich hatte den Eindruck, dass er die Tageszeitung mehrmals am Tag las.

In der oberen Wohnung war Frau Stadler eingezogen, sie kam aus Bayern und hatte ihre alte Mutter dabei, die man nicht verstehen konnte. Ich vermutete, dass man in Bayern kein Deutsch sprach. Frau Stadler konnte aber richtig deutsch sprechen und ihr Sohn, der nicht ganz richtig im Kopf war sprach auch deutsch, wenn er dann mal den Mund aufmachte. Er war ein fleißiger Junge und ging jeden Morgen um sieben Uhr zur Arbeit in die Friedhofsgärtnerei. Den ganzen Sommer trug er kurze Hosen und Gummistiefel und sah putzig aus damit. Frau Stadler nähte als Heimarbeiterin Knöpfe an weiße Blusen. Da kam jede Woche eine dicke Frau mit einem Fahrrad und einem Koffer. Sie holte die fertigen Blusen ab und brachte neue Arbeit. Mich nannte Frau Stadler nur "Putzliesel" Sie war aber im Grunde genommen ganz nett.

Der Sommer ging vorüber und ich ging wieder zur Schule. Mein Herbstzeugnis hatte durch Herrn Kunzes guten Noten, ein wenig an Glanz gewonnen. In den Steno-Verein ging ich gerne und hatte da auch die Bekanntschaft eines jungen Mädchens gemacht, die nicht weit von uns entfernt wohnte. Beim Steno-Verein war ich immer mit ihr zusammen und wir gingen auch gemeinsam heim. Nun hatten wir einen großen Wettbewerb, da wurde uns in verschiedenen Geschwindigkeiten diktiert. Wir schafften es auf 100 Silben und schrieben den Text einwandfrei ab.

Am Samstag war dann der große Stenographenball und wir sollten dort unsere Urkunden bekommen. Meine Steno-Freundin und ich hatten ein Problem, wir waren für den Ball zu jung, und durften nur mit Begleitung dahin. Ihre Mutter war Nachtschwester und konnte nicht, und einen Vater hatte sie nicht mehr. Ich sah schwarz, für uns Mutti würde bestimmt nicht mitgehen, und Vati?? Wenn es Vati gut gehen würde, dann sollte er uns begleiten, bestimmte Mutti. Es kam mir vor, als ob Mutti stolz darauf war, dass ich schon 100 Silben schaffte. Vor allem war sie beeindruckt, dass ich es auch lesen konnte.

Dann kam der Samstag. Vati war ausgeschlafen und Mutti sorgte dafür, dass es ihm rundum gut ging. Als ich von der Schule kam, machte er noch ein ausgiebiges Mittagsschläfchen. Danach sagte sie ihm erst, dass er mit mir ausgehen sollte. Er arbeitete sorgfältig an seiner Kleidung und griff zu einer Fliege, um jugendlicher zu erscheinen. Ich zog mein Konfirmationskleid an, es war ja dunkelblau und nicht unbedingt als ein solches zu erkennen.

Mittags hatte ihm Mutti noch die Haare geschnitten, das machte sie übrigens immer. So lange wie ich denken konnte war Vati nie beim Friseur. Beim Abendessen erfuhr er noch, dass wir zum Stenographen-Ball wollten. Da zog er die Schuhe mit Gummisohlen wieder aus und zog Schuhe an, die Ledersohlen hatten. "Mit Gummisohlen, kann man nicht tanzen." bemerkte er. Vati tanzte gern und war auch früher wohl ein guter Tänzer gewesen.

Mutti dagegen passte in kein Tanzkleid. Sie war zu klein und hatte keine Taille. Als er dann erfuhr, dass wir noch ein Mädchen mitnehmen müssten, wollte er zwei Rosen abschneiden, für "die Damen". "Nee, lass mal Vati", hielt ich ihn zurück, "Da sind fast nur ganz junge Leute, die haben keine so gute Manieren wie du."

Dann gingen wir los, und Vati schien in seinem Element zu sein.
Wir erreichten die Stadthalle und waren früh dran. Vati fand genau den richtigen Tisch für uns. Wir saßen nah an der Tanzfläche und konnten auf die Bühne sehen. Vati bestellte eine Flasche Rotwein und drei Gläser. Wir Mädchen waren ja keinen Wein gewohnt, und tranken nicht so viel. Vati schmeckte der Wein. Als dann die Ehrungen anfingen, begann der Veranstalter mit den ersten drei Preisen. Das waren die zwei Damen und seltsamer Weise auch ein Herr. Sie hatten die meisten Silben in der Minute geschafft und bekamen Radios als Preis und natürlich eine Urkunde.

Dann wurden ein paar Runden getanzt. Da wurden flotte Stücke gespielt, denn die Musik aus Amerika fing sich an durchzusetzen. Das war nichts für Vati. Er wartete geduldig bis Walzer und Tango gespielt wurde. Dann tanzte er einmal mit meiner Steno-Freundin und einmal mit mir. Sonst wollte niemand mit uns tanzen.

Vati bedauerte das zwar, aber wir waren gar nicht scharf darauf, wir wollten nur unsere Urkunden. Das dauerte eine Ewigkeit, denn die, die 100 Silben und weniger hatten, kamen zum Schluss an die Reihe. Als wir endlich dran waren, ging es schon auf Mitternacht zu. Der Fotograf schoss noch ein Bild für die Zeitung und Vati trank den Rest Wein. Dann machten wir uns auf den Heimweg. Wir waren alle recht lustig. Nachdem wir meine Freundin abgeliefert hatten, waren wir auch fünf Minuten später daheim.

Für unser spätes Erscheinen bekam Vati eine gehörige Standpauke. Ihm machte das aber scheinbar nichts aus, denn er hatte mehr getrunken als ich.
Am Sonntag meinte Mutti, dass man uns nirgends hin lassen könnte. Das machte mir wiederum nichts aus, denn so prickelnd war der Abend nun auch nicht, und die Urkunde hätte ich sicher auch später noch bekommen.

Am Montag wurden in der Zeitung alle erwähnt, das versöhnte Mutti dann wieder. Sie meinte wenn ich auch noch Maschinenschreiben lernen würde, könnte ich Sekretärin werden.

Als die Adventszeit begann, mussten wir in der Schule ein Gedicht schreiben, passend zur Vorweihnachtszeit. Das Beste sollte in die Schulzeitung kommen. Die Gedichte wurden eingesammelt, und verschiedene Lehrer wählten aus. Fräulein Bockmann konnte es nicht verhindern, dass mein Gedicht das Beste war. Sie fragte mich mehrmals ob ich es nicht doch irgendwo abgeschrieben hatte.

Mein Gedicht kam auf die erste Seite der Ausgabe. Ich war natürlich sehr stolz. Meine Mitschülerinnen wollten nun alle ein persönliches Gedicht von mir. Also dichtete ich am laufenden Band. Dann bekamen wir Ferien und ich war von der Aufgabe wieder erlöst.

Vor Weihnachten bekam ich dann Bescheid, dass ich nach Buchau zur Kur sollte. Das sei am Federsee, von dem noch kein Mensch etwas gehört hatte. Ich nahm den Atlas und suchte alle Seen in Deutschland ab. Erst als ich eine vergrößerte Karte von Süddeutschland studierte, fand ich den kleinen See und den Ort Buchau. Mutti war entsetzt: " Das ist ja fast am Bodensee, da bin ich noch nie hingekommen." Es war ihr anzusehen, dass es ihr nicht recht war. Vati meinte dazu: "Für sechs Wochen lohnt sich die weite Reise aber."

Zu Weihnachten bekam ich Unterwäsche, damit ich für sechs Wochen genügend zum Anziehen hatte. Nach Neujahr ging ich noch ungefähr fünf Wochen zur Schule. Für die Klassenlehrerin hatte ich ein Schreiben. Da ich ja nicht mehr in die Schule zurückkommen würde, verabschiedete ich mich von Fräulein Bockmann.

Ich empfand ein Gefühl des Triumphes, und dachte: Die bin los. "Wenn du zurückkommst, musst du dein Zeugnis im Rektorat abholen," sagte sie noch zu mir.

Renate, die an der Ringstraße wohnte, wollte sich mit mir anfreunden und kam mit mir nach Hause. Sie wollte auf der Landkarte sehen wohin ich fuhr. So kamen wir gemeinsam in die Küche. Mutti hatte den Tisch gedeckt und fragte Renate ganz freundlich: "Musst du denn nicht nach Hause? Jetzt ist doch Mittagszeit." "Nein“, kam es leise von Renate, "Wir essen erst abends, wenn meine Mutter von der Arbeit kommt." "Ja aber, „ meinte Mutti immer noch betont freundlich, "wir werden jetzt essen." "Macht nichts“, sagte Renate, "ich warte solange." "Geh lieber nach Hause“, Muttis Ton war jetzt schärfer geworden. "Nein, ich warte gern," kam es noch einmal von Renate.

Jetzt wurde Mutti ungehalten sie schrie: "Ich will aber, dass du jetzt nach Hause gehst." Renate flüchtete zur Tür hinaus. Mutti brauchte keine Angst zu haben, dass sie noch einmal zurück kam.

-Renate und ich wurden Freundinnen, allerdings 50 Jahre später. Als Mutti mit 103 Jahren starb, gab mir eine Nachbarin einen Zettel mit Renates Telefonnummer und Anschrift.-

Am Nachmittag räumte ich meine Schulsachen weg, ich würde die nicht mehr gebrauchen. Danach fing ich an mit dem Kofferpacken. Ich hatte eine Liste bekommen nach der ich mich richten konnte. Mein neues Reiseetui nahm ich auch mit. Auf der Liste standen eine Jacke und ein Mantel und ein Regencape. Leider hatte ich immer noch keine Jacke. Den Mantel würde ich anziehen und mein Cape packte ich zu den anderen Sachen. Ich hatte mir einen braunen Strickrock gestrickt und einen warmen Pullover. Das würde ich unterwegs anziehen.

Mein Koffer war proppenvoll. Dann bekam ich von Mutti sieben Mark Taschengeld, von dem ich aber noch ein Busgeld von Herford aufsparen musste, für die Heimfahrt. Am Abend suchte ich mein heimlich Erspartes zusammen, und knotete es in ein Taschentuch. Das Taschentuch steckte ich am nächsten Morgen in die Innentasche von meinem Mantel.

Vati bekam von allem nicht viel mit, er las den ganzen Vormittag Zeitung. Beim Mittagessen sagte ich ihm, dass ich heute nach Buchau fahren wollte. Er sagte nur: "Komm nicht so spät nach Hause." Er hatte entweder nicht zugehört, oder war wieder schlecht dran.

Nachmittags um zwei Uhr brachte mich Mutti zum Bus an die Herforderstraße, das war nicht sehr weit von uns. Sie löste mir die Fahrkarte bis Herford Bahnhof und half mir den Koffer in den Bus tragen. In Herford am Bahnhof würde eine Reisebegleiterin auf mich warten. Wir verabschiedeten uns und Muttis scharfer Blick fiel auf die Stelle, wo ich das verknotete Taschentuch hatte. "Nimm das sofort da aus der Tasche, du sollst keine Brust vortäuschen, wenn du keine hast!" zischte sie mich an.

Der Busfahrer ermahnte uns und ich rief Mutti nach, "da habe ich nur noch zwei Taschentücher drin, für den Fall, dass ich weinen muss." Dann fuhren wir los, und Lilo, die junge Fürsorgerin, die sich so für mich bemüht hatte, setzte sich jetzt zu mir in die Bank. "Ich werde mitfahren, als Reisebegleiterin, es kommen noch mehr Kinder mit“, erklärte sie mir.

Sie hatte vorgefertigte Schildchen, und band gleich eines mit meinem Namen an meinen Koffer. In Herford gingen wir gleich auf den richtigen Bahnsteig da war auch Klaus, der ebenfalls mit wollte. Wir fuhren jetzt nach Bielefeld. Klaus war schon am heulen, und Lilo beschwor uns in Bielefeld, zusammen neben unserem Koffer stehen zu bleiben. Sie müsse dort zuerst fragen wo der Waggon für uns abgestellt sei, denn der würde uns direkt ans Ziel bringen. Wir brauchten dann nicht mehr umzusteigen, der Wagen würde immer an den richtigen Zug gehängt.

In Bielefeld stiegen noch mehr Kinder zu uns in den Waggon, und eine weitere Begleitperson. Die beiden Frauen, sorgten dafür, dass wir gut saßen und reichlich Platz hatten. Denn die Zugfahrt würde lange dauern und wir sollten auch mal etwas schlafen unterwegs. Rund um mich herum schluchzten die Kinder. Plötzlich wurde mir klar, dass ich jetzt frei war, frei von Mutti und frei von Frau Bockmann. Da weinte ich dann auch mit, aber richtig, vor lauter Freude.

Klaus begann mich zu trösten, er wusste ja nicht, dass ich aus Freude weinte. Dann holte er ein Kartenspiel aus der Tasche und fing an, mit mir zu spielen. Ich wunderte mich, was er alles in den Taschen hatte und Klaus meinte: "Was ein rechter Mann werden will, hat alles in seiner Tasche was er braucht." Ich musste am Bernd denken, der alles in seinem Puppenwagen hatte.

Die zweite Reisebegleitung war etwas älter, aber auch sehr nett. Sie hatte die Fahrt schon öfters gemacht. Sie ging immer durch die Reihen und schaute, ob wir wach waren. Dann sagte sie zu allen Kindern die nicht schliefen, wir sollten jetzt zum Fenster hinaus schauen, denn da könne man den Kölner Dom sehen. Sie zeigte uns alles was sehenswert war. In meiner Umhängetasche hatte ich Brote und Äpfel, da hatte ich schon allerhand von gegessen. Zwischendurch bekamen wir auch noch von den beiden Frauen. Die hatten auch etwas zum Trinken dabei.

Am nächsten Tag kamen wir gegen Abend in Schussenried an, und da mussten wir dann doch umsteigen. Wir mussten von da aus nach Buchau, mit der Schmalspurbahn fahren und dort konnte man den Waggon nicht anhängen. Wir stiegen also mit unseren Koffern in das "Bähnle" und das schlich so richtig gemütlich nach Buchau. Ich konnte es nicht lassen unterwegs einen älteren Mann zu fragen, ob das die schwäbische Eisenbahn wäre. Der Mann gab mir keine Antwort, entweder war ihm die Frage zu albern, oder er hatte mich nicht verstanden.

In Buchau standen wir vor dem Bahnhof mit unseren Koffern, und mussten warten bis wir abgeholt wurden. Es lag überall viel Schnee und wir kriegten kalte Füße. "Wir sind hier im Schwabenland“, sagte Lilo, "da haben die Menschen noch Zeit." Jetzt kam ein Pferdeschlitten mit zwei dicken, fetten Pferden. Der war aber nur da, um unsere Koffer zu holen. Wir mussten hinter dem Schlitten her laufen bis zu einem Schloss.

An der Pforte saß eine Nonne, sie begrüßte uns freundlich und nannte uns die neuen Schlosskinder. Wir wurden in die große Eingangshalle begleitet, wo auch wieder eine Nonne auf uns wartete. Sie bekam eine Liste von unseren Begleiterinnen, dann verabschiedeten die beiden sich und ließen uns allein. Die Schwester erklärte uns, dass wir noch etwas warten müssten. Die Liste musste erst ins Büro. Ein junges Fräulein, mit einer Gretchenfrisur sollte uns in der Zeit eine Geschichte vorlesen. Das Fräulein las gut, aber wir verstanden nichts. Wir kamen uns vor wie im Ausland.

So langsam hatte ich richtig Hunger. Dann kamen endlich mehrere Frauen, die einen nach dem anderen aufriefen. Wir waren bei Fräulein Brehm, die war unsere Gruppenleiterin. Die Buben kamen in ein anderes Stockwerk. Fräulein Brehm brachte uns in einen Schlafsaal, wo sich jeder sein Bett aussuchen konnte.Warum ich mir wieder das Bett an der Tür aussuchte, musste wohl Gewohnheit sein. Wir sollten unser Nachthemd aus dem Koffer holen, und es aufs Bett legen. Den Koffer schoben wir dann unter das Bett.

Danach gab es für uns ein gutes Abendessen. Fräulein Brehm zeigte uns dann noch die Toiletten und den Waschraum, dann sorgte sie dafür, dass alle zufrieden im Bett lagen. Sie tauschte Kissen aus wo es nötig war und verteilte Decken an die, die nicht warm genug hatten. Da wir in einem streng katholischen Kinderheim waren, wurden dann noch lange Nachtgebete gesprochen und ein Marienlied wurde auch gesungen. Das war nun für uns Westfalen doch sehr gewöhnungsbedürftig.

Jeden Morgen machten wir nun einen ausgiebigen Sparziergang. Der dauerte immer drei Stunden lang. Wir kamen in die umliegenden Städtchen und Dörfer, gingen in das damals noch winzige Federseemuseum und wanderten durch die Wälder. Was sehenswert war zeigte und erklärte uns unser Fräulein Brehm. Wir liebten sie, sie war lustig, gewissenhaft und wir konnten sie gut verstehen.

Wenn wir von unseren Sparziergängen zurück kamen, hatten wir immer so großen Hunger, dass uns jedes Essen geschmeckt hätte. Aber das Essen war immer sehr lecker. Die absolute Krönung war Sauerkraut mit Knödeln. Ich habe nie wieder so leckere Knödel gefunden und so ein gutes Sauerkraut. Die weiß gekleideten Nonnen in der Küche wurden von uns wie Heilige verehrt.

Fräulein Brehm wusste den Tag so zu gestalten, dass an Heimweh niemand dachte, dazu blieb uns keine Gelegenheit. Wir bastelten und machten Spiele wenn wir nicht gerade draußen waren. Ich musste täglich Wechselbäder machen. Damit mir das nicht langweilig wurde, machten wir es zu zweit. Ein Mädchen aus dem Saarland und ich waren gleich schlecht dran, mit unserem Kreislauf, und wir hatten richtig Spaß bei den Wechselbädern.

Um die Faschingszeit kam für die tollen Tage ein Pater in unsere Gruppe. Niemals hätte ich gedacht, dass Mönche so lustig sein konnten. Er verkleidete uns, malte uns an und ging mit uns zu den Umzügen. Vor den maskierten Narren hatte ich Angst, denn in Westfalen hatte der Karneval noch nicht Einzug gehalten. Am letzten Tag vom Karneval, hatten wir das ganze Schloss voll mit Luftballons. Wir waren traurig, als der Pater wieder ging.

Das Wetter wurde immer wärmer und bei meinen Sparziergängen war mein Mantel zu warm. Da bekam ich eine Jacke von Fräulein Brehm. Die durfte ich dann anziehen solange ich dort war. Nachmittags bastelten wir immer mit Leder. Wir machten Brieftaschen, Buchhüllen und Geldbörsen. Das Material mussten wir bezahlen. Als ich das meiste Geld ausgegeben hatte, half ich den anderen Mädchen bei ihren Bastelarbeiten. Fräulein Brehm fragte, warum ich nichts mehr für mich machte. Ich sagte ihr, dass ich den Rest von meinem Geld für den Bus brauchte. Die anderen Mädchen konnten darüber nur lächeln, sie hatten so viel Taschengeld, dass sie sich sogar Uhren und Schmuck kauften.

Fräulein Brehm ging ins Büro und kam mit fünfzehn Mark zurück, sie hatte irgendeine Anwendung auf meinen Namen aufschreiben lassen. "Das machen wir bei bedürftigen Kindern immer, hier soll jeder die gleichen Möglichkeiten haben“, meinte sie.

Jeden Montag kam der Arzt mit einer Schwester er untersuchte jedes Kind, und ordnete Anwendungen oder Medikamente an, wenn es notwendig war. Der Arzt war sehr nett und wir mochten ihn.

Sonntags machten wir keinen Morgensparziergang, da gingen die Betreuerinnen mit den Kindern geschlossen in die Kirche. Die wenigen evangelischen Kinder durften allein in die evangelische Kirche gehen. Vor der Kirche traf ich Klaus. "Komm, wir gehen zum Federsee“, schlug Klaus vor. Das gefiel mir, ich liebte den See unwahrscheinlich. Ein Steg führte weit auf den See hinaus, und da am Ende war eine Plattform, mit Bänken rundum. Wir saßen auf einer Bank und schauten auf den See hinaus. Dort schwammen viele Enten und Blesshühner, ich hätte stundenlang zuschauen können. Klaus hatte eine Uhr, und sorgte dafür, dass wir pünktlich zum Essen kamen.

Eines Tages, wollten wir eine Kapelle besichtigen, zu der hinauf, ein Kreuzweg führte. Ich hatte überhaupt keine Ahnung was ein Kreuzweg war. So ging es auch noch ein paar anderen Mädchen in unserer Gruppe. Nun hatte Fräulein Brehm an diesem Tag ein junges Mädchen dabei, die in dem Schloss eine Lehre machen wollte. Das Mädchen lief mit uns evangelischen ganz hinten in der Gruppe. Wir wollten das Lied von der schwäbischen Eisenbahn hören, und ich wollte es auch können. Also sang sie uns das Lied zuerst einmal vor, und anschließend sangen wir kräftig mit.

Da kam Fräulein Brehm und ich hatte sie nie so zornig gesehen. "Auf einem Kreuzweg da betet man, und singt nicht so unchristliche Lieder." Das Mädchen erschrak, sie hätte es wissen müssen. Den Vorgang erwähnte Fräulein Brehm nie wieder, dabei hatten wir mit einer gehörigen Standpauke gerechnet. Von Zeit zu Zeit wurde unsere Wäsche gewaschen und wir fühlten uns richtig wohl. Als dann aber die letzte Woche anbrach, bekam ich wieder dieses komische Gefühl in der Magengegend. Dazu kam das altbekannte Ziehen in den Fingern. Ich wusste genau, ich hatte Angst heim zu fahren.

Am liebsten wäre ich hier geblieben, ich fühlte mich einfach hier so geborgen. Es nutzte nichts, wir mussten Kofferpacken. Ich packte viele Tränen mit in den Koffer, denn ich heulte den ganzen Tag. Die weißen Nonnen aus der Küche, versorgten uns mit gutem Essen für die Rückfahrt. Den Schwestern versprach ich, wenn ich einmal wieder hierher käme, würde ich wegen der Kartoffelknödel auf einem Freitag vorbeikommen. Die Schwestern lachten und bezweifelten, dass ich jemals wieder in diese Gegend kommen würde.

-Sechzehn Jahre später, heiratete ich meinen jetzigen Mann. Er war aus dem kleinen Nachbarort Schussenried. Das war inzwischen Kurort geworden und war Bad Schussenried. Auch das damals so unscheinbare Buchau, war Bad Buchau geworden, ein Moorheilbad. Von dem Kinder-Erholungsheim war nichts mehr übrig geblieben. Das Schloss war noch da, aber die Schwestern und die Kinder fehlten. Sogar das Bähnle fuhr nicht mehr. Ach von meinen schönen Erinnerungen war nichts geblieben.-

Wir wurden im Kinderheim von den beiden Fürsorgerinnen, die wir schon von der Anreise kannten abgeholt. Sie meinten, wir hätten uns alle prächtig erholt. Die Koffer wurden wieder zum Bahnhof gefahren, und unser Waggon stand in Biberach. Wir fuhren mit der Schmalspurbahn bis nach Schussenried und von da aus nach Biberach. Dann kamen wir endlich wieder in unseren eigenen Waggon und brauchten nicht mehr umzusteigen. Die anderen Kinder waren voller Vorfreude, ich war den ganzen Heimweg bedrückt.

Wir fuhren wieder einen Tag und eine Nacht, dann half mir Fräulein Lilo noch mit dem Koffer in den Bus, und ich fuhr das letzte Stück allein. Im Zug hatte ich fast nicht geschlafen und ich quälte mich mit meinem Koffer, die Lindenallee hinunter bis nach Hause. Vati und Mutti empfingen mich ganz freundlich, und Mutti war verblüfft, dass ich so wenig schmutzige Wäsche dabei hatte. Wir packten den Koffer aus und ich beeilte mich, dass ich ins Bett kam, weil ich ja am nächsten Morgen um sieben Uhr auf meiner neuen Stelle anfangen musste.

Das Arbeitsverhältnis

 

Am nächsten Morgen kleidete ich mich sorgfältig, und zog meinen Popeline-Mantel über. Dann schaute ich noch einmal in den Spiegel. Meine schönen, langen Haare hatte ich schon vor meiner Kur abschneiden lassen. An mein Fahrrad, hatte ich einen neuen Sportlenker bekommen. Ich wollte nicht gleich unangenehm auffallen. Dann machte ich noch schnell den Hühnerstall auf, und fuhr erwartungsvoll zu meiner Arbeitsstelle.

Da waren noch alle Türen verschlossen. Ich wurde auf dem Hof von einem Lehrling erwartet. Der war gerade ins zweite Lehrjahr gekommen, war aber wohl etwas klein geraten. "Komm mit, wir müssen zuerst zur Post“, forderte er mich auf.

Wir fuhren durch die Stadt und stellten unsere Fahrräder vor der Post ab. Dort holten wir die Post aus dem Schließfach. Die Briefe wurden in drei Häufen sortiert. Zu unserer Firma gehörten noch zwei Betriebe. Eine gehörte dem Schwager vom Chef, und war angeblich eine Zigarrenfabrik, die aber niemand kannte oder je gesehen hatte. Der zweite Betrieb, gehörte dem Bruder des Chefs, der handelte mit Flüssig-Brennstoff.

Nachdem alle Briefe auch noch nach Größe sortiert waren, kamen sie in eine uralte betriebseigene Aktentasche. Dann hatten wir noch jede Menge Benachrichtigungskarten. Die für Nachgebühren, sowie die für Päckchen und Pakete lösten wir auch gleich ein. Nur Einschreibe- und Nachnahme-Benachrichtigen kamen gleich in die Tasche, die würden wir später unterschrieben wieder mitnehmen. Der Lehrling hatte eine Schnur dabei, damit band er die Pakete aneinander, damit sie unterwegs nicht verloren gingen. Da alle Pakete früher mit Bindfäden verschnürt waren, war das schnell erledigt.

Wir fuhren zurück zu unserem Betrieb und schleppten die zahlreichen Päckchen und Pakete ins Büro. Das Büro war sehr übersichtlich. Im ersten Büroraum, was dann auch gleich das größte war, saßen drei Personen. Herr Beckmann war für die Pakete zuständig. Fräulein Kleine tadelte: "Ab morgen erwarte ich, dass die Post pünktlicher gebracht wird."

Der Lehrling musste mich jetzt durch den Betrieb führen und sagte allen Angestellten im Laden, im Lager und im oberen Büroteil, dass ich in Zukunft für ihre Besorgungen zuständig sei. Er sammelte auch gleich die Aufträge ein. Was in der Nähe zu besorgen war, erledigten wir sofort. Wir kauften ein großes Hühnerei, Kopfwehtabletten und Damenbinden. Strümpfe brachten wir zum Laufmaschendienst und nahmen die fertigen Strümpfe vom Vortag gleich mit. Dann lieferten wir alles ab, bis auf das Ei. Das mussten wir in der kleinen Küche neben dem Aufenthaltsraum sieben Minuten kochen. Da ich keine Uhr hatte, würde es ab morgen schwierig werden.

Es war genau neun Uhr, als wir das Ei mit dem Eierbecher und Löffel auf dem Tisch platziert hatten. "Wenn es kalt wäre, dann müsse ich auch noch den Ofen anzünden." erklärte mir der Junge. Wir hatten keine Zeit zum Frühstücken, und mussten wieder zu Fräulein Kleine. Die wartete schon und hatte einen Stapel Bargeld vor sich liegen.

Nun mussten wir das Geld zählen. "Geld zählen musst du aber noch üben," meinte Fräulein Kleine. "Ich habe kein Geld, an dem ich üben kann." Bemerkte ich kleinlaut, und der Lehrling boxte mir mit der Faust in die Rippen. "Prompt kam es von Fräulein Kleine: "Privates interessiert hier nicht, hier wird nur über geschäftliches gesprochen." Wir mussten Geld auf drei Banken einzahlen, Kleingeld einwechseln und die Einschreiben und Nachnahmen von der Post holen. Wir gingen zuerst auf zwei Banken, da hatten wir das meiste Geld schon aus der Tasche. Danach mussten wir zur Post.

Die Päckchen banden wir wieder auf die Räder, und dann ging es weiter zu der Bank im Nachbarort. Mein Begleiter zeigte mir die Abkürzung über den Güterbahnhof und unsere Räder klapperten über das grobe Pflaster. Dann ging es über die Bahnschienen. "Wenn die Schranken unten sind, musst du durch den Tunnel, sonst verlierst du zu viel Zeit." klärte er mich auf. Als wir endlich alles erledigt hatten, kamen wir zurück ins Büro. Wir schleppten wieder Pakete herein und leerten die Aktentasche. Es war schon zwölf Uhr und ich durfte Mittagspause machen. Um ein Uhr sollte ich wieder zurück sein, denn dann wollten die anderen in die Mittagspause gehen. In der Zeit, sollte ich auf das Telefon aufpassen, von dem ich aber keine Ahnung hatte.

Vom Hunger angetrieben fuhr ich schnell mach Hause. Mutti war erstaunt, dass ich so schnell wieder zurück musste und wollte wissen, wann ich denn Feierabend hätte. Ich konnte ihr aber keine Antwort geben.

Pünktlich um ein Uhr war ich wieder im Betrieb. Fräulein Kleine meinte, an meiner Pünktlichkeit müsse ich noch arbeiten. Sie hatte ja immer etwas auszusetzen. Dann brachte sie mich in eine Nische zwischen zwei Büroräumen, da war gerade Platz für einen Schreibtisch, und da stand auch das Telefon. Ich solle den Hörer abnehmen wenn es läuten würde, und da ich neu wäre, sollte ich bitten in einer Stunde noch einmal anzurufen.

Auf einen Zettel hatte man mir aufgeschrieben wie ich mich am Telefon zu melden hätte. Dann gab mir Fräulein Kraft, die hier zuständig war, einen Staublappen damit solle ich in der Mittagspause zuerst das Büro vom Chef und die anderen Schreibtische putzen. Dann gingen die Damen zum Essen in ein Lokal. Nachdem ich alles abgestaubt hatte, blieb mir noch etwas Zeit, mich auf den Stuhl zu setzen.

Die Damen nahmen es mit der Pünktlichkeit nicht so genau. Nach zwei Uhr kamen sie zur Tür herein getänzelt, sie mussten viel Spaß gehabt haben. Fräulein Kraft zündete sich zuerst eine Zigarette an und das Lehrmädchen im dritten Lehrjahr, fing wieder an Rechnungen zu schreiben. Dann kamen der Chef, und der Junior-Chef. Der Junior hatte seinen Schreibtisch im ersten Büro. Er wanderte den ganzen Tag durch den Betrieb, und wenn er an seinem Platz war, dann füllte er seinen Aschenbecher.

Ich musste die Rechnungsdurchschläge ab heften, von den vielen Rechnungen die das Lehrmädchen schrieb. Jede Rechnung hatte drei farbige Durchschläge. Die eine Farbe wurde unter Rechnungen, der Nummer nach abgeheftet. Der zweite Durchschlag wurde ebenfalls der Nummer nach unter Aufträge abgeheftet. Der dritte unter dem Namen im Kundenordner. Die Sekretärin musste zum Chef zum Diktat und ging danach in ihr Büro um die Briefe zu schreiben.

Der Chef fragte immer wieder nach der Unterschriftmappe, denn er wollte wieder nach Hause. Endlich rief die Sekretärin an, die Post sei fertig. Ich musste hinauf gehen die Mappe zu holen. Fräulein Kleiner brachte sie dann in sein Büro. Fräulein Kleiner war sehr klein, und hatte einen Buckel. Sie war kleiner als Mutti, aber im Gesicht ganz hübsch. Fräulein Kraft war normal groß, aber hässlich. Ihre Nase sah aus wie eine Pfeilspitze.

Wir fingen an die Post zu richten, und begannen mit den Rechnungen. Fräulein Kraft faltete und steckte die Rechnungen in die Umschläge. Zu mir sagte sie: "Lecken!" Ich musste die ekelhaft schmeckenden Briefumschläge mit der Zunge anfeuchten und zukleben. Danach wurden sie frankiert mit der Frankiermaschine, gezählt und gebündelt. Auf die Bündel kam dann ein Zettel mit der Stückzahl. Jede Preisklasse für sich. Dann schaute sie auf die Uhr. Es war schon halb sieben. Sie erklärte mir: "Wenn es nach sechs ist, kannst du in der Post nichts mehr abgeben, dann musst die auf die Bahnhofspost."

Es war schon sieben Uhr durch, als ich nach Hause kam. Nach dem Essen ging ich gleich in mein Zimmer. Ich dachte: Wenn das so weitergeht, komme ich nur noch zum Essen und schlafen nach Hause.
Am nächsten Morgen fuhr ich gleich von daheim aus zur Post. Den Schlüssel für das Postfach, und einen Geldbeutel mit zehn Mark, für die Nachgebühren, hatte ich von Fräulein Kleiner bekommen. Für die vielen Päckchen hatte ich mir ein paar Bindfäden mitgenommen. Das hatte ich gelernt, wenn ich die Pakete nicht zusammenbinden würde, könnte ich sie nicht transportieren.

In der Mittagspause ging ich an der Schule vorbei und holte mein Zeugnis ab. Ich hatte kein schönes Zeugnis. Außer ein paar Lichtblicke die mir Herr Kunze gesetzt hatte, waren es lauter befriedigend und ausreichend. Meine Turnlehrerin hatte den Vogel abgeschossen, die hatte mir eine fünf in Leibesübungen gegeben, obwohl ich gar nicht geturnt hatte. Ich beschwerte mich im Sekretariat, aber die junge Frau ließ sich auf kein Gespräch ein, sie hatte Feierabend.

Nun musste ich jede Woche einmal in die Berufsschule. Vorher musste ich aber die Post abliefern und nach der Schule musste ich sofort ins Büro, um die Rechnungen und Briefe fertig zu machen und abzuschicken. Das ließ Fräulein Kraft mich jetzt allein machen, in der Zeit machte sie ein Schwätzchen mit Fräulein Kleine. Immer wieder fuhren die Damen und Herren aus dem Büro gemeinsam ins Theater, Oper oder Operette. Mich fragten sie nicht, ich hätte auch bestimmt von Mutti aus nicht gedurft. Obwohl ich später erfuhr, dass der Chef die Karten bezahlte.

Jeden Monat bekam ich meine Lohntüte mit 39,-- Mark, die Mutti mir immer gleich abnahm. Fräulein Kleine wurde nicht müde ständig an mir herum zumeckern. So verlangte sie eines Tages, dass ich zwei Geldbeutel haben sollte. Einen für das geschäftliche, und einen für die anderen Besorgungen. Schließlich bekam ich von ihr eine verschlissene Geldbörse.

Als es auf Weihnachten zuging, wurden die Päckchen immer mehr. Oftmals musste ich zweimal fahren. Die Lieferfirmen schickten ihre Werbegeschenke. Da war eine Firma aus Lübeck, die schickte jedem Angestellten im Büro Lübecker Marzipan. Ich bekam keines, Fräulein Kraft und Fräulein Kleine umso mehr. Sie hatten mindestens schon fünf Packungen und Frau Kleiner klagte sie habe schon einen ganzen Stapel daheim. Als dann am nächsten Tag wieder Marzipan für Fräulein Kleiner kam, nahm ich es mit zu mir. Ich wollte auch wissen wie das schmeckt. Vati erwischte mich damit und behauptete, dass ich einen Freund haben müsste, denn die verschenken Pralinen um die Mädchen gefügig zu machen. Ich hatte keine Ahnung was er damit meinte und erklärte ihm, dass ich gar keinen Freund hatte.

Die Adventssonntage hatten verkaufsoffene Nachmittage. Da musste ich die ganzen Nachmittag Kalender in Geschenkpapier packen. An der Kasse bekam jeder Kunde einen Kalender zu seinem Einkauf.

Es war schon spät, als ich eines Abends mit meinem Fahrrad durch die Stadt nach Hause fuhr. Da sah ich wie meine ehemaligen Mitschülerinnen in herrlichen Ballkleidern mit Stöckelschuhen in ein vornehmes Lokal gingen. Sie hatten Abschlussball vom Tanzkurs. Ich hätte den Tanzkurs bestimmt nicht mitmachen dürfen. Traurig sah ich ihnen nach, mir blutete das Herz.

Am letzten Tag vor Weihnachten hatten wir eine Weihnachtsfeier. Mutti hatte mir ein paar Kleider von sich gegeben, die sie nicht anziehen wollte. Davon zog ich eines an zur Weihnachtsfeier. Der Chef verteilte Briefumschlage. Ich bekam auch einen. In meinem Umschlag war ein Einkaufsgutschein im Wert von 100.-- Mark und fünfzig Mark Bargeld. Die fünfzig Mark gab ich nicht her, für den Gutschein kaufte ich für Mutti ein. Ich kaufte ihr eine Wäschepresse, weil sie immer von Hand alles auswinden musste. Für das andere Geld durfte sie aufschreiben was sie gern haben wollte. Die Sachen die ich eingekauft hatte, wurden vom Geschäft mit dem Lieferwagen zu uns gebracht. Mutti freute sich richtig darüber, als sie es auspackte. Ich hatte sogar einen Kaffeefilter gekauft, das hatte früher noch nicht alle Hausfrauen.

Im neuen Jahr, hielt das Paket-Klebeband Einzug in die Betriebe. Das war schlecht für mich, die Pakete konnte ich nicht mehr aneinander binden. Eines Tages, hatte ich besonders viel in der Stadt zu erledigen, und war mittags sehr spät dran. Auf der Post hatte ich wieder mehrere Einschreibe-Päckchen abgeholt, und da es schon nach zwölf war, fuhr ich schnell von der Post aus zum Essen heim.

Danach wurde ich im Büro mit einem Donnerwetter empfangen. Ich hätte auf gar keinem Fall zum Essen dürfen, bevor ich nicht alles abgeliefert hatte. Nun fehlte auch noch ein wertvolles Einschreibe-Päckchen. Ob ich es verloren hatte, oder ob es mir gestohlen wurde, wusste ich nicht. Die ganze Strecke fuhr ich noch einmal ab, fragte auf der Post nach und suchte überall nach dem Päckchen. Ich wusste genau wie es aussah, aber ich fand es nicht.

Bedrückt kam ich wieder bei Fräulein Kleine an. Obwohl ich keine Ahnung hatte, was darin war, ich wurde beschuldigt das Päckchen gestohlen zu haben. Der Chef persönlich drohte mir, mich bei der nächsten Gelegenheit zum Teufel zu jagen.

Dann hatten die Geschäfte Inventur-Ausverkauf. Ich musste in dem riesigen Laden helfen, Waren aus dem Lager holen und die Regale auffüllen. Mir gefielen das edle Geschirr, die Ess- und Kaffee-Service. Die kannte ich aus der Warenkunde.

Als eine Kundin ein Service kaufen wollte, und keine Verkäuferin in der Nähe war, verkaufte ich ihr eines der teuersten, edlen Ess-Service. Ich schrieb den Kassenzettel auf den Block einer Verkäuferin, ich hatte ja keinen. Und dann kam mein Chef. Er schrie mich im Laden an, ich dürfe nichts verkaufen, ich sollte Tassen aus dem Lager holen. Dann jagte er mich durch den Laden die Treppe hinab bis ins Lager. Vor lauter Angst kletterte ich in ein Regal ganz oben, und hielt den Atem an. Der Chef war dick und klein, er konnte nicht da hinauf schauen. Nachdem er alles durchgesucht hatte, ohne sich verrenken zu müssen, ging er fluchend wieder hinauf um dort weiter zu suchen.

Mit einem Korb voll Tassen ging ich zurück in den Laden, um das Fach aufzufüllen. Der Chef stand ständig hinter mir. Ich war heilfroh als der Ausverkauf vorbei war.

Täglich machte ich weiterhin meine Botengänge. Eines Tages, hatte ich wieder sehr viel zu erledigen, und musste auch zur Sparkasse im Nachbarort. Vollbepackt fuhr ich über den Güterbahnhof. Die Aktentasche war auf dem Gepäckträger und darin war Rollenweise Kleingeld. Auf dem holperigen Pflaster rutschten die Geldrollen aus der Tasche und platzten auf. Ich hätte heulen können. Das Fahrrad wollte nicht stehen. Auf dem unebenen Boden, fiel es mehrmals um. Ich suchte das Geld auf, was überall verstreut war. Zum nachzählen blieb mir keine Zeit, sonst hätte die Sparkasse zugemacht. In der Hoffnung alles aufgesammelt zu haben fuhr ich weiter. Wenn das Geld nicht stimmen würde, dachte ich, hatte ich ja noch meine fünfzig Mark, dann würde ich den Schaden bezahlen.

Fräulein Kleine fiel aus allen Wolken, als ich das Kleingeld aus der Tasche holte. Ich musste das Geld auf dem Tisch in Häufchen stapeln damit sie es nachzählen konnte. Dann musste ich das Geld neu einrollen. Am Ende fehlten fünf Pfennig, die nahm ich aus dem privaten Geldbeutel. Die Mittagspause konnte ich abschreiben, mir reichte die Zeit jetzt nicht mehr.

Immer, wenn der Monat zu Ende ging, hatten die Büro-Damen kein Geld mehr zum Essen zu gehen. Dann musste ich für Fräulein Kraft in die Metzgerei nebenan und aus der Pferdeschlachterei 200 Gramm Bierwurst kaufen. Die Verkäuferin legte immer noch eine Scheibe zusätzlich obenauf. Da kam ich auf die Idee die Wurst zu kosten. Ich musste feststellen, dass sie gut schmeckte. Regelmäßig nahm ich jetzt die extra Scheibe Wurst. Da ich aber heute Hunger hatte, weil die Mittagspause ausfiel, konnte ich es nicht lassen noch eine Scheibe zu nehmen.

Fräulein Kraft nahm das Päckchen und sagte: "Das wird auch immer weniger." Dann legte sie es auf die Briefwaage und es fehlte am Gewicht etwas. "Die bescheißen ja!", schrie sie außer sich. Dann schickte sie mich mit der Wurst zurück in den Laden, um zu reklamieren. Der Verkäuferin beichtete ich und sie lachte. Schnell wog sie noch einmal 200 Gramm ab, und steckte mir das angenagte Päckchen auch noch zu. "Nimm das für dich, wenn du doch so hungrig bist." Fortan naschte ich nicht mehr an der Wurst von Fräulein Kraft.

Inzwischen hatte ich einen Schreibmaschinen-Kurs angefangen. Zwar hatte ich gelernt wie man schreibt, aber meine Finger waren nicht kräftig genug. Die elektrischen Schreibmaschinen gab es noch nicht. Beim Maschinenschreiben würde ich es also nicht weit bringen. Ich machte den Kurs zu Ende und verzichtete auf eine Weiterbildung.

Eines Tages, als mein Chef wieder auf die Sekretärin wartete, fragte er das Lehrmädchen, die immer Rechnungen schrieb, ob sie immer noch kein Steno könne. Vorsichtig mischte ich mich ein und sagte: "Ich kann Steno." Der Chef guckte an mir vorbei, drehte sich um und ging in sein Büro. Meine Kenntnisse interessierten ihn nicht.

Das Lehrjahr ging zu Ende. Im Büro wollte mich niemand behalten, so musste ich in den Laden. Da brauchte ich einen schwarzen Kittel. Alle hatten Satin-Kittel. Mutti war das zu teuer und sie kaufte mir einen ganz normalen Baumwollkittel, der dann beim Waschen auch gleich einlief.

Ich musste Regale putzen und Fenster. Auch die zwanzig Schaukästen vor dem Laden musste ich putzen. Der Junior Chef meckerte immer an meiner Kleidung und meinem Kittel herum. Da schenkte mir eine ältere Verkäuferin einen Satin Kittel. Er fand wieder etwas anderes. Der Kittel war zu kurz und mein Rock zu lang. Zum Friseur sollte ich auch mal. Mir verging langsam die Lust. Dann wurde ich in den Keller geschickt. da sollte ich der Lageristin beim auspacken und auszeichnen helfen.

Frau Weiss war richtig nett. Bei ihr gefiel mir die Arbeit.
In meinem Lehrvertrag stand dass, ich im 2. Lehrjahr 50.-- Mark verdienen würde. Ich bekam aber 72.-- Mark. Mutti gab ich die Fünfzig Mark und den Rest behielt ich für mich, ich wollte auch mal ein geregeltes Taschengeld.

Jetzt hatte ich auch geregelte Arbeitszeiten. Nur einmal in der Woche, wenn das neue Lehrmädchen in der Schule war, musste ich die Botengänge erledigen. Als ich wieder einmal im Büro bei Fräulein Kleine war, fragte sie: "Wo sind eigentlich deine Wochenberichte vom vorigen Jahr?" Ich hatte keine Ahnung was sie meinte, denn von Wochenberichten hatte mir nie jemand etwas gesagt. "Bis nächste Woche will ich die Berichte auf meinem Schreibtisch!" Ihre Worte klangen wie eine Drohung. Frau Weiss fragte, ob ich denn kein Berichtsheft bekommen hätte. Da hätte ich dann jeder Woche schreiben müssen was ich gearbeitet hatte. Mir hatte niemand ein Berichtsheft gegeben. Mir war sowieso nicht klar, was ich denn hätte schreiben sollen. Vielleicht: Strümpfe abgeholt, Wurst gekauft, Staub gewischt, Briefe zugeleckt, ein Ei gekocht???

Der kleine Lehrling, der mir am ersten Tag alles gezeigt hatte, wollte mir helfen. Er versprach mir, ein Berichtsheft zu besorgen und dann könnte ich bei ihm abschreiben.

Frau Weiss wurde plötzlich krank, kurz bevor sie in Rente gehen sollte. Der Chef schickte mich mit einem Brief zu ihr, weil sie ja nicht weit von uns entfernt wohnte.

Frau Weiss las den Brief und war enttäuscht. Der Chef wollte, dass sie nicht mehr zur Arbeit erscheinen sollte, da sie nicht mehr zuverlässig sei. Sie sei bis zum Renteneintritt beurlaubt, und würde ihren Lohn bis dahin weiter bekommen.

Frau Weiss bat mich ihre Tasche aus dem Lager mit zu bringen, es sei eine Thermosflasche und ein paar Schuhe darin. Eine Strickjacke habe sie auch noch unten im Keller. Ich versprach ihr, sobald ich Zeit hätte, würde ich es ihr bringen.

Als ich am kommenden Tag Leihgeschirr verpackte, für eine Hochzeit, lag dort auf einer Kiste die Strickjacke von Frau Weiss. Nun suchte ich zuerst nach der Tasche. Ich fand die Tasche, die Kanne und die Schuhe waren in Papier eingepackt, Frau Weiss war eine ordentliche Frau. In die Tasche steckte ich die Strickweste und trug die Tasche in den Umkleideraum gleich neben der Küche. Dass mich da mehrere Leute beobachteten, störte mich nicht. Draußen tobte ein Gewitter und ich ging wieder an meine Arbeit. Die würde ich fertig machen, denn bei dem Wetter, würde ich auf gar keinem Fall nach Hause fahren.

Als ich mit der Sendung fertig war, hatte sich das Gewitter schon verzogen. Ich brachte den Lieferschein ins Büro. Dann ging hinauf, um meinen Kittel in den Schrank zu hängen und die Tasche von Frau Weiss mit zu nehmen.

Oben warteten sie schon auf mich. Ein Abteilungsleiter hatte mich beobachtet und die Tasche aus dem Schrank genommen. Das was ich für eingepackte Schuhe und Thermoskanne gehalten hatte waren reklamierte Kristallgläser sorgfältig verpackt zum Umtausch. Es nützte mir nicht, dass ich beteuerte die Tasche wohl verwechselt zu haben. Man warf mir vor, ich wollte die Tasche mit Inhalt stehlen. Schließlich hatte ich ja schon ein Einschreiben gestohlen. Damals hätte man mir nichts nachweisen können, aber dieses Mal sei es eindeutig. Ich sollte gleich morgen früh zum Chef gehen.

Als ich nach Hause fuhr, dachte ich: Es wird sich morgen früh aufklären, und wollte nicht länger darüber nachdenken. Ilsabein und Paula warteten am Gartentor auf mich. Beide waren guter Dinge und ich ging in den Keller um Maiskörner zu holen.

Immer wenn ich abends zeitig heimkam, ging ich noch ein wenig in den Garten. Damit nicht die ganze Arbeit an Vati hängen blieb. Heute hatte es aber geregnet und da war mir zu nass. Ich wollte mir etwas Zeit für meine Hühner nehmen, und ging mit ihnen auf den Gartenweg. Dort warf ich die Maiskörner auf die Pflastersteine, von wo aus sie dann in alle Richtungen sprangen. Die Hühner rannten den Körnern nach und hatten anscheinend Spaß daran.

Da kam Stiene um die Ecke gefahren. Sie war auch von der Schule abgegangen und hatte eine Stelle als Näherin angenommen. "Bist du allein?" fragte sie. "Ja“, sagte ich, "warum fragst du?" Dann fing sie an zu erzählen: Sie hatte heute einen schlechten Tag. Im Betrieb hätte sie Herren-Unterhosen zusammen nähen sollen, und sie sei richtig fleißig gewesen. Als sie dann den vollen Korb zur Kontrolle gebracht hätte, sei über sie ein Donnerwetter herein gebrochen. Bei der Hälfte der Unterhosen hatte sie nur Vorderteile zusammengenäht und bei der zweiten Hälfte nur Hinterteile.

Mir huschte ein schadenfrohes Lächeln über mein Gesicht und ich bemerkte "Oh je, und wie ist es dir bekommen?" "Sie haben mich rausgeschmissen“, heulte sie, "wenn ich nur wüsste, was ich zu Hause sagen soll." Jetzt tat sie mir leid und ich tröstete sie. "Warum gehst du nicht in eine Zigarrenfabrik," schlug ich vor, "Da kann dir so etwas nicht passieren." Die Idee fand sie nicht schlecht. Da wurden laufend junge Mädchen eingestellt.

Gleich morgen wollte sie danach schauen. Sie meinte ihren Eltern sei es egal wo sie arbeitete, Hauptsache sie verdiente Geld. Ich erzählte ihr was mir heute passiert war und sie grinste und meinte: "Dann bist du morgen Mittag auch arbeitslos." Sie gab an, jetzt noch ihren ganzen Urlaub zu haben, die Zeit bekäme sie bezahlt. Urlaub hatte ich auch nie gehabt, dann müsste ich den ja auch noch bekommen.

Im Bett wälzte ich mich hin und her, und war mit mir selbst böse, weil ich nicht nachgesehen hatte, was in der Tasche war.

Meine Eltern schliefen jetzt morgens immer länger. Abends durfte ich den Wecker mit hinauf nehmen, den ich dann in der Frühe wieder in die Küche stellte. So saß ich fast immer allein am Frühstückstisch. Ich ertappte mich, als ich meine Hände rieb. Mir taten meine Finger weh, ich hatte Angst. Am liebsten wäre ich gar nicht ins Geschäft gefahren.

Als ich die Hühner in den Garten gelassen hatte, fuhr ich los und hatte ein schlechtes Gefühl in der Magengegend. Schon wieder zog ein Gewitter auf und ich beeilte mich vorher anzukommen. Im Betrieb wollte ich ins Lager hinunter um die richtige Tasche von Frau Weiss heraufzuholen, aber da stand schon Herr Rauch, um mich abzufangen.

Ich sollte den Laden wischen, der Chef sei noch nicht da. Der Laden war riesig, und ich fing an mich langsam durch zuarbeiten. Die ersten Kunden liefen auch schon herum. Da musste ich auch noch aufpassen, dass niemand fiel. "Wenn jemand ausrutscht," hatte der Junior Chef mal gesagt, "kann es sein, dass du lebenslang Rente für ihn zahlen musst." Genau das würde mir heute zu meinem Glück noch fehlen.

Normal kam der Chef immer erst nach der Mittagspause, dann war er immer schlecht gelaunt. Wenn er aber vormittags schon kam, dann war er ganz schlecht gelaunt. So saß ich kurze Zeit später einem ganz schlecht gelaunten Chef gegenüber. Der wollte auf gar keinem Fall glauben, dass ich die Tasche verwechselt hatte. Im Gegenteil ich musste das glauben, wie er es sah. Dass ich Gläser stehlen wollte und sicher schon zuvor welche gestohlen hatte, und zu Hause schon ein ganzes Warenlager hätte. Ich musste sofort meinen Urlaub nehmen und danach würde er wohl den Lehrvertrag auflösen.

Dass ich traurig war, kann ich nicht behaupten, aber ich war zornig, dass immer ich schlecht behandelt wurde. Also fuhr ich jetzt zu Stiene und hoffte, dass sich alles von allein aufklären würde.

Wir saßen am kleinen Anlegesteg und ließen unsere Füße im Wasser baumeln. Nebenbei klagten wir uns gegenseitig unser Leid. Genau genommen ging es uns ja beiden gleich. Stienes Eltern waren noch älter als meine, sie bekam laufend Schläge von ihrem Bruder und das schlimmste, jetzt waren wir beide ohne Arbeit. Um sechs Uhr fuhr ich nach Hause und es sah so aus als käme ich von der Arbeit. Natürlich sagte ich nichts daheim, ich verhielt mich normal wie immer, und der Druck in der Magengegend wollte nicht aufhören.

Diese Woche würde ich weiterhin morgens "zur Arbeit" fahren, und nächste Woche, würde ich sagen, dass ich Urlaub hatte. Des Nachts konnte ich nicht mehr schlafen, ich fühlte mich richtig krank.

Da traf ich ein Mädchen aus unserer Nachbarschaft, die wollte gern meine Schulbücher haben. Sie gab mir einen Zettel auf dem stand was sie benötigte. Ihre Mutter war allein und hatte nicht so viel Geld, deshalb versuchte sie gebrauchte Bücher zu bekommen. Ich nahm den Zettel und versprach ihr, die Bücher am nächsten Tag zu bringen.

Meine Schulbücher lagen alle auf dem Dachboden, Mutti wollte sie in der Wohnung nicht haben. Also nahm ich von dem großen Stoß, das was das Mädchen brauchte, packte es in eine Stofftasche und nahm sie am nächsten Morgen mit. Sie freute sich riesig, als ich ihr die Bücher brachte und fragte was es denn kostet. "Ach lass mal, „ sagte ich, "ihr habt doch so schon kein Geld."

Mittags, als wir gerade essen wollten, klingelte es an der Haustür. Wie gewohnt ging ich aufmachen. Da stand die Mutter an der Tür ,und wollte mir zehn Mark für die Bücher geben. Ich sagte: "Ich will nichts dafür behalten sie das Geld." Mutti hatte schon wieder gelauscht und gierig wie sie war, wollte sie wissen um was für ein Geld es ginge.

Die Frau war schon wieder gegangen und ich erklärte Mutti, dass ich dem Kind ein paar, von meinen alten Schulbüchern gegeben hatte. Sie regte sich fürchterlich auf, ich könne doch nicht die Bücher hergeben, die sie bezahlt hätte. Wenn ich abends von der Arbeit käme wollte sie die Bücher zurück haben.

Statt zur Arbeit fuhr ich wieder zu Stiene. Ihr erzählte ich das mit den Büchern. Sie hätte mir ja gern ihre Bücher gegeben, aber die hatte sie auch schon verkauft. So kam ich abends um sechs Uhr nach Hause, und Vati und Mutti warteten schon auf mich. Ich musste jetzt mit ihnen dahin, wo ich die Bücher gelassen hatte.

Mir war das ja so peinlich, Mutti hielt einen langen und breiten Vortrag was Kinder dürfen und was nicht. Vati mischte sich auch ein. Am Ende musste ich den armen Leuten die Bücher wieder abnehmen. Ich hoffte im Stillen, ihnen nie wieder zu begegnen, so schämte ich mich.

Diese Leute hatten wirklich kein Geld, Mutti behauptete immer kein Geld zu haben, aber sie hatte reichlich. Auf dem Heimweg betonte Mutti, dass sie sich mit mir immer schämen müsse. Im Augenblick schämte ich mich für sie. Da ich aber ohnehin seit Tagen ein schlechtes Gewissen hatte, hielt ich meinen Mund.

Am Sonntagnachmittag ging ich zum Freundeskreis um Elfi um Rat zu bitten. Elfi machte heute zum letzten Mal Bastelstunde. Sie würde nächste Woche in ein Mutterhaus gehen, um Diakonisse zu werden. Das hatte sie mir schon einmal erzählt, aber ich mochte sie und hatte es in meinen Gedanken verdrängt. Ich half ihr zusammenpacken, denn alles was wir hier benutzt hatten, war Elfis Eigentum.

Nebenbei erzählte ich ihr wie es mir ergangen war, und dass ich jetzt wohl keine Arbeit mehr hätte. Elfi sagte: "Auch wenn sich die Angelegenheit aufklärt, dort wirst du nie glücklich. Sie werden immer etwas finden, was du falsch machst. Wenn das Vertrauen zerstört ist, kann man nicht dauerhaft kitten." Sie wollte mit einem Bekannten reden, der eine Weberei hatte, vielleicht wüsste er Rat.

Mit Stiene verbrachte ich noch einen schönen Montag. Am Dienstag fuhr ich zu Elfi, um zu fragen ob sie mit ihrem Bekannten gesprochen hatte. Sie war mit ihrem Fahrrad bei ihm, und er hatte versprochen, dass er sich der Angelegenheit annehmen wollte. Ich hatte kein gutes Gefühl und wünschte, nichts gesagt zu haben. Bis zum Mittag half ich Elfi beim Kofferpacken. Der war schnell gepackt, sie nahm außer Unterwäsche fast nichts mit. "Brauchst du denn keine Kleider und Schuhe?" Fragte ich sie.

Sie erklärte mir, dass sie dort Kleidung bekäme, zuerst ein graues Kleid mit einer Schürze und nach der Probezeit eine Schwesterntracht. "Wieso gibt es da Probezeit?" wollte ich wissen. Sie meinte: "Könnte doch sein, dass es mir nicht gefällt, oder dass ich Heimweh bekomme." Bei mir dachte ich, hoffentlich kommt sie wieder, sie war mir fast eine Freundin geworden. Wir verabschiedeten uns und ich fuhr zum Mittagessen heim.

Als ich die Lindenallee hinabfuhr, sah ich schon von weitem das Motorrad von Elfis Bekannten vor unserer Haustür. Sofort wurde mir klar: Jetzt ist die Bombe geplatzt. Ich stieg schon an der Ringstraße vom Fahrrad ab, und ging das letzte Stück zu Fuß mit zitternden Knien. Bevor ich am Gartentor war, kam der Herr Webereibesitzer aus unserem Haus. Er sah mich gerade kommen und sagte zu mir: "Kannst ruhig hineingehen, es ist alles in Ordnung." Als ich ins Haus ging, glaubte ich tatsächlich, es hätte sich alles wahrheitsgemäß aufgeklärt. Als ich dann in die Küche kam, änderte sich meine Meinung automatisch. Das Essen war angebrannt entsprechend dick war die Luft in der Küche.

Muttis Augen streiften den Küchenschrank, wo sie immer noch einen Stock parat hatte. Aber sie holte ihn nicht. Ich war inzwischen einen Kopf größer als sie und sie hatte nicht vergessen, dass ich mich sehr wohl wehren konnte. Sie brachte das angebrannte Essen auf den Tisch und das schmeckte widerlich. "Nach dem Essen geh sofort in den Garten," befahl sie mir, "Vati und ich werden zum Jugendamt fahren, hier kannst du nicht mehr länger bleiben. Du lügst und betrügst und du stielst,- was kommt als nächstes, Mord?"

Gegen Abend sollte ich Salat putzen, fürs Abendessen.

In den Garten zu gehen, war für mich keine Strafe, ich arbeitete gern im Garten. Die beiden machten sich auf den Weg in die Kreisstadt zum Jugendamt. Ich nutzte die Zeit, um zu Frau Lindemann zu gehen. Wir saßen in der Laube und sie hörte zu, was ich ihr erzählte. Frau Lindemann sagte nachdenklich: "Deine Mutter hat immer schon allen Leuten erzählt was für ein schlechtes Kind sie angenommen hätten. Sie hat überall erzählt, dass du lügst und stielst, kein Wunder hat dein Chef Angst gehabt, dass du im den Laden ausraubst. Wenn du hier bleibst, wirst du nie glücklich werden." Morgen würde sie zum Jugendamt fahren und mit Fräulein Sorge sprechen. "Sie soll dich hier wegholen, aber nicht wie einen Verbrecher behandeln, das hast du nicht verdient."

Ich ging wieder an meine Arbeit im Garten und der Druck in der Magengegend war wieder da. Ob es jetzt an dem angebrannten Essen lag oder an dem Ärger, den ich immer bei mir behielt, ich wusste es nicht. Als ich wieder Ordnung im Garten geschafft hatte, nahm ich Ilsabein und Paula mit in den Sandkasten.

Hier hatte ich als Kind jeden Tag gespielt und jetzt war ich schon lange nicht mehr hier gewesen. Mir fiel auf, dass mir der Sandkasten jetzt viel kleiner vorkam als früher. Kam das daher, dass ich auch viel größer geworden war? Wir spielten unser altes Spiel, ich buddelte die Hühner in den Sand, und sie schüttelten sich. Dann hockten sie wieder in das gleiche Loch, und unser Spiel ging von Neuem los.

Gegen Abend drängten die Hühner in den Stall. Ich brachte sie hinein und machte die Türen zu. Dann holte ich einen Kopfsalat und ging in die Küche ihn zu waschen. Als ich mich auf den Salat konzentrierte, hörte ich im Korridor etwas poltern. Sofort ging ich nachsehen, sah aber nichts. Nachdem ich ganz genau ein Möbelstück nach dem anderen angeschaut hatte, sah ich dass ein Bild von der Wand gefallen war. Es war ein schönes altes Bild, zwei Kinder auf einer Blumenwiese. Morgen würde ich das Bild wieder richten und neu aufhängen. Ich wollte es in die Stube auf den Tisch legen, aber die Tür war verschlossen, so nahm ich es mit in die Küche.

Als ich wieder an den Salat ging, dachte ich: Warum haben sie die Stubentür abgeschlossen? Wie ein Blitz durchfuhr es mich, und ich probierte an den anderen Türen. Alle waren verschlossen, sogar das Bad. Es wäre für mich eine Kleinigkeit gewesen, die Türen zu öffnen, wenn ich denn gewollt hätte. Im Keller war ein Dietrich ich hatte ihn schon gesehen und ausprobiert. Wenn ich schon ein Dieb war, hätte ich sie doch richtig ausrauben können, dachte ich. Ich putzte meinen Salat fertig und ließ mir noch einmal alles durch den Kopf gehen.

Dann kam ich zu dem Schluss, warum sollte ich ihr Geld stehlen? Wozu brauchte ich es? Von meinem Weihnachtsgeld hatte ich immer noch die fünfzig Mark. Dann hatte ich Mutti drei Monate um ungefähr zwanzig Mark beschissen, was mir übrigens überhaupt nicht leid tat. Wenn sie meinen letzten Lohn bekommt, wird sie es merken. Ich hoffte, dass ich dann schon nicht mehr hier war. Nein, ich würde sie nicht bestehlen, aber das Geld von den Tanten zur Konfirmation, das würde ich von ihr verlangen. Wer weiß, wann ich es mal dringend brauchte.

Die Salatsoße hatte ich schon angemacht und die Bratkartoffeln aufgestellt. Da kamen sie im Hof um die Ecke. Mutti wollte gleich ins Schlafzimmer um ihren Hut abzulegen und rannte vor die verschlossene Tür. "Gib mir mal den Schlüssel, Rudi“, sagte sie zu Vati, der stritt ab jemals einen Schlüssel gehabt zu haben.

Ich war mir sicher Vati hatte gar keine Ahnung wo er gewesen war. Damit sie ihren Schlüssel in Ruhe suchen konnte, ging ich aufs Klo. Ohne neugierige Fragen zu stellen, ging ich nach dem Essen gleich hinauf in mein Zimmer.

Zwar hatte ich den Wecker nicht mitgenommen, wurde aber zur gleichen Zeit wach wie jeden Morgen. Es tat mir gut, dass ich allein am Frühstückstisch saß. Danach ging ich die Hühner hinauslassen und anschließend in den Garten. Ich grub ein paar abgeerntete Beete um und da war wieder dieser Druck in der Magengegend. Ab und zu wurde mir ganz schlecht. Das angebrannte Essen war mir scheinbar nicht gut bekommen.

Da kam Vati in den Garten und sah wie ich mich auf meinen Spaten stützte. "Geht es dir nicht gut?" fragte er mich. "Mir ist richtig übel." wagte ich zu klagen, "und mein Bauch tut auch weh." Vati grinste kindisch und behauptete: "Du kriegst ein Kind, ich habe es ja gleich befürchtet, als du mit den Pralinen heimgekommen bist." Daraufhin konnte ich nur "Blödsinn" sagen, und dachte bei mir, er weiß nicht was er sagt.

Nach dem Essen musste Mutti unbedingt in die Stadt. Sie musste dringend etwas besorgen. Vati schaute nach dem Obst und meinte, die Zwetschgen sollte man bald ernten. Vielleicht dachte er ich würde jetzt auf den Baum steigen, und Zwetschgen pflücken. Von unten machte ich ein paar unreife Pflaumen ab und gab sie ihm zum kosten. Wie er sein Obst von den Bäumen holte, sollte mir für die Zukunft egal sein, dachte ich. Sollte er sich doch einen Tagelöhner holen.

Als Mutti zurückkam, hatte sie ein großes Stück weißen Stoff gekauft. Darauf hatte sie ein Blumen- und Rankenmuster aufbügeln lassen. In einer Tüte war noch reichlich Stickgarn. Das packte sie auf den Küchentisch und bat ganz freundlich: "Du kannst doch so schön handarbeiten, könntest du mir nicht die Tafeldecke sticken, für den großen Tisch im Esszimmer? Schließlich bist du ja nicht mehr lange hier." "Dann wirst du aber immer an mich erinnert," bemerkte ich ein bisschen ironisch. Mutti, die scheinbar unbedingt die Decke wollte, heuchelte: Es sei aber doch ein schönes Andenken an mich.

Ich fing an, die ganze Decke rings herum mit einem Hohlsaum zu versehen. Sie hätte ja lieber den Saum mit der Nähmaschine genäht, aber ich beteuerte ,dass eine so wertvoll bestickte Decke auch einen besonderen Saum brauchte.

Als ich den Saum fertig hatte, fing ich an zu sticken. Die Ecken und die Mitte würde ich zuerst sticken sagte ich ihr, denn dann fiele es am wenigsten auf, wenn ich die Decke nicht fertig bekäme.
Morgens und abends versorgte ich die Hühner, die andere Zeit war ich unentwegt am sticken.

Meine Eltern bekamen des Öfteren Post vom Jugendamt. Vati saß am Tisch und schaute mir zu und sagte plötzlich: "Dein Opa in Holland will dich nicht haben. Jetzt versuchen die vom Jugendamt ob dein Vater dich nimmt." Ich tat erstaunt, "mein Vater? Ich dachte der lebt nicht mehr." Vati merkte, dass er etwas gesagt hatte, was er nicht hätte sagen sollen und schlich aus der Küche.

Als ich mit der Decke fast fertig war, fuhr Mutti wieder zum Jugendamt um Dampf zu machen. Sie fuhr morgens schon und hatte das Essen vom Vortag auf den Herd gestellt. Sie würde wohl zum Essen nicht zurück sein, bemerkte sie.

Vielleicht sah man es mir nicht an, aber ich war nicht blöd. Also machte ich pünktlich das Essen warm und aß mit Vati zusammen. Dann fragte ich ob er noch eine Zigarre rauchen möchte, denn in letzter Zeit wurde er immer müde wenn er eine Zigarre angezündet hatte. Genau so war es dann auch. Er schlief fast im sitzen ein. Ich sagte: "Vati du bist ja müde, leg dich doch ein wenig aufs Sofa." Er legte die Zigarre in den Aschenbecher und ging ins Schlafzimmer, wo er sich ins Bett legte. Ich wartete bis er schnarchte. Dann schlich ich zu Frau Lindemann.

Frau Lindemann fragte: "Wo warst du denn, haben sie dich eingesperrt?" "So ähnlich," lachte ich. Jetzt erfuhr ich von ihr, wie es ihr auf dem Jugendamt ergangen war. Frau Sorge hatte ihr auf jeden Fall geglaubt und sie sei intensiv damit beschäftigt, mich gut unterzubringen. Wenn es gar nicht klappen würde, dann müsste sie mich in ein Mädchenheim bringen. Sie sei sich sicher, dass die Lösung für mich kein Problem sei. Aber solange es ginge würde sie sich für mich bemühen."

Ich schielte schon wieder auf die Tür und wurde unruhig. "Dann gehe jetzt lieber bevor Mutti heim kommt." Frau Lindemann überlegte einen Augenblick, dann fand sie dass ich ja gar nicht mehr an die Luft käme. "Wie wärs heute Abend, wenn deine Eltern schlafen, mit einem kleinen Sparziergang?" Die Idee gefiel mir, ich würde durch den Keller gehen.

Als im Haus kein Licht mehr brannte, schlich ich die Treppe hinab und ging durch die Kellertür hinaus. Wir machten einen langen Sparziergang durch die Nacht und sprachen über alles was in Zukunft vielleicht passieren könnte.

Das sollte für lange Zeit mein letzter Sparziergang sein.
Frau Lindemann hatte es geschafft, sie hatte mich auf alles vorbereitet, ich war innerlich ganz ruhig. Es war mir ganz gleichgültig was auf mich zu kam, ich würde es schaffen.

Die Decke machte ich am nächsten Tag fertig. Es war ein schönes, ganz einmaliges Stück.

Mutti konnte sich ein "wunderschön" nicht verkneifen. Sie machte Nachmittagskaffee und hatte frisch gebackenen Butterkuchen auf den Tisch gestellt. "Genieße den Kuchen," sagte sie, "Wer weiß wann du wieder welchen bekommst. Am Montag holt dich Frau Sorge ab." Ich wollte von ihr nicht wissen, ob sie weiß wohin ich sollte. Nein, ich würde sehr gut warten können.

Frau Lindemann hatte beteuert, "wohin du auch kommst, es kann dir nicht schlechter gehen. Du bist so liebenswert, ehrliche Menschen werden dich mögen.

Der Abschied von Ilsabein

 

Den Samstag Nachmittag verbrachte ich mit meinen Hühnern. Sie hatten mich fast die ganzen Jahre begleitet. Ihnen hatte ich immer meinen Kummer anvertraut, und sie hatten meine vielen Tränen aufgepickt. Wie oft hatte Ilsabein am Gartentor auf mich gewartet. Ob es jemals wieder jemanden gibt der auf mich wartet, das war nicht sicher.

Plötzlich musste ich wieder weinen, meine Zukunft war sehr ungewiss, aber die Zukunft der Hühner die war sicher. Sie würden bald im Suppentopf landen. Morgen würde ich meinen Koffer packen, und dann werden wir uns verabschieden müssen.

Nach dem Abendessen ging ich in den Vorgarten auf auf meine Lieblingsbank. Ich musste an die schönen Stunden denken, die ich hier mit Vati verbracht hatte. Wieder kamen mir die Tränen. Frau Stadlers Junge, den wir "Diddi" nannten, kam über den Gartenweg. "Bist du traurig?" fragte er, und sein Gesicht verzog sich zu einem breiten, idiotischen Grinsen. Mit ihm wollte ich mich jetzt nicht unterhalten, er war mir einfach heute zu anstrengend.

Diddi ging auf den Bürgersteig und lief vor unserem Gartenzaun hin und her, während er mir die neuesten Schlager vorsang. Er hatte eine sagenhafte Stimme und ein unwahrscheinliches Gefühl für den Rhythmus. Wenn er den Text nicht weiter wusste, sang er ganz einfach mit "Pam, pam, pam" weiter. Jedes mal wenn er an dem Rosenloch in der Mauer vorbei kam, schaute er mit seinem Pfannkuchengesicht dadurch. Seine Ausdauer war bewundernswert. Bis seine Mutter ihn ins Haus rief, hatte er es geschafft, meine traurigen Gedanken zu vertreiben.

Er ging auf dem Gartenweg zurück ins Haus, und sagte als er in der Nähe meiner Bank vorbei kam: "Ich bin so verliebt in dich." Ich kriegte es mit der Angst zu tun. Heute Abend würde ich nicht nur meine Schlafzimmertür abschließen, sondern auch die Tür, die vom Treppenhaus ins Dachgeschoss führte.

Nachdem ich die Hintertür geschlossen hatte, schlich ich leise die Treppe hinauf. Ich schlief schlecht und als der Wecker klingelte, war ich gerade richtig eingeschlafen. Es nutzte mir nichts, ich musste aufstehen und meinen Koffer vom Schrank holen und einpacken was ich mitnehmen wollte.

Meine Kleider waren sehr schnell eingepackt, von Muttis Kleidern wollte ich keines mit nehmen. Meine Unterwäsche kam zuerst in den Koffer. Darauf die Kleider, es waren nur wenige, meine schönen Pullis, und meinen braunen Strickrock, den ich selber gemacht hatte. Den Mantel von Mama legte ich zum Schluss in den Koffer. Den wollte ich unbedingt mitnehmen, auch wenn er mir kaum noch passte.

In die Innentaschen steckte ich das Geld, was ich für den Notfall gespart hatte und das Tagebuch für Frau Sorge. Zum Schluss steckte ich ich zwei paar Schuhe an die Seiten des Koffers. Ich probierte ob der Koffer noch zuging und stellte fest: Es ist noch Platz für etwas zusätzliches. Da legte ich die Taschentücher und das Wasch- und Nageletui obenauf.

Es würden auch noch meine Geschenke von der Konfirmation in den Koffer passen, aber die waren unten in der Wohnung. Es wurde Zeit, dass ich hinunterging. Meinen Koffer ließ ich im Zimmer, denn wenn ich ihn heute schon hinab brächte, würde sie alles durchwühlen. Mit dem Wecker in der Hand kam ich in die Küche. Mutti hatte schon Kaffee gekocht, und der Butterkuchen stand auf dem Tisch.

Als ich von dem Kuchen herab biss, überlegte ich, ob ich vielleicht doch fragen sollte, ob ich nicht hier bleiben durfte. Sie machte den besten Butterkuchen der Welt, aber lohnte es sich deswegen hier zu bleiben? In meinem Kopf hörte ich Frau Lindemann: "Du wirst hier niemals glücklich werden."

Anstatt meine Frage zu stellen, nahm ich mir noch ein Stück von dem Kuchen. "Hast du deinen Koffer schon gepackt?" unterbrach Mutti die Stille in der Küche. "Ja meinen Koffer habe ich gepackt, es fehlen nur noch die Konfirmations-Geschenke," gab ich zur Antwort. "Die bekommst du nicht mit. Wenn mal aus dir was wird, kannst du sie abholen." bestimmte sie kurz angebunden.

Im Grunde genommen war es mir egal, ob ich die paar Handtücher und die silberne Schale hatte oder nicht. Ich nahm allen Mut zusammen und fragte ob ich denn wenigstens das Geld bekäme, was man mir geschenkt hatte. "Bist du geisteskrank?" fuhr sie mich an. "Ich werde dir doch nicht 250,- Mark mitgeben ins Erziehungsheim. Das ist nur ein kleiner Teil von dem, was du uns gekostet hast." Inzwischen war ich fertig mit frühstücken und stand auf, mein Geschirr abzuräumen. "Jetzt gehe ich mal die Hintertür aufschließen und die Hühner in den Garten lassen," beendete ich die Unterhaltung.

Als ich die Tür vom Hühnerstall öffnete, rannte Ilsabein sofort Richtung Sandkasten. "Na gut," seufzte ich und ging mit Paulahinterher. Die Drillinge verschwanden im Gemüsegarten.

Indem ich die Hühner mit dem feinen Sand bestreute dachte ich daran, wie ich ihnen früher immer die Märchen erzählt hatte, die uns die Kindergartentante vorgelesen hatte. Da war das Märchen von Brüderchen und Schwesterchen, das ich ganz besonders mochte. Ich zitierte: "Jetzt komme ich noch einmal her, und dann nimmer mehr."

Bis zum Mittag blieb ich mit Ilsabein und Paula im Sandkasten. Dann rief Mutti, ich sollte kommen und den Tisch decken. Vati war jetzt auch rasiert und angezogen. Das Essen war gut, wie immer, aber es schmeckte mir nicht.

Trotzdem aß ich ein wenig. Mutti meinte, das sei meine Henkersmahlzeit, und ich sollte mich nur satt essen. Nach dem Essen spülte ich das Geschirr. Vati wollte mit mir aufs Bänkchen aber Mutti wusste das zu verhindern. "Hat Lisbeth nicht Geburtstag?" fragte ich ihn, "wir könnten Blumen auf den Friedhof bringen." Vati lachte: "Ja, ja Lisbeth hat Geburtstag, wir müssen Rosen holen." Mutti wollte ihn aufs Sofa bringen aber er schubste sie von sich.

Wir gingen dunkelgelbe Rosen pflücken, und ich legte Spargeldlaub dazwischen, wie immer. Dann steckte ich die Rosenschere in meine Rocktasche und wir gingen los zum Friedhof. Mutti war ganz blau angelaufen vor Zorn, sie rief mir nach: "Pass ja auf, dass Vati nichts passiert." Vati hatte seinen Sparzierstock dabei, und lief damit ganz flott.

Er war schon lange nicht auf dem Friedhof gewesen. Der Kranz vom Totensonntag war noch nicht weggeräumt. Noch einmal half ich Vati das Grab schön zu richten. Dann saßen wir auf der Bank und er sagte: "Lisbeth hat erst in drei Wochen Geburtstag." "Macht nichts," winkte ich ab, "du kannst ja in drei Wochen noch mal zu ihr gehen." Auf dem Heimweg erzählte mir Vati von seiner Lisbeth Geschichten, die schon kannte.

Vatis Geschichten und Sprüche, wie werde ich sie vermissen!

So kamen wir gerade noch rechtzeitig zum Kaffee. Mutti machte jetzt immer Bohnenkaffee mit ihrem neuen Kaffeefilter der schmeckte köstlich. Ich hatte im Geschäft bei einer Kaffee-Filter-Vorführung einen kleinen Filter geschenkt bekommen. Den hatte sie auf meinen Platz gestellt, und gesagt: "Den Filter kannst du mitnehmen, ich habe ja einen." Nach dem Kaffee stand sie auf, ging an ihren Wäscheschrank und ich dachte sie wollte das Geld holen.

Sie kam zurück und brachte zwei Handtücher, die ich von Frau Lindemann zur Konfirmation bekommen hatte. Großzügig legte sie die neben den Filter und erklärte, dass sie mir noch für die Aussteuer zwei Handtücher schenken wollte. Ich ließ wieder die Schauspielerin aus mir raus und bedankte mich überschwänglich für ihre Großzügigkeit.

Am Abend ließ ich die Hühner in den Stall und streichelte meine Lieblingshühner. Ob ich morgen früh noch einmal kommen würde, konnte ich ihnen nicht versprechen. Aber ich füllte die Tränke noch einmal mit frischem Wasser. Drei Eier waren im Nest, die nahm ich mit in die Küche. Dann sagte ich gute Nacht und wollte nach oben gehen, da hielt mich Mutti zurück: "Den Popelinmantel darfst du auch mitnehmen, und die Handschuhe aus der Gardrobe." Die Sachen nahm ich über den Arm, fand noch einen Schal von mir nahm den Wecker und fragte: "Wann muss ich denn morgen aufstehen?" "Spätestens um sechs," war die Antwort. Dann ging ich die Treppe hinauf.

Weinend packte ich die letzten Sachen in meinen Koffer. Als ich die Bänder zuschnürte, musste ich an Papa und Mama denken. Der Koffer war von Papa und Mamas Mantel hatte ich auch dabei. So war ich damals hier angekommen und so würde ich auch wieder von hier gehen. In die Umhängetasche steckte ich zwei Taschentücher für alle Fälle. Morgen würde ich die Zahnbürste noch darein stecken. In der Nacht schlief ich unruhig und wurde wach bevor der Wecker klingelte.

Ich hatte noch genügend Zeit, um mein Bett abzuziehen. Aus der Wäsche machte ich ein Bündel, und hängte die Wandertasche um den Hals. Dann nahm den Koffer und warf mir das Bündel auf den Rücken. So kam ich um sechs Uhr die Treppe herunter. Den Koffer ließ ich gleich im Flur.

Mutti war schon auf und freute sich, dass ich die Bettwäsche abgezogen hatte. Sie war schon ganz aufgeregt und schaute immer auf die Uhr. "Frau Sorge will noch bei deinem Chef vorbei, die Papiere von dir holen und deinen Lohn." Scheiße, dachte ich dann merkt sie noch bevor ich abreise, dass ich jeden Monat mehr als zwanzig Mark, für mich behalten hatte. Es kann durchaus möglich sein, dass ich dann noch an meinen Koffer musste, das Geld zu holen. Vor acht Uhr kann sie überhaupt nicht ins Büro, dachte ich. Da konnte ich nach dem Frühstück die Hühner noch in den Garten lassen.

Es hatte in der Nacht ein wenig geregnet, und die Hühner rannten in den Garten, um nach Regenwürmern zu suchen. Allen voran Ilsabein. Sie und Paula waren nun schon elf Jahre alt, und rannten immer noch umher. Die Beine waren nicht mehr so gelb wie bei jungen Hühnern, sie waren grau. Ich schaute noch ein wenig zu, dann ging ich wieder ins Haus um auf Frau Sorge zu warten.

Mutti hatte schon mindestens zwanzig mal nach ihr Ausschau gehalten.

Als sie so wartete holte sie mein Strickzeug hervor und fragte: "Passt das noch in deine Wandertasche? Vielleicht kannst das ja mal fertig stricken. Dann brachte sie noch den Rest Wolle, und ich ging auf den Flur um die Wolle und das Strickzeug in meinen Koffer zu packen. Ich machte gerade den Koffer wieder zu, da klingelte es. Mutti kam aus der Küche gerannt, bevor ich die Haustür aufgeschlossen hatte.

Frau Sorge war da, "na, hast du schon gepackt?" wollte sie wissen. Frau Sorge brachte meinen Koffer in ihr Auto und ich holte meine Umhängetasche aus der Küche. Dort lief Vati im Nachthemd ganz aufgeregt herum, er wollte wissen wer da gekommen war. Vati bekam schnell noch einen Kuß auf die Backe, dann ging ich wieder Richtung Haustür.

Frau Sorge rief ich sollte gleich ins Auto steigen, sie sei spät dran. Mutti lief die Treppe hinab ans Auto und fragte ob sie meinen Lohn bekommen hätte. "Ja natürlich, ich werde es auf ein Sparbuch einzahlen, damit sie später einen Notgroschen hat." Mutti war außer sich: "Das Geld steht mir zu, sie hat uns schon viel Geld gekostet." Frau Sorge schlug die Tür vom Auto zu, und rief: "Auf Wiedersehen Frau Teichmann!"

Weiter bergab kann es kaum noch gehen

 


    Frau Sorge startete den Wagen und fuhr den kürzesten Weg in die Kreisstadt. Gleich als wir außer Sichtweite waren, hielt sie an und wollte, dass ich vorn neben ihr Platz nahm. "Wir wollen uns doch unterhalten“, begründete sie ihren kurzen Stopp, "das geht besser wenn du vorn sitzt." Sie war in der Firma gewesen und die Sache mit dem angeblichen Diebstahl hat sich aufgeklärt. Frau Weiss hatte den Chef aufgesucht, und die richtige Tasche aus dem Lager geholt. Dann konnte sie die Reklamation noch bearbeiten und an den richtigen Platz bringen.

Der Chef wollte mich aber trotzdem nicht gern behalten, weil ich über ein Jahr keine Berichte geschrieben hatte. Die Restzahlung war aber sehr großzügig ausgefallen. Ich erzählte ihr, dass ich auch noch Geld gespart hatte. "Wie hast du das denn geschafft?" fragte sie ungläubig.

Als ich ihr dann erzählte, dass ich einen Teil meines Lohnes nicht abgeliefert, und das Weihnachtsgeld verheimlicht hatte, musste sie herzhaft lachen: "Da hat sie dir immer etwas anhängen wollen, und als du sie wirklich betrogen hast, hat sie es nicht gemerkt." Sie wollte das Geld auch mit auf ein Sparbuch einzahlen, weil sie ja jetzt mein Vormund sei. Wir kamen beim Jugendamt an, und Frau Sorge nahm mich mit in ihr Büro.

"Bis vier Uhr haben wir noch Zeit, um eine optimale Lösung für dich zu finden." Frau Sorge machte mir Hoffnung, und ich saß auf einem Stuhl und wartete. Sie telefonierte unentwegt und als es fast zwölf Uhr war, bat sie mich auf sie zu warten, sie müsse dringend fort. Ich wartete geduldig und wünschte mir, mein Strickzeug in meiner Wandertasche gelassen zu haben. Sie kam zurück und war sichtlich enttäuscht. Als sie mich so geduldig auf dem Stuhl sitzen sah, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.

"Ich hatte schon Angst, du wärest stiften gegangen," sagte sie lächelnd. "Ich kann dich nicht zu deinem Vater bringen, er hat wieder geheiratet und die Frau hat keine Ahnung, dass es dich gibt. Sie hat auch ein Mädchen mit in die Ehe gebracht. Die beiden Kinder schlafen in Kojen, das Haus ist klein und dein Vater müsste umbauen. Er hat versprochen nach einer Lösung zu suchen, damit er dich bald holen kann." Dann fügte sie hinzu, "ich würde mich an deiner Stelle nicht darauf verlassen."

Sie telefonierte noch einmal wie ein Weltmeister wobei sie immer davon sprach, dass sie ein fünfzehnjähriges Mädchen unterbringen müsste. Schließlich ließ sie sich in ihren Sessel fallen und sagte: "Mädchen wollen sie alle, aber keines mit fünfzehn Jahren." Sie schickte ein Lehrmädchen hinunter, die sollte mir etwas zum Essen kaufen. Dazu schenkte sie mir ein Glas Saft ein. Das wurde auch Zeit, mir war schon schlecht vor Hunger.

Eine Stunde lang wartete sie noch auf ein Wunder, dann griff sie seufzend zum Telefon: "Sorge, vom Jugendamt," hörte ich sie sagen, "ich muss ihnen ein Mädchen bringen, die ich so schnell nicht unterkriege." Sie versicherte, dass ich nicht gewalttätig wäre, sondern sehr ruhig.

Während Frau Sorge mir erklärte, dass sie die Vormundschaft für mich übernommen hatte, lief das Lehrmädchen ans Auto um meinen Koffer zu holen. Ich holte mein Geld aus dem Koffer und das Tagebuch, und den Umschlag, den ich von Mutti bekommen hatte mit Ausweis und Geburtsurkunde. Alle wichtigen Papiere heftete sie in eine Mappe, dann holte sie das Geld von meinem Chef aus der Tasche. Alles zusammen waren fast dreihundert Mark. Sie schrieb eine Quittung und heftete die auch ab.

Das Lehrmädchen begleitete uns ans Auto und trug meinen Koffer. Ich schaute mich um ob ich nichts vergessen hatte, dann fuhren wir los. Wir fuhren mindestens eine Stunde, Frau Sorge wollte mehrmals ein Gespräch anfangen, aber mir war jetzt nicht mehr nach plaudern. Ich musste an Papa denken, der mich nicht wollte, statt dessen musste ich jetzt in ein Heim. Nachdem wir an einem großen Schild mit der Aufschrift "Mädchenheime" vorbei gefahren waren, hielt sie an der Verwaltung an.

Sie nahm den Koffer aus dem Auto und ging mit mir hinein. Eine Schwester empfing uns und Frau Sorge hielt es für wichtig meinen Fall genau zu erörtern. Die Schwester meinte da sei ich ja nicht unbedingt an der richtigen Stelle, aber in dem Alter sei es schon sehr schwierig. "Wenn sie achtzehn wäre, könnte ich sie in ein Schwesternheim bringen, dann könnte sie Krankenschwester werden, aber mit fünfzehn?" Die Schwester tätigte einen Anruf, es sollte mich jemand abholen.

Frau Sorge stellte noch klar, dass ich nichts gegessen hätte, und dass ich nicht zu Strafe hier sei. Sie übergab die Mappe mit meinen Papieren und wies darauf hin, dass sie mein Vormund sei, und somit der einzige Ansprechpartner. Dann musste sie leider gehen. Im gleichen Augenblick kam eine Schwester um mich abzuholen. Die Augen der Schwester schauten mich freundlich an. "Komm“, forderte sie mich mit ihrer warmen Stimme auf.

Für meinen Koffer hatte sie einen kleinen Kullerwagen mitgebracht. Wir brachten den Koffer in den Handwagen und die Aufnahme-Schwester sagte: "Schau, dass du im Schwesternhaus noch was zum Essen bekommst, Anneliese hatte noch nichts heute." Die Mädchenheime bestanden aus einigen Häusern. Wir gingen eine Weile, bis sie mich in eines der Häuser führte. Hinter mir verschloss sie die Haustür wieder, dann öffnete sie eine Tür. In einem Raum saßen Schwestern am Tisch beim Abendessen.

Schwester Luise, die Schwester die mich abgeholt hatte, fragte: "Habt ihr noch etwas zum Essen? Ich habe hier ein hungriges Mädchen." Eine der Schwestern stand auf und ging in eine kleine Küche. Als sie zurückkam, hatte sie mehrere belegte Brote, die gab sie Schwester Luise. "Hast du ihr noch einen Tee dazu?"

Ich hatte lauter Diakonissen in dem Raum gesehen. Alle Schwestern die ich bisher kennen gelernt hatte, waren nett und herzlich. Meine Angst war so gut wie weggeblasen. Ich wusste Schwestern sind nicht böse.

Ich hatte die Umhängtasche um den Hals gehängt, da nahm ich den Koffer und die Schwester trug mein Abendessen die Treppe hinauf. Dort schloss sie wieder eine Tür auf, wir traten ein und die Tür wurde wieder verschlossen. Hier war ich auf jeden Fall eingeschlossen, das hatte ich schon begriffen.

Du landest noch hinter Schloss und Riegel, hatte mir Mutti ja immer prophezeit.
"Das ist unser Hausmädchen" sagte die Schwester zu mir und das Mädchen an dem Spülbecken drehte sich um. "Anneliese, was machst du denn hier?" rief sie erfreut. Ich konnte mir doch keine Gesichter merken und ich hatte keine Ahnung wer da vor mir stand. "Ihr kennt Euch?" fragte Schwester Luise. "Ja sagte das Mädchen, wir sind zusammen konfirmiert." Jetzt wusste ich, es war Hildegard mit dem himbeerroten Ballkleid bei der Konfirmanden-Vorstellung.

Die Schwester brachte mich in einen großen Saal, in dem niemand war. Dort sollte ich zuerst essen. Hildegard brachte den Tee, alle anderen Mädchen waren schon in ihr Zimmer gegangen. Die Schwester stellte meinen Koffer auf den Tisch, und schaute was ich mitgebracht hatte. "Ist das alles sauber?" fragte sie, während sie Mamas Mantel bewunderte. "Ja ich habe nur saubere Wäsche." Antwortete ich ein wenig beleidigt.

Meine Wäsche legte sie zurück in den Koffer, "das müssen wir noch beschriften," stellte sie fest. "In den meisten Sachen sind Namensschilder drin, ich war doch zur Kur," bemerkte ich. Aus meinen wenigen Kleidern suchte sie mir ein Sonntagskleid aus. "Du bekommst von mir zwei neue Kleider, ein Vormittagskleid und ein Nachmittagskleid“, versprach sie. Dann holte sie ein Nachthemd aus dem Koffer und zwei Schürzen. Die restlichen Kleider brachte sie in einen Kleiderraum auch den Mantel.

Sie hatte in die Manteltasche gefasst, Mamas Rezepte gefunden und das Taschentuch von ihr. Die Rezepte wollte sie wegwerfen, da kamen mir die Tränen und ich bettelte, die Rezepte nicht weg zuwerfen. Der Mantel und die Rezepte wären alles, was ich von meiner Mama noch hatte, und die sei tot. In einem Briefumschlag waren noch ein paar Fotos, die Mutti mir in die Wandertasche gesteckt hatte. Da steckte sie die beiden Rezepte hinein und klebte den Umschlag zu. Sie schrieb darauf: Wichtige Erinnerungsstücke. Dann legte sie es zurück in den Koffer.

Ich hatte fertig gegessen und sie ging mit mir ins Bad. Ich sollte jetzt noch baden und Haare waschen. Dann müsse sie nach Läusen schauen, dass wäre Vorschrift.

Da ließ ich das auch über mich ergehen. Sie nahm meine Wäsche die ich ausgezogen hatte und ich musste gleich mein Nachthemd anziehen. "Hast du keinen Schmuck, keine Uhr?" wollte sie wissen. "Nein ich habe weder Uhr noch Schmuck." Ich fühlte mich gedemütigt, weil sie meine Kleidung trotzdem noch genau durchsuchte, scheinbar glaubte sie, ich hätte noch irgendwas versteckt.

Wir gingen wieder vom Bad zurück, und da war ein Flur mit vielen Türen. Die waren nummeriert. Sie machte die Tür auf, an der die Sieben stand und ließ mich hinein. Meine Zahnbürste und die Zahnpasta sowie die Haarbürste durfte ich mit in das Zimmer nehmen. Dann sagte Schwester Luise "gute Nacht" und machte die Tür zu.

Ich ging das Fenster schließen, und sah da waren Gitterstäbe davor. Das Zimmer war halb so groß wie mein Dachzimmer. Darin stand ein Bett, das war in Ordnung, ich war ja nicht verwöhnt. Ein Spind stand neben dem Bett, mit einem Kleiderbügel und einem einzigen Fach für Wäsche. Außerdem war noch ein Stuhl da und ein Waschständer mit einer Waschschüssel und einem Haken daran für die Waschlappen. An der Wand hingen noch zwei Handtücher.

Das war eine spartanische Unterbringung, dachte ich gerade, als Schwester Luise noch einmal hereinkam sie brachte mir zwei Kleider, eines kariert, für den Vormittag und eines blau mit bunten Blumen, für den Nachmittag. Sie gab mir noch einen Kleiderbügel und erklärte mir: "Ich muss jetzt das Licht löschen, geh also bitte gleich ins Bett. Wenn es morgen früh läutet, aufstehen, waschen und das Vormittagskleid anziehen und eine Schürze."

Als sie danach das Zimmer verließ sah ich, dass die Tür von innen keine Klinke hatte. Ich konnte also gar nicht hier heraus. Zum Glück war ich vorher im Bad auf dem Klo gewesen. Irgendwie musste ich das jetzt erst mal alles verdauen. Kaum war ich im Bett gingen alle Lichter aus. Im Bett sortierte ich die Eindrücke des Tages, und heulte in mein Kissen. Ich hatte nicht einmal ein Taschentuch, es war alles bei meinen Sachen im Koffer.

Morgens hörte ich die Glocke und stand auf, wusch mich und putze meine Zähne. Als ich dann meine Haare machen wollte, war da nicht einmal ein Spiegel. Jetzt wusste ich, warum Frau Sorge mir das unbedingt ersparen wollte. Auf dem Flur hörte ich Türen klappern und Schritte, aber sprechen hörte ich niemanden. Fertig angezogen stand ich an der Tür, und wartete aber niemand kam aufmachen. Ob sie mich vielleicht vergessen hatten? Meine Schuhe hatte die Schwester mir abgenommen, ich hatte gestrickte Socken von ihr bekommen und Filzschlappen.

Es dauerte eine Weile, bis Schwester Luise die Tür aufmachte. Sie brachte mir eine Tasse Kaffee und versprach mir, ich würde auch nachher mein Frühstück bekommen, aber erst müsste sie mit mir zur Ärztin. Es sei nun mal Vorschrift, dass alle Mädchen untersucht würden, wenn sie hier ankämen. Es könnte ja sein, dass ich eine ansteckende Krankheit hätte. Dann hätte sie nachher 20 kranke Mädchen.

Na das würde ich auch noch aushalten, dachte ich. Im Vorraum vom Bad musste ich die Filzschlappen gegen Holzschuhe austauschen. Dann ging sie mit mir zur Arztpraxis die nur für die Mädchenheime war. Die alte Ärztin war mir höchst unsympathisch. Zuerst nahm sie mir Blut ab, dann untersuchte sie mich routinemäßig. Danach wollte sie mich gynäkologisch untersuchen und ich sollte auf einen Spezialstuhl. Ich hatte keine Ahnung was sie von mir wollte und was ich machen sollte. Entsprechend dumm benahm ich mich.

Die Ärztin schrie mich an, ich sollte mich nicht so anstellen bei den Jungen wüsste ich ja auch wie man es macht. Als sie dann feststellte, dass ich noch Jungfrau war, durfte ich mich wieder anziehen. Die Ärztin war ein widerliches Weib, sie hielt es nicht für nötig sich bei mir zu entschuldigen. Diesen Schock musste ich nun erst mal verkraften.

Auf dem Rückweg sprach ich kein Wort mit Schwester Luise. Ich würde jetzt am besten mal eine Zeitlang gar nicht mehr reden, nahm ich mir vor. Mit Filzschlappen ging es wieder die Treppe hinauf und geradewegs in mein Zimmer zurück. "Jetzt musst du noch im Zimmer bleiben, bis die Ergebnisse von der Untersuchung kommen. Du kannst die Zeit nutzen um über dein Leben nachzudenken“, sagte die Schwester und holte mein Frühstück.

Als sie wieder an die Tür kam um mir mein Frühstück zu geben, nahm ich allen Mut zusammen und sagte zu ihr: "Schwester Luise, ich denke jeden Tag, abends im Bett über mein Leben nach. Ich habe nichts verbrochen und ich habe mich auch nicht mit Jungen herumgetrieben. Wenn ich noch in dem Zimmer bleiben muss, möchte ich mein Strickzeug." Wie lange du im Zimmer bleibst, bestimme ich“, antwortete sie, "auch ob du stricken darfst, werde ich entscheiden." Nach dem Mittagessen brachte die Schwester mein Strickzeug.

Ich sollte es immer im Spind aufbewahren, damit es nicht herumläge, wenn das Hausmädchen zum Putzen käme. Den ganzen Tag und den nächsten bis zum Mittagessen, musste ich im Zimmer bleiben. Nach der Mittagspause, die alle Mädchen in ihrem Zimmer verbrachten, kam die Schwester und machte die Tür auf. Ich sollte mein Strickzeug wegräumen und mitkommen.

Sie führte mich in den großen Raum in dem die anderen Mädchen auch alle waren. Da war ein junges Fräulein, die mit den Mädchen arbeitete. Fräulein Knollmann sei ihr Name, und wir würden jetzt zuerst meine Wäsche in Ordnung bringen. Mein Koffer stand immer noch an dem Tisch vorm Fenster. Sie fragte mich, ob ich die Namensschilder mit Tusche schreiben möchte. Ich setzte mich an das Schreibpult und schrieb meinen Namen auf Baumwollstreifen.

Fräulein Knollmann fand das sehr gut und meinte, ich könnte das ja jetzt immer machen. Dann schaute sie jedes Wäschestück an, ob sie nicht vielleicht ein Löchlein fände, aber da war nichts zu finden. Überall nähten wir ein Namensschild ein auch in jedes Taschentuch. Die neuen von meiner Konfirmation ließ sie verpackt und legte sie zurück in meinen Koffer. Dann fiel ihr das Taschentuch von Mama auf. Sie hielt das Taschentuch hoch, und zeigte es den anderen Mädchen.

Ich bat Fräulein Knollmann das Tuch zurück in den Koffer zu legen, es sei für mich besonders wertvoll. Daraufhin legte sie es schön zusammen und packte es zu den anderen neuen Taschentüchern. Dann fand sie das Taschentuch, das ich in der Schule gemacht hatte. Es hatte blaue Spitze und sie fragte: "Das auch?" "Nein, das habe ich selber gemacht, da darf ein Name hinein" Gab ich zur Antwort.

Es gefiel ihr so gut, dass sie es auch hochhielt und den Mädchen zeigte. Ganz besonders beeindruckt war sie von meiner Urkunde vom Stenoverein. Spätestens hier begriff Fräulein Knollmann, dass ich kein Straßenmädchen war.

Als alle Kleidungsstücke ein Namensschild hatten, räumte sie den Koffer weg und brachte die Unterwäsche in mein Zimmer. Dann fragte sie mich, welche Handarbeit ich denn am liebsten machte. Ich hatte gesehen, dass die Mädchen fast alle häkelten. Sie machten Taschentücher oder Spitzendeckchen. Das waren zu der Zeit die Verkaufsschlager, denn was wir hier machten, wurde verkauft. "Es ist mir gleich, ich kann eigentlich alles“, sagte ich selbstbewusst.

Fräulein Knollmann gab mir Material für ein Taschentuch. Dann brachte sie ein Mustertuch. Das sollte ich ansehen und wenn ich ein Muster wüsste, was da nicht dabei sei, dann würde sie sich freuen wenn ich es hinzu fügen würde. Mir fiel auf dass da kein Spinnenmuster war. Das häkelte ich an ein Eck, und dann fing ich an mit einem richtigen Taschentuch.

 Das Fräulein setzte am kommenden Tag ein Mädchen zu mir, die hieß Eva. Sie gehörte auch nicht gerade hierher, ihre Mutter war gestorben und ihr Vater war Förster. Eva hatte eine seltsame Krankheit. Sie hatte riesige Augen, die sie immer beim Sprechen und Essen verdrehte. Immer wenn sie die Augen verdrehte, ging bei ihr alles in Zeitlupe. Sonst war sie ein hübsches Mädchen, und wie ich später feststelle, das klügste Mädchen was ich je kennen gelernt hatte. Wir saßen nun am Ende des langen Tisches, und da wir beide keine Schwätzerinnen waren, hatte das Fräulein mit uns keinen Ärger.

Jede zweite Woche mussten wir zum Kartoffelschälen in die Küche. Eimer weise schälten wir Kartoffeln und erfuhren nebenher von den Mädchen die in der Küche waren, was es zum Essen gab. Wenn wir sonntags nicht zum Schälen mussten, gingen wir in die Kapelle, die auch hier auf dem Gelände war. Unterwegs hatten wir immer Holzschuhe an. Schwester Luise und Fräulein Knollmann bewachten uns aufmerksam.

Einmal wöchentlich hatte wir Schule. Der Schulraum war gleich neben der Kapelle. Nun war ich schon eine ordentliche Schülerin, im Vergleich zu den anderen Mädchen, aber Eva wusste alles, und im Rechnen war sie ein Genie. Komischer Weise löste sie alle Aufgaben blitzschnell, und immer fehlerfrei. Sie war ein seltsames Mädchen. Wenn sie am Tisch saß beim Essen und die Augen verdrehte, sah sie aus als ob sie nicht bis drei zählen konnte. Ich gewöhnte mich an das Leben im Heim.

Mir fiel auf, dass Eva viel zu wenig aß. Sie aß so langsam, dass sie beim Abendessen immer nur eine Scheibe Brot essen konnte. Auch beim Mittagessen war es viel zu wenig, was sie von ihrem Teller schaffte. So entschloss ich mich, ihr meine Wurst und mein Fleisch zukommen zu lassen, weil sie das scheinbar besonders mochte. Im Gegenzug gab sie mir abends ein Butterbrot zusätzlich. Sie war so schlank, dass sie schon fast mager war.

So vergingen die Wochen und hier blieb fast niemand länger als drei Monate. Nach acht Wochen packte Schwester Luise meinen Koffer.

"Du kommst jetzt in ein anderes Haus," sagte sie, "Da wird es dir gefallen, du wirst dort ein viel größeres Zimmer bekommen." "Mir geht es nicht darum, ob ich ein größeres Zimmer bekomme. Ich habe mich gerade mit Eva angefreundet, und die kommt nicht mit“, widersprach ich der Schwester. Die Schwester daraufhin: "Aber vielleicht freut es dich, Eva darf wieder nach Hause, ihr Vater hat eine Haushälterin eingestellt." Ein bisschen neidisch meinte ich: "Das freut mich für Eva."

Mein neues Zuhause war gleich zwischen Küche und Lehrküche. Schwester Luise klingelte an der Tür. Eine Schwester öffnete sie Tür, sie wackelte unentwegt mit dem Kopf. Sie empfing mich freundlich und stellte sich vor, sie sei Schwester Marie, die Hausmutter. Sie nahm mich mit, und zeigte mir zuerst mein neues Zimmer. "Ich habe dir ein schönes Eckzimmer mit Blick auf den Blumengarten, gefällt es dir?" "Ja schön“, bestätigte ich, "aber die Gitter an den Fenstern stören mich schon sehr. Sie räumte meine Wäsche in den Schrank und meinte: "Wenn da keine Gitter wären, dann kämen alle jungen Männer aus dem Kreis, und würden hier übernachten wollen. So ist es einfacher, für Euch und für uns." Ich rückte meine Wäsche bis sie so lag wie ich es wollte.

Die Schwester beobachtete mich und schmunzelte. "Bist du immer so genau?" Dann fügte hinzu, dass ich mir keine Gedanken machen sollte wegen der Gitter, die Schwestern hätten auch die Fenster vergittert. Sie ging an eines der zwei Fenster und machte es weit auf. Dann suchte sie ein Sonntagskleid aus für mich, und brachte es zusammen mit meinem Mantel in die Kleiderkammer. Den Koffer brachte sie in einen anderen Lagerraum.

In dem Zimmer war sogar ein Spiegel. Ganz zum Schluss gab sie mir ein schönes Turnhöschen und Turnschuhe, für den morgendlichen Frühsport. "Ich turne aber nicht, der Arzt hat es mir verboten," wehrte ich mich gegen die lästige Turnerei. "Ach, fünf Minuten Frühsport, schaffst du bestimmt." Sie schaute mich lächelnd an, und forderte mich auf, "komm ich bringe dich zu den anderen.“ An ihr Kopfwackeln musste ich mich gewöhnen. Ich ging mit ihr die Treppe wieder hinab.

Als erstes zeigte sie mir das Hausmädchen, die auch täglich mein Bett und mein Zimmer richten würde. Danach führte sie mich in die Nähstube. Da wurden Kleider genäht und Schürzen. An der Fensterseite saßen sechs Mädchen an den Nähmaschinen. Eine Schwester, die aber keine Diakonisse war, stand an dem großen Tisch und machte den Zuschnitt.

Ein älteres Mädchen saß da und nähte Knöpfe an. "Die sollte schon lange nicht mehr hier sein, aber sie will nicht weg, weil sie keine Verwandten hat, berichtete Schwester Marie. Dann führte sie mich in einen anderen Raum. Da war ein großer viereckiger Tisch und ein riesiger Kachelofen. Um den Tisch saßen auch ungefähr zehn Mädchen und arbeiteten an ihren Handarbeiten. Eine jüngere Schwester stand auf und begrüßte mich.

Sie hieß Schwester Erna und duftete stark nach "Kölnisch Wasser". Sie redete nicht viel, ging aber stündlich zur Toilette, um anschließend mit einer neuen Duftwolke zurück zukommen.

Schwester Erna wies mir einen Platz zu und las von einem Zettel ab, was als nächstes gemacht werden musste. Ich entschied mich, mit einem Taschentuch, und dem Muster "aufgehende Sonne" anzufangen. Nach einer halben Stunde, wollte sie meinen Rollsaum ansehen. Ich zeigte ihn ihr und sie war sehr zufrieden. "Kannst du auch Knoten aus dem Garn machen, ohne dass der Faden abreißt?" fragte sie mich. "Ja das kann ich, aber das dauert mindestens fünf Minuten, wenn der Knoten fest sitzt." gab ich zur Antwort.

Von dem Augenblick war ich auch noch für jeden Knoten im Garn zuständig.

Meine Haare waren gewachsen und hingen mir immer im Weg herum, da kam Schwester Marie mit einem Haargummi und einem Kamm und machte mir einen Pferdeschwanz. "Möchtest du vielleicht noch eine Schleife?" fragte sie mich fürsorglich. Mir fielen die Schleifen ein, die mir Mutti früher ständig ins Haar gebunden hatte. Ich antwortete entsetzt "Aber ja nicht!"

In den Mittagspausen gingen alle Mädchen auf ihr Zimmer, dann durften wir unsere eigene Handarbeit machen. Ich strickte meinen Pullover fertig. Dann hatte ich nichts Eigenes mehr, denn ich hatte ja kein Geld mitgenommen. Also machte ich auch in meiner Freizeit Taschentücher und Spitzendeckchen. Den Schwestern gefiel das und Schwester Erna wollte mir etwas Abwechslung bieten. Mittwochs durfte ich ins Pfarrhaus.

Der Pastor hatte ein behindertes Kind, und seine Frau war froh, wenn ich mit dem Kind ein paar Stunden spielte. Freitags ging ich zu einer älteren Dame, die hier mal gearbeitete hatte. Ihr sollte ich beim Putzen helfen. Wenn ich bei ihr ankam, war sie immer schon fertig und hatte Kaffee und Kuchen auf dem Tisch. Mit ihr konnte ich mich über alles unterhalten. Wir hatten jede Woche zwei schöne Stunden.

So verging die Zeit, und Weihnachten stand vor der Tür. Von der Frau des Pastors bekam ich eine Bluse. Ich hatte noch nie eine so schöne Bluse und ich freute mich darüber. Die alte Dame schenkte mir einen Gutschein, mit dem konnte ich mir im Verwaltungsgebäude einkaufen. Da würde ich mir Häkelgarn kaufen und eine schöne Decke für mich machen, nahm ich mir vor. In unserem Haus schmückten wir den Baum alle zusammen. Dann gingen wir in die Kapelle und als wir zurück kamen hatte die Hausmutter jedem Geschenke auf den Tisch gelegt.

Das was ich von den beiden Frauen geschenkt bekommen hatte, musste ich in meinem Zimmer lassen, damit es nicht den Neid der anderen Mädchen weckte. Alle Mädchen bekamen Socken, ein paar Perlonstrümpfe und ein Spitzentaschentuch. Ich hatte noch drei Weihnachtskarten bekommen. Mutti hatte mir geschrieben, sie wünscht mir ein schönes Weihnachtsfest. Sie hätte jetzt das letzte Huhn geschlachtet und Elfriede, eine der Töchter von ihrer Schwester sei jetzt bei ihr.

Frau Lindemann schrieb, dass sie sich so große Sorgen um mich machte und fragte, ob ich es denn gut hätte. Auch sie wünschte mir ein schönes Weihnachtsfest. Frau Stadler schrieb außer den Weihnachtsgrüßen, dass Mutti mit ihrer Nichte auch nicht so glücklich sei. Die habe ihren eigenen Kopf und ließe sich nichts bieten. Schwester Marie kam zu mir und fragte ob ich traurig sei. "Ja“, schluchzte ich, "sie hat meine Hühner geschlachtet. “Warum schreibt sie mir das auf die Weihnachtskarte?"

Während die anderen Mädchen Weihnachtslieder sangen, wollte Schwester Marie die Geschichte von meinen Hühnern wissen. Wir saßen abseits und sie hörte zu, was ich zu erzählen hatte. "Hühner kann ich die keine bieten, aber wenn du möchtest, dann geh doch zum Hausmeister, der wohnt ein paar Minuten von hier und hat einen Hund." Sie wollte mir gleich am Montag den Weg zeigen.
Am 2. Weihnachtstag schrieb ich an Frau Stadler und Frau Lindemann. Mutti sollte auf Post warten, ich würde ihr vielleicht zum Geburtstag schreiben.

Hin und wieder besuchte ich den Hausmeister und seinen Hund. Dann machten wir einen Sparziergang im Wäldchen. Ich wollte nicht zu oft weggehen, damit die anderen Mädchen nicht neidisch wurden. Das Hausmädchen genoss auch mehr Freiheiten als die anderen. Sie war ein sehr nettes Mädchen.

Ihre Eltern hatten keinen festen Wohnsitz. Sie fuhren mit einem Planwagen durch Deutschland und reparierten Regenschirme. Ulla hatte nie eine Schule besucht, war aber genau so gescheit wie die anderen Mädchen. Von ihren Eltern hatte sie schreiben und lesen gelernt und alles, was die anderen Kinder in der Schule lernten. Es wäre alles in Ordnung gewesen, wenn eine Polizeistreife Ulla nicht ins Heim gebracht hätte. Nun war sie unser Hausmädchen, und reparierte die Schirme sämtlicher Schwestern. Ulla war ein liebenswertes Mädchen.

Wer sich beim Essen nicht anständig benahm, oder während der Mahlzeiten beim Schwätzen erwischt wurde, musste auf dem Zimmer weiteressen und für den Rest des Tages im Zimmer bleiben. Das passierte aber wirklich selten.

Eines Tages saßen wir am Tisch, es gab Schnippelbohnen, mein Leibgericht. Die Schwester war abgelenkt. Da erzählte ein Mädchen einen Witz. Ich saß ihr genau gegenüber, der Witz und ihre Gesten waren so lustig, dass ich lachen musste.

Ich hielt die Luft an um das Lachen zu verkneifen. Die Luft, die sich aufgestaut hatte, entwich auf recht unangenehme Weise dröhnend an einer anderen Stelle. Die anderen brüllten vor Lachen. Immer noch versuchte ich verzweifelt das Lachen zu unterdrücken, da flog aus meiner Nase etwas, was normaler Weise in ein Taschentuch gehörte. Und das platschte genau in meinen Teller. Die Schwester kam zurück an den Tisch schaute zuerst die bekannten Störenfriede an und danach prüfend in die Runde.

Die Mädchen zeigten lachend auf mich und brachten kaum ein Wort heraus vor lauter Lachen. "Anneliese", war alles was sie sagten. Der Blick der Schwester traf mich, und ich nahm meinen Teller und den Löffel und ging die Treppe hinauf.

Das Hausmädchen Ulla kam mir nach ins Zimmer. "Schwester Marie hat gesagt, du brauchst das nicht zu essen, wenn es dich ekelt. Gib mir den Teller, ich leere es ins Klo." Dankbar gab ich ihr den Teller und setzte mich ans Fenster. Mir war die Angelegenheit wirklich peinlich. Was sollte ich nur zu Schwester Marie sagen. Also blieb in meinem Zimmer, obwohl niemand meine Tür zu gemacht hatte. Ich hatte mich daneben benommen und ich wollte keine Extra-Würste.

Das Abendessen brachte mir Schwester Marie. Sie setzte sich auf den Stuhl und begann: "Ich wollte dich nicht bestrafen, warum bist du denn nicht herunter gekommen? Es hat mich so gefreut, als alle Mädchen so herzhaft gelacht haben. Ihr habt doch so selten Grund zum Lachen." Ich erzählte ihr, dass ich von Mutti immer bestraft wurde, obwohl ich nichts gemacht hatte. "Kindchen," nannte sie mich liebevoll, "ein harmloser Witz, richtet keinen Schaden an. Ich habe ihn doch gehört und fand ihn gut, und lehrreich war er außerdem." Sie gab mir mein Strickzeug in die Hand und forderte mich auf mit ihr hinunter zu gehen.

Nach dem Abendessen, saßen immer alle Mädchen um den großen Tisch in der Näherei. Dann machten wir das, wozu wir gerade Lust hatten. In dem Bücherschrank hatten wir einige lustige Bücher, und meistens las eine von uns vor. Wir durften uns auch unterhalten, aber flüstern durften wir nicht. Mir verpassten sie immer einen Spitznamen, wahrscheinlich weil ich mich nie wehrte. Kam in dem Buch ein Schwanenhals vor, war ich der Schwanenhals. Jetzt gerade lasen wir von einer Bummelbacke, und schon hatten sie wieder was für mich. Es ärgerte mich nicht, denn Margot hatte mich auch immer "Miese" genannt, und da hatte ärgern nichts genutzt.

Im Februar schrieb ich eine Geburtstagskarte an Mutti. Die Schwestern legten Wert darauf, dass wir regelmäßig schrieben, wir sollten nicht alle Kontakte verlieren. Es wurde langsam Frühling und ein paar Mädchen hatten Konfirmation. Sie wurden von den Schwestern liebevoll eingekleidet, und wir machten ihnen einen schönen Tag. Meine Konfirmation war nicht besser, dachte ich am Abend.
Zu Ostern schrieb ich wieder drei Karten.

An Frau Stadler und Mutti schickte ich nur Ostergrüße, während ich Frau Lindemann mehr zu erzählen hatte. Sie sollte wissen, dass es mir hier gut gefiel. Schwester Marie las meine Karten, bevor sie die abschickte, dann putzte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel und meinte: "Du kannst aber nicht immer bei uns bleiben." Am nächsten Tag sollte ich mich von der Frau des Pastors verabschieden. Gleich danach auch noch von der alten Dame, und dem Hund des Hausmeisters. "Oh je, „ seufzte die alte Dame, "jetzt schicken sie dich fort."

Schwester Marie ging mit mir am nächsten Morgen in die Verwaltung. Dort wartete die Oberschwester. Die meinte, sie hätte ja ganz gern gesehen, wenn ich noch einen Kurs in der Lehrküche gemacht hätte. Der nächste Kurs finge aber erst in acht Wochen an. Vier Monate Lehrküche und zwei Monate Wartezeit, solange dürfte sie mich nicht mehr behalten.

"Ich habe dir eine Stellung, auf einem Bauernhof. Die Leute sind sehr nett und haben ein Mädchen etwas älter als du." Das war ja nun nicht das, was ich wollte, Mutti hatte gesagte: Zum Bauern als Magd kannst du immer noch mit deinen Zeugnissen. Warum hatte sie immer recht? Ich nahm die Stelle ungern an.

Schwester Marie ging mit mir ins Schuhlager und suchte mir ein paar schöne Schuhe aus. Dann ging sie mit mir zurück. Während sie meinen Koffer packte, suchte Schwester Erna mit mir ein paar Kleider aus. "Du hast ja fast nichts zum anziehen, „ machte sie mir klar. Sie fand einen schönen schwarzen Plissee-Rock und eine schwarz weiß karierte Bluse. Das sollte ich für den Sonntag nehmen. Dann gab sie mir zwei Kleider für den Werktag und zwei neue Schürzen. Sie dachte an alles und gab mir auch neue Unterwäsche, damit ich nicht gleich etwas kaufen musste.

Dann durfte ich noch mit den anderen Mittagessen. Als die zur Mittagspause aufs Zimmer gingen, brachte mich Schwester Marie zur Verwaltung wo ich auf Frau Sorge warten musste. Sie wollte mich selbst zu meiner neuen Arbeitsstelle bringen. Die Schwester, die immerzu mit dem Kopf nickte, war mir richtig ans Herz gewachsen. Wir konnten uns beide die Tränen nicht verkneifen. "Etwas möchte ich dir noch dringend raten, lass dich nicht immer bestrafen, wenn du nichts angestellt hast." Mit diesen Worten ging sie die fünf Stufen hinab, nahm ihr Handwägele und verschwand um die nächste Ecke.

Ich wartete noch ein paar Minuten, da fuhr der braune Mercedes von Frau Sorge vor die Verwaltung.



Es ging noch weiter abwärts

 

Die Oberschwester übergab die Mappe mit meinen Papieren. Frau Sorge bedankte sich, dass sie mich solange aufgenommen, und mir eine Arbeitsstelle besorgt hatte. Ich wollte nicht herumstehen, und brachte meinen Koffer ins Auto. Mein Koffer war jetzt richtig voll.

Nach einer Weile kamen die beiden vor die Tür, und ich konnte mich von der Oberschwester verabschieden. "Komm mal zu Besuch, wenn du frei hast," sagte die Schwester freundlich. Frau Sorge wollte, dass ich vorn einsteige, dann sei es ihr nicht so langweilig. Wir fuhren los, und die Fürsorgerin meinte sie hoffte doch sehr, dass ich mich auf der neuen Stelle wohlfühlen würde. "Die Leute scheinen sehr nett zu sein und die Tochter auch. Vielleicht nimmt sie dich ja manchmal mit, wenn sie ausgeht. Sie haben Familienanschluss versprochen."

Nun wollte sie noch wissen wie es mir in dem Heim ergangen war. Ich schwärmte von der Zeit bei Schwester Marie, die wirklich eine Seele war. Was mir ganz wichtig war, die ganze Zeit hatte mir niemand misstraut. Frau Sorge stellte fest: "Du wirkst entspannt und sehr zufrieden." Die Dörfer wurden immer kleiner, und schließlich fuhr sie von der Straße ab auf einen Bauernhof. Wir gingen durch das große Dehlentor. Rechts standen etwa zehn Kühe. Links gab es zwei Pferde. Am oberen Dehlenteil war eine Glastür die direkt in die Küche führte.

An einem großen Küchentisch, saß der Bauer am oberen Tischende. Der Bauer war ein magerer Mann, der kleiner war als seine sehr kräftig gebaute Frau. Vor dem Fenster saß die Tochter des Hauses auf einer Bank. Mir wies man den Platz am unteren Tischende, gegenüber vom Hausherrn an. Für Frau Sorge holte die Bäuerin einen Stuhl herbei. Sie hatte Kaffee gekocht, der war sehr gut. Der Butterkuchen war allerdings mässig. Was mich sofort störte war, dass die Bäuerin einen total dreckigen Kittel trug, über den sie eine mäßig saubere Schürze gebunden hatte. So saß sie jetzt am Tisch und unterhielt sich mit Frau Sorge.

Sie wollte mir im Monat 50.- Mark zahlen, das war Frau Sorge zu wenig. Sie wollte 70.- Mark für mich erkämpfen. Ich kam mir vor wie ein Schlachtschwein, das verkauft werden sollte. Schließlich einigten sie sich auf 60.- Mark, und fünf Mark Taschengeld extra. Alle Vierteljahr sollte sie mir die Möglichkeit geben für mein Geld einzukaufen, z.B. falls ich einen Mantel wollte oder ein Kleid. Was übrig sei wollte sie auf mein Sparbuch einzahlen.

 

Als alles geklärt war, nahm die Bäuerin meine Papiere in Empfang. Sie warf einen Blick auf die Mappe auf der oben mein Name stand. "Ach je, du heißt auch Anneliese? Was machen wir denn da? Anneliese 1 und 2?" Nennt sie doch Anne“, schlug Frau Sorge vor. "Wie wärs mit Clara? so habe ich früher auch geheißen." war mein Vorschlag. "Ja“, mischte sich der Bauer ein, "das ist kurz und bündig, trinken wir darauf einen Korn!" Er schenkte jedem ein Schnäpschen ein und sagte. "Prost"! Frau Sorge wollte keines, sie müsse noch fast zwei Stunden fahren. Der Schnaps schmeckte mir nicht und der Bauer versicherte, dass ein Korn innerlich und äußerlich gut sei.

Frau Sorge wollte jetzt noch mein Zimmer sehen. Als die Bäuerin das Zimmer aufmachte, waren die Vorhänge zugezogen, und sie zündete das Licht an. "Na ja," kam es kritisch von Frau Sorge, "heimelig ist das ja nicht gerade, und Angst vor Mäusen darfst du auch nicht haben." "Wir haben Katzen“, verteidigte die Bäuerin die Kammer.
Das Zimmer war an der Dehle. Zwischen Kuhstall und meinem Zimmer war nur die Futterküche fürs Vieh. "Ruf mich an, wenn du Schwierigkeiten hast, versuch mal klar zukommen." Frau Sorge nahm mich zum Abschied in den Arm und ich brachte sie noch zum Auto.

Ich ging zurück in die Küche und niemand sah mir an, wie unglücklich ich war. Die Bäuerin verlangte, dass ich ein Stallkleid und eine Schürze anzog, es sei jetzt Melkzeit. "Kannst du melken?" fragte sie. Da musste ich den Kopf schütteln, denn ich hatte es schon gesehen, aber nicht ausprobiert. Als ich dann mit meinem karierten Kleid, und dunkelblauer Schürze wieder in die Küche kam, fehlte mir noch ein Kopftuch. "So was habe ich nicht“, bedauerte ich. Die Tochter des Hauses brachte mir eines von ihren eigenen. Nachdem man mir dann auch noch Holzschuhe verpasst hatte, ging es zum Melken in den Stall.

Verzweifelt versuchte ich, der Kuh Milch abzugewinnen, sie wollte nicht. Ich dachte an Ilsabein und versuchte es mit Liebe und viel Gefühl. Da dauerte es nicht lange und die Kuh war einverstanden mit mir. Da ich aber keine Kraft in meinen Fingern hatte, dauerte es lange bis ich fertig war bei der ersten Kuh. Nun sollte ich noch eine Kuh melken, während die Bäuerin und ihre Tochter jede fünf Kühe melken. Sie merkten, dass sie mit mir einen Missgriff gemacht hatten, und hofften inständig, dass es besser würde.

Dann gingen wir zum Abendessen. Frau Klaas, die Bäuerin, holte von ihrem selbst gebackenen Brot. Das sah sehr gut aus und wie ich später feststellte schmeckte es auch bestens. Sie nahm das Brot an ihre Brust, genau auf ihren dreckigen Kittel, mit dem sie vorher noch beim Schweinefüttern war. Dann schnitt sie mit einem Brotmesser schöne gleichmäßige Scheiben davon ab.

Ach, ich hatte ja schon allerhand mitgemacht, aber es kostete mich Überwindung, nichts zu sagen. Ob ich hier jemals mit Appetit essen könnte, war noch nicht sicher. Nach dem Abendessen ging Anneliese mit mir zu ihrer Freundin. Ihre Eltern hatten auch einen Bauernhof, gleich fünf Minuten entfernt. Dort wurde mir Gerda vorgestellt, die auch aus dem Mädchenheim kam, und dort als Magd arbeitete.

Gerda war etwas größer als ich, kräftig gebaut und ihre Hände waren fast doppelt so groß wie meine. Vom Kopf her war sie nicht die Hellste, mit ihr sollte ich meine Freizeit verbringen. Nun kam ich ja eigentlich mit jedem aus, also würde ich mich mit ihr zufrieden geben.

Ich hatte immer noch meinen Pferdeschwanz und den würde ich auch wachsen lassen, denn für einen Friseur wollte ich mein Geld nicht ausgeben. Sie hatte Dauerwellen, und ging hin und wieder zum Friseur. Sie wollte mir jetzt noch das Dorf zeigen, das aus einer Handvoll Häusern bestand, und hinter der nächsten Kurve lag.

Also in dem Dorf gab es ein Wirtshaus, einen Krämerladen und einen Schmied, der auch gleichzeitig Fahrräder verkaufte. Dann gingen wir den kürzesten Weg wieder zurück und der führte an einem Straflager vorbei. Gerda erklärte mir, dass da lauter Schwerverbrecher drin waren. Wenn die auf die Felder ausrückten, würden sie immer von mehreren Beamten mit Gewehren bewacht. Ich hatte keine Ahnung ob ich ihr glauben konnte.

Wir kamen bei meinem neuen Zuhause an und trennten uns. Werktags sollte ich bis neun Uhr schlafen gehen, weil es morgens früh in den Kuhstall ging. Außerdem hatte ich keinen Schlüssel. Ich wollte gerade in mein Zimmer gehen, als Frau Klaas an gewackelt kam. Ich sollte immer die Küchentür aufmachen und rufen, dass ich da sei, wenn ich abends aus ginge. Schließlich, so meinte sie, sei sie jetzt für mich verantwortlich. Da rang ich mir ein "gute Nacht" ab und verschwand in mein Zimmer. Die Tür hatte einen Riegel von innen, für den ich sehr dankbar war.

Ich legte meine Kleidung auf den Stuhl und hoffte, dass die Mäuse es nicht sehen. Dann legte ich mich in das spartanische Bett, und ließ den Tag an mir vorbeiziehen.

Da ich keine Uhr hatte, wusste ich nicht wie spät es war, als Frau Klaas an meine Tür polterte. "Clara," rief sie "aufstehen, waschen kannst du dich später." Schnell sprang ich aus dem Bett und zog den Vorhang auf. Da waren ja auch Gitter vor den Fenstern, ich konnte es nicht glauben. Im Kuhstall waren die beiden Frauen schon mit dem Melken angefangen. Das Ankleiden müsste einfach schneller gehen, erfuhr ich bevor ich die Kuh begrüßen konnte. Die Kuh schaute mich an als ob sie sagen wollte : Ach du schon wieder?

Sie war rücksichtsvoll mit mir, und trat nur einmal in den Eimer. Die meiste Milch konnte ich retten. Als die Kühe gemolken waren, musste ich noch die vollen Milchkannen zur Sammelstelle bringen. Das war nicht weit und Anneliese zeigte es mir. Die Milchkannen waren schwer, auch daran würde ich mich gewöhnen müssen.

 

Die Bäuerin ging Kaffee kochen und ich sollte mich jetzt waschen. Die Waschschüssel war winzig, na ja, eine große, hätte auch nicht mehr in das Zimmer gepasst. Mit einem Handtuch hatte ich auch noch nie auskommen müssen. Die Seite, wo der heile Aufhänger war, die nahm ich für den Oberkörper und die Seite mit dem abgerissenen Aufhänger, benutzte ich unterhalb meines Bauchnabels. Ich gab mir also redlich Mühe zu Recht zu kommen, lernte Milchkannen waschen, Wäsche waschen ohne jegliche Hilfsmittel. Das Waschwasser kam aus der Handpumpe, danach hatte ich tagelang Muskelkater.

Im Sommer, hatte ich dann scheinbar die Milchkannen nicht richtig sauber gewaschen. Da kamen des Mittags zwei Milchkannen mit sauer gewordener Milch zurück. Danach gab es eine Woche lang Stippmilch.
Die Arbeit auf den Feldern war schwer und als endlich die Erntezeit herum war, durfte ich 10 Tage Urlaub machen.

Mit Gerda zusammen und einigen anderen Mädchen aus dem Heim, die auch eine Stelle hatten fuhr ich nach Kassel. Eine junge Schwester fuhr auch mit, so waren wir wieder ordnungsgemäß unter Aufsicht. In einem Schlafsaal waren wir untergebracht, der mit Etagenbetten ausgestattet war. Da die meisten oben schlafen wollten, sollten wir nach fünf Tagen tauschen. Gerda hatte Angst im oberen Bett, und so durfte ich die ganze Zeit oben schlafen. Wir hatten einen schönen großen Waschraum, aber kein Bad.

Ich war enttäuscht, denn ich hatte bei meiner Bauernfamilie keine Möglichkeit zum Baden. Dort durfte ich nur die Küche betreten, die anderen Räume waren für mich tabu. Neidisch hatte ich jede Woche samstags beobachtet, dass Anneliese frisch gebadet und mit sauberen Haaren zum Abendessen erschien.

Wir besichtigten in Kassel alles was sehenswert und kostenlos war. Nach zehn schönen Tagen, fuhren wir zu unseren Familien zurück.
Der Herbst war dann nicht mehr so arbeitsreich, der Bauer baute den Kuhstall um, denn die Bauern stellten ihren Viehbestand um auf TBC-freie Kühe um.

 

Gleichzeitig kauften sie die ersten Melkmaschinen. "Darüber freut Clärchen sich am meisten," bemerkte Die Bäuerin. Das stimmte, denn meine Melkkünste hatten sich nicht viel verbessert.

Der Bauer fuhr alle paar Tage in die Stadt, dort war außer einer Schokoladenfabrik auch eine bekannte Schnapsbrennerei. Von da brachte er für die Kühe "Schlempe", das waren die Rückstände aus der Schnapsproduktion. Die Kühe mochten das gern, und bekamen täglich davon. Der Bauer trank den Schnaps und die Kühe fraßen den Abfall. Auch die Schlempe roch nach Alkohol drum glaubte ich, dass die Kühe immer betrunken waren.

Mein Zimmer hatte ein Fenster, welches vergittert war. Außen vor meinem Fenster harkte die Bäuerin immer sehr sorgfältig. Ich hatte keine Ahnung, was sie damit bezwecken wollte, auch kam ich nie auf die Idee sie zu fragen. Eines Nachts klopfte es an meinem Fenster. Einen Augenblick lang überlegte ich, ob vielleicht jemand aus dem Haus keinen Schlüssel mitgenommen hatte. Ich wusste ich aber. dass niemand ausgegangen war. Also verhielt ich mich ganz leise, denn ich wollte hier, in diesem Nest, bestimmt keine Bekanntschaften machen. Ganz sicher nicht bei Nacht, wenn vielleicht jemand aus dem Wirtshaus kam.

Es klopfte noch eine Weile und eine Männerstimme bat leise ich sollte aufmachen. Als endlich wieder Ruhe war, konnte ich weiterschlafen. Am nächsten Morgen hatte Frau Klaas auf ihrem schön geharkten Boden die Spuren entdeckt. "Clara hat heute Nacht Besuch gehabt“, verkündete sie beim Frühstück.

Nun muss ich als junges Mädchen sehr gut ausgesehen haben, das hatte sich wohl herum gesprochen. Nicht aber, dass ich an Knechten und sonstigem Gesindel nicht interessiert war. Ich hoffte im geheimen auf bessere Zeiten, und auf einen richtigen Märchenprinz.
Der Winter war längst nicht so arbeitsreich und ich hatte mehr Zeit für mich. Das erste was ich mir leistete war, dass ich mir einen Eimer mit warmem Wasser füllte. Damit ging ich in Zimmer, um mich gründlich und in aller Ruhe zu waschen.

Das tat so gut, so entschloss ich mich, dann auch gleich meine Haare zu waschen, die standen schon vor Dreck ab. Also holte ich vom Herd noch einmal heißes Wasser, und nahm mir einen Stieltopf. Umständlich und mit Schmierseife wusch ich meine Haare. Jetzt wusste ich, warum Gerda immer zum Frisör ging. Denn auch auf den anderen Höfen herrschten keine besseren Zustände.

Im Winter musste ich bei der Kälte aufs Feld, Stoppelrüben zu ernten. Es war zum verzweifeln, denn der gefrorene Boden, wollte die weißen Rüben nicht hergeben. Nun nahm ich mir vor, Frau Sorge zu fragen ob sie mich nicht hier wieder wegholen konnte. Ich traute mich nicht, denn zum telefonieren hätte Frau Klaas mich begleitet und schreiben konnte ich auch nicht. Sie las jeden Brief von mir, egal ob er ankam, oder ob ich ihn abschicken wollte. "Das gehört zur Aufsichtspflicht", hatte sie ihre Neugierde begründet.

Kurz vor Weihnachten überkam mich der Wunsch, mir etwas zu kaufen. "Ja, „ pflichtete mir Frau Klaas bei, "kauf dir mal einen Mantel, dein schwarzer ist viel zu klein." "Ich will aber keinen neuen Mantel," wehrte ich mich dagegen, "an dem schwarzen werde ich die Knöpfe noch einmal versetzen." "Gib mir den Mantel“, mischte Anneliese sich ein, "der gefällt mir so gut, und mir wird er passen." glaubte sie tatsächlich, ich würde den Mantel von Mama hergeben? "Den Mantel werde ich auf jeden Fall behalten, auch wenn ich einen neuen kaufe!"

Mein Tonfall ließ keinen Zweifel offen, dass ich es ernst meinte. "Jawohl," mischte sich der Bauer ein, die Mädchen haben heutzutage mehr Geld als die Bauern, Prost!" Er trank von seinem Korn "Haller Wilhelm" und wollte mit mir anstoßen. Ich stieß nur mit ihm an, wenn er die Zeitung neben sich hatte, dann kippte ich den Schnaps in den Spülstein wenn er wieder in die Zeitung schaute.

Im uralten Opel ihres Vaters, fuhr Anneliese mit mir in die Stadt, um mit mir einzukaufen. Als erstes kaufte ich mir eine billige Armbanduhr, denn ich wollte endlich, jederzeit wissen wie spät es war. "Kauf doch eine gute Uhr, die ist wirklich nicht schön“, meinte Anneliese. "Nein," wand ich ein, "ich will noch was anderes."

 

Wir gingen in ein Modehaus, und ich schaute mir die Kleider an. Ein taubenblaues Wollkleid gefiel mir. Es war so einmalig, und ich probierte es an. Es hatte Fledermausärmel und war daher sehr bequem. Ab der Hüfte waren große, farblich, Ton in Ton abgestimmte Vierecke zu einem Glockenrock zusammen gesetzt. Zwischen den Vierecken war jedes Mal ein weißer Streifen. Ich ließ mir nicht reinreden, das Kleid musste es sein. Da das Kleid schlicht am Hals war, kam die Verkäuferin mit einer graphitgrauen Perlenkette. Normal war ich nicht für Schmuck, aber ich nahm die Kette. Dann erkundigte ich mich, wie viel Geld ich noch hatte.

 

Anneliese schaute verdutzt und ermahnte mich: "Du wirst doch nicht alles ausgeben, was du bis jetzt verdient hast?" "Doch“, gab ich zur Antwort, "Mir fehlen noch ein paar schöne Schuhe." Ich hatte den guten Geschmack von meiner Mama geerbt, und so musste alles zusammen passen. Wir kamen in ein Schuhgeschäft, da war mir die Auswahl nicht ausreichend. Also hetzte ich die Ärmste in ein schönes neues Geschäft. Ich wusste genau was ich wollte, das was ich zu meiner Konfirmation nicht bekommen hatte: Schuhe mit einem Absatz. modisch und elegant.

 

Es dauerte gar nicht lange so fand ich Schuhe so wie ich sie mir vorgestellt hatte, aus Graphitlack. "Und was ist jetzt mit dem Mantel?" wollte Anneliese wissen. "Ich will keinen Mantel!" sagte ich, "den Rest Geld könnt ihr auf mein Sparbuch einzahlen." Obwohl das Kleid sehr teuer war, hatte ich von meinen 200.-- Mark noch einen kleinen Rest übrig.

Wir machten uns auf den Heimweg und ich war glücklich einmal das eingekauft zu haben, was mir wirklich gefallen hatte.

Frau Klaas fiel aus allen Wolken. So teure Sachen hätte ich gekauft, die ich ja im Stall nicht anziehen konnte. Sie müsse gleich morgen bei Frau Sorge anrufen, um sie von meinem wahnwitzigen Einkauf zu unterrichten. Damit konnte sie mir keine Angst machen.

Morgens molken wir nur noch zu zweit, weil wir ja jetzt eine Melkmaschine hatten. Da floss die Milch zwar noch nicht durch eine Leitung, gleich in die Kühlung, wir hatten drei Melkeimer und konnten drei Kühe auf einmal melken.

Da konnte ich sogar mithalten. Den Kühen wurde zuerst das Euter warm abgewaschen, und in einen kleinem Eimer kurz an gemolken. Dann kam die Melkmaschine an das Euter und die Kuh wurde schön gleichmäßig ausgemolken. Danach mussten wir nur noch nachsehen, ob das Euter leer war. Da machte mir sogar das Melken Spaß. Frau Klass rannte gleich um sieben Uhr zum Telefon auf dem Nachbarhof.

Sie wollte Frau Sorge überreden die Sachen wieder zurück zubringen, weil ich einen Mantel hätte kaufen sollen. Die Fürsorgerin wusste, dass ich immer das bekam was Mutti wollte, und gönnte mir meinen Einkauf. Ich hatte für das Geld gearbeitet, und konnte es auch ausgeben, für was ich wollte, hatte sie der Bäuerin erklärt. Die war stinksauer und das am Heiligabend.

Frau Klaas begann mit ihrer Tochter den Weihnachtsbaum aufzustellen. Das machten sie in der Stube, ich war gespannt, ob ich da heute auch hinein durfte? Während der Zeit, musste ich Püfferchen backen, fürs Mittagessen. Am Abend würde es Grünkohl und Mettwürstchen geben. Der Kohl stand auch schon auf dem Herd.

So viele Püfferchen hatte ich noch nie auf einem Haufen gesehen, ich wurde nicht fertig, so viel Teig war in dem Eimer. Hin und wieder brannte mir einer an, den legte ich dann immer so auf den Teller, dass man das Angebrannte nicht sah. Dann saßen wir beim Essen und der Bauer hatte gleich einen angebrannten vom Teller geholt. Er nahm einen zweiten und der war in Ordnung. Dann schmunzelte er: "Wir hatten noch nie eine Magd, die die angebrannte Seite nach oben gelegt hat." Das wollte ich mir merken, ich würde die angebrannte Seite nie mehr verstecken.

Nachmittags machte ich mein Zimmer sauber und anschließend ging ich noch zu Gerda. Die war schon ganz aufgeregt, es war gerade so, als ob sie noch ans Christkind glaubte. Wir saßen ein wenig zusammen, dann musste ich wieder weg zum Melken. Nachher, glaubte ich würde es eine Weihnachtsfeier geben. Nein es wurde zuerst gegessen. Als dann die Küche wieder in Ordnung war, lud mich der Hausherr ein, in die Weihnachtsstube zu schauen.

 

Ich durfte den Weihnachtsbaum ansehen, und bekam ein Päckchen als Geschenk. An einer Seite riss ich es auf und sah, dass es etwas aus buntem Stoff war. Die Bäuerin meinte ich müsse heute früh ins Bett gehen, denn morgen sei ich allein, mit der ganzen Arbeit. Sie würden zur Tante fahren, und spät abends zurück kommen. Da bedankte ich mich für das Geschenk, obwohl ich keine Ahnung hatte, was es nun war, und sagte "gute Nacht."

 

In der Küche klaute ich schnell ein Päckchen Streichhölzer, dann verschwand ich in mein Zimmer. Dort hatte ich in meinem Kleiderschrank eine Haushaltskerze, für den Fall, dass das Licht mal kaputt war. Die holte ich jetzt heraus, zündete sie an und stellte sie auf den Tisch. Dann erst machte ich das Päckchen auf und holte das Geschenk heraus. Es war ein Stück Stoff, schwarzgrundig mir bunten Blumen aus Musselin. Der Stoff fühlte sich sehr gut an, und sah auch gut aus.

Nur hatte ich hier keine Nähmaschine, und wusste nicht was ich damit anfangen sollte. Ich saß vor meiner Kerze und dachte an die Weihnachten die ich schon alle erlebt hatte. Zuletzt zog Weihnachten bei Papa und Mama an mir vorbei. Obwohl ich da ja eigentlich auch nichts bekommen hatte, außer einer Harfe, mit der ich nichts anfangen konnte, war es für mich das schönste. Es war das erste Weihnachten, an das ich mich erinnern konnte. Das einzige in meinem Elternhaus. Da war noch alles in Ordnung.

So einsam wie heute, hatte ich noch nie Weihnachten erlebt. Ich saß vor meiner Kerze und weinte. Mutti und Vati feierten heute mit Elfriede, die ja jetzt bei ihnen war. Ein wenig hatte ich Heimweh nach ihnen.
Es war schon spät, als ich ins Bett ging. Mit dem Schlafen wollte es gar nicht klappen. Nach meiner Arbeit würde ich morgen gleich wieder ins Bett gehen, nahm ich mir fest vor.

Weihnachten ging vorüber und das neue Jahr hatte angefangen. Immer wieder kam mal jemand vorbei um an mein Fenster zu klopfen. Ich verhielt mich immer still, und kurze Zeit später verschwanden die "Klopfer".

 

Ein ganz dreister kam durch den Kuhstall und wollte von der Dehle aus in mein Zimmer. Aber ich vergaß nie die Tür abzuschließen. So setzte er sich vor meine Tür und wollte warten bis ich aufmachen würde. Die Bäuerin ging aber jede Nacht einmal aufs Plumpsklo an der Dehle und als er sie an stapfen hörte, flüchtete er durch den Kuhstall. Es hatte in der Zeit frisch geschneit und der Bauer ließ die Polizei kommen. Die fand anhand der Spuren den Übeltäter. Es war ein verheirateter Mann aus der Nachbarschaft, der sich später bei mir entschuldigen musste.

Im Februar hatte Gerda Geburtstag, und sie wurde 21 Jahre alt. Sie packte ihre Koffer und fuhr ins Ruhrgebiet, von wo sie gekommen war.

 

Der Bauer bei dem sie war, wollte kein Mädchen mehr. Er hatte auch eine Melkmaschine und die Genossenschaft einen Mähdrescher. Da war kein Bedarf mehr für eine Magd. Nach Ostern im April kaufte ich mir ein Fahrrad. Das Beste und teuerste was der Schmied zu verkaufen hatte. Ein Sportrad mit Gangschaltung. Als dann das Wetter schön war, fuhr ich damit zu den Mädchenheimen. Ich wollte mit der Oberschwester sprechen. Die hörte mich auch an und vertröstete mich, "Sei noch ein wenig geduldig, bald gibt es für dich eine gute Lösung." Ich glaubte ihr und fuhr voller Hoffnung wieder zurück. Die Arbeit wurde einfacher, weil nach und nach neue Maschinen gekauft wurden.

 

So vergingen die Wochen und es war Mai, und da hatte ich Geburtstag.

Beim Frühstück erinnerte Anneliese: "Clärchen hat heute Geburtstag." Sie gratulierten mir und dann gingen wir an die Arbeit. Wir waren hinter dem Haus im Gemüsegarten, als die Nachbarin rief Frau Klaas sollte schnell ans Telefon kommen. Sie kam zurück und rief ihre Tochter in die Küche und sie hatten etwas Wichtiges zu besprechen. Mittags, als ich gerade beim Melken war, klopfte es an der großen Dehlentür. Ich sollte sehen wer da war, und ging in meinem Stallaufzug nachsehen.

Da stand ein Mann vor mir. "Bist du Clara?" fragte er. "Ja," antwortete ich misstrauisch. Er darauf: "Ich bin dein Vater." Ich konnte es nicht glauben, denn in meinen Erinnerungen, war mein Vater ein großer Mann, dieser war ja kleiner als ich. Er streckte mir die Hand hin um mich zu begrüßen und ich schaute nach den Fingern. "Herzlichen Glückwunsch, Clärchen! Was guckst du denn so nach meiner Hand?" "Wenn du mein Vater bist," sagte ich, "dann müssten dir zwei Finger fehlen." Er zeigte mir die linke Hand und da fehlten zwei Finger. Ich konnte mein Glück nicht fassen und weinte vor Freude. Mein Vater war zu mir gekommen, jetzt würde alles gut werden.

Papa war mit dem Motorrad gekommen und während ich mich umzog, bekam er von Frau Klaas noch einen Teller voll Mittagessen. Dann hatte ich für heute frei, und ging mit Papa spazieren. Er erzählte mir von Hans und seiner neuen Frau und dem Mädchen, die diese mitgebracht hatte.

 

Er hatte ihr immer noch nichts von mir erzählt, aber er würde das jetzt nachholen. Dann würde er mir im Haus ein Zimmer ausbauen, und mich nach Hause holen. Ich war so glücklich, und Papa war richtig übermütig. Er nahm mich immer wieder in den Arm wollte wissen ob ich schon einen Freund hatte. Er fand es gut, dass ich auf meinen Prinzen warten wollte.

Wir saßen auf einem Baumstamm und er fing an zu singen. Den Schlager hatte Anneliese auch schon gesungen, ich mochte das Lied nicht. In meinen Augen war es ein Spottlied. Es hieß am 30. Mai ist der Weltuntergang. "Papa, das Lied kann ich überhaupt nicht hören," sagte ich ernsthaft zu ihm. Da sang er nicht mehr weiter und ich war zufrieden.

 

Am Abend fuhr er wieder heim, nicht ohne mir vorher seine Adresse zu geben. "Am Sonntag komme ich wieder, dann bringe ich Hans mit." Ich winkte ihm nach und freute mich auf Sonntag, denn das war je schon übermorgen.

Diese Nacht habe ich bestimmt nicht geschlafen, ich malte mir die Zukunft aus, in rosaroten Farben. Endlich würde die Sonne auch für mich scheinen. Bis Papa mein Zimmer fertig hätte, würde ich hier bleiben und dann könnte ich mit erhobenem Kopf, in eine wunderbare Zukunft gehen. Keine Frage, ich war noch nie so glücklich. Hier würde ich niemanden vermissen, sie waren ja immer nett zu mir, fast immer. Aber dieses Zimmer, und die kleine Waschschüssel in der im Winter eine Eisschicht war, nein das würde mir nicht fehlen. Ich wusste genau, dass ich mich nicht umschauen werde, wenn Papa mich hier abholte. Der Samstag flog an mir vorbei, ich machte meine Arbeit und war in Gedanken schon gar nicht mehr da.

Beim Abendessen sagte der Bauer: "Clärchen, wenn du bald zu deinem Vater gehst, wirst du uns schon fehlen." Er schob mir einen "Haller Wilhelm" über den Tisch, den ich ausnahmsweise auch austrank. Frau Klaas schnitt gerade das Brot auf ihrer schmuddeligen Brust. Jetzt weiß ich nicht, wars die Gewissheit, dass ich bald weg sein würde, oder wars der Korn der mir in den Kopf stieg?

 

Ich sagte frech: "Müssen sie immer das gute Brot auf ihrer Schweinestall-Schürze schneiden? Das widert mich an." Die Bäuerin ließ vor Schreck das Messer fallen. Von mir hatte niemand etwas so freches erwartet. Alle sahen mich an. Dann verteidigte sich Frau Klaas, Die Schürze sei nicht dreckig, sie sei nur verschlissen, und im Stall hätte sie immer noch eine Sackschürze darüber. Sie sprachen immer plattdeutsch. Das mochte ich mir nie angewöhnen. Was ich sagen wollte, hatte ich gesagt und nun weidete ich mich daran wie sie sich aufregten.

"Was ist los mit dir, Clara“, fragte der Bauer, das passt doch so gar nicht zu dir, hast du schlecht geschlafen?" Ich gab zu, ganz schlecht geschlafen zu haben und sagte zu meiner Entschuldigung: "Die Kuh Else wollte sich die ganze Nacht mit mir unterhalten, sie hat in einer Tour geblökt." Das war nicht einmal gelogen. Der Bauer versprach mir, dass er mich heute Nacht wecken würde, wenn sie ihr Kalb bekäme. Wenn ich die nächste Nacht wieder nicht zum schlafen käme, würde ich Sonntag alt aussehen, dachte ich. Also sagte ich zum Bauern, dass ich mich vorher noch hinlegen möchte.

Warum weckte er immer mich, wenn ein Kalb kam? Anneliese durfte immer ausschlafen und seine Frau weckte er nur, wenn wir es zu zweit nicht schafften.

Also ging ich gleich ins Bett ohne mich ganz auszuziehen, denn ich musste ja gleich wieder aufstehen. Schnell machte ich die Augen zu und versuchte an nichts zu denken. Tatsächlich schlief ich fest und gut, als der Bauer an meiner Tür klopfte. Ich sollte mich beeilen, rief er es sei höchste Zeit. Ich brauchte keine Minute da war ich schon im Stall. So sehr ich mich immer aufregte, weil die Kühe immer bei Nacht kalbten, wenn das süße Kalb dann im Stroh lag, und ich es trocken rieb, war ich jedes Mal stolz dabei geholfen zu haben.

Wir ließen das Kalb bei seiner Mutter trinken, dann brachte es der Bauer in den Kälberstall. Morgen hatte ich sowieso meinen freien Tag, und ich durfte ausschlafen. Sonst hatte ich immer morgens an meinem freien Tag noch gemolken, aber morgen durfte ich liegen bleiben, hatte er versprochen. Ich ging mich waschen, denn ich war voller Blut.
Als ich ins Bett ging, war es schon vier Uhr.

Am Sonntag durfte ich ausschlafen. An das letzte Mal, als ich ausschlafen durfte, konnte ich mich kaum erinnern.

So spät war niemand mehr am Frühstückstisch, also trank in meinen Kaffee allein und aß ein Brot mit Marmelade. Danach machte ich ausgiebig Körperpflege. Bald würde ich mich nicht mehr so behelfen müssen, redete ich mir selbst zu, und wusch umständlich meine Haare.

Frau Klaas war dabei das Sonntagsessen zu kochen Sie kam in die Küche um ihrem Braten den letzten Schliff zu geben. Der duftete köstlich. Die Bäuerin war nicht nachtragend, sie war freundlich und fragte, wann denn mein Vater heute kommen wollte. "Um zwei hat er gesagt“, gab ich ihr zur Antwort. "Sag ihm, dass du nächsten Sonntag nicht frei hast, wir wollen wegfahren“, bat sie mich. Das hatte ich mir schon gedacht, denn ich hatte jetzt meistens jeden zweiten Sonntag frei.

Nach dem Mittagessen, zog ich mich schön an, den schwarzen Plissee-Rock und die schwarz, weiß karierte Bluse. Ich sah gut aus damit. Es war fast zwei Uhr, und ich ging vor das große Dehlentor um auf Papa zu warten. Da kam das Motorrad auf den Hof gefahren, und Hans saß auf dem Beifahrersitz. Jetzt war der Augenblick gekommen, an dem wir wieder zusammen waren, ich dachte ich müsste vor Glück tanzen.

 

Gut gelaunt gingen wir drei los. Auf einer Wiese setzten wir uns ins Gras, ich hatte so viele Fragen und Papa beantwortete sie fast alle. Warum Elisabeth gestorben war, wusste er scheinbar auch nicht, er meinte nur, sie sei nicht so gesund gewesen. Lena sei gut untergebracht in einer Möbelfabrik, ihr fehlte es an nichts. Als ich nach Mama fragte wurde er sehr traurig. "Ach ja, "sagte er, "die Mama, ich vermisse sie heute noch. Sie war so verzweifelt, weil sie nicht einkaufen konnte, die Kunden konnten nicht bezahlen. Das Baby wäre in wenigen Tagen auf die Welt gekommen und ihr Geldbeutel war leer. Dazu kam noch ein Brief vom Lazarett, dass ich verwundet war. Da hatte sie keine Kraft mehr." Papa und ich weinten und Hans schniefte verstohlen ins Taschentuch. "Mama hat unsere Familie kaputt gemacht," weinte ich fast böse, "kein Mensch glaubt mir, was ich alles durchgemacht habe." "Jetzt bin ich ja da," tröstete mich Papa, "und bald wird alles gut." Ich erzählte, dass ich Mamas Mantel noch hatte, und die Rezepte die in der Tasche waren.

 

Als ich sagte, dass da auch noch ein schönes Taschentuch im Mantel war und ich das sehr in Ehren hielt, fragte er ob er es sehen dürfte. Am Abend nahm ich Hans und Papa mit in mein klägliches Zimmer und zeigte meine Schätze. Das Taschentuch und die Rezepte waren im Koffer, und Hans holte ihn vom Schrank. Papa erkannte seinen alten Koffer, und fragte ob ich mir denn keinen neuen kaufen konnte. "Ich wollte nie einen anderen Koffer," winkte ich ab. Dann erzählte ich von dem karierten Seidenkleid, von Lilibeth. Das hatte ich vergessen, als ich ins Heim kam, jetzt würde ich es wohl nicht mehr bekommen.

Es war schon spät geworden und Frau Klaas lud uns alle zum Abendessen ein. Sie meinte Papa und Hans hätten noch einen weiten Weg, und sollten nicht hungrig nach Hause fahren. Also saßen wir noch am großen Tisch in der Küche und der Bauer schob die Kornflasche herüber. Papa nahm nur ein halbes Glas und Hans und ich tranken auch ein Glas von dem "Haller Wilhelm." Der Bauer freute sich immer wenn er den Schnaps nicht allein "runterwürgen" musste. Papa und Hans lachten darüber, ich kannte seine Sprüche schon.

Sie fuhren los und ich winkte ihnen nach. Dann ging zum Schlafen, denn ich hatte allerhand nachzuholen.

Die Woche verging wie im Flug, ich war besonders fleißig und bestens gelaunt. Am Sonntag musste ich dann allein auf dem Hof bleiben, denn der Bauer fuhr mit seiner Familie wieder zur Tante. Das Essen für mich bereitete Frau Klaas immer am Tag vorher zu, ich brauchte es nur warm zu machen.

 

So versorgte ich die Tiere und holte meinen Briefblock und schrieb an meinen Papa. Ich schrieb alles was mir hier nicht passte, und vergaß auch nicht vom Brotschneiden zu erzählen. Da Frau Klaas nicht da war, würde sie den Brief auch nicht lesen. Den Briefumschlag machte ich fertig, sauber mit Absender es fehlte nur noch die Briefmarke. Als ich gegessen hatte, schloss ich alle Türen, nahm mein schönes neues Fahrrad und fuhr in die Stadt. An der Poststelle am Bahnhof kaufte ich mir zwei Briefmarken, denn so viel Taschengeld hatte ich noch. Mit der zweiten Briefmarke würde dann mein nächster Brief gesichert sein.

Danach fuhr ich gleich wieder ins Dorf zurück.
Nachdem ich mich wieder umgezogen hatte, holte ich die Milchkannen von der Sammelstelle und scheuerte zuerst die Kannen. Dann stellte ich sie zum Trocknen umgekehrt und die Milchkammer. Um fünf Uhr fing ich an zu melken und anschließend fütterte ich die Kälber und die Schweine. Zum Schluss machte ich noch den Hühnerstall zu, und brachte die Eier ins Haus. Ich hatte nichts vergessen und war zufrieden mit mir und dem Tag. Frau Klaas kontrollierte am Abend ob ich nichts vergessen hatte und fand, dass ich aber fleißig war.

Anneliese und ich gingen zwei Tage lang zum Rüben hacken, und am dritten Tag machten wir Gartenarbeit. Da kam der Briefträger, und fragte nach Frau Klaas. Wir schickten ihn in die Küche. Als der Briefträger wieder heraus kam, dauerte es nicht lange, da kam auch die Bäuerin in den Garten.

 

Sie war gar nicht belustigt, denn sie hielt meinen Brief in der Hand, den der Briefträger zurückgebracht hatte. Sie hatte ihn aufgerissen und gelesen was ich an meinen Papa geschrieben hatte. "Jetzt weiß ich was du machst, wenn du allein hier bist. Das Schlimmste ist, dass du dich auch noch beschwerst über uns. Ich werde jetzt gleich die Fürsorgerin anrufen." Mit diesen Worten verschwand sie ins Nachbarhaus um zu telefonieren.

"Oh je," kam es von Anneliese mitleidig, "ich glaube das bekommt dir nicht gut." Vor Frau Sorge hatte ich ja nicht gerade Angst, trotzdem überkam mich ein schlechtes Gefühl. Ob sie jetzt böse war mit mir?

Die Bäuerin kam zurück und verkündete, dass Frau Sorge mich heute noch anrufen wollte, ich sollte am Haus bleiben. Sie nahm Anneliese mit in die Küche, wo der Bauer noch am Zeitung lesen war. Sie tuschelten miteinander und schauten zu mir herüber. Anneliese wischte sich eine Träne aus dem Auge. Mein Gedanke war: Jetzt werden sie mich zurück ins Heim schicken.

Anneliese kam wieder in den Garten und wir machten schweigend unsere Arbeit. Sie wollte nicht mit mir reden. Dann rief die Nachbarin, ich solle schnell ans Telefon kommen.

 

Ich lief ins Nachbarhaus und Frau Klaas kam hinterher gewackelt. Die Nachbarin war freundlich zu mir, und stellte mir einen Stuhl hin damit ich mich setzen konnte. "Danke“, sagte ich höflich, "den brauche ich nicht." Dann nahm ich den Hörer in die Hand und meldete mich. "Frau Sorge“, sagte ich, "es tut mir leid, dass ich heimlich geschrieben habe." Sie antwortete mit sanfter Stimme: "Darum geht es doch gar nicht. Auf dem Brief stand: zurück an Absender, Empfänger verstorben am 30.5." Ich dachte, jetzt kippe ich um und war froh, dass der Stuhl da war.

Ich sollte einen Zettel und einen Bleistift nehmen. Die Nachbarin gab mir etwas zum schreiben. Dann erklärte sie mir ganz genau wie ich zu meinem Bruder kam, in welchen Zug ich einsteigen musste, wo ich alles umsteigen sollte und wo das Haus sei, in dem mein Vater gewohnt hatte. Sie hatte in dem gegenüber liegendem Gasthaus ein Zimmer für mich bestellt ich sollte zwei Nächte dort übernachten und am nächsten Tag wieder den gleichen Weg zurückfahren.

Dann gab sie mir auch die Rückfahrzeiten durch und wollte noch mit Frau Klaas sprechen. Frau Sorge hatte alles genau geplant, und wusste auch wie viel Geld ich brauchte. Ich saß immer noch auf dem Stuhl und war wie erstarrt. Nicht eine einzige Träne konnte ich weinen.
Liebevoll nahm mich die Bauersfrau am Arm und brachte mich zurück. Sie nahm mich mit in die Küche und beteuerte, dass sie großes Mitleid mit mir hatte.

Der Bauer wollte mich ins Bett schicken ich brauchte heute nicht mehr zu arbeiten, aber ich wollte noch mit zum Melken in den Stall. Ich glaubte, heute hatte ich Angst vor dem Alleinsein. Wir molken die Kühe und aßen anschließend zu Abend. Dann musste ich in mein Zimmer. Dort setzte ich mich auf mein Bett, und in dem Augenblick brach die Welt für mich zusammen.

Die Tränen stürzten förmlich aus meinen Augen. Warum durfte ich nicht einmal glücklich sein? Hatte Papa sich versündigt mit dem Lied, und ist deshalb am 30. Mai gestorben? Oder war ich Schuld, weil ich gesagt hatte, Mama hat unsere ganze Familie kaputt gemacht? Das hätte ich nicht sagen dürfen, mit Mama hatte ich schon lange Frieden geschlossen. Ich weinte stundenlang bis ich mich schließlich in den Schlaf weinte.

Frau Klaas klopfte am Morgen an meiner Tür und ermahnte mich den Zug nicht zu verpassen. In meine Tasche packte ich mein Reiseetui und zog den schwarzen Rock an mit der karierten Bluse. Dann ging ich zum Frühstück. Auf meinem Platz lag das Geld, was ich benötigte und ein paar Mark zusätzlich, falls ich unterwegs etwas kaufen wollte. Der Bauer las Zeitung wie immer und fragte, ob ich nicht ein paar Blumen kaufen möchte für meinen Vater. "Würde ich schon gern machen, aber dafür wird mein Geld nicht reichen," sagte ich nachdenklich. Da legte der Bauer mir noch fünf Mark auf den Tisch. Dann machte ich mich auf den Weg, denn ich musste zum Bahnhof in die Stadt.

Die Zugfahrt war so kompliziert, ich musste mehrmals umsteigen. Ich hatte keinen Augenblick Zeit über mein Elend nachzudenken, so sehr war ich damit beschäftigt an der richtigen Stelle aus-, und in den passenden Zug wieder einzusteigen. Es war Mittag, als ich in dem kleinen Dorf ankam. Viele Leute verließen hier den Zug, obwohl die Häuser leicht zu zählen waren. Zuerst dachte ich, dass die alle zu Papas Beerdigung wollten, aber da war gleich am Bahnhof eine Fabrik und da war anscheinend Schichtwechsel.

 

Nun ging ich die Straße entlang in die Richtung die mir Frau Sorge mitgeteilt hatte. Lange kam nichts, bis ich das Gasthaus erreichte mit einem Krämerladen. Da war die Straßenkreuzung: An einer Ecke war ein kleines Haus, und auf der gegenüber liegenden ein Bauernhaus. Das kleine Haus musste es sein, da war ich mir sicher und ging darauf zu. An der Tür stand H.Schiller, ich war also richtig und klingelte mit zitternder Hand.

Niemand öffnete die Tür und ich war kurz ratlos. Zögernd ging ich zurück zu dem Gasthaus. Ich wollte es vermeiden durch die Wirtschaft zu gehen, und fragte im Laden nach meinem Zimmer. Die Verkäuferin konnte mir nicht helfen, ich musste in das Gasthaus. Es war mir höchst peinlich, allein in das Lokal zu gehen. Da zog ich es vor in dem Bauernhaus auf der anderen Straßenseite nachzufragen, warum niemand bei Schillers anzutreffen war. Die Leute baten mich in die Küche, und waren erstaunt, dass mein Vater noch eine Tochter hatte. Sobald Hans nach Hause käme, wollten sie ihn holen.

Solange erzählten sie mir, wie beliebt mein Vater hier in dem Dorf war. Er hatte den Bauern immer geholfen wenn sie dringend Hilfe gebraucht hatten. So hatte er letzte Woche noch bei ihnen geholfen das Heu einzufahren, weil ein Gewitter aufgezogen war. Mein Vater hatte in einer Möbelfabrik in der Stadt gearbeitet und hatte dort einen Herzinfarkt bekommen. Man hatte ihn auf ein Sofa gelegt und als der Arzt kam, war er schon gestorben. Jetzt musste ich wieder weinen und die Bäuerin fragte, ob ich schon gegessen hätte. Während ich noch am Essen war, kam Hans zur Tür herein.

Er freute sich als er mich sah, und nahm mich mit in das kleine Haus. Das Haus war klein und einfach, aber Papa hatte es immer in gutem Zustand gehalten. Die Stiefmutter war noch nicht da und auf die warteten wir jetzt. Sie hatte immer noch keine Ahnung, dass es mich gab und fiel aus allen Wolken. Sie war zwar recht freundlich, aber sie gefiel mir nicht. Sie wollte mich beim Pastor im Haushalt unterbringen und sehen, dass ich zu ihr kam.

Mit Hans ging ich dann mein Zimmer ansehen. Dann saßen wir noch ein wenig in der Gaststätte und Hans verriet mir, dass er bei seiner Stiefmutter nicht bleiben würde, sie und ihre Tochter würden immer nur für sich selbst sorgen, er und Papa waren schon lange Nebensache. Also wollte ich ihr am Abend sagen, dass ich die Stelle beim Pastor nicht wollte. Noch einmal eine Mutter, der ich lästig sein würde, wollte ich nicht.

Am nächsten Tag, am späten Vormittag sollte die Beerdigung stattfinden. Hans und ich legten unser Geld zusammen und gingen zur kleinen Friedhofsgärtnerei. Da sah ich, dass das eigentliche Dorf ein Stück entfernt lag. Da war auch eine kleine Kirche und mehrere Bauerhöfe, sowie einige Wohnhäuser.

 

In der Gärtnerei ließen wir uns zwei schöne Blumengebinde machen. Wir schämten uns, weil wir sagen mussten, dass es nicht so teuer sein durfte. Ach, sagte der Gärtner, euer Vater hat mir schon oft geholfen, da machen wir schon was Ordentliches. Zum Schluss steckte er auf jedes Gesteck eine Schleife. Auf die Schleife von Hans hatte er "In Dankbarkeit Dein Sohn Hans" geschrieben. Bei mir überlegte er einen Moment, dann schrieb er: "In liebevollen Andenken Deine Tochter Clara" Er selbst wollte auch zur Beerdigung kommen. Die wunderschönen Gebinde, brachten wir in mein Zimmer im Wirtshaus. Hans sagte: "Wenn wir die mit zu mir nehmen, haben wir beide nachher keine Blumen mehr."

 

Hans ging sich umziehen, und ich wartete in meinem Zimmer. Ich hatte nichts zum Umziehen, und schaute nur ob alles in Ordnung war, und ich keine Flecken auf dem Rock hatte. Meine Haare machte ich noch einmal neu, ich hatte immer noch meine Pferdeschwanz-Frisur. Dann kam Hans mich abzuholen. Die Stiefmutter, ihre Tochter und die Schwester der Mutter, hatten keine Blumen in der Hand. Sie hatten sich neu eigekleidet und ihre Lippen angemalt. Hans und ich nahmen unsere Blumen und gingen ein gutes Stück hinter ihnen. Als sie sich um schauten sahen sie unsere schönen Gebinde und blieben stehen. "Gebt uns die Blumen, das sieht besser aus," sagte die Mutter zu Hans. "Nix da," wehrte ich mich, "die Blumen haben wir gekauft und bezahlt und die werden wir auch bei der Beerdigung in der Hand halten." Die Tochter schimpfte mich "blöde Kuh". und wir mischten uns unter die anderen Trauergäste.

 

Während der Trauerfeier hielten wir einen gewissen Abstand zu den Frauen. Erst auf dem Friedhof, als der Pastor schon an seinem Platz stand, kamen wir ans Grab. Jetzt würde sie uns in Ruhe lassen. Als der Sarg mit unserem Vater in das Grab hinabgelassen wurde, schluchzten Hans und ich.

Einige Männer hielten noch eine Ansprache und drückten uns die Hände, auch der Chef, bei dem Papa gearbeitet hatte. Er wollte wissen wo wir denn zum Kaffee hingehen wollten. "Ich habe kein Totenmahl bestellt", sagte die Stiefmutter von Hans. Da lud der Fabrikbesitzer Hans und mich und die Männer, die eine Rede gehalten hatten, ins Gasthaus ein.

Wir bekamen ein gutes Mittagessen, danach noch Kaffee und Kuchen. Die Männer wollten unsere Geschichte hören, denn niemand hatte gewusst, dass Papa noch mehr Kinder hatte, er hatte nie darüber gesprochen. Zum Schluss, als sich die Herren verabschiedeten, bekamen wir jeder von jedem der Männer zehn Mark. Am Ende hatten wir jeder sechzig Mark.

Hans und ich gingen zum Abendessen noch einmal zu seiner Stiefmutter. Sie war nicht gerade unterhaltsam, man merkte ihr an, dass sie sauer war. Da ich am kommenden Tag wieder nach Hause musste, saßen wir abends noch eine Stunde in der Gaststätte. Dort überlegten wir, was wir mit dem Geld machen wollten. Er wollte dass ich ihm mein Geld auch gebe und er wollte es aufbewahren. "Nein," sagte ich, "dir wird deine Mutter spätesten morgen das Geld abnehmen, dann behalte ich das meine, und du kannst machen was du willst damit."

Hans war nicht gerade dumm, aber er hatte auch nicht viel gelernt. Ich traute ihm nicht zu, dass er das Geld aufbewahren konnte. Seine Stiefmutter hatte, als ich am ersten Tag da war, nur über ihn geschimpft und betont wie dumm er war. Als sie auf dem Weg zum Friedhof merkte, dass ich nicht unbedingt zu den Dummen gehörte, sprach sie nicht mehr mit mir.

Hans behielt sein Geld und ich nahm das meine am nächsten Tag mit nach Hause.

Am späten Nachmittag kam ich wieder bei meinem Bauern an. Ich zog mich um und ging in den Stall um beim Melken zu helfen. Beim Abendessen, sollte ich erzählen, wie es bei meinem Bruder war. Ich erzählte von seinem Zuhause und von der Beerdigung. Das mit dem Geld behielt ich für mich, denn sonst hätten sie es mir abgenommen.

Es vergingen ein paar Wochen und ich machte unentwegt meine Arbeiten. Frau Sorge hatte es geschickt eingefädelt. Durch meinen Besuch zu Papas Beerdigung, hatte ich den großen Schmerz über seinen Tod leichter verkraftet. Ich hatte das kleine Haus gesehen, da war wirklich kein Platz für mich. Die zweite Frau meines Vaters hatte mir überhaupt gefallen. Bei ihr wollte ich nicht leben. Jetzt wo Papa nicht mehr da war, würde es Hans nicht gut gehen bei ihr. Aber er hatte bis jetzt Papa, und ich hatte immer allein kämpfen müssen. Er war schon volljährig, und konnte jederzeit ausziehen.

Ich wünschte mir im Stillen, dass Hans mich mal besuchen käme, er hatte ein Moped.

Ein paar Wochen waren vergangen, da herrschte hinter meinem Rücken wieder Aufregung. Was sie wohl wieder hatten, ich hatte nichts falsch gemacht.

Da musste ich wieder ans Telefon zur Nachbarin. Frau Sorge wollte wissen wie es mir geht. Ich erzählte ihr, dass ich es alles verarbeitet hatte und es mir gut ging. Nun kam sie zur Sache, ich sollte zum Familiengericht, Mutti hatte es geschafft, die Adoption sollte jetzt gerichtlich aufgelöst werden. Ich fragte ob sie nicht ohne mich dahin gehen könnte. "Nein, der Richter will dich persönlich kennen lernen. Ohne deine Zustimmung ist es nicht rechtsgültig. Also sieh zu, dass du pünktlich bist." Frau Sorge versprach mir auch dort zu sein. Sie würde mich nie allein zum Gericht gehen lassen, und das beruhigte mich ein wenig.

Ich saß am nächsten Morgen sauber angezogen und war beim Frühstück, da kam Frau Klaas und brachte mir die Vorladung für das Gericht. Da stünde auch die Adresse drauf, ich würde mich ja auskennen. "Wie schön, dass ich das Schreiben vom Gericht noch bekomme, bevor ich im Zug sitze." Sagte ich, und sie konnte ruhig sehen, dass ich darüber verärgert war.

 

Solche Überraschungen mochte ich nicht. In meiner alten Tasche hatte ich das Geld von der Beerdigung. Vielleicht würde ich mir, nach der Verhandlung eine neue Tasche kaufen.

Einmal musste ich umsteigen, da kam ich in meinem Ort an, in dem ich zur Schule gegangen war. Schnell eilte ich die Bahnhofstraße entlang und hoffte, dass mich niemand sah den ich kannte. Ich schämte mich, weil ich im Heim war. Aber ich war stolz, dass ich allein gehen durfte und nicht beaufsichtigt werden musste. Die anderen Mädchen aus dem Heim, durften nicht allein zum Gericht gehen, da hatte man Angst, dass sie da nie ankamen.

 

Mir vertraute Frau Sorge. Ich hatte das Familiengericht erreicht, das war gleich neben dem Lyzeum. Meine Fürsorgerin kam pünktlich und Vati und Mutti warteten schon im Gang. Als sie mich sah, drehte sie sich um, sie wollte mich nicht ansehen. Vati schaute mich an, als ob er fragen wollte: "Kennen wir uns nicht?" Wir warteten eine Weile, da kamen Leute aus einem Raum, und wir wurden aufgerufen.

 

Wir nahmen an einem ovalen Tisch Platz, Mutti hatte einen Anwalt bestellt, und der Richter fragte ob wir keinen Rechtsbeistand hätten. Frau Sorge teilte mit, dass wir keinen brauchten. Frau Sorge saß neben Vati und ich auf der anderen Seite wo auch der Richter saß. Ich hatte vorsichtshalber vier Stühle frei gelassen, denn so nah wollte ich nicht bei den Herren sitzen. Es waren drei Herren in schwarzen Kleidern, und einer las ganz schnell ein langes Schreiben vor.

 

Er trug mehrere Vergehen vor, die ich gemacht haben sollte. Frau Sorge widerlegte und erklärte und man glaubte ihr, sie war schließlich auch eine Amtsperson. Die drei Herren gingen in ein Nebenzimmer und besprachen sich. Dann kamen sie wieder, und hatten beschlossen: Da man mir nicht zumuten konnte wieder zu Herrn und Frau Teichmann zurück zu gehen, es läge es an mir ob ich dahin zurück wollte oder nicht. Falls es zur Auflösung käme, dann würde ich den Namen Teichmann verlieren und meinen alten Namen Schiller wieder zurück bekommen. Aus dem Testament der Teichmanns würde ich gestrichen und hätte keinen Anspruch mehr.

 

Frau Sorge meldete sich dann zu Wort und bedauerte aus tiefsten Herzen, dass ich dann ganz allein auf mich gestellt sei, da mein richtiger Vater vor wenigen Wochen verstorben wäre. Mutti äußerte sich dazu: "Das geht uns ja nichts an." Der Richter nannte sie egoistisch und herzlos und meinte es sei wohl besser so. Das Familienleben sei total zerrüttet, und einen normalen Umgang miteinander könnte man da nicht mehr erwarten. Ich sollte nun sagen ob ich die Auflösung wollte oder nicht.

 

"Ja," sagte ich, "da will ich nie wieder hin." Dann mussten wir unterschreiben, Frau Sorge unterschrieb neben mir, und Vati wollte nicht. Er wollte nichts kaufen, sagte er. Mutti redete ihm zu, er würde dafür viel bekommen. Da unterschrieb er endlich. Der Richter merkte dass Vati gar nichts mitbekommen hatte und war sichtlich böse.

 

Da sagte Mutti mit Gönnermine: "Den Namen Anneliese darf sie behalten, und wenn sie will kann sie uns auch mal besuchen." Der Richter wandte sich an mich, und ermutigte mich das Angebot auch anzunehmen. Frau Sorge schaute auf die Uhr, sie hatte heute noch mehr zu erledigen. Somit schloss einer der Herren die Verhandlung und wir verließen das Gerichtsgebäude. Frau Sorge musste gleich weiter und bat mich pünktlich wieder zurück zufahren.

 

Ein kleines Stück hatten wir den gleichen Weg. Vati guckte mich immer an und fragte, ob ich jetzt auch mal wieder nach Hause käme. Mutti konnte mich nicht ansehen in ihrem Gesicht war ein Hauch von Triumpf zu lesen. Ja sicher, sie hatte ja auch leichte Beute gemacht. Ich sagte: "Auf Wiedersehen" und bog Richtung Bahnhof ab. Mutti betonte noch schnell: "Und komm mal vorbei wenn du in der Nähe bist."

In der Fischbratküche, die neu aufgemacht hatte, aß ich Kartoffelsalat und gebratenen Fisch. Bis nach Hause hätte ich es vor Hunger nicht ausgehalten. Da fiel mir ein, dass ich mir eine Tasche kaufen wollte und ging die Straße entlang um nach einem Geschäft zu suchen.

In einem Schuhgeschäft waren im Schaufenster verschiedene Taschen ausgestellt, die mir gut gefielen und gar nicht teuer waren. Ich ging hinein und ließ mir die Taschen aus dem Fenster zeigen. "Ja, aber das sind Taschensets, da gehören immer zwei Taschen zusammen und ein passender Geldbeutel."

 

Das Material war ein Nylon Material mit Kunstleder umrandet. Eines war eine Reisetasche und das andere eine Handtasche mit Geldbörse. Während ich es ansah, fragte ich was so ein Set denn kostet. Die Taschen sahen so edel aus, dass ich glaubte es nicht bezahlen zu können. "Neunzehn Mark neunzig," antwortete mir die Verkäuferin. Sie sah, dass ich schwarz gekleidet war und meinte, sie habe es auch in schwarz. Das schwarze sah so billig aus, während das braune richtig elegant war.

 

Da war in der Handtasche noch ein extra Fach für einen Taschenschirm. Ich entschied mich für das braune Set. In die große Tasche steckte ich gleich meine alte Umhängetasche. Dann ging ich mit meiner neuen Errungenschaft Richtung Elsedamm. Ich wollte noch ein wenig auf unserer Bank sitzen.

In meinen Gedanken war ich bei Margot. Mit ihr hatte ich so manche Viertelstunde hier gesessen. Ach dachte ich, wie es ihr wohl geht? So saß ich in Gedanken vertieft und starrte auf die Kirchturmuhr.

Da kam eine alte Dame und setzte sich zu mir. "Na heute allein? Wo ist deine Freundin?" Die Stimme kannte ich es war Frau Böker. "Ich war zu Besuch hier“, log ich sie an, "ich wohne nicht mehr hier." Dann schlug die Turmuhr und sich entschuldigte mich weil ich zum Bahnhof musste. "Vielleicht sehen wir uns mal wieder," sagte ich, und beeilte mich zum Bahnhof zu kommen.

Der Zug, den ich nehmen wollte, war schon abgefahren und der Schalterbeamte schlug mir die Fahrt über Bielefeld vor, denn das sei ein Schnellzug und da bekäme ich auch den Anschlusszug noch. Ich löste die Fahrkarte und ging in den Warteraum, weil ich zwanzig Minuten warten musste. Dort setzte ich mich an einen kleinen Tisch und genoss es, zu machen was ich wollte. Zu mir setzte sich ein blondes Mädchen. "Willst du verreisen, Anneliese?" Beim besten Willen, ich wusste nicht wer es war. "Woher kennst du mich?" fragte ich verdutzt. "Wir sind doch zusammen in die Schule gegangen, ich bin Antje." Jetzt wusste ich es, Antje war immer groß und blond es war die Holländerin.

 

Sie plauderte und wollte nach Hamburg, weil sie da studieren wollte. Sie hatte sich Brühe mit Ei bestellt und sagte: "Das musst du mal probieren, es ist billig und gut, ich kaufe das immer auf dem Bahnhof." Nun hatte ich keine Zeit mehr und musste auf den Bahnsteig. Ich war froh dass sie mich nichts gefragt hatte. Sie wird studieren, und was war aus mir geworden?

Mit dem Schnellzug war ich in Windeseile in Bielefeld. Dort musste ich mich allerdings beeilen um meinen Anschlusszug zu erwischen. Dann hatte ich noch eine halbe Stunde Fußweg.

Im Stall waren sie schon am Melken und so bemerkte niemand, dass ich mit neuen Taschen heim kam. Ich ging gleich in mein Zimmer und versteckte sie in meinem Koffer. Wenn sie es nicht wussten, brauchte ich mich nicht zu rechtfertigen woher ich das Geld für den Einkauf hatte. Dann zog ich meine guten Kleider aus und das Stallkleid an. "Kann ich noch helfen?" fragte ich. Frau Klaas ging zum Schweinefüttern und ich übernahm ihre Kuh.

Beim Abendessen wollte der Bauer alles genau wissen, aber weil ich die Vorladung so spät bekommen hatte, war ich sehr kurz angebunden.
Im Bett kam mir die Idee einfach abzuhauen. Das würde ich mir genau durch den Kopf gehen lassen. Denn wenn ich weglaufen wollte, dann musste ich ja auch ein Ziel haben.

 

Der unerlaubte Urlaub

 

In den nächste Wochen wartete ich auf Hans. Er schrieb nicht und er kam nicht. Ich war traurig, wollte er von seiner Schwester nichts mehr wissen? Ich hatte ihm schon mehrmals geschrieben. Vielleicht hatte er ja auch geschrieben und Frau Klaas hatte mir den Brief nicht gegeben. Diese Gedanken gingen mir immer durch den Kopf. Ganz gleich was ich auch machte, ich dachte an nichts anderes mehr. Am nächsten Sonntag würde der Bauer wieder mit seiner Familie wegfahren, da würden sie nicht merken wenn ich mit meinem Fahrrad ausriss.

Aber ich würde das nicht machen, denn das Vieh musste versorgt werden, und das würde ich nicht im Stich lassen. Eine Woche wollte ich warten, und wenn ich dann immer noch nichts von Hans gehört hatte, würde ich weglaufen. Am helligten Tag, denn sonntags machten sie immer einen Mittagsschlaf. Eine Landkarte hatte ich nicht, aber ich hatte eine im Kopf. So fing ich an, den genauen Weg zu planen.
Dann kam der Sonntag, an dem ich es wagen wollte. Wir saßen beim Mittagstisch und der Bauer schaute mich sorgenvoll an: "Unser Clärchen ist ganz still geworden." Frau Klaas schaute zu mir herum und meinte: "Kein Wunder, was sie alles mitgemacht hat, in den letzten Wochen."

Vieles passte mir hier nicht, aber die Bauersleute waren immer so fürsorglich." Ich überlegte ob ich meine Pläne über den Haufen werfen sollte. Nach dem Essen half ich noch das Geschirr zu spülen. Sie sollten mich in guter Erinnerung behalten, dachte ich und kämpfte mit den Tränen. "Ich fahre nachher noch mit dem Fahrrad weg," bemerkte ich nebenbei. Frau Klaas legte mir das Taschengeld der vergangenen Wochen auf den Tisch. "Mach das, dann kommst du auf andere Gedanken." ermunterte sie mich.

Dann ging ich in mein Zimmer und packte ein paar Sachen zusammen, nur das Wichtigste, etwas Wäsche und ein Kleid. Ich wollte nichts buntes, und da hatte ich keine große Auswahl. Von meinem Geld, was ich noch hatte und dem Taschengeld, konnte ich fünf Tage lang das Zimmer im Wirtshaus bezahlen. Meine übrigen Sachen packte ich in den Koffer. Den stellte ich in den leeren Kleiderschrank.

Dann nahm ich meine beiden Taschen, und warf sie durch das Oberlicht an meinem Fenster, denn da war kein Gitter. Ich ging zum letzten Mal durch die Kammertür, nahm mein Fahrrad von der Dehle, und verschwand durchs Dehlentor. Vor meinem Fenster lud ich die beiden Taschen auf mein Fahrrad, und nahm den nächsten Weg in Richtung Stadt.
Hinter der Stadt ging es kräftig bergan, da musste ich noch durch zwei kleine Städte dann würde ich den höchsten Punkt des Gebirges erreicht haben. Das war die Grenze zwischen Münsterland und der Ravensberger Mulde. Ich wollte aber zu Hans und der wohnte im Weser-Berg-Land.

Nach dem ersten Städtchen wurde es so steil, dass ich mein Fahrrad schieben musste. Das kostete mich mindestens eine Stunde. Aber das war nicht so schlimm, denn ich würde die Strecke heute sowieso nicht mehr schaffen. Dann ging es nur noch bergab. Ich war schon lange auf der Enger-Straße und kannte mich bestens aus. Bald würde ich bei Onkel Heini vorbeikommen, und da wollte ich Rast machen.

Vorsichtig ging ich durch die Hintertür, um nach Tante Minna zu suchen. Vom Flur aus klopfte ich an die Ladentür. Bald darauf kam Lore und machte die Tür auf. "Anneliese“, rief sie erstaunt und erfreut und fiel mir um den Hals. Onkel Karl kam aus seinem Büro und schloss die Ladentür. "Kommt mit, dass muss Tante Minna sehen." Wir gingen die Treppe hinauf und direkt in die Küche. Tante Minna glaubte einen Geist zu sehen, und ließ vor Schreck ein Messer fallen, denn sie war gerade am spülen.

Sie wollten wissen wo ich gesteckt hatte und hörten sich meinen Bericht an. Vati und Mutti waren schon lange nicht mehr bei ihnen gewesen. An meiner Konfirmation hatten Onkel Heini und Tante Minna mir an der Kirchentür gratuliert. Seit dem hatten sie sich nicht mehr blicken lassen.

Ich erzählte von meinem unerlaubten Ausflug und Onkel Heini wollte das für mich regeln. Er hatte jetzt auch Telefon und er wollte mit Frau Sorge sprechen. " Onkel Heini wird das schon gerade biegen," versicherte Tante Minna. Wir hatten noch viel zu erzählen und Lore meinte, ich brauchte dringend eine dunkle Strickweste. Sie ging mit mir in den Laden und suchte mir eine schöne lange Weste aus. Während dessen fuhren die beiden Söhne, Heinz und Bernd zur Mutti. Sie wollten fragen, ob ich bei ihr übernachten könnte. Heinz hatte einen VW gekauft, und seitdem war er immer unterwegs.

Onkel Heini schrieb den Zettel ab, von Frau Sorge und fragte mich, ob ich denn schon Urlaub bekommen hatte. Als ich sagte, dass es fast ein Jahr her sei, meinte er, dann stünde mir das ja auch noch zu. Onkel Heini kannte sich bestens aus mit dem Arbeitsrecht, denn er hatte Lore ausgebildet. Bernd war jetzt auch Lehrling bei ihm.

Lore wollte jetzt heiraten und ins "Oldenburgische" ziehen. Sie hatte bei einer BH-Fabrik einen Wettbewerb gewonnen, für den besten Werbespruch. Ich erinnerte mich, sie hatte es mir erzählt. "Trägt die Frau Triumpf-Modelle, hat sie Chancen auf der Stelle" hatte der Spruch geheißen. Dafür fuhr sie nach Italien, und hatte ihren zukünftigen Mann dort kennen gelernt. Traurig sagte ich zu Tante Minna: "Warum haben alle immer Glück, und ich nie?" Tante Minna nahm mich in den Arm und ich weinte ihr die Bluse voll.

Heinz und Bernd kamen zurück und hatten allerhand zu berichten: Vati war zurzeit im Krankenhaus, er hatte einen Schlaganfall bekommen. Elfriede sei die meiste Zeit in Bielefeld, dort hatte sie eine Arbeitsstelle in einer Kosmetikfabrik. Sie hatte dort ein Zimmer und kam nur ab und zu. Sie hatte gleich erlaubt, dass ich heute Abend bei ihr übernachten konnte, mein Zimmer wäre ja frei.

"Schön," räumte ich ein, "aber sie wird mich bei Frau Sorge verraten." "Wird sie nicht, „ beruhigte mich Onkel Heini, "Vorher habe ich das längst geregelt, ich rufe gleich morgen früh bei Frau Sorge an." Als ich mich verabschiedete, meinte Lore, ich sollte auch wieder mal kommen, wenn ich eine neue Strickweste brauchte.

Ich fuhr mit gemischten Gefühlen den kleinen Weg durch die Felder. Als ich an Brockmeiers kleinem Hof vorbei kam, lenkte ich mein Fahrrad auf den Hof. Jochen war im Stall. Er konnte es kaum glauben, was ich von Papa und Hans berichtete.

Mit klopfendem Herzen und der Frage, wie sie mich wohl empfangen würde fuhr ich bei Mutti auf den Hof. Dort brachte ich mein Rad durch die Hintertür, nahm meine Taschen und klingelte an der Korridortür.

Sie öffnete und tat überrascht, aber ich konnte ein winziges Lächeln über ihr Gesicht huschen sehen. "Na dann komm mal rein, „ forderte sie mich auf.“Möchtest du mit mir Essen?" war ihre nächste Frage. Da überlegte ich einen Augenblick und sagte: "Lieber wäre es mir, wenn ich baden dürfte, ich habe so lange nicht gebadet." Hattest ihr denn kein Bad?" fragte sie erstaunt.

Dann ging sie gleich den Badeofen anzünden und fragte ob ich denn saubere Wäsche hätte. Ich erzählte, dass ich bei Hans ein paar Tage Urlaub machen wollte, und ich etwas Wäsche dabei hätte. Sie ging ins Schlafzimmer, holte eine Garnitur Wäsche, die ich damals nicht mitgenommen hatte und legte sie ins Bad. "Soll ich dir die Haare waschen und deinen Rücken?" Sie übereiferte sich förmlich mit ihrer Freundlichkeit. "Ja, das wäre schon gut," entgegnete ich leise.

Sie ließ das Wasser in die Wanne und schickte mich dann in ihr Bad. In meinem Leben hatte ich nie wahrgenommen wie wohltuend so ein Bad sein kann. Ich genoss es in vollen Zügen, machte die Augen zu und tauchte tief, in das gut warme Wasser. Mutti kam und wusch meine Haare mit Shampoo und scheuerte meinen Rücken. Als ich später aus der Wanne stieg, fühlte ich mich wie neu geboren.

Das mich ein Bad so glücklich machen würde, hätte ich vor zwei Jahren noch nicht geglaubt. Nach dem Baden putzte ich die Wanne sauber, denn das wollte ich ihr nicht auch noch zumuten. Dann kam ich in die Küche und sie hatte das Abendbrot schon auf dem Tisch. Sie war froh, dass sie heute nicht allein essen musste, denn Vati sei im Krankenhaus und Elfriede in Bielefeld. Vati sollte nach dem Krankenhaus eine Kur bekommen, dann wollte sie nach Sylt fahren, um sich auch richtig zu erholen.

Ich könnte doch Frau Lindemann besuchen, die hätte schon oft nach mir gefragt, schlug sie vor. Also ging ich für eine halbe Stunde zur Nachbarin. Die war sehr erstaunt über meinen späten Besuch. In der kurzen Zeit konnte ich ihr gar nicht alle Fragen beantworten. So verabredeten wir uns für später, ich würde wieder durch den Keller kommen.

Mutti erwartete mich schon, sie wollte jetzt ins Bett. Ich bekam den Schlüssel, für mein altes Zimmer und meinte, ich wüsste ja noch Bescheid. Dann wollte sie gerne wissen, wann ich morgen weiter fahren wollte. "Um zehn oder um elf spätestens," sagte ich. Dann wünschte ich ihr eine gute Nacht. Nach einer Stunde schlich ich leise die Treppe wieder hinunter und ging durch die Kellertür.

In ihrer Laube wartete schon Frau Lindemann. Sie hatte eine Flasche Johannisbeer-Most mit gebracht, und wir saßen gemütlich beieinander. Außer die Arbeit bei dem Bauern, der nicht einmal ein Bad für mich hatte, fand sie, dass ich es aber jetzt schon besser hatte. Ich musste ihr Recht geben, obwohl ich ja keine Ahnung hatte, wie mir mein unerlaubtes Entfernen von meiner Arbeitsstelle bekommen würde.

Es war kurz vor Mitternacht, als ich zu meinem Zimmer hinauf schlich. Frau Lindemann hatte mir zehn Mark geschenkt, damit ich im Urlaub nicht mit leeren Händen da stand. Jetzt konnte ich für eine Woche das Zimmer mieten.

Am nächsten Morgen traf ich Mutti beim Frühstück und ich bot ihr an, den Flur, und die Treppe vor dem Haus zu putzen. Die Fliesen in dem geräumigen Flur, waren offensichtlich lange nicht gewischt worden. Sie staunte: "Würdest du das noch für mich machen?" "Natürlich," Gab ich ihr zur Antwort, "ich bin ja so dankbar, dass ich baden durfte."

Ich putzte den Flur gründlich, und die Treppe zur Haustür, scheuerte ich. Da kam Frau Stadler die Treppe herunter. "Ach die Putzliesel ist wieder da," bemerkte sie verächtlich. Dummes Geschwätz mochte ich heute nicht, deshalb meinte ich: "Sie könnten ja auch mal den Hausflur putzen, schließlich laufen sie ja jeden Tag dadurch." Nun hatte es Frau Stadler plötzlich eilig.

Nachdem ich alles wieder aufgeräumt hatte, ging ich in die Küche. Mutti wollte, dass ich noch essen sollte, bevor ich weiter fuhr, und war dabei das Essen von gestern warm zu machen. Da klingelte es, sie bat mich nachzusehen, wer es sei. Es war Onkel Heini, und der war froh, dass ich noch da war. Er kam mit in die Küche und berichtete von dem Telefonat mit meiner Fürsorgerin. Zuerst sei sie nicht begeistert gewesen, von der Nachricht. Dann fand sie aber, ich sei ein vernünftiges Mädchen und es wäre gut, dass man sie benachrichtigt hätte. So wusste sie jetzt Bescheid wenn Frau Klaas anrufen würde.

Zehn Tage durfte ich jetzt zu Hans, ich sollte in dem gleichen Gasthaus wohnen wie letztes Mal. Dann sollte ich mit dem Fahrrad im Zug ins Mädchenheim fahren. Dort sollte ich drei Tage bleiben, dann würde sie mich abholen. Wohin ich nachher sollte, wusste Onkel Heini nicht. Er sollte mir fünfzig Mark geben, sie würde es ihm zurück zahlen.

Onkel Heini gab mir die fünfzig Mark. Dann legte er noch zwanzig Mark dazu, damit ich nicht ohne einen Pfennig Geld in Urlaub fahren musste.

Nach dem Mittagessen bedankte ich mich bei Mutti, für ihre Fürsorge und nahm mein Fahrrad um meinen Weg jetzt mit Genehmigung fort zusetzen. Nun brauchte ich mich nicht mehr ängstlich umzusehen, ob da vielleicht ein Polizeiauto käme, um mich zurück zu bringen. Ich kam bis Vlotho und hatte den halben Weg hinter mir. Da schaute ich auf die Uhr und glaubte bis zur Kaffeezeit bei Hans zu sein. Was ich nicht wusste, ab hier ging es nur noch bergauf.

Ich schob mein Fahrrad und dachte, der Berg würde nie enden. Nach einer Stunde musste ich mich erst ausruhen. Da stand eine Bank an einer Kreuzung und ich machte auf ihr eine ausgiebige Pause. Der Ausblick war fabelhaft, da würde ich auf den Kaffee verzichten und etwas länger die Aussicht genießen.

Im Tal schlängelte sich die Weser zwischen den Wiesen und Feldern von Ort zu Ort.

Als ich mich wieder stark genug fühlte, setzte ich meinen Weg fort. Da ich nicht ahnte, wie lange es noch bergan ging, war ich nach wenigen Minuten wieder total erledigt. Ich war tapfer und quälte mich, und stellte fest, mein Bad gestern war für die Katz. Mir klebten meine Kleider am Körper. Da überlegte ich, ob ich noch eine Pause machen wollte.

Als ich mich umsah, war der Berg fast zu Ende, auf der Straße vor mir, konnte ich genau sehen, wo die Steigung zu Ende war. Also, dachte ich, das schaffe ich jetzt auch noch. Mit neuer Kraft schob ich das letzte Stück, und nach wenigen Minuten saß ich wieder auf dem Fahrrad. Die Strecke war jetzt eben, und ich kam entspannt an dem Gasthof an.

Ich machte vorsichtig die Tür auf, denn es war mir immer noch unangenehm eine Wirtschaft allein zu betreten. Der Wirt hatte mich erwartet, denn Frau Sorge hatte mich angemeldet und er sollte Bescheid geben, wenn ich angekommen sei. Er ging ans Telefon und meldete meine Ankunft. Frau Sorge wollte mit mir sprechen. Ungern nahm ich den Hörer. "Wir unterhalten uns in zwei Wochen," versprach sie mir," ich will keine Klagen hören, mach nichts was sich nicht gehört," fügte sie mit strengem Ton hinzu. Ich pustete erleichtert, und bat um meinen Zimmerschlüssel. Der Wirt wollte Hans rufen, wenn er nach Hause käme.

Hans kam um sechs Uhr und war total aus dem Häuschen als er mich sah. Er arbeitete auf dem Bau als Baggerführer, entsprechend dreckig war er auch. In der Wirtschaft, wo zum Glück fast niemand war, hob er mich in die Luft und rief: "Da bist du ja, mein liebes Schwesterlein." Er nahm mein Fahrrad mit, damit es nicht an der Straße stand, und wollte später gewaschen und frisch angezogen zurück kommen. Ich nutzte die Zeit, meinen Rock zu säubern, wo seine halbe Baustelle daran hing. Etwas später kam er zurück in Feuerwehrkleidung.

Heute Abend musste er zur Musikprobe. Da durfte ich dann auch mit. Damit ich nicht verhungerte hatte er mir ein Brot mitgebracht. Dann kam ein Freund mit dem Auto und wir fuhren gemeinsam nach Rinteln. In dem Garten eines Lokals bauten die Männer von der Feuerwehrkapelle ihre Instrumente auf. Hans spielte ein großes Schlagzeug und gehörte zu denen die zu den Musikstücken sangen. Ich war sehr stolz auf ihn, denn er machte es gut. Als wir dann zurück kamen, wurde es schon dunkel. Hans hatte eigentlich schon Urlaub, aber er arbeitete für einen Kollegen, dem er die Baugrube aushob. Ein paar Stunden musste er am nächsten Tag noch ausbaggern, dann hatte er Zeit für mich. Den Vormittag wollte ich nutzen um nach Papas

Grab zu schauen, ich würde mich beschäftigen können.
Bei seiner Stiefmutter wollte ich nicht um mein Fahrrad bitten, also lief ich am nächsten Morgen zu Fuß zum Friedhof, denn es war nicht weit. Seit der Beerdigung schien niemand an dem Grab gewesen zu sein. Also begann ich die verdörrten Blumen in die Abfallgrube zu werfen. Alles was noch schön aussah, legte ich wieder auf das Grab. Unsere Gestecke waren kaum verwelkt. Bevor ich wieder ins Heim fuhr, wollte ich den Rest dann auch wegwerfen und ein paar Blumen einpflanzen.

Mittags war Hans immer noch nicht zurück, und ich hatte Hunger. Zwar hatte mir der Gastwirt morgens Kaffee und ein Brötchen gebracht, aber ich hatte nicht daran gedacht, dass ich mittags auch was essen musste. Ich ging in mein Zimmer um mein Geld genau zu zählen.

Fünfzig Mark musste ich für mein Zimmer zurücklegen, und zehn Mark brauchte ich sicher für die Bahnfahrt. Ich hatte noch ein paar einzelne Markstücke, davon wollte ich Blumen für Papas Grab kaufen. Dann blieben mir vierzig Mark übrig, für jeden Tag vier Mark zum Essen. Wie ich davon satt werden sollte, wusste ich nicht.

Als ich wieder nach unten ging, warf ich einen Blick in die Speisekarte. Bockwurst und Brötchen kostete zwei Mark dreißig und ein belegtes Brot eine Mark achtzig. Ja, dachte ich, dass ist machbar. Ich wollte mir das durch den Kopf gehen lassen, und überlegen ob ich vielleicht ein Päckchen Vollkornbrot kaufte und ein Stück Leberwurst. Das könnte ich mir in meinem Zimmer am Abend selber machen. Für heute ging ich in die Wirtschaft und bestellte eine Bockwurst mit Brötchen. Die Bockwurst war riesig und schmeckte bestens.

Dann kam Hans, als ich noch am Essen war. Für den Abend hatte er mir wieder ein Brot gemacht, und weil ich mit dem Essen noch nicht fertig war, trug er es gleich in mein Zimmer. Dann gingen wir seinen Freund besuchen, den ich gestern kennen gelernt hatte. Mit seiner jungen Frau verstand ich mich gleich gut. Gemeinsam hatten wir einen schönen Abend.

Hans und sein Freund machten Pläne für die nächsten acht Tage. Wenn ich schon mal da war, sollte ich auch etwas zu sehen bekommen. Ein paar Mal lud uns die Frau seines Freundes zum Essen ein. Ihre Kochkünste waren mäßig, vielleicht noch nicht ganz ausgereift. Die Weser rauf und runter, zeigten sie mir jeden Ort. Wir waren auch in Hameln beim Rattenfänger und fuhren nach Höxter und Rinteln.

Es war eine schöne Zeit, die leider viel zu schnell zu Ende ging. Hans erzählte, dass er einen Führerschein machen wollte, und mich dann mit Papas Motorrad besuchen käme. Sobald ich eine neue Adresse hatte wollte ich ihm schreiben. So kam mein letzter Ferientag und wir gingen auf den Friedhof um Papas Grab zu bepflanzen. Nachdem ich alle die welken Kränze und Gestecke abgeräumt hatte, ging ich zum Gärtner und kaufte ein paar Blumen.

Dann pflanzte rote und weiße Blumen und sparte anschließend nicht mit dem Gießwasser. Hans hatte eine Hacke und eine Harke dabei und das Grab sah richtig schön aus. Hans bat ich es regelmäßig zu gießen, obwohl ich den Gärtner schon gebeten hatte, ab und zu danach zu sehen. Ich hatte den Eindruck, dass außer mir niemand nach dem Grab schaute.
Als wir dann gingen versprach Hans, mich morgen zum Zug zu bringen. Mein Fahrrad war ja auch noch bei ihm. Heute Abend wollten wir aber noch einmal zu seinem Freund gehen, der wollte ein Lagerfeuer machen. Der Abend war wieder sehr schön, und wir kamen spät nach Hause. Ich packte meine Sachen, damit ich morgens schneller fertig wurde. Den Wirt bat ich, mich um acht Uhr zu wecken, falls ich verschlafen würde.

Ich wachte pünktlich auf und ging zum Frühstück in die Gaststube. Als ich den Kaffee bekam, zahlte ich mein Zimmer. Hans kam nicht, also nahm ich meine Taschen und ging hinüber um zu klingeln. Seine Stiefmutter kam an die Tür und teilte mir mit, dass mein Bruder immer noch schlief. So bat ich sie, mir mein Fahrrad zu geben und verschwand, ohne mich von Hans verabschiedet zu haben.

Die Fahrt war ziemlich anstrengend, zumal ich bei jedem Umsteigen das Fahrrad aus dem einen Zug raus, und in den anderen hinein tragen musste. Es war schon vier Uhr, als ich bei den Mädchenheimen ankam.

Die Heimleiterin begrüßte mich sehr zurückhaltend. Ich musste mein Fahrrad in den Keller bringen. Dann rief sie eine Schwester an, die Anna hieß, sie sollte mich abholen. "Ich war aber doch bei Schwester Marie," sagte ich verzweifelt. "Wer ausbüchst kommt zur Strafe in die Waschküche“, erklärte mir die Heimleiterin. Oh je, jetzt hatte ich plötzlich Angst.

Schwester Anna kam, und fragte nicht, wann ich das letzte Mal gegessen hatte. Sie nahm mir meine Taschen ab und gab mir meine Zahnbürste. Dann ging sie mit mir die Treppen hinauf und schickte mich in ein Zimmer, welches sie dann von außen schloss. Das Zimmer war klein und mager eingerichtet. Ich hatte Hunger und traute mich nicht etwas zu sagen. Die Schwester ließ sich nicht mehr sehen und als die anderen Mädchen auf ihre Zimmer gingen, zog ich mich aus, und legte mich mit hungrigen Magen ins Bett.

Hungrig einzuschlafen, war etwas was ich noch lernen musste. Da lag ich nun im Haus für Rückkehrer und würde jeden Tag Wäsche waschen müssen. Da tat ich mir selber leid und weinte und schlief dann doch ein.

Morgens wurden wir geweckt, und wenige Minuten später stand ich gewaschen und angezogen neben der Tür. Ob ich aus dem Zimmer durfte? Oder ließ sie mich jetzt hier schmoren? Meine Tür wurde geöffnet, und als die anderen schon am Frühstückstisch saßen, führte Schwester Anna mich in den Saal. Diese Gruppe war groß, da ich niemanden kannte, traute ich mich nicht mich umzusehen. Eine neben mir flüsterte: "Mensch, ist die eingebildet." Nach dem Frühstück mussten wir uns in einer Reihe aufstellen. Dann ging es vorbei an der Spülküche in die Waschküche. Dort standen haufenweise Wäschezuber mit eingeweichter Wäsche und Waschmaschinen.

Mir wies man einen Platz an einen großen Waschtrog zu und ich musste Kragen und Manschetten von Oberhemden scheuern. Zur Mittagspause hatte ich schon die ersten Finger durch gescheuert. Nachmittags durfte ich dann Wäsche auf die Leine hängen zur Abwechslung. Die Leinen waren in einem Trockenraum, ich hoffte nur, dass niemand die Tür zuwirft, weil ich schon Platzangst hatte. Ich arbeite fleißig und klagte nicht.

Am Bügeltisch stand Schwester Anna und bügelte meine schwarz weiße Bluse. Sie machte das sehr liebevoll. Es wunderte mich, wo sie meinen Koffer her hatte, und warum sie alle meine Sachen gewaschen hatte. Sie hatte meinen Koffer neben sich und packte alle meine Wäsche und Kleider wieder dort hinein. Tatsächlich war meine Wäsche nicht so weiß wie früher, Frau Klaas hatte doch keine Waschmaschine.

Des Abends durfte ich meine Finger ein salben. Dann gab mir die Schwester ein Buch zum lesen, während die anderen Mädchen handarbeiteten. Ich wollte auch etwas Nützliches machen, aber Schwester Anna wollte nicht, dass ich die Salbe daran abputzte. Also las ich vor. Als ich danach ins Bett ging, hatte ich den Eindruck es hier nicht schlecht zu haben. An den Tagesablauf konnte ich mich gewöhnen. So schlief ich gut und dachte gar nicht mehr an Frau Sorge, die mich ja morgen besuchen wollte.

Die Glocke läutete und ich hatte wieder neuen Schwung. für einen weiteren Tag in der Waschküche. Wieder stellten wir uns in einer Reihe auf. Ich hatte mich hinten an gestellt, und als wir losgingen um in die Wäscherei zu gehen, hielt mich Schwester Anna am Arm fest. "Du bleibst hier“, sagte sie streng zu mir. Ich musste zurück an den Tisch. Oh je, dachte ich, nicht einmal zum Waschen können sie mich brauchen und ich dachte nach, was ich falsch gemacht hatte.

Dann schoss mir durch den Kopf: Sie wird mich wieder zu der ekelhaften Ärztin bringen, ich war ja wieder neu hier. Jetzt war ich schon sauer, und wartete was auf mich zu kam. Dann kam die Schwester und fragte was ich denn alles könnte an Handarbeiten. Völlig überrascht, dass sie nun doch nicht mit mir zum Arzt wollte, sagte ich ein wenig hochtrabend: "Ich kann alles." "Oh," meinte die Schwester, "so etwas kann ich gut gebrauchen." Sie legte mir einen Kinderpulli auf den Tisch, der einen Rollkragen brauchte.

An dem Pullover nahm ich die Maschen auf und fing an den Kragen zu stricken. Schwester Anna wollte wissen, wie ich es angestellt hatte, einfach so in Urlaub zu fahren. Sie wollte wissen wo ich war, und was ich im Urlaub gemacht hatte. Als ich von Papas Grab erzählte, war sie erstaunt, denn sie hatte nicht gewusst, dass mein Vater gestorben war. Sie fing an mich zu verstehen. Deshalb sagte sie auch nicht, dass mir mein Gestrick nicht gefiel.

Die Maschen am Rand hatte ich nicht schön aufgenommen. Sie ließ mir das Strickzeug und ging in die Waschküche. Nun saß ich ganz allein in dem großen Speisesaal. Das Hausmädchen brachte das Geschirr aus der Spülküche. "Was hast du denn verbrochen, dass du hier allein sitzen musst", fragte sie. Dann schaute sie mein Strickzeug an und seufzte: "Das wird der Schwester aber nicht gefallen, das ist nicht schön, sie wird es dir wieder aufziehen." Die Mädchen kamen aus der Wäscherei und es gab Mittagessen.

Danach hatten wir eine Stunde Pause, die wir in unserem Zimmer verbringen mussten. Wir gingen hinauf und die Schwester machte die Türen zu. Bei mir ließ sie offen. Zum Schluss, als alle Zimmer zu waren, kam sie und bat mich meine Sachen aus dem Zimmer mit zu nehmen und in den Speisesaal zu kommen. Jetzt werde ich meinen Kragen in der Mittagspause neu machen müssen, schoss es mir durch den Kopf. Aber wozu meine Zahnbürste?

Als ich die Treppe hinunter ging, war Frau Sorge schon da. Sie war freundlich wie immer und sagte: "Gut siehst du aus."

Ich hätte ihre Pläne ein wenig durcheinander gebracht, meinte sie ein wenig vorwurfsvoll. Aber nun hatte sie umdisponiert. Sie wollte mich jetzt zu einer Stelle bringen, die eigentlich zu den besten Plätzen gehörte, die sie zu vermitteln hatten. Der Haken war, dass die Mädchen alle nicht länger wie ein Viertel Jahr dort blieben. Nun hoffte sie, wenn ich mitmachen wollte, dass sie den Grund herausfinden konnte.

Ich sollte dahin und jede Woche einen Bericht an sie schicken. Als ich mich umgezogen hatte, fuhren wir los. Mein Fahrrad musste ich da lassen, ich sollte es an meinem freien Sonntag holen, der Weg war nicht so weit und ohne Berge.

Wir kamen auf einen sehr schönen großen Hof. Er war mitten in einem kleinen Ort und an dem Hof vorbei floss ein kleiner Fluss. Rechts vom Fluss war eine Kornmühle, und links eine Sägemühle.

Von der Haustür aus kamen wir in den Flur, und dann in eine schöne moderne Küche. Die Hausfrau war sehr jugendlich und machte einen netten Eindruck. Der Müller war klein und dick und hatte eine rote Nase. Dann war da noch die Schwester des Müllers, die war ledig und hatte im 1. Stock eine Wohnung.

Dort oben war auch mein Zimmer. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus, so schön war es. Neben den schönen Möbeln waren auch ein Waschbecken im Zimmer und ein Grammophon. Das war zwar uralt, und musste von Hand angekurbelt werden, aber es funktionierte. Schallplatten waren auch da. Daneben war ein Nähzimmer, mit einer Nähmaschine, die ich benutzen durfte.

Ich fragte ob sie auch Kühe hatten. Nein, sie hatten nur Hühner, und zwei Pferde, alles andere hatten sie aufgegeben. Die Hühner versorgte sie und die Pferde der Knecht. In einem Flur, neben der Dehle waren zwei Knechtskammern. Da wohnten ein Mühlenknecht und ein Hofknecht. Die Zimmer musste ich nicht putzen, das machte die Schwester des Müllers. Die Hausfrau machte ihre eigene Wohnung selbst sauber, da blieben für mich nur die Küche, Speisekammer, Büro und die Hausflure.

Frau Sorge hatte sich alles angesehen und warnte mich vor dem Hofknecht, ihm solle ich aus dem Weg gehen. Frau Sorge sprach noch kurz mit Frau Renz, so hieß meine neue Chefin, wegen dem Fahrrad. Die meinte sie würde mich selbst zum Mädchenheim fahren, damit ich es holen könnte.

Dann ging meine Fürsorgerin und ich versprach ihr, genau aufzupassen und ihr alles zu berichten.

Es war nicht viel Arbeit die ich dort zu verrichten hatte und manchmal fühlte ich mich mehr Tochter, als Dienstmädchen. Ich verteilte mir die Arbeit über den ganzen Tag, damit ich immer etwas zu tun hatte. Da meinte Frau Renz eines Tages, ich sollte doch morgens die Arbeiten machen, dann hätte ich nachmittags frei.

Sie kochte selber und war eine mittelmäßige Köchin. Immer Samstag kochte sie Eintopf, weil sie jeden Sonntag unterwegs war. Wir konnten dann essen wann wir Hunger hatten. In dem Küchenschrank hatte sie zwei Schachteln Tabletten, die zeigte sie mir. Die blaue Schachtel war für Kopfschmerzen und das andere war "Hallo Wach". Die Wachmacher brauchte sie morgens, weil sie Abend immer aus ging. Wenn ich morgens nicht in die Gänge käme, sollte ich davon nehmen. Das brauchte ich nicht.

Meine Chefin hatte einen VW-Käfer und der Müller fuhr ein großes Auto. Sie nahm eines nachmittags das große Auto und fuhr mit mir zum Mädchenheim um mein Fahrrad zu holen. Das legte sie in den Kofferraum und fuhr mit mir wieder zurück. Ich sollte dem Müller nicht erzählen, dass wir sein Auto hatten, denn er sah das nicht gern. "Ja und wenn er es gemerkt hat?" fragte ich. "Der merkt nichts, der liegt im Bett und schläft seinen Rausch aus," gab sie mir zur Antwort.

An den nächsten Tagen wurde das zweite Heu gemacht. Da musste ich mit dem Pferd, und dem Heuwender auf die Wiese. Das Talent mit Pferden umzugehen, muss ich wohl von Papa geerbt haben, denn der war ja früher Kutscher. Es machte mir mächtig Spaß und das Pferd lief wie von allein. Das war wahrscheinlich froh, dass es aus dem Stall herauskam. Am Abend spannte der Knecht eine Maschine an das Pferd zum Reihen machen. Ich fuhr los und der Knecht kam nach mit einer Heugabel. Er musste aus den Reihen Haufen machen.

Immer wenn ich mit meiner Maschine an dem Knecht vorbei kam, machte der unanständige Bemerkung. Er forderte mich auf seine Hose zu schauen, von meiner Maschine abzusteigen und mal daran zu fassen. Der Knecht war widerlich. Ich versprach ihm, wenn ich absteigen würde, ihm eine anständige Backpfeife zu verpassen und log, dass ich Karate gelernt hätte. Von dem Augenblick an hatte ich meine Ruhe, denn er war klein und schmächtig.

Als das Heu geerntet war, hatte ich wieder reichlich Freizeit. Ich sagte meiner Chefin, dass ich vorhatte ein paar Briefe zu schreiben. "Oh ja, „ begrüßte die mein Vorhaben, "Alles was du brauchst findet du im Büro." Sie zeigte mir Papier, Briefumschlage Schreiber und wo die Briefmarken waren. Und forderte mich auf: "Nimm dir was du brauchst." Ich schrieb an Hans, und an Mutti und beschriftete die Briefumschlage.

Dann legte ich die Briefe offen auf den Küchenschrank, so wie ich es gewohnt war. In meinem Zimmer wollte ich am Abend dann noch an Frau Sorge schreiben. Am Sonntag konnte ich den Brief mit zum Mädchenheim nehmen, wo ihn dann die Heimleiterin abschicken würde. So hatte es Frau Sorge mit mir ausgemacht.

Als Frau Renz in die Küche kam, sah sie die Briefe auf dem Küchenschrank und fragte: "Kleb deine Post zu, oder schickt man bei euch die Post offen ab?" "Wollen sie die Briefe denn nicht zuerst lesen?" fragte ich freundlich. "Denkst du, ich lese deine Post?" fragte sie entrüstet. "Also kleb die Briefe zu, der Briefkasten ist gleich um die Ecke."

Am Abend schrieb ich noch an Frau Sorge. Ich berichtete von Herrn und Frau Renz, von der Schwester, die meiner Meinung einen "Knall" hatte, und von dem Knecht, der höchst seltsam war. Die Sägemühlen- Arbeiter, waren alle "Kötter" die in Häusern ihres Chefs wohnten. Sie waren zwar verheiratet, hatten aber immer ein dummes Geschwätz. Der einzige der mir nie unangenehm auffiel, war der Mühlenknecht. Den Brief schickte ich am nächsten Tag ab.

Mit Fräulein Renz, der Schwester des Müllers, wusch ich alle zwei Wochen die Wäsche. Sie machte die Arbeit in der Waschküche, dort hatte sie eine Waschmaschine und ich musste an den Fluss die Wäsche spülen. Ich musste aufpassen dass mir kein Wäschestück wegschwamm, sonst wären die in die Mühlräder gelangt, und die Mühle hätte nicht mehr funktioniert.

Ich bekam eine wunderbare Stelle als Kindermädchen

 

Fräulein Renz hatte wirklich nicht alle Tassen im Schrank. Als ich einen Korb Wäsche gespült hatte, kam ich damit in die Waschküche um die mit der Wäschepresse auszupressen. Sie hatte irgendein nasses Kleidungsstück in den Händen. Damit tanzte sie im Walzertakt mit ihren Gummistiefeln durch die Waschküche. Als ich an die Wäschepresse ging, erschrak sie.

In der nahen Stadt, waren zwar Anstalten für Geisteskranke, aber soweit ich wusste war das doch nicht ansteckend. Wenn ich mir aber diese Hausgemeinschaft ansah, zweifelte ich daran. An meiner Zimmertür benutzte ich fortan nicht nur den Schlüssel, sondern auch den Riegel.

Ich war schon lange im Zimmer, da kam Fräulein Renz die Treppe herauf und lachte laut. Als sie dann in ihrer Wohnung war, rief sie laut "Juhu". Die Wäsche brachten wir am nächsten Tag in die Mangelei. "Gebügelt wird bei uns nicht," bestimmte meine Chefin.

Eines Tages bekam ich Post von Mutti. Frau Renz drehte den Brief um und las den Absender. "Es macht mir nichts aus, wenn sie den Brief lesen möchten“, sagte ich zu ihr. "Nein, „ antwortete sie, "ich habe nur nach dem Absender geschaut, ist das deine Pflegemutter?" Ich nickte und steckte den Brief in die Tasche. Sie drängte ich sollte den Brief doch lesen während dessen wollte sie den Tisch eindecken. Als ich den Brief gelesen hatte, fehlte der Briefumschlag und meine Chefin meinte, sie hätte ihn wohl versehentlich ins Feuer geworfen.

Am Sonntag schrieb ich in meinem Zimmer wieder an Frau Sorge, und weil es nicht viel Neues gab, schrieb ich auch von dem seltsamen Verschwinden des Briefumschlages. Umgehend bekam ich Antwort von ihr: Es sei den Herrschaften der Mädchen nicht erlaubt In unserer Vorgeschichte nachzuforschen. Ich sollte die Augen offen behalten und darauf achten ob sie an Mutti schrieb.

Mir fiel nichts auf, und ich passte verschärft auf, wenn der Briefträger kam. Dann sah ich die Post immer durch. Für den Müller machte ich Kleinigkeiten im Büro und Frau Renz war froh darüber, weil dazu hatte sie keine Lust.

Als der Müller wieder mal nicht da war, kam Frau Renz mit mehreren Paar Schuhe in die Küche. Sie probierte alle an und ich sollte sagen, welche an ihrem Fuß am besten aussahen. Ich suchte zwei Paar aus und betonte, dass es aber nur meine Meinung sei. Da nahm sie beide Paar und bat mich nichts zu ihrem Mann zu sagen. Die anderen Schuhe musste ich zurück bringen.

In der Mühle war an einem Tag viel zu tun. Es mussten viele Säcke verladen werden. Da bat mich der Müller mit zukommen und die Seilwinde zu bedienen. Das war nicht schwer, und ich machte das gut. Es wurden die Säcke an einen Haken gehängt und dann mit der Seilwinde hinunter auf ein Fahrzeug gelassen.

Als wir nach ein paar Stunden alles verladen hatten, lobte mich der Müller und meinte ich sollte nur da bleiben. Nachdem er nun so viele Säcke verkauft hatte, fehlte es ihm an leeren Säcken. Der Mühlenknecht brachte ein Bündel alte Säcke, die aber alle Löcher hatten. Wenn ich ihm die Säcke flicken wollte, meinte der Müller würde er mir für jeden Sack fünfzig Pfennig zahlen. Speziell für den Zweck hatte er eine große Nähmaschine. Er zeigte mir, wie die Maschine funktionierte und versprach mir, immer wenn ich Zeit hätte, könnte ich daran arbeiten.

Nachmittags saß ich nun oftmals in der Mühle und verdiente mir damit ein schönes Extra-Geld. Davon wollte ich mir eine sportliche Jacke kaufen, die wäre praktisch fürs Radfahren.

An einem Nachmittag machte ich einen Bummel durch den kleinen Ort. Den Geschäften nach war es schon fast eine kleine Stadt, aber den Häusern nach war es ein Dorf. Ich entdeckte einen Laden, der hatte Bekleidung und alles was man zum Handarbeiten brauchte. Da sah ich zum ersten mal Schnittmuster für Kleider.

Ich dachte an den Stoff, den ich zu Weihnachten bekommen hatte und fragte die Verkäuferin wie man denn damit näht. Sie erklärte es mir ganz genau, so kaufte ich ein hübsches Muster für ein Kleid, ein Maßband, Seidenpapier und einen Rotstift. Garn brauchte ich nicht, denn das war in dem kleinen Nähzimmer massenhaft vorhanden.

Den Sonntag verbrachte ich damit mein Schnittmuster herzustellen. Da musste ich wieder an Mama denken, die jeden Tag so schöne Sachen genäht hatte. Ich war mir sicher ich hatte das Talent dafür.

Als ich die Schnittteile alle aus Papier gefertigt hatte, arbeitete ich haargenau nach der Anleitung und schnitt alle Teile zu. Mit dem Stift machte ich mir Notizen auf dem Papier und legte das zugeschnittene Kleid zur Seite, denn nähen wollte ich es am nächsten Sonntag.

Meine Chefin hatte in ihrer Speisekammer immer eine große Schüssel Eier, denn sie hatte einige Hühner. Es kamen vorwiegend Leute aus der Stadt, die hier bei ihr Eier, und beim Müller kleine Säckchen Mehl kauften. Zudem hatte sie auch mehrere Kisten Bier dort stehen, wer ein Bier wollte musste das Geld in eine kleine Schüssel legen. Ich trank ja kein Bier, aber die Knechte und Sägemühlen-Arbeiter holten sich oftmals ein Bier.

Wenn ich allein war, achtete ich darauf, dass jeder sein Bier bezahlte. Eines Nachmittags kam ein Mann aus der Stadt mit dem Fahrrad um Eier zu kaufen. Chef und Chefin waren nicht da und ich verkaufte ihm die Eier. Während ich die in Zeitungen einwickelte wollte der Mann ein Bier. Ich gab es ihm und er trank es schnell aus, bezahlte alles und versprach bald wieder zu kommen. Er hätte einen schönen Sohn, den er mir zeigen wollte. Langsam war ich mir sicher, dass hier alle bekloppt waren.

Am Sonntag nähte ich mein Kleid genau nach Vorschrift. Ich nähte die Teile zusammen, trennte sie wieder auf, nähte es wieder neu zusammen, bis es am Ende fertig war. Es fehlte nur der Saum. Den würde ich in der Woche unten machen in meiner Freizeit. Frau Renz bewunderte mein Kleid, es war auch wirklich schön geworden. Sonntags wartete ich immer auf Hans, aber er kam nicht. Er antwortete auch nicht auf meine Briefe, aber das konnte ich verstehen, denn seine Stiefmutter hatte ja erzählt, dass er in der Schule immer der dümmste war.

Als an einem Abend wieder alle ausgegangen waren, kam tatsächlich der Mann mit dem Fahrrad. Er hatte seinen Sohn dabei. Er wollte erneut Eier kaufen und für sich und seinen Sohn ein Bier. Ich konnte nichts an dem Sohn finden was schön sein sollte, und packte die Eier ein. "Was machen sie mit so viel Eier," fragte ich und fügte ironisch hinzu: "Pflanzen sie die im Garten ein?" Das fand er so lustig, dass er und sein Sohn laut lachten.

Das lockte die Schwester vom Müller an, die wollte auch mit lachen. Sie setzte sich mit an den Tisch und alle tranken noch mindestens drei Bier. Damit ich nachher nicht um das Geld betteln musste, ließ ich mir alles was ich brachte gleich bezahlen. Langsam kam ich mir vor wie im Wirtshaus.

Natürlich hätte ich auch mit trinken sollen, aber ich sagte, dass ich mich übergeben müsste, wenn ich das nur riechen würde. "Dann trink doch Malzbier," schlug Fräulein Renz vor, "das schmeckt gut." Sie holte ein Malzbier und der Mann bezahlte. Ich war sparsam mit meinem Getränk und brauchte keine zweite Flasche. Langsam schickten sich die beiden an, sich auf den Heimweg zu machen. An der Haustür sagte der Mann: "Na, gefällt dir mein Peterchen? Er ist doch ein schöner Junge, nicht wahr?" "Ja ganz nett," sagte ich, um ihn nicht zu verärgern, schob die zwei zur Tür hinaus und schloss ab.

Fräulein Renz war wieder in Stimmung und ging singend und tänzelnd vor mir die Treppe hinauf.

Ich verriegelte meine Tür sorgfältig, denn die Schwester meines Chefs kam mir nicht "ganz dicht" vor.

Einmal fuhr ich mit dem Fahrrad, Onkel Heini und Tante Minna besuchen. Vor allen Dingen hatte ich vor, mein selbst genähtes Kleid vorzuführen. Ich wollte auch mal hinfahren, ohne etwas zu wollen. Sie freuten sich über meinen Besuch. Leider konnte ich nicht lange bleiben, denn der Rückweg ging wieder bergauf und da musste ich eine Stunde mehr rechnen. Bei ihm schickte ich wieder einen Brief an Frau Sorge ab. Als ich ging, fand Tante Minna den Nachmittag besonders lustig, denn ich hatte ausgiebig von allen im Haus berichtet.

Es war schon Abend als ich heim kam und wurde gleich von meinen "Freunden" aus der Stadt begrüßt. Frau Renz hatte sie bestens mit Alkohol versorgt, und sie aufgefordert doch noch ein wenig zu warten, ich müsste bald kommen. Peterchen hatte mir ein Geschenk mitgebracht, und ich sollte das Päckchen gleich aufmachen.

In diesem Augenblick kam die Schwester vom Müller, sie wollte noch ausgehen und wollte dazu unbedingt meine "Silberschuhe" anziehen. Damit meinte sie die Schuhe, die ich zu meinem taubenblauen Kleid gekauft hatte. Sie waren graphitlackfarbig und schillerten leicht silbern. Ich holte ihr die Schuhe.

Während der Zeit hatte der Vater vom Peterchen das Paket schon aufgerissen er konnte nicht abwarten. Dabei hatte ich überlegt wie ich das Geschenk abweisen könnte, ohne beleidigend zu wirken.

Er hatte mir einen wunderschönen Rock gekauft, ganz so, wie es die jungen Mädchen jetzt trugen. Der Rock war aus feiner Popeline in der gerade neuen Modefarbe jeansblau. Die untere Hälfte hatte rings einen breiten Einsatz mit hellgrauem Untergrund. Darauf war alles, was so gab, Häuser, Bäume, Tiere und Menschen. Ich habe nie wieder so ein schönes Muster getroffen. Meine Begeisterung ließ ich mir nicht anmerken. Also sträubte ich mich, diesen Rock anzunehmen. Frau Renz und ihre Schwägerin meinten, ich sollte doch nicht dumm sein, da ich doch ohnehin nicht viele Kleider hätte.

Peterchen wollte mich unbedingt ins Kino einladen es wurde der Film "Das einfache Mädchen", mit Caterina Valente gespielt. Von dem Film hatte Hans mir schon erzählt, er hatte ihn in Herford gesehen. Schließlich sagte ich zu, für den übernächsten Sonntag, nahm den Rock und verschwand in mein Zimmer. Der Rock war ein Traum, er war schön weit, und in der Länge gerade richtig. Peterchen, passte überhaupt nicht in meine Träume, er war schüchtern und nicht der Hellste, mit ihm würde ich fertig werden. Sein Vater war genau das, was ich mir unter "Dick und Doof" vorstellte, dabei war er nicht der dicke.

Es ärgerte mich, dass niemand mich unterstützt hatte, als ich den Rock nicht annehmen wollte. Anderseits hätte ich mir wohl nie einen so teuren Rock selber gekauft. Ich wollte mir einen passenden Anorak kaufen, denn es wurde Herbst und da war es schon frisch auf dem Fahrrad. Anoraks waren jetzt das Neuste, für junge Mädchen und praktisch waren sie auch.

An einem der nächsten Tage, war ich wieder allein im Haus. Die beiden Frauen waren ausgegangen. Die Männer in der Sägemühle lästerten schon über die jugendliche Müllerin. Dem Müller schien es, jedenfalls nach außen hin, nicht zu stören, er tröstete sich mit der Steinhäger-Flasche. Er kam in die Küche mit seiner Schnapsflasche, und jammerte mir die Ohren voll. Er sei immer allein und arm dran mit seinem großen Betrieb, ohne Kinder. Nebenbei trank er fleißig an seinem Steinhäger, obwohl der, am nächsten Tag noch genauso gut gewesen wäre.

Ich sollte doch auf jeden Fall bleiben, alle anderen Mädchen seien wieder weg. Aus mir wollte er eine gute Müllerin machen. Dann wollte er unbedingt dass ich mit ihm Brüderschaft trank. Weil ich keine Ahnung hatte, was das sein sollte, goss ich mir einen Steinhäger ein und trank mit ihm. Dann verlangte er, dass ich ihn küssen sollte, das gehörte dazu. Er widerte mich an und ich war froh, dass seine Schwester gerade zur Tür herein kam.

Die sollte mir erklären, was Brüderschaft trinken war, wollte der Müller. Ja ich müsste ihn noch küssen bestätigte seine Schwester. Schließlich küsste ich ihn auf die Backe und verschwand mit seiner Schwester ins obere Stockwerk. Die lachte wieder schallend, und er rief mir noch irgendetwas nach. Ich verstand kein Wort und sagte: "Morgen wieder."

Langsam hatte ich den Hals voll. Zwar durfte ich hier das Telefon benutzen, aber ich hatte das noch nie gemacht, weil ich mir nie sicher war, ob Frau Renz plötzlich ins Büro kam. Also machte ich mir einen Plan. Diese Woche würde ich noch über die Runden bringen, aber am Sonntag würde ich ins Mädchenheim fahren. Der Heimleiterin wollte ich alles erzählen ,und von da aus Frau Sorge anrufen. Das Frau Sorge aber am Sonntag nicht im Büro war, bedachte ich nicht. Wenn ich dann früh genug zurück kam, konnte ich noch mit Peterchen ins Kino gehen. Den Film wollte ich mir nicht entgehen lassen.

Bis Sonntag wollte ich durchhalten, und am Montag sollte Frau Sorge mich holen.
Dann ging alles Schlag auf Schlag.

In dieser Woche war ich besonders aufmerksam. Wo ich konnte ging ich dem Chef aus dem Weg. Bei Frau Renz hatte ich den Eindruck, dass sie von ihrer Schwägerin vom Sonntagabend erfahren hatte. Aber ich war ja nicht schuldig an den Peinlichkeiten.

Sie war irgendwie seltsam mir gegenüber. An einem Nachmittag ging ich, mir die Jacke zu kaufen. Da wählte ich mir einen Anorak aus, der farblich zu dem Rock vom Peterchen passte. Die Jacke zeigte ich Frau Renz, sie fand das Kleidungsstück schön, wollte aber wissen ob ich sie bezahlt hätte, oder ob sie noch zum zahlen in den Laden müsste. "Ich habe die Jacke von dem Geld gekauft, das ich mir in der Mühle fürs Säcke flicken bekommen habe." gab ich ihr zur Antwort. Vielleicht war das auch nicht richtig, es war durchaus möglich, dass die Müllersfrau das gar nicht wissen sollte.

Die Woche hatte ich fast geschafft und es war Freitag. Da kam der Briefträger und gab mir die Post. Ich sah die Briefe durch und erkannte die Schrift von Mutti auf einem Umschlag. Den Brief steckte ich gleich in meine Schürzentasche. Als ich dann nachmittags mit meine Arbeit fertig war, ging ich auf mein Zimmer um den Brief zu lesen. Ich zog ihn aus der Tasche, und merkte, dass er gar nicht für mich war. Mutti hatte an meine Chefin geschrieben und das war nicht erlaubt. Den Brief steckte ich in meine Handtasche, ich wollte ihn am Sonntag mit zur Heimleiterin nehmen.

Am Samstagabend fragte die Chefin was ich am Sonntag vor hatte.
"Ich werde ins Mädchenheim fahren, Schwester Marie besuchen, und die Heimleiterin. Dann gehe ich vielleicht noch bei der alten Dame vorbei. Für den Nachmittag habe ich mich mit Peterchen am Kino für die Nachmittags-Vorstellung verabredet." Ich sagte immer wohin ich ging, darum war das ganz normal. "Dann hast du ja volles Programm" meinte sie.

Am Sonntag fuhr ich frühzeitig fort. Ich hatte Peterchens Rock an, und die neue Jacke.

Es war zeitig, als ich im Heim ankam, darum ging ich mit den anderen in die Kirche. Anschließend meldete ich mich bei Schwester Marie zum Essen an, und ging zuerst zur Heimleiterin. Heute schien alles schief zu laufen. Die Schwester hatte frei, das war mir aber neu, ich dachte sie doch noch nie frei.

Also ging ich zurück zu Schwester Marie. Ihr erzählte ich weshalb ich gekommen war. Sie wollte gleich morgen früh zu ihr gehen. Dann nahm sie den Brief und machte ihn auf. Tatsächlich hatte Mutti an Frau Renz geschrieben: Sie bedankte sich für ihren Brief und wollte ihr die Fragen beantworten. Dann zählte sie alle die Schadtaten auf, die ich verbockt haben sollte. Zum Schluss hatte sie allerdings bemerkt, dass ich aber bei meinem letzten Besuch, einen guten Eindruck bei ihr hinterlassen hatte.

"Das ist aber gar nicht erlaubt, dass deine Chefin an deine Mutti schreibt." bemerkte die Schwester und nahm den Brief an sich. Das wird die Leiterin aber sehr interessieren.
Nach dem Essen ging ich zu der alten Dame, mit ihr trank ich noch eine

Tasse Kaffee. Pünktlich machte ich mich auf den Weg, zum Kino in der Stadt.

Der Film war schön, und Peterchen viel zu schüchtern um mich anzufassen. Ich dachte: Morgen holt mich Frau Sorge und dann habe ich einen schönen billigen Rock.

Peterchen wollte Kavalier sein und begleitete mich ein großes Stück auf meinem Heimweg, mit seinem Fahrrad. Als die ersten Häuser von meinem Dorf auftauchten, bedankte ich mich bei ihm für sein Geleit. Überglücklich drehte er sein Fahrrad und fuhr in der anderen Richtung zurück in die Stadt.

Mein Fahrrad brachte ich gleich in die Dehle, und kam von da aus in die Küche. Frau Renz, die da ich frei hatte im Haus geblieben war, unterhielt sich mit ihrer Schwägerin, die ihr Gesellschaft leistete. Sie schienen über mich zu sprechen, denn als ich durch die hintere Küchentür herein kam, war die Unterhaltung vorbei.

Mir kam es vor, als würde ich einen Gerichtssaal betreten. Frau Renz wollte wissen wo ich mich den ganzen Tag herumgetrieben hatte. Ich zählte auf, der Reihe nach, und sie nannte mich eine Lügnerin. Mein Bruder war da und wollte mich besuchen. Sie hatte ihm gesagt, dass ich zum Mädchenheim, Schwestern besuchen sei. Daraufhin war er mit seinem Motorrad zum Mädchenheim gefahren. Dort hatte er mehrere Schwestern nach mir gefragt, und keine hatte mich nicht gesehen. Also sei klar, dass ich gar nicht dort war.

Ich wollte mich verteidigen und bat sie doch im Heim anzurufen. Das hatte sie schon, und die Heimleiterin sei gar nicht dort gewesen. Das wusste ich ja aber sie ließ mich gar nicht zu Wort kommen und war fest davon überzeugt ,dass ich gelogen hatte. Mein Bruder sei auch ganz enttäuscht von mir.

Als sie sich dann etwas beruhigt hatte, schöpfte ich mir einen Teller Eintopf, setzte mich an den Tisch und glaubte nun auspacken zu müssen: "Übrigens ist es verboten heimlich in unserer Vergangenheit nachzuforschen. Deshalb war ich heute im Heim." Sie wurde blass vor Schreck und keuchte: "Hast du etwa einen Brief von deiner Mutter unterschlagen?" "Ja schon," sagte ich ein wenig kleinlaut, denn es kam mir jetzt auch nicht mehr so richtig vor. Ich fuhr fort: "Ich hatte geglaubt er sei an mich, als ich merkte, dass er für sie war, wollte ich ihn der Heimleiterin geben, die leider frei hatte."

Plötzlich wurden die beiden Frauen zu Furien. Sie schrien mich an und jagten mich auf mein Zimmer, ich sollte dort meinen Koffer packen und ja nicht mehr herunter kommen bis man mich abholte. Fräulein Renz kam mir nachgelaufen und holte meine Schuhe, die sie noch hatte. Die Schuhe stellte sie gleich neben die Tür und sagte: "Hier, deine Silberschuhe." Dann machte sie die Tür wieder zu und schloss von außen ab.

Irgendwie war alles schief gelaufen, ich hätte doch Frau Sorge vorher informieren wollen. Wie stand ich denn jetzt wieder da. Ich packte meinen Koffer und hatte Schwierigkeiten, alles hinein zu bekommen. Meine Sachen wurden immer mehr.

Ich grübelte noch lange in meinem Zimmer und machte das Fenster auf, es wäre leicht gewesen da hinaus zu springen. Das Fenster hatte keine Gitter und unter dem Fenster war der Garten. Dann hätte ich aber jemanden gebraucht, der mir mein Fahrrad geholt hätte. Die Türen waren ja schon alle geschlossen. Ich ließ es sein, und hoffte morgen früh ans Telefon zu kommen. Dann wollte ich Frau Sorge anrufen.

Die Nacht kam mir unendlich vor. Sorgfältig schaute ich noch einmal in alle Schubladen um sicher zu sein, dass ich nichts vergessen hatte. Dann brachten sie zu zweit das Frühstück ins Zimmer. Sie hatten Angst vor mir, denn der Knecht hatte erzählt, dass ich Karate konnte. Dabei konnte ich nur einen Griff, und den hatte mir mal jemand aus Spaß beigebracht. Sie hatten also den Kaffee und ein Brot in der Hand, und warteten, dass ich es ihnen abnahm. "Ich will Frau Sorge anrufen." sagte ich bestimmt. So wurde ich zu zweit und streng bewacht ans Telefon geführt. In der Küche saß der widerliche Knecht. Der traute sich jetzt wieder in die Küche.

Als ich Frau Sorges Nummer gewählt hatte, meldete sich jemand anderes: "Frau Sorge ist schon weggefahren, sie hat einen Notfall." Ich legte auf und hoffte der Notfall zu sein. Dann wurde ich wieder hinauf geführt. Ein Schelm in mir sagte: Zeig es ihnen. Vor der Zimmertür, machte ich eine ruckhafte Drehung nach rechts und hob blitzschnell den rechten Arm. Die beiden Frauen liefen vor Schreck, oder Angst die Treppe hinab und vergaßen abzuschließen.

Es dauerte eine Weile da knackste leise die Treppe. Jetzt machte es mir Spaß die Frauen zu ärgern. Mit besonders lauten und strammen Schritten ging ich Richtung Tür. Hastig wurde der Schlüssel gedreht, und auf der Treppe hörte ich das blöde Lachen von Fräulein Renz. Eine Stunde musste ich mich noch gedulden, dann kam Frau Sorge und erlöste mich.

Mit Frau Renz hatte sie schon gesprochen, dann kam sie mit ihr die Treppe herauf, und Frau Renz schloss die Tür auf. Als Frau Sorge in mein Zimmer kam, konnte ich nicht anders, ich fiel ihr vor lauter Freude um den Hals. "Ach Kindchen", sagte sie bedauernd, "und ich habe geglaubt du hältst es noch bis Dezember aus. Da hätte ich dir so eine schöne Stelle gehabt. Jedes unserer Mädchen ist mit 21 Jahren, dort ungern gegangen.

Ich nahm meinen Koffer und meine Taschen, Frau Sorge nahm den Mantel. Wir gingen durch die Küche sagten allgemein "Auf Wiedersehen", und gingen zum Auto.

"Mensch Anneliese, „ sagte die niedergeschlagene Fürsorgerin, "Kauf dir doch endlich mal einen neuen Koffer und einen Mantel, der dir passt." Ich brachte mein Fahrrad und Frau Sorge legte es in den Kofferraum. Das Vorderrad schaute heraus, und die Klappe vom Kofferraum ging nicht zu. Da nahmen wir einen Bindfaden und banden den Deckel fest. Wir stiegen ins Auto ein und sie meinte: "Die kann sich ihre Mädchen in Zukunft von der Konkurrenz holen." Wen meinen Sie denn mit der Konkurrenz?" "Von mir aus, das Frauen Gefängnis, oder die Irrenanstalt." war ihre Antwort. "Aber gut gezahlt hat sie.“

Wir fuhren los, auf die Landstraße Richtung Stadt. Als wir durch die Stadt fuhren, sagte sie zu mir, "Dein Peterchen ist doch gar nicht gefährlich, du bist ein kluges Mädchen, triff dich doch ruhig mit ihm. Bei einem Kinobesuch, kann die nichts passieren. Mir würde es gefallen, wenn du Abwechslung hast." Darauf wollte ich ihr keine Antwort geben. Wir kamen in dem Mädchenheim an. "Nein, nicht schon wieder“, kam es verzweifelt von mir. "Willst du lieber wieder zum Müller?" fragte sie. "Nein, schrie ich, "aber nicht schon wieder ins Heim, das sieht ja so aus, als ob ich nichts tauge!"

Frau Sorge zog mich mit in die Verwaltung. Die Oberschwester sah mich und fragte erstaunt: "Was machst du schon wieder hier, du warst doch gestern erst hier. "Es tut mir leid, dass ich nicht hier war, aber ich habe den Brief bekommen." "Also hast du doch die Wahrheit gesagt, Frau Renz hat behauptet, du warst nicht im Mädchenheim." Frau Sorge regte sich auf und es tat ihr leid, dass sie der Müllerin geglaubt hatte. Die Schwester aus der Verwaltung stellte klar: "Niemand muss seine Freizeit hier verbringen. An euren freien Tagen könnt ihr machen was ihr möchtet, solange es anständig ist. Das geht die Herrschaften nichts an."

Dann kam sie auf mich zu und meinte: "Bis Weihnachten bleib ganz einfach bei uns. Die Stelle die wir dir reserviert haben, bleibt dir. Da wird es dir gut gefallen. Bis dahin freut sich Schwester Anna auf dich. "Mann, wieder Waschküche, immer werde ich bestraft wenn ich nichts gemacht habe." Ich war richtig unzufrieden.

Schwester Anna kam um mich abzuholen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. "Dich schickt der Himmel," sagte sie. Verwirrt kam es von mir: "Ich glaube eher der Teufel." Die Schwester nahm meinen Koffer, was mir sehr peinlich war, und ich trug die übrigen Sachen. Wir trugen meine Sachen die Treppe hinauf in die Kleiderkammer. Dann versorgte sie mich mit dem Nötigsten und ich wartete, dass sie mir mein Zimmer zuwies. "Ich habe kein Zimmer für dich," gestand sie, "Ich habe dir ein Bett ins Bastelzimmer stellen lassen. Wir sind alle überfüllt, es wird Winter und die Mädchen von der Straße werden eingeliefert." Was musste ich noch alles mitmachen, fragte ich mich.

Viele der Mädchen kannte ich noch vom letzten Mal. Die waren immer noch hier. Auch das Hausmädchen war noch das gleiche. Die kam dann auch gleich um den Tisch zu decken. Nebenbei sagte sie: "Den Kragen habe ich wieder aufmachen müssen, ich habe ihn neu gestrickt. Das kann ich eben besser als du." "Mein Talent liegt eben woanders," antwortete ich zickig. Sie sah ,dass ich gereizt war, und ließ mich in Ruhe.

Nach dem Essen gingen alle zur Mittagspause in ihre Zimmer. Da ich keines hatte, blieb ich sitzen. Das Hausmädchen ging zum Spülen. ich half ihr das Geschirr hinab tragen. "Ich werde demnächst hier unten schlafen im Bastelraum", mein Zimmer bekommst du dann," gab sie an. Zwar wusste ich es besser, aber ich tat so als ob ich sie bewunderte.
Dann kam Schwester Anna. Sie hatte ein Stückchen Stoff und eine Mustervorlage für Durchbruch mit Weißstickerei. Ich sollte gucken ob ich das Muster hin bekäme. Solche anspruchsvollen Arbeiten liebte ich. Sorgfältig zog ich zuerst die Fäden für den Durchbruch, dann fing ich mit dem komplizierten Muster an.

Ich bekam richtig rote Backen vor lauter Eifer. Meinen Ärger hatte ich schon vergessen. Schwester Anna bewunderte meine Arbeit. Dann erzählte sie, dass sie einen Auftrag aus Passau hatte für eine Tafeldecke mit diesem Muster. Das schlimmste sei, dass die bis Weihnachten fertig sein musste. "Kannst du das schaffen?" "Wenn ich nichts anderes mache, dann sicher," machte ich ihr Hoffnung.

Wir gingen in den Bastelraum. "Hier kannst du in Ruhe arbeiten, es wird dich niemand stören, und wenn du die Arbeit aus der Hand legst, kannst du sie auf dem Tisch liegen lassen. Du kannst das Licht an- und ausmachen wann du willst." Die Schwester schaute mich fragend an. "Ja in Ordnung, dann fange ich gleich an." Vom Speiseraum ging es vier Stufen hinunter. Der Bastelraum war ein mittelgroßer Raum mit einem großen Tisch und etwa zehn Stühlen. An die Seite hatte sie mein Bett gestellt. Nur ein ca. 80 cm hohes Geländer trennte den Raum von Durchgang und Speisesaal. Ich war also nicht eingesperrt oder allein.

Da suchte ich mir einen hellen Platz und fing sofort an, Fäden zu ziehen und abzuzählen. Die Fläche wo das Muster hin sollte, war mit Kohlestift angezeichnet. Also begann ich die erste Reihe einmal um die ganze Fläche. Als die Reihe Fäden gezogen waren, war es schon Zeit fürs Abendessen. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, dass die Decke bis Weihnachten fertig wurde. Den ganzen Nachmittag hatte ich Fäden gezogen für eine Reihe, und noch keinen Stich gestickt.

Schwester Anna wollte sehen was ich gemacht hatte, und fragte: "Warum machst du nicht zuerst die Muster in den vier Ecken?" "Weil ich Angst habe, dass wenn ich dann die Ecken miteinander verbinde, die Fäden nicht aufeinander treffen. Das ist mir nämlich schon einmal bei einer kleineren Decke passiert." Ja das leuchtete ihr ein. Am Abend fing ich noch mit der ersten Ecke an. Die Kanten mit den abgeschnittenen Fäden wurden mit Knopflochstich befestigt, und dazwischen gab es viel Kreuzstich. In der Ecke, wo die Seiten aufeinander trafen, musste ich eine Spinne einarbeiten.

Als ich abends um zehn Uhr die Arbeit weglegte, war das erste Muster halb fertig und sah schon sehr schön aus. Schwester Anna hatte mich gebeten um zehn Uhr ins Bett zu gehen. Weil dann der Nachtwächter seine erste Runde machte. Daran wollte ich mich auch halten.

Morgens stand ich zeitig auf. Unten waren die Klos und ein Waschraum. Dort wusch ich mich und kleidete mich an. Bis die anderen kamen, war ich schon wieder an der Arbeit.

Am 2. Advent hatte ich alle Ecken fertig, aber die Decke noch lange nicht. An den langen Seiten war auch noch je ein Muster eingeplant. Schwester Anna schaute besorgt, und ich hatte Angst es nicht zu schaffen. Als der dritte Advent um war, legte ich Sonderschichten ein. Ich wollte jetzt bis Mitternacht arbeiten. Es war elf, da klopfte der Nachtwächter. Ich sagte nichts und ging auch nicht ans Fenster.

Da klopfte er bei Schwester Anna, die kam ganz entsetzt, halb Schwester, halb Nachtgespenst und schaute, warum ich nicht im Bett war. "Ich will diese Decke fertig bekommen, was soll die Kundin denn von uns denken!" Sie sagte dem Nachtwächter warum das Licht noch brannte und bat ihn, bis Weihnachten nicht mehr zu klopfen. So arbeitete ich weiter ohne große Pause an der Tischdecke.

Ich wollte pünktlich fertig werden, obwohl ich gar nichts dafür bekam. Es war mein unbeschreiblicher Ehrgeiz, der mich nicht schlafen ließ. Am vierten Advent war die Decke fast fertig, ich war am Hohlsaum. Schwester Anna wollte den Saum schon mit Maschine machen, da bat ich sie die Ecken mit der Maschine zu machen. Ich versprach ihr den Hohlsaum würde ich bis zum nächsten Morgen fertig haben. Dann arbeitete ich die ganze Nacht durch.

Um fünf Uhr früh, klopfte der Nachtwächter energisch an das Fenster. Ich machte das Fenster einen Spalt auf, und versprach ihm ab morgen das Licht pünktlich zu löschen. "Wenn ich dich noch einmal mit Licht erwische, melde ich es in der Verwaltung," versprach er. Als die anderen aufstanden, war die Decke fertig und ich schlief in meinem Bett.

Das Hausmädchen kam mich zu wecken, aber ich tat, als hörte ich sie nicht. Da kam Schwester Anna ihr Blick fiel auf die Decke, die schön zusammen gefaltet auf dem Tisch lag. Sie machte das Tischtuch auseinander und freute sich: "Sie ist fertig!" Ich sollte ausschlafen und sie ging mit den Mädchen in die Wäscherei. Mittags weckte mich das Hausmädchen, ich sollte ganz schnell in die Waschküche. "Geh schnell im Nachthemd, die Schwester will dir nur etwas zeigen." Die fertig gewaschene und gebügelte Decke hatte sie auf dem großen Tisch ausgebreitet. "Das musst du gesehen haben, da muss ich ein Foto von machen," jubelte sie.

Dann legten wir die Decke gemeinsam zusammen und Schwester Anna fing an, sie einzupacken. Ich war so übermüdet, und verschlief fast den ganzen Tag. Am nächsten Morgen bekam ich von der Schwester und der Heimleitung ein großes Stück von dem gleichen Stoff. Dazu das passende Garn, ich war richtig glücklich.

Nach dem Mittagessen, sagte Schwester Anna: "Komm, Kofferpacken oder willst du hier versauern?" Ich musste heulen und schluchzte: "Vor Weihnachten will ich nirgends hin, kein Mensch kann ein fremdes Mädchen brauchen, an einem Familienfest." Unter Tränen packte ich meinen Koffer. Ich wäre so gern über Weihnachten geblieben. Die Schwestern hier kannte ich, und auch die Mädchen. Ich mochte zwar nicht alle, aber das war ja auch umgekehrt so.

Dann kam Schwester Anna mit meinem Mantel. Als ich den anzog, meinte sie "das geht gar nicht." Also zog ich den Anorak an. Sie schüttelte den Kopf und konnte nicht verstehen, dass ich mir ein schönes Fahrrad gekauft hatte aber keinen Mantel. "Das können sie nicht verstehen," verteidigte ich meinen Mantel. "Wenn ich wieder komme, werde ich es ihnen erklären," fügte ich hinzu. "Wenn du noch einmal kommst," regte sich die Schwester auf, "wirst du drei Monate nur Kragen scheuern." Dann schob sie mich Richtung Haustür, wo sie einen Handwagen für mein Gepäck hatte. "Mach dass du in die Verwaltung kommst, da wartet schon jemand auf dich, und vergiss dein Fahrrad nicht."

Heulend zog ich den Kullerwagen zur Verwaltung und rechnete damit, dass Frau Sorge dort auf mich wartete. Ich wollte mein Fahrrad holen, aber die Heimleiterin wollte, dass ich es im Frühjahr hole, wenn das Wetter besser ist, jetzt würde ich es gar nicht gebrauchen. Dann kam eine junge Frau auf mich zu, und streckte mir die Hand entgegen. "Ich bin gekommen um dich abzuholen," sagte sie freundlich zu mir. "Wenn du mitkommst, dann sind wir vollzählig und können den Christbaum schmücken. "Komm, wir warten schon seit drei Tagen auf dich." Die Heimleiterin erzählte, dass ich eine große Decke gefertigt hatte, und nicht gehen wollte, bevor die fertig war.

Ich verabschiedete mich und die junge Frau hakte sich bei mir ein und führte mich die Treppe hinunter. Dann luden wir mein Gepäck ein. "Ich bin Frau Herzig, und du bist Anneliese nicht wahr?" Die Frau stieg ins Auto und lud mich ein, auf dem Sitz neben ihr Platz zu nehmen.

Inzwischen war ich misstrauisch geworden, so hatte ich mir vorgenommen zurückhaltend zu sein. Der Weg war zum Glück nicht so weit. Aber ich hatte bemerkt, dass wir wieder durch die Stadt kamen, wo Peterchen wohnt. Wir fuhren aus der Stadt heraus, und sie bog gleich in einen schmalen Weg ein, der direkt zu ihrem Hof führte. Der Hof war sehr groß und schön. Wir stiegen aus und ließen die Sachen im Auto. "Die Sachen wird Heini holen, unser eine Lehrjunge," bestimmte sie und fuhr fort, "eigentlich heißt er Werner, aber wir haben noch einen Lehrling der heißt auch Werner, drum heißt er Heini."

Da erzählte ich, dass wir auch mal zwei Anneliese´s hatten, und ich dann Clara war. Wir gingen durch die Dehle, und kamen in die Diele. Dort spielte ein kleiner Junge mit einem Lastwagen aus Holz. Frau Herzig zog mich in die Diele und stellte mir den Kleinen vor: "Das ist Fritzchen, unser Kleiner, er ist drei Jahre alt." Fritzchen fuhr sie fort, das ist dein neues Kindermädchen." Der Kleine wollte mich nicht ansehen, er wollte auch nicht mit mir sprechen. Die Mutter erklärte: "Er ist immer noch traurig weil sein Lilo nicht mehr da ist, das war vorher sein Kindermädchen und die ist Montag abgereist. Sie ist volljährig geworden.

Wie alt bist du überhaupt?" "Siebzehn," gab ich zur Antwort, "im Mai werde ich achtzehn." "Gut, sagte Frau Herzig, das sind ja mehr als drei Jahre bis du volljährig wirst. Dann bist du da, bis Fritzchen in die Schule kommt." Heini kam mit meinen Sachen und wir gingen hinauf mein Zimmer anzusehen.

Das war mit wertvollen alten Möbelstücken ausgestattet. und es war richtig gemütlich. Im Raum stand ein richtiges Himmelbett, so wie es Oma früher hatte, mit Geheimfächern und Vorhängen. Am Kopfende war eine Leselampe angebracht, damit ich im Bett lesen konnte. Fließend warmes und kaltes Wasser hatte ich vorher noch nie im Zimmer, ich war ganz begeistert.

Sie wollte mir jetzt zeigen, was es noch auf dem Stockwerk an Zimmern gab. Gleich neben mir, war die Wohnung von ihrer Schwiegermutter, die Oma im Haus. Am anderen Ende des Flures war die Toilette und die Dusche. Die würde ich mit den beiden Lehrlingen teilen müssen, aber für den Notall sei unten noch ein Klo. Die Lehrlinge schliefen zu zweit in dem Zimmer.

Als ich oben alles gesehen hatte, gingen wir wieder hinunter. Rechts von der Diele waren die Wohnstuben. Die erste war für allgemeinen Gebrauch, die zweite sei nur für sie und ihren Mann, falls sie sich zurückziehen wollten. Dann gingen wir in die Küche. Fritzchen verfolgte uns mit Sicherheitsabstand. Da noch genügend Zeit bis zum Abendessen war, ging ich mit in den Kuhstall zum Melken.

Aber da war fast nichts zu tun. Sie hatten die damals modernste Melkmaschine. Die Milchleitung wurde einmal durch gespült, und dann wurden nur die Apparate an die frisch gewaschenen Kuheuter angebracht, und die Milch floss gleich in die gekühlten Kannen. Danach wurden die einzelnen Apparate in einem großen Bottich ausgewaschen und die Leitungen automatisch gereinigt. Ich war sehr erstaunt über die neue Technik.

Danach gingen wir zum Abendessen. Die Oma hatte es schon auf den Tisch gebracht, und Fritzchen saß neben mir am Tisch. Er wollte nicht recht essen, da musste ich mir etwas einfallen lassen, denn er war ziemlich mager. Wir waren fast fertig mit dem Essen, da kam der Knecht in die Küche. Er schien mir geistig etwas zurückgeblieben. Seine Kammer war an der Dehle, außerhalb vom Wohntrakt. Das beruhigte mich, denn von Leuten, die nicht ganz recht im Kopf waren, hatte ich vorerst genug.

Die Chefin stellte klar, was ich täglich machen musste. Die Küche und die Diele musste ich sauber halten, es war aber überall Fliesenboden, der schnell gereinigt war. Wenn ich dann nach dem Frühstück mein Bett machte, sollte ich für die Lehrlinge auch die Betten machen. Einmal in der Woche oben mein, und das Zimmer der beiden Werner wischen. Den oberen Gang und die Treppe hinab. Melken brauchte ich nicht, ich sollte nur die Anlage kennen lernen, für den Fall, dass ich mal allein zu Hause sei. Morgens sollte ich das Geschirr spülen, denn dann sei die Oma beim Hühner füttern. Mittags und abends spülte die Oma. Die andere Zeit sollte ich mich nur mit dem Kind beschäftigen. Der jedoch machte mittags einen Mittagsschlaf und dann konnte ich Pause machen.

Am nächsten Morgen, wurde Fritzchen wieder nicht fertig mit seinem Frühstück. Er bekam einen Spezialbrei, den ich auch nicht gegessen hätte. Also weckte ich die Phantasie des Kleinen und der Löffel war plötzlich ein Hubschrauber, der von weit her, nur für ihn den Brei geholt hatte. Es war anstrengend, aber es funktionierte und ich hatte Zeit.

Nach dem Mittagessen durfte das Personal den Weihnachtsbaum aufstellen und schmücken. Wir ließen uns Zeit dafür, denn er sollte besonders schön werden. Während dessen war Fritzchen bei der Oma, und Frau Herzig beim Einkaufen.

Als wir zufrieden waren mit dem Baum, brachte Heini die Kerzen an. Er erzählte von seiner Freundin, die er Weihnachten besuchen wollte. Werner freute sich, über die Feiertage seine Eltern zu sehen. "Was machst du?" fragten sie den Knecht der Horst hieß. "I-ich, bleibe hier," stotterte Horst. Als wir mit dem Baum fertig waren, räumten wir die Schachteln in den Schrank und schlossen die Tür, wegen Fritzchen, damit er den Baum nicht entdecken sollte.

Die Oma kam mit Fritzchen wieder die Treppe herunter und ich nahm ihn mit in die Küche um seine Bilderbücher durchzustöbern. Er hatte sehr schöne Bilderbücher, niemals hatte ich solche vorher gesehen. Da war Max und Moritz, das kannte ich schon, Margot hatte es auch. Fritzchen griff sofort danach. "Ja Max und Moritz, das will ich lesen," rief er erfreut.

Ich schlug das Buch auf und fing an zu lesen. Ich nahm es nicht so genau mit dem Lesen, und wurde von Fritzchen bei jedem Fehler verbessert. Der kleine Knirps konnte Max und Moritz auswendig. Ich war sehr beeindruckt. Wir tauschten die Rollen, Fritzchen sagte alles aus dem Kopf auf, immer passend zum Bild, und ich schaute ob er keinen Fehler machte. Der Junge war hochintelligent. Wozu brauchte er ein Kindermädchen?

Frau Herzig kam nach Hause und freute sich, dass wir gut miteinander auskamen. Sie hatte Weihnachtsgeschenke eingekauft und sich selbst ein Geschenk gebracht. Ich schloss ihr die Tür auf, damit sie die Geschenke in die Stube bringen konnte. Dann nahm sie mich mit ans Auto, ich sollte ihr helfen einen größeren Karton ins Haus zu tragen. Den brachten wir auch in die Stube, und dann nahm Frau Herzig den Schlüssel. Morgen früh wollte sie gleich die Stube für den Heiligen Abend richten, denn der war morgen.

Am Abend räumte ich noch die letzten Kleidungsstücke in meinen Schrank und hängte Mamas Mantel schön auf den Bügel. Nein von ihm wollte ich mich nicht trennen, nur weil er zu klein war. Wenn ich diesen Mantel an hatte, dann glaubte ich einen Hauch von ihr zu spüren, dann war es mir gleich, wie mich die Leute ansahen.

Am nächsten Morgen wollte ich gerade aufstehen, da klopfte es am meine Tür. Erschrocken fuhr ich hoch, hatte ich verschlafen? Vor der Tür stand das Fritzchen in einem kleinen weißen Bademantel. "Kannst du aufstehen," fragte er und war kurz davor zu weinen. "Heute kommt doch das Christkind, und ich will es nicht verpassen," fügte er bettelnd hinzu.

"Ja sicher, ich muss mich nur schnell waschen," sagte ich. Fritzchen setzte sich auf die Bettkante und wollte zugucken. Das war ich ja nicht gewohnt, und ich genierte mich immer so. Weil Fritzchen sich aber so aufs Christkind freute, durfte er bleiben. Ich machte Katzenwäsche und ging dann hinter das Himmelbett und zog mich an. Dann setzte ich mich vor den Spiegel und kämmte meine Haare. Meine Frisur war immer noch die gleiche: Pferdeschwanz.

Jetzt kam Fritzchen an den Frisiertisch und ich sah es ihm an, er passte ganz genau auf, was ich machte. Da legte ich den Kamm weg, stand auf und sagte: "Jetzt können wir hinunter gehen." "Nein," meinte Fritzchen, "du musst noch schreiben." "Komm," drängte ich nun, "Jetzt haben wir keine Zeit zum Schreiben, das machen wir später vielleicht." Wir kamen in die Küche und es war noch niemand dort.

Da kam er mit einem Weihnachtsbuch und wir lasen von Christkindchens Backstube, wo ein Engel genascht hatte, und die Schokolade nicht mehr vom Finger ging. Er schaute sich die Bilder ganz genau an, und freute sich über jedes Detail, das er neu entdeckte.

Endlich kam die Oma um den Kaffeetisch zu decken. Danach trudelten langsam alle Hausbewohner ein. Frau Herzig entschuldigte sich, dass das Kind sich aus dem Schlafzimmer geschlichen hatte. Ich fand das sei normal, wenn man sich so aufs Christkind freute. Der Hausherr hatte beim Frühstück immer seinen Kleinen auf dem Schoß, denn er war den ganzen Tag mit den Lehrlingen unterwegs. Die zwei genossen die halbe Stunde. Fritzchen wollte nur mit seinem Vater schmusen und vernachlässigte wieder seinen Brei.

Die Oma wollte den Teller abräumen, denn wer bei Tisch nicht essen wollte, der musste auf die nächste Mahlzeit warten. "Ich habe viel Geduld," beteuerte ich, "bei mir wird er noch ein wenig essen." "Ach," sagte Frau Herzig, "das muss ich dir noch sagen. Wenn du mit dem Kind draußen spielst, pass gut auf, es darf ihm nichts passieren." Dann erfuhr ich, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnte. Sie hatte offensichtlich immer Angst, dass dem Fritzchen etwas passieren könnte.

Sie musste seit der Geburt von dem Jungen immer ein Stützkorsett tragen und konnte sich deshalb nicht bücken. Und weil sie gerade dabei war, mich über die Familie aufzuklären, bat sie mich keine Kleinkinder-Ausdrücke zu benutzen. Also keine Sätze wie: "jetzt gehen wir in die Heia, jetzt gehen wir atta." Das war ja sowieso nicht in meinem Sprachschatz, deswegen musste sie sich nicht zu sorgen.

Als wir dann allein in der Küche waren, sollte der Hubschrauber wieder den Brei zum Fritzchen in den Mund fliegen. Aber Fritzchen streikte: "Der Hubschrauber war gestern schon da," beschwerte er sich. Da ließ ich, weil ja heute noch das Christkind kam, die Engelchen mit dem Brei fliegen. Wenn in dem Brei ein wenig Kakao oder Schokolade gewesen wäre, hätte er bestimmt alles gegessen.

Danach ging ich zum Spülen, und Fritzchen wurde von seiner Mutter gewaschen und angezogen. Ich hatte gerade das Spülwasser eingelassen, und das erste Geschirr im Spülbecken, da kam die Oma. Sie schob mich mit dem Ellenbogen ein wenig zur Seite, und wusch ihre Hände in meinem frischen Spülwasser. Ihre Hände waren voll mit Hühnerfutter, denn sie hatte ihnen einen Brei aus gekochten Kartoffeln und Schrot gemacht.

Mit Essen und Geschirr, war ich immer besonders eigen. Was die Oma da machte, passte mir gar nicht. Wenn sie das jeden Tag machen würde, dachte ich, könnte mir eines Tages der Kragen platzen. Heute ließ ich das Wasser ab, und machte mir ein frisches Spülwasser. Von der Küche in die Spülküche war eine Durchreiche, da konnte man das Geschirr immer durch schieben. Das hatte ich noch nie gesehen, fand es aber praktisch.

Dann wollte ich hinauf zum Bettenmachen. Fritzchen wartete schon, er wollte auch mit. Wir gingen zuerst ins Lehrlingszimmer, da wusste Fritzchen, dass Heini auf dem Tisch eine Spieluhr stehen hatte. Er machte gleich die Musik an. Dann gingen wir in mein Zimmer. Dort machte ich mein Bett und wollte schon wieder nach unten gehen. Fritzchen sagte energisch: "Wann schreibst du endlich." "Wenn ich frei habe," gab ich ihm zur Antwort. "Lilo hat jeden Tag geschrieben," meinte er enttäuscht.

Wir kamen wieder in die Küche, wo Frau Herzig Zeitung las. "Anneliese will nur schreiben wenn sie frei hat," berichtete er seiner Mutter. Die guckte mich lachend an und meinte: "Anneliese muss gar nicht schreiben." Dann erfuhr ich, was es denn mit dem Schreiben auf sich hatte. Das Mädchen Lilo hatte als kleines Kind ihre Augenbrauen alle gezupft, und die waren nie nachgewachsen. Deshalb malte sie sich die Brauen an und Fritzchen hatte immer darauf gewartet, dass sie "schreibt".

Draußen hatte es geschneit, und ich zog Fritzchen einen Mantel an, und setzte ihn auf den großen Schlitten, um die Milchkannen zu holen. "Das musst du aber nicht, das soll der Knecht machen." wollte meine Chefin mich abhalten. Fritzchen freute sich aufs Schlittenfahren, und die Mutter brachte eine Mütze. Der Weg war ja nur fünf Minuten und die Milchkannen leer.

Die frische Luft tat dem Kleinen auch gut. Als wir bei den Kannen ankamen, sahen wir Fußspuren im Schnee von nackten Füßen. "Wer um Himmelswillen läuft ohne Schuhe im Schnee herum?" fragte ich Frau Herzig. Die Antwort kam prompt: "Der Milchkutscher, der läuft das ganze Jahr ohne Schuhe herum." Ich konnte es nicht fassen, der musste doch verrückt sein.

Frau Herzig und die Oma, waren am Kochen. Topf gucken war verboten, es sollte ein besonderes Essen für den Abend werden. Für den Mittag hatten sie etwas Schnelles gemacht. Nach dem Mittagessen sollten dann alle frei haben. Da konnte man einen Mittagsschlaf machen, oder lesen.

Zwischen vier und fünf wollten wir gemütlich Kaffee trinken ,und dann war sicher das Christkind auch schon da. "Ja," sagte ich daraufhin, "aber ich muss Küche und Diele noch putzen bevor ich in die Pause gehe." Die Oma schlug vor, ich sollte vor dem Essen noch schnell wischen, dann müsste ich nach dem Essen nur noch die frischen Spuren wegputzen. Das Bohnern war ja eine Kleinigkeit, sie hatten einen elektrischen Bohnerbesen.

Genau so machte ich es, und halb zwei war ich auch in meinem Zimmer. Dann klopfte Fritzchen an meiner Tür. Er hatte Max und Moritz dabei und wollte jetzt nicht schlafen.

"Du kannst ins Bett gehen, und ich lese dir vor." Fritzchen meinte es ernst und er setzte sich in mein großes Himmelbett um mich in den Schlaf zu lesen. Als Witwe Bolte ihre Hühner vom Baum holte, musste er eine Pause machen. Er legte sich zu mir und ehe ich mich versah, war er eingeschlafen. Leise schlich ich die Treppe hinab, um Frau Herzig zu sagen, dass der Kleine bei mir war.

Sie hatte es noch nicht gemerkt, war aber froh darüber, denn sie war im Weihnachtszimmer beschäftigt. Ich legte mich wieder zu Fritzchen in mein Himmelbett. Es dauerte gar nicht lange, da war ich auch eingeschlafen. Ich träumte von Fritzchen, und regte mich über seinen fürchterlichen Namen auf. Wie konnte man so einen süßen Jungen Fritz nennen?

Um vier Uhr standen wir auf. Zuerst rannte ich mit Fritzchen aufs Klo. Er war wie ich als Kind, er vergaß immer aufs Klo zu gehen, sehr zum Leidwesen seiner Mutter. Daran wollte ich auch noch arbeiten.

Ich zog mein schönes Kleid an, das ich voriges Jahr für viel Geld gekauft hatte. Fritzchen meinte: "Du siehst aber heute schön aus." "Danke Fritzchen," bedankte ich mich, "jetzt musst du dich auch noch umziehen." Seine Mutter hatte schon einen niedlichen Anzug zurechtgelegt und sie war froh, dass er nicht in die Hose gemacht hatte.

Wenige Minuten später saßen wir am Kaffeetisch. Alle Männer hatten einen Anzug an, sogar der Knecht. Frau Herzig hatte sich auch umgezogen, und Fritzchen sagte: "Jetzt sind wir eine richtig schöne Familie." Wir räumten gemeinsam den Tisch ab und in der Stube läutete eine Glocke. Fritzchen rannte los, ich hinterher und wollte ihn festhalten, dass er nicht vor die Tür lief. Plötzlich rannten alle in die Stube, wo der Weihnachtsbaum strahlte.

Wir standen um den Weihnachtsbaum und sangen "Oh du fröhliche". Das hörte sich sogar gut an.

Danach nahmen wir an dem runden Tisch Platz und unser Chef las die Weihnachtsgeschichte. Dann sangen wir noch ein paar Weihnachtslieder. Für Fritzchen lasen wir das Märchen von dem Mädchen mit den Schwefelhölzern. Dazu las jeder von uns ein Stückchen bis auf Horst, er konnte nicht lesen. Fritzchen wurde ganz unruhig, er wollte sehen was das Christkind gebracht hatte. Er durfte jetzt die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum hervorholen, und die Mutter las was darauf stand, und er war stolz die Geschenke verteilen zu dürfen. Ich war so erstaunt, dass ich auch etwas bekam, schließlich war ich doch erst hier angekommen.

Mir war es peinlich und ich mochte es nicht aufmachen. So half ich Fritzchen beim Auspacken. Er hatte einen Bauernhof bekommen aus Holz, mit mehreren Figuren und Pferden. Der Bauernhof sah aus wie der Hof wo wir wohnten. Als dann auch noch ein Buch mit Bildern und Geschichten vom Bauernhof hervor kamen, strahlte der Kleine.

Jetzt wollte Fritzchen mir helfen mein Paket aufzumachen. und er holte einen schönen Pulli heraus, der passte farblich genau zu dem Rock, den ich von Peterchen hatte. Dann war noch eine Karte in dem Päckchen. Ein Gutschein für Haushaltswäsche im Wert von zwanzig Mark. Frau Herzig nickte und sagte: "Schwester Anna hat gesagt du hast noch gar nichts für die Aussteuer." Ich war so beschämt, weil ich so beschenkt wurde und noch fast gar nicht gearbeitet hatte. Frau Herzig hatte ihr Paket auch ausgepackt. Es war eine Strickmaschine, damit wollte sie für ihren Kleinen stricken.

Wir sangen noch ein Weihnachtslied und gingen dann zum Abendessen in die Küche. Es gab Entenbraten die Oma hatte gleich zwei Enten gebraten, weil wir ja acht Personen waren. Dazu gab es Rotkohl. Die beiden Lehrlinge Heini und Werner bedankten sich für den schönen Abend, sie mussten zum Zug. Sie wollten erst nach Neujahr zurück kommen.

Fritz spielte noch mit seinem Bauernhof, und ich wollte unbedingt spülen, weil so viel Geschirr da war. Die Oma war so müde, dass sie im Stehen schlafen konnte, wie sie behauptete. Frau und Herr Herzig gingen Kühe melken. Horst hatte sich auch wieder umgezogen und fütterte die Schweine. Eine Stunde später waren alle fertig mit der Arbeit. Dem Kleinen fielen beim Spielen die Augen zu, da ging ich dann auch in mein Zimmer.

Als ich in meinem wunderschönen Himmelbett lag, musste ich mich kneifen. Konnte das alles wahr sein? Ich war mitten in einer glücklichen Familie, niemand meckerte an mir herum. Ich liebte Fritzchen und er liebte mich, endlich hatte ich ein ganz normales Leben.

Ich lernte viel und wurde nebenbei erwachsen

 

Weihnachten und Neujahr vergingen, die Lehrlinge kamen zurück, und ich hatte mich inzwischen an den Tagesablauf gewöhnt. Langsam aß Fritzchen auch ohne Hubschrauber und sonstigen Hilfsmitteln, und Frau Herzig ließ keine Gelegenheit aus, mir zu sagen wie froh sie an mir war. Ich fühlte mich längst wie zu Hause, und hatte keinen Grund mehr meinen Kopf unter dem Arm zutragen.

Frau Herzig fuhr zum Waschen immer in die Genossenschafts-Wäscherei. Einmal nahm sie mich auch mit, weil die Oma mit Fritzchen zum Arzt wollte. Ich hatte noch nie eine so moderne Wäscherei gesehen. Sie füllte mehrere Waschmaschinen mit Wäsche, dann sagte sie: "jetzt haben wir eine Stunde Zeit, bis die erste Maschine fertig ist. Komm wir fahren zum Essen heim." Dann sollte ich meinen Gutschein holen, von Weihnachten.

Nach dem Essen gingen wir nach der Wäsche schauen. Die Wollsachen waren fertig und wir hängten sie in den Gebläseraum. Da wurden die Wollsachen mit warmer Luft getrocknet. Die anderen Maschinen waren noch nicht fertig, deshalb fuhr sie mit mir in eine Fabrik, in den Werksverkauf. Dort kaufte sie mir sechs schöne Handtücher und ein großes Badetuch. Die beste Qualität war ihr gerade gut genug. Sie gab meinen Gutschein her und zahlte noch zwanzig Mark dazu. Sie wollte es dann von meinem Lohn nehmen. "Das Geld ist gut angelegt," erklärte sie mir.

Als wir in die Wäscherei zurück kamen, waren die Maschinen fertig und die Wäsche kam in die große Trockentrommel. Wir fingen in der Zeit an, die Wollsachen zusammenzulegen. Die weiße Wäsche wurde gemangelt. Sie war so geschickt mit der Mangel, dass sie sogar die Blusen und Hemden durch die Mangel ließ. Sie ließ die Hemden von unten her durch die Walzen und wenn sie dann am Kragen war, nahm sie das Hemd heraus, und bügelte den Kragen und das bisschen rundherum mit dem Bügeleisen.

Mit dem Bügeleisen bügelten wir so wenig wie eben möglich, Frau Herzig bügelte ungern. Am späten Nachmittag kamen wir heim und hatten drei Körbe saubere, schrankfertige Wäsche dabei.

Fritzchen war auch wieder zurück. Der Arzt hatte der Oma und dem Kind eine Kur verschrieben nach Bad Rothenfelde. Was sollte ich nur machen wenn er nicht da war.

"Kommst du auch mit?" fragte Fritzchen. "Nein," gab ich ihm zur Antwort, "Ich war schon zur Kur."

Im Frühling hatte der Kleine Geburtstag, er wurde vier Jahre. Leider hatte er keine Freunde und musste mit den Großen feiern. Aber woher sollte er Freunde haben, hier war weit und breit kein Haus.

Ostern kam, und Fritzchen suchte Ostereier. Ich musste an meine Ostereier denken, die immer ungekocht waren. Da erzählte ich ihm von unserer Radtour zu Ostern. Den ganzen Weg hatte ich nach Eiern Ausschau gehalten, und am Schluss meinen Fuß ins Rad bekommen. Er hatte Mitleid mit mir und wolle wissen ob es immer noch weh tat. "Nein Fritzchen," erklärte ich ihm, "damals war ich gerade so groß wie du, das ist schon lange verheilt."

Werner war fertig mit der Lehre und er ging zurück zu seinem Vater auf den Hof. Jetzt war nur noch Heini da, der musste noch ein Jahr lernen.

Der neue Lehrling wohnte in der Nähe, er kam morgens und fuhr am Abend wieder nach Hause. Sogar das Essen hatte er immer dabei.
Sonntags fuhr mich Frau Herzig zum Mädchenheim, ich sollte mein Fahrrad holen. Sie wollte, dass ich an meinen freien Sonntag, wenigstens ins Kino fahren konnte. Die Schwestern freuten sich ehrlich, als sie mich sahen. Schwester Anna fragte, ob ich immer noch zum Kragen scheuern kommen wollte. Sie war froh, dass ich es jetzt so gut hatte.

Ich blieb noch zum Mittagessen und fuhr etwas später mit meinem Fahrrad wieder zurück. Als ich durch die Stadt fuhr, dachte ich an Peterchen und fuhr in die kleine Seitenstraße um "guten Tag" zu wünschen. Peterchens Vater war ganz kindisch vor Freude, und die Mutter lud mich ein zum Kaffee. Sie hatte eine "schnelle Torte" gemacht. Dazu hatte sie Zwieback auf ein Kuchenblech gelegt, Stachelbeeren aus dem Glas darauf verteilt, und das Ganze mit Pudding übergossen. Das hatte ich noch nie gesehen, aber es schmeckte mir.

Nach dem Kaffee ging ich noch schnell die Oma im Haus besuchen, die bettlägerig war. Die freute sich immer wenn jemand sie besuchte. Peter und ich verabredeten uns fürs Kino in zwei Wochen und dann begleitete er mich noch bis nach Hause. Ich nahm ihn noch mit in die Küche und sagte der Chefin, dass ich mit ihm nächsten Sonntag ins Kino fahren wollte. Peterchen wollte mich dann abholen und Frau Herzig zeigte ihm, wo die Hausklingel war.

Zwei Wochen später holte er mich ab ins Kino, es wurde wieder ein lustiger Film mit Peter Alexander gespielt. Danach brachte er mich nach Hause. Frau Herzig meinte: "Komm doch am nächsten Sonntag hier her, da sind wir nicht da, und Anneliese hat den ganzen Nachmittag Zeit." Die Idee fand ich nicht so gut, aber sie meinte: "Der ist doch so harmlos, der tut dir nichts."

Am nächsten Sonntag machte ich das Essen warm für Heini, Horst und für mich. Wir waren die einzigen die im Haus waren. Nach dem Essen verschwand Heini sofort in seinem Zimmer, er wollte seiner Freundin schreiben. Horst wollte schlafen und war auch verschwunden. Da ging ich zur Dehlentür hinaus um den großen Hund zu füttern. Der freute sich, als ich in seinen Auslauf kam und sprang an mir hoch. Er bekam sein Futter und Wasser dann machte ich die Tür wieder zu.

Inzwischen war ein junger Mann auf den Hof gekommen, der wollte zu Heini. Ich erklärte ihm den Weg zu seinem Zimmer. Als er die vielen Türen an der Dehle sah, bat er mich bis zur Treppe mitzukommen. Auf der Straße sah ich Peterchen kommen. Ich eilte mit dem fremden Gast durch die Dehle, geleitete ihn durch die Diele und zeigte ihm von unten die Tür des Lehrlings. Dann ging ich zurück um Peterchen herein zu lassen. Er hatte mich beobachtet, und war sofort in Richtung Stadt verschwunden. Seine helle Jacke sah ich noch auf dem Fahrrad hin und her wackeln.

Als Frau Herzig später wissen wollte wie ich den Tag verbracht hatte, erzählte ich ihr von dem Missverständnis. Sie fragte mich, ob sie es für mich richtig stellen sollte, aber so wichtig war Peterchen mir nun auch wieder nicht. Fortan ging ich nicht mehr ins Kino und das Peterchen war ich ein für alle Male los.

An meinem 18. Geburtstag kam Frau Sorge zu Besuch. Oma Herzig hatte mir einen Kuchen gebacken und Fritzchen war mein eingeladener Gast. Er kam zur Tür herein, wie ein kleiner Kavalier mit Anzug und Fliege. In seiner Hand hatte er einen selbst gepflückten Blumenstrauß und ein selbstgemaltes Bild. Ich war gerührt und nahm ihn in den Arm. Fritzchen war einfach entzückend.

Frau Herzig ging mit Frau Sorge in die Stube und sie hatten viel zu besprechen. Da ich nie etwas angestellt hatte, machte ich mir keine Gedanken und spielte mit Fritzchen. Dann kamen die zwei Frauen zurück in die Küche, und Frau Herzig fummelte auffällig mit ihrem Taschentuch. Fragend schaute ich die beiden an, aber sie sagten kein Wort. Die Oma hatte Kaffee gekocht und ich sprang auf das Geschirr zu holen. "Bleib doch sitzen," meinte Frau Herzig, "es ist dein Geburtstag." Mir schoss mein Geburtstag vom letzten Jahr durch den Kopf, als Papa kam.

Was hatte ich im letzten Jahr alles mitgemacht! Mir kamen unwillkürlich die Tränen. Ich hatte kein Taschentuch, und Fritzchen suchte nach einem Tuch um meine Tränen abzuwischen. Am Herd hing seine Unterhose, die er nass gemacht hatte. Blitzschnell holte er die Hose und wischte mir damit meine Tränen ab. Wir mussten alle lachen. Frau Sorge wollte wissen, was ich hier, jetzt und bei so lieben Menschen zu heulen hatte.

Es tat mir leid und ich sagte: "Ich musste an das letzte Jahr denken, als mein Vater kam." "Du sollst aber nicht zurückdenken, sondern an jetzt und die Zukunft," schalt mich Frau Sorge. Dann kam sie mit der Sprache heraus: "Ich kann nicht länger meine Zeit mit dir vergeuden, ich habe schwerere Falle. Du kommst sehr gut allein zurecht. Bei Frau Herzig darfst du noch genau ein Jahr bleiben, dann bist du 19 Jahre, und bedingt volljährig. Überlegt dir, wohin du dann willst.

Dann wirst du dein Leben selbst in die Hand nehmen. Mich brauchst du dann nur, wenn du ein Auto kaufen möchtest oder ein Haus. An deinem nächsten Geburtstag sehen wir uns wieder, ich melde mich bei dir." Sie stand auf und verabschiedete sich. Das war für mich alles zu viel, ich würde es später verdauen. Jetzt war Fritzchen wieder der Mittelpunkt und wir spielten Bauernhof. Als meine Tränen auf das Bauernhaus tropften, jubelte Fritzchen: "Es regnet."
Frau Herzig war die gleiche Heulsuse wie ich, aber wir rissen uns zusammen und sprachen lange Zeit kein Wort mehr darüber.

Sie lenkte sich ab mit ihrer Strickmaschine, damit hatte sie schon viele schöne Sachen für Fritzchen gestrickt. Immer wenn sie etwas fertig gestrickt hatte, nähte ich es zusammen strickte Bündchen an und zum Schluss wurde jedes Teil bestickt. Mit Strickstich stickte ich Märchenbilder auf die Pullis. Der Kleine begeisterte sich für alles, was wir machten, und hörte mit Spannung dem jeweils passenden Märchen zu.

Als wir wieder einmal im Hof spielten, fuhr Fritzchen auf seinem kleinen Traktor. Er wollte den Hühnerstall ausmisten. "Das macht Horst," sagte ich, "du darfst ihm die Arbeit nicht wegnehmen, sonst wird er böse." "Ach," besänftigte er mich, "ich tu doch nur so." Wir kamen am Hühnerstall an und die Hühner gackerten, dass wir kein Wort mehr verstanden. "Warum schreien die Hühner denn so fürchterlich," wollte er wissen. Da nahm ich ihn mit an einen kleinen Tümpel, und sagte ihm das Gedicht auf, vom Huhn und dem Karpfen. Dann erklärte ich ihm, dass auch Fische Eier legen ohne zu gackern. Als er dann das Gedicht genau verstanden hatte, wollte er es gleich noch einmal hören. Beim dritten Mal, konnte er schon mitsprechen. Der Junge war hochbegabt, so was hatte ich noch nie gesehen.

Im Haus musste er es gleich seiner Mutter aufsagen. Die kannte das Gedicht gar nicht, war aber begeistert, dass ich dem Kind so etwas beibringen konnte. "Das liegt nicht an mir, Fritzchen muss es nur verstehen und ein paar Mal hören, dann kann er es." war meine Meinung. Die Oma hatte wieder Unterhosenparade am Herd hängen und mischte sich ein. "Was nutzt es, wenn er ein Professor wird, und vor seinen Studenten in die Hose strullt." Ich war ein wenig verärgert denn ich ging alle zwei Stunden mit Fritzchen aufs Klo. Er machte immer in die Hose, wenn er einen kurzen Moment allein war. Bald wollte die Oma mit ihm in Kur fahren, mir war immer noch keine Lösung für sein Problem eingefallen.

Tagelang dachte ich angestrengt nach und mir wollte nichts einfallen. Morgens beim Spülen hatte ich eine Idee. In meinem Kopf arbeitete ich daran und nebenher spülte ich das Geschirr.

Dann kam die Oma mit ihren Hühnerfutter-Fingern und schubste mich zur Seite. Da riss mir mein Geduldsfaden und ich fauchte die arme Oma an: "Können sie ihre dreckigen Finger nicht auf der Dehle waschen, oder wenn ich mit dem Spülen fertig bin?" "So," maulte sie verärgert, "das Fräulein kann auch ausfällig werden." Frau Herzig hatte ihre Augen und Ohren überall. Sie kam und wollte sehen warum wir so laut geworden waren.

Brühwarm erzählte die Oma was passiert war. "Ja, die Anneliese," war ihr Kommentar, „die sagt das, was die anderen denken." Für den Rest des Tages war die Oma geladen, nun durfte nichts mehr schiefgehen. Am Abend spielte Fritzchen so schön mit seinem Bauernhof, die Oma machte Abendessen, da ging ich mit zum Melken. Ich wollte meinen Fehler wieder gut machen und Frau Herzig helfen. "Es tut mir leid," entschuldigte ich mich. Sie lachte, "es muss dir nicht leid tun, das ist eine Unart von der Oma, darüber hat sich jeder schon aufgeregt." Es war mir trotzdem nicht recht, und ich nahm mir vor, mich bei der Oma zu entschuldigen. Schließlich war sie immer sehr nett.

Wir waren schnell fertig in der Milchküche. Frau Herzig nahm alles ganz genau und hängte den großen Schöpflöffel auf den zweiten Haken und sagte zu mir: "Guck dir genau an wie das da hängt, und schau der Schöpflöffel ist blitzblank sauber." "Ja es ist alles in Ordnung," bestätigte ich. "Genau," meinte die Chefin, "aber morgen früh ist der Schöpflöffel nicht mehr sauber und hängt am anderen Haken." Sie fügte in Gedanken versunken hinzu: "Ich glaube nicht an Gespenster."

Wir wollten in die Küche gehen, und hörten Fritzchen laut weinen. Er hatte selten einen Grund zum Weinen drum stürmten wir hinein. Da stand der kleine Fratz barfuß, ohne Hose, nur mit einem Hemdchen bekleidet vor dem Herd. Die Ärmchen hielt er hoch über die Herdplatte und in den Händen hielt er seine nass gemachte Unterhose. Die Oma hatte ihn verdonnert solange die Hose über den Herd zu heben, bis sie trocken sei.

Er jammerte, "mir tun die Arme so weh." Nun wollten wir ja nicht schon wieder die Oma verärgern. Frau Herzig nickte mir aufmunternd zu, hatte sie meine Gedanken erraten? Ich stellte mich zu Fritzchen und stützte ihm die Arme. "Wenn Fritzchen Strafe bekommt, dann will ich mit ihm leiden." Wir standen mindestens eine Stunde unsere Strafe ab. Die anderen hatten schon gegessen, da wurde uns der Rest der Strafe erlassen und wir durften jetzt auch essen.

Nun hatte ich bei einem Kinobesuch einen Anstecker bekommen, mit einer Figur darauf, das hatte Fritzchen immer so gut gefallen. Der Anstecker machte nun meine Idee komplett. Ich wollte warten bis Fritzchen im Bett war, und meinen Plan mit Frau Herzig besprechen.

Sie kam und gab mir fünf Minuten, denn danach hatten wir noch was Wichtiges zu besprechen. Nun erklärte ich ihr, dass der Kleine meinen Anstecker bekommen würde, wenn er von selbst zum Pipi machen ging. Um es für das Kind spannend zu machen, dachte ich er sollte jede Kuh dreimal angepinkelt haben. Danach wollte ich ihm den Orden verleihen. Ganz offiziell mit Ansprache und Urkunde. Sie grinste, zweifelte aber daran, dass es klappte.

Herr Herzig kam, und hatte mehrere Blätter Papier in der Hand. Er setzte sich zwischen uns, damit wir beide auf das Papier schauen konnten. Nun legte er legte den Prüfbericht des letzten Monats auf den Tisch, das war der Bericht vom Milchkontrolleur. Der kam jede Woche einmal, und einmal zusätzlich ohne Anmeldung. Dann wurden Milchproben genommen, und die Ergebnisse gab es einmal im Monat. Da waren sämtliche Werte der Milch aufgeführt. Das was jetzt zur Sprache kam, waren die Fettwerte. Daneben legte er die die Werte der Proben, die bei der Molkerei gemessen wurden. Die Fettwerte waren bedeutend niedriger. Das Rätsel was wir lösen mussten, war: Wo blieb das Fett, zwischen Melkvorgang und Abnahme bei der Molkerei.

Wir sprachen über den Schöpflöffel, der jeden Morgen schmutzig war. Herr Herzig war sich sicher, jemand klaute das Fett von den Milchkannen. Die Frage blieb, wer und wofür. Es konnte ein Landstreicher sein, der durch irgendeine Stalltür in das Gebäude kam, oder einer der hier im Hause war. Vielleicht jemand, der aus dem Rahm Butter machte. Was uns einfiel es klang alles idiotisch.

Wir teilten uns die Nacht auf. Bis zwölf wollte Herr Herzig schlafen und seine Frau und ich sollten uns bei den Kälberboxen verstecken. Dann wollte er uns ablösen.

Wir bewaffneten und mit leichtem Kochgeschirr. Frau Herzig entschloss sich für einen Koteletteklopfer und ich nahm einen Stieltopf.

Bei den Kälberboxen hatte Herr Herzig zwei Bund Stroh abgelegt, darauf setzten wir uns. Leise unterhielten wir uns und hatten die dümmsten Einfälle. Was, wenn wir von dem Dieb angegriffen werden? Frau Herzig meinte: "Dann rufen wir nach Horst."

Nun war es wichtig, dass wir uns wach hielten, denn wir waren beide keine Nachtschwärmer und gingen immer zeitig ins Bett. So brachte Frau Herzig das Gespräch auf meinen Mantel, was mir überhaupt nicht passte.

Also erzählte ich ihr, warum ich mich von dem Mantel nicht trennen wollte. Sie verstand mich gut und schlug vor: "Wenn wir in eine Fabrik gehen, einen Mantel aussuchen, der so ähnlich ist wie der von deiner Mama. Da könnten wir den Pelzkragen von der Mama darauf nähen lassen. Wäre das nicht eine Lösung?" Ich war noch am überlegen, da hörten wir die kleine Tür neben der großen Dehlentür. Jetzt bekamen wir Herzklopfen, oder Angst, wir wussten es selbst nicht so genau. Das Licht im Stallgang wurde angezündet.

Wir waren froh, dass wir an der dunkelsten Stelle saßen. Dann kam Horst. Er hatte seinen feinen Anzug an und kam offensichtlich vom Einkehren. Wir sahen uns ungläubig an, was wollte er, wollte er nach den Tieren sehen? Nein, er ging schnurstracks in die Milchküche. Leise kamen wir aus unserem Versteck vor, und Horst bemerkte uns nicht. Wir standen schon in der offenen Tür. Er nahm den Schöpflöffel, schöpfte den Rahm von den Milchkannen ab und trank es in einem Zug. Danach hängte er den Schöpfer an den ersten Haken, und wollte in sein Zimmer gehen. In diesem Augenblick sah er uns mitten im Weg und blieb stehen.

Mit einem Grinsen im Gesicht, sagte er "Guten Abend" und ging Richtung Tür. Da es aber gerade zwölf Uhr war, kam von der anderen Seite der Chef. Der schaute ihn an, sah den Rest der Sahne in seinen Mundwinkeln und sagte: "Du hast noch Sahne am Mund, putz das ab, morgen sprechen wir uns wieder."

Am nächsten Morgen fütterte Horst die Schweine und kam zum Frühstück in die Küche. "Pack deine Sachen, sagte Herr Herzig. Jeder darf zu jederzeit Milch trinken so viel er will, dafür ist der Schöpflöffel da. Der hat aber einen langen Stiel. Jeder dumme Junge weiß, dass man die Milch zum Trinken nicht oben abschöpft. Oben schwimmt pure Sahne, danach richtet sich der Milchpreis. Eine Stunde später brachte er Horst dahin, woher er gekommen war.

Als Herr Herzig zurück kam, brachte er einen neuen Knecht. Das war ein entlassener Sträfling. Der Chef beteuerte er sei harmlos.
Wir gewöhnten uns an ihn, denn er hatte einen Sprachfehler. Er war Pfeifenraucher und jemand hatte ihm die Pfeife in den Rachen geschlagen, seit dem konnte er nicht mehr richtig sprechen.

Bis zum Wochenende hatte unser Chef Neuigkeiten. Horst hatte schon wieder eine neue Stelle. "Ratet mal wo er jetzt arbeitet," forderte er uns auf. Wir rätselten der Chef lachte und verriet uns: "Er arbeitet jetzt in der Molkerei." Die Oma daraufhin schlagfertig: "Na, dann ist er ja jetzt an der richtigen Stelle."

Ich begann mit meinem Experiment und erklärte Fritzchen unsere Spielregeln. Er musste im Kuhstall jede Kuh drei Mal anpinkeln, dann würde er einen Orden bekommen. Während der Zeit durfte er aber nicht in die Hose machen, sonst musste er neu anfangen. Wir bekamen ein Stück Kreide, da durfte Fritzchen immer einen Strich an die Fliesen malen. Die Angelegenheit wurde richtig anstrengend, denn Fritzchen rannte laufend in den Kuhstall, und ich musste jedes Mal mit, damit die Hose auch runter und rauf kam.

Frau Herzig lachte und war gespannt, ob es Sinn hatte, oder für die Katz war. Nach der siebten Kuh brachte er die Hose schon allein hinunter Die achte wollte er nicht anpinkeln, die hatte ihn angeblich böse angesehen. Die zehnte schlug ihm den Schwanz um die Ohren, da wollte er fortan aufs Klo. Ich versprach ihm: "Das Klo zählt auch." Von da an normalisierte unsere Aktion.

Bis er zur Kur musste, machte er kein einziges Mal mehr in die Hose. Er konnte auch die Hose jetzt rauf und runter ziehen. Ich war stolz auf ihn. Dann kam die Ordensverleihung, die machten wir ganz festlich. Frau Herzig sagte: "Den Orden musst du jetzt jeden Tag anstecken, aber wer den trägt, darf nicht mehr in die Hose machen. Fritzchen trug stolz den Orden und seine Hose blieb trocken.

Bald darauf fuhren Oma und Fritzchen zur Kur. Da war es plötzlich ruhig im Haus. Damit ich nicht um Arbeit betteln musste, stickte ich die Decke, die ich im Heim geschenkt bekommen hatte. Die wollte ich Frau Herzig zu Weihnachten schenken. Das verschwieg ich ihr aber. Sie freute sich, dass ich die Zeit so sinnvoll nutzte. Die Arbeit von Oma teilten wir uns. Sie kochte und ich ging Kühe melken.

Nachdem sie zwei Wochen lang ihre Neugierde zähmen konnte, wollte sie die Decke ansehen. Ich hatte drei Ecken fertig. Ihre Bewunderung tat mir sehr gut. Sie holte ihre schönste Decke und zeigte mir, wie viel wertvoller die Stickerei auf meiner Decke war. Weil die Oma nicht da war, ging ich mit in die Wäscherei.

Sie erzählte jedem was ich für schöne Handarbeiten machen konnte. Als wir nach dem Essen wieder in die Wäscherei fuhren, bestand sie darauf die Decke mitzunehmen, die Frauen dort würden ihr ja sonst nicht glauben. Sie wollten alle so eine Decke, aber ich bedauerte, dass ich wenn Fritzchen zurück kam, keine Zeit mehr für solche Sachen hatte. Die Frauen waren enttäuscht denn sie dachten, durch mich billig an ein gutes Stück zu kommen.

Es waren nur noch wenige Tage, dann würde Fritzchen wieder durchs Haus springen. Die Decke war fertig, und wir freuten uns riesig auf ihn.

Frau Herzig wollte nun die Angelegenheit mit dem Mantel aus der Welt schaffen. "Wie viele Jahre läufst du schon herum mit einem Mantel, der nicht mehr passt?" fragte sie scharf. Ich überlegte kurz und sagte, "drei Jahre, vielleicht." "Komm bring deinen Mantel, wir gehen jetzt einen kaufen."

Sie fuhr mit mir in eine Näherei, die auch von Schwestern betrieben wurde. Dort brachte sie unser Anliegen vor. Als die Schwestern hörten, warum ich wenigstens den Kragen an den neuen Mantel wollte, versprachen sie es möglich zu machen. Wir suchten einen schönen Mantel aus, Frau Herzig bezahlte ihn und die Änderung für den Kragen. Wir konnten ihn in drei Tagen holen.

Frau Herzig wollte ihn mitbringen, wenn sie Oma und Fritzchen von Bad Rothenfelde holte. Unterwegs nach Hause hielt sie noch einmal an. Sie ging mit mir in ein Schuhgeschäft. Aber statt Schuhe, wollte sie einen Koffer kaufen. Mir kamen die Tränen und ich schluchzte: "Aber meinen Koffer will ich behalten!" "Sollst du auch", beruhigte sie mich, "aber ein Koffer reicht nicht mehr, oder willst du mit lauter Tüten umher reisen?"

Ich hatte versucht nicht daran zu denken, dass ich in einem halben Jahr hier weg sollte.
Für heute war meine gute Laune angeschlagen.

Ich machte meine Arbeiten und ging zeitig ins Bett. Es war weit nach Mitternacht, als ich endlich einschlief.

Beim Frühstück bemerkte der Knecht: "Warst du gestern aus?" Ich warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Darauf lachte er raunte leise: "Ach so, dass darf keiner wissen." Wenn er sprach, schnappte er immer mitten im Wort nach Luft, es war ein jämmerlicher Anblick. "Ich gehe nicht aus, und ich habe keine Heimlichkeiten," machte ich ihm klar.

Mittags wurden nur zwei Kühe gemolken, da wollte er mit helfen. Ich machte ihm klar, dass ich meine Arbeit sehr gut allein fertig bekomme. Beleidigt zog er ab und knurrte: "Ich wollte ja nur behilflich sein."

Wir freuten uns so, dass Oma und Fritzchen bald kamen, und backten die Liebling-Plätzchen für den Kleinen. Ich schlug eine Wiedersehens-Feier vor und wir malten ein großes Bild mit "Herzlich Willkommen." Frau Herzig lachte: "Mensch sind wir blöd, anstatt uns zu freuen, dass wir noch zwei Tage allein sind, machen wir und ganz verrückt." Sie hatte recht, aber er fehlte uns ja so.

Am nächsten Tag putzten wir wie besessen, so brachten wir den Tag ganz schnell herum. Abends saßen wie noch zusammen, und besprachen das Programm für den nächsten Tag. Nach dem Frühstück wollte sie mit dem Auto losfahren und zuerst in die Näherei gehen wegen meinem Mantel. Dann wollte sie zu dem Kurbad fahren um die beiden abzuholen. Ich sollte das Essen warm machen und notfalls den Knecht und Heini abfüttern. Wir wollten essen, wenn sie wieder da war. Oma und Fritzchen mussten ja auch essen.

So zeitig war ich schon lange nicht mehr aufgestanden. Voll angezogen saß ich auf dem Bett, ich traute mich aber nicht hinunter. Als ich Heini hörte wie er in die Dusche ging, schlich ich leise die Treppe hinunter. In der Küche wurde ich schon erwartet. Herr und Frau Herzig waren am Tisch. Herr Herzig war jetzt auch voller Vorfreude. Nachmittags wollte er zu Hause bleiben. "Die Jungen können auch mal allein aufs Feld fahren," stellte er fest. Die Ankunft von Fritzchen wollte er nicht verpassen.

Vor lauter Aufregung hatte ich richtig Bauchschmerzen. Frau Herzig fuhr los und ich schaute auf die Uhr, spätestens in vier Stunden musste sie wieder hier sein. Mühevoll suchte ich mir Arbeit. Es war kaum Geschirr zum spülen. Da ging ich die Hühner füttern und putzte die Kühe, was ja gar nicht meine Arbeit war. Aber es beruhigte und die Zeit verging.

Die Männer kamen zum Mittagessen, es dauerte nicht lange, dann war ich wieder allein. Schnell spülte ich die Teller und das Besteck. Ich hatte plötzlich die Idee mich für Fritzchen umzuziehen. Er mochte den Rock von Peterchen und den zog ich an, dazu eine passende Bluse. Als ich in den Spiegel schaute, dachte ich ja das wird ihn freuen. Dann ging ich die Treppe hinunter.

Die Dielentür wurde aufgerissen und Fritzchen stürmte herein. Schnell ging ich in die Hocke, damit er mich umwerfen konnte. Da lagen wir nun und wurden zu Gespött der anderen. Fritzchen sprang auf und rief entsetzt: "Steh schnell auf, dein schöner Rock wird schmutzig." Die Oma freute sich über das Willkommen-Bild. Dann gab es zuerst Mittagessen. Danach ging die Oma die Hühner besuchen. Fritzchen wollte die Kälbchen sehen.

Frau Herzig und ich richteten den Kaffee und stellten die Plätzchen auf den Tisch. Wir hatten in einem Glas ein Bund Wunderkerzen, die wollten wir anzünden, wenn alle am Tisch saßen. Fritzchens Augen strahlten als wir versicherten, dass es ohne ihn so langweilig war. Er sollte mehr nach draußen, hatte der Kurarzt empfohlen. Nun sollte ich täglich mit ihm hinaus, aber ich musste vorher genau sagen wohin. Sie hatten immer noch so panische Angst, dass dem Kind etwas passieren konnte.

Wir machten täglich einen Sparziergang, mal mit Traktor mal mit Dreirad oder ganz einfach ohne alles. Dann pflückten wir Blumen und er lernte die Namen davon. Mal pflückten wir Tee und brachten ihn zu Trocknen mit nach Hause.

Dann gingen wir in einen kleinen Wald ganz in der Nähe. Weil Fritzchen nicht auf die Baumstämme klettern durfte, schlug ich vor das Haus vom Osterhasen zu suchen. "Der Osterhase ist aber gar nicht da," klärte mich Fritzchen auf. "Wo ist er denn?" wollte ich wissen. Fritzchen schaute mich altklug an: "Das weiß doch jedes Kind, dass der Osterhase jetzt auf Weltreise ist. Er ist in Afrika und turnt auf dem Äquator." Ich war platt, was er alles wusste.

Wir suchten trotzdem weiter und sahen eine Holzfällerhütte. Fritzchen glaubte, das musste ein Hexenhaus sein. "Nein behauptete ich, das ist das Haus von der Geißenmutter und den sieben Geißlein." Das Märchen kannte er noch nicht. Wir setzten uns auf eine Bank vor der Hütte und ich erzählte es ihm. Es gefiel ihm so gut, dass ich es ihm fast jeden Tag erzählen musste.

Jeden Tag das gleiche Märchen zu erzählen, fand ich langweilig, so änderte ich es täglich. Mal war es eine Geißenmutter, das nächste Mal eine Ziegenmutter. Sie fuhr einen Tag mit dem Auto, in die Stadt oder mit dem Fahrrad aufs Land. Oder ich schickte sie aufs Feld das Korn zu mähen. Mir fiel immer etwas ein. Fritzchen liebte alles was ungewöhnlich war. Dann wurde es Herbst und wir zogen uns warm an wenn wir hinaus gingen. Wir sammelten Blätter und bauten Nester für die Igel, die vielleicht noch kein Nest hatten.

Frau Herzig nahm meine schöne Decke mit in die Wäscherei, sie sollte sauber und gemangelt sein, wenn ich sie in den Schrank legte. Heini besorgte mir Geschenkpapier und ich packte die Decke ein. Dann legte ich sie unten in meinen Schrank, denn lange dauerte es nicht mehr bis Weihnachten. Als der erste Schnee fiel, bauten wir eine Schneemann-Familie. Frau Herzig und die Oma backten Plätzchen und Christstollen.

Wir nahmen den Hund mit und gingen Schlittenfahren. Der Hund und Fritzchen tollten im Schnee. Endlich durfte der Kleine richtig spielen. Ich war dem Doktor dankbar, der dem Kind frische Luft verordnet hatte. Langsam hatten die Eltern auch ihre Angst überwunden. Fritzchen wuchs und bekam rote Backen, und seine Mutter musste neue Kleidung stricken.

Dann zündeten wir wieder jede Woche die Kerzen am Adventskranz an. Ich sang mit Fritzchen Weihnachtslieder und die Spannung stieg. Frau Herzig hatte Buntpapier gebracht und wir bastelten Bilder ans Fenster. Das freute sogar die Oma. Alle wollten ein Fensterbild, sogar Heini. Wir putzten noch alles gründlich und damit Fritzchen auch was zu tun hatte, durfte er in den Ecken nachsehen ob alles sauber war. Er machte das gewissenhaft, und wenn er noch Schmutz fand, durfte er es wegputzen. Heini fuhr vor Weihnachten nach Hause, er hatte seinen ganzen Urlaub noch nicht gehabt. Fritzchen musste mit der Oma spazieren gehen, und der Knecht und ich sollten den Baum schmücken.

Er hatte keine Ahnung vom Christbaum schmücken und ich machte es allein. Die Kerzen befestigte Herr Herzig selbst, und dann musste das Christkind nur noch kommen. Am Nachmittag vor der Bescherung wartete ich mit Fritzchen in meinem Zimmer, bis wir zum Kaffee kommen durften.

Ich zog das gleiche Kleid an wie im letzten Jahr, und er fragte ob das mein Weihnachtskleid wäre. "Ja so können wir es nennen," stimmte ich zu. Endlich war es vier Uhr und wir konnten in die Küche zum Kaffee trinken. Fritzchen war wieder ganz aufgeregt. Wir tranken in Ruhe noch eine Tasse Kaffee. Dann lief ich schnell nach oben, um mein Päckchen zu holen. Ich versteckte es in der Diele.

Als dann das Glöckchen läutete, nahm ich es mit in die Stube und legte es auf den freien Stuhl. Der Ablauf des Abends war der gleiche wie im Vorjahr, nur der Gesang war magerer, es fehlten die beiden Lehrlinge. Fritzchen durfte wieder die Geschenke verteilen. Da drückte ich ihm mein Päckchen in die Hand. Er merkte nicht, dass es nicht unter dem Weihnachtsbaum war. Der Knecht bekam ein Hemd mit Krawatte und ich bekam zwei Garnituren Bettwäsche.

Frau Herzig machte ihr Päckchen auf und war gerührt, das sie die schöne Decke von mir bekam. "Wolltest du die nicht für dich machen?" fragte sie. "Nein, ich habe sie von Anfang an für Sie gemacht," gab ich ihr zur Antwort. Fritzchen hatte immer noch kein Geschenk und war ganz traurig.

Er kam zu mir und sagte: "Das Christkind hat mich vergessen." Ich zeigte auf eine Wolldecke, die über etwas gehängt war und sagte: "Guck mal was da drunter ist." Fritzchen zog an der Decke,  da fiel ein richtiges kleines Fahrrad um. Der Kleine war glücklich und hüpfte vor Begeisterung. Wir sangen noch ein Lied ,und gingen an unsere Arbeiten. Die Oma hatte das Essen noch nicht fertig, so konnten wir Melken, der Knecht und der Chef fütterten die Schweine und Kälber.
Als Festessen gab es wieder Gänsebraten.

Was übrig war, blieb für den Knecht und mich für den nächsten Tag. Denn da mussten wir das Haus hüten. Die Oma Fritzchen und die Eltern wollten nach Paderborn zu einer Tante.

Ich stand früh genug auf, denn wenn ich allein war, hatte ich Arbeit genug. Als ich mit dem Melken fertig war, schickte ich den Knecht die Milchkannen wegbringen. In der Zeit kochte ich Kaffee. Ich frühstückte allein, stellte das Frühstück für den Knecht auf den Tisch und ging Hühner füttern. Als ich wieder in die Küche kam, war der auch schon da gewesen. Sein Teller war leer und er hatte massenhaft Arbeit in den Ställen. Mittags hatte ich zurzeit vier Kühe zum melken. Da war ich gleich fertig, denn wir hatten vier Geräte.

Danach machte ich das Essen warm. Die Oma hatte für uns Kartoffelsalat gemacht, das vereinfachte mir die Arbeit. Nach dem Essen erzählte der Knecht mir noch etwas, aber er war sehr schlecht zu verstehen. Er schien aus Koblenz zu kommen, soviel hatte ich verstanden. Die Unterhaltung war sehr anstrengend und er machte mir klar, dass er jetzt bis um fünf Uhr in die Stadt wollte. Ich sagte ihm, er sollte nachher klingeln, weil ich die Türen zu schließen wollte.

Er hatte einen Schlüssel für die kleine Tür in der Dehle. Also fütterte ich den Hund und ging einen Mittagsschlaf machen. Als ich aufwachte war es schon fünf. Schnell rannte ich hinunter, ich musste ja die Kühe melken. Als ich gerade fertig war, kamen Herzigs nach Hause. Der Chef zog sich um, dem Knecht zu helfen und Frau Herzig stand in ihrem guten Kleid und spülte die Milchleitung durch.

Das ging alles automatisch mit Wasserdruck und kleinen runden Schwämmen. Ich war dabei die Melkvorrichtungen sauber zu machen. Sie war zufrieden das alles so gut gelaufen war und fragte ob sie öfter mal weg könnten. "Ja," sagte ich, "ich schaffe das schon."

In den nächsten Wochen fuhren sie mehrmals fort, und es wurde langsam Frühling. Heini war zurück und ich fühlte mich wieder sicherer, wenn Herzigs nicht da waren. Dann war die Lehrzeit von Heini um und er reiste ab.

Ich übte mit Fritzchen im Hof Fahrrad fahren. Er brauchte lange bis er es konnte. Aber eines Tages da hatte er es begriffen. Dann konnte ich ihn nicht mehr bremsen. Er fuhr jeden Tag und machte den Hof unsicher. Der Hund bellte und wäre gern auch dabei, und die Hühner flüchteten wenn er auftauchte. Jetzt hatte er Beschäftigung und würde nicht lange traurig sein, wenn ich fort musste. Der Tag rückte immer näher.

Kurz vor meinem Geburtstag kam ein Brief von Frau Sorge. Ich sollte mit dem Zug nach Herford fahren und mein Fahrrad und mein Gepäck im Zug mitnehmen. Sie wollte mich in Herford am Bahnhof erwarten. Ein genauer Fahrplan war auch dabei. Ich hatte keine Angst mehr, dass ich allein nicht klar kam, wenn da nicht der Abschied gewesen wäre. Einen Tag vorher machte ich noch einen schönen Ausflug, in den Wald mit Fritzchen. Noch einmal erzählte ich geduldig das Märchen von dem Wolf und den sieben Geißlein. Dann sagte ich zu Fritzchen dass ich jetzt auch in Urlaub fahre. "Gehst du zur Kur?" fragte er. "Nein ich fahre zu meinem Bruder," erzählte ich ihm.

Ich verabschiedete mich abends von Fritzchen und der Oma, denn sie wollte ihn ablenken wenn ich meine Sachen ins Auto lud. Fritzchen durfte heute bei der Oma schlafen, und er war ganz zufrieden.

Nach dem Frühstück wünschte mir Herr Herzig alles Gute, dann fuhr er aufs Feld. Wir luden meine Sachen ins Auto und das Fahrrad schaute wieder hinten heraus. So fuhren wir zum Bahnhof. Frau Herzig hatte Erfahrung und gab das Gepäck und das Fahrrad auf. Nur die beiden Taschen sollte ich in der Hand behalten. Dann kaufte sie mir eine Fahrkarte und gab mir den Briefumschlag mir meinen Unterlagen und meinen Lohn, den ich nicht verbraucht hatte. Wir gingen gemeinsam auf den Bahnsteig. Sie nahm mich in den Arm und sagte: "Bleib wie du bist, dann bist du genau richtig."

Wir weinten am Ende beide und ich musste einsteigen. Ich versprach ihr, dass ich sie besuchen wollte. Dann fuhr der Zug ab und sie winkte mir nach.

Wie sooft im Leben, ich besuchte die liebenswerte Familie nie, es lag einfach zu sehr abseits von meinem Wohnsitz. Das Andenken an sie hatte einen festen Platz in meinem Herz.

   Frau Sorge war in Herford am Bahnhof und ging mit mir in die Bahnhofshalle. Dort suchte sie ein Schließfach und stellte meine Koffer hinein. Den Schlüssel durfte ich nicht verlieren. Mit dem Fahrrad sollte ich jetzt zu meinem Bruder fahren und dort ein paar Tage Urlaub machen. Danach hatte sie für mich eine Unterkunft bei einer alten Dame vorübergehend. Sie gab mir die Anschrift.

Ich sollte mir eine Arbeit suchen und ein möbliertes Zimmer. Das Geld was ich noch von Frau Herzig bekommen hatte sollte mir für den Anfang helfen. Im Notfall hatte sie ja noch mein Sparbuch, das wollte sie aber gern aufheben, bis ich richtig volljährig war. "Wenn du mich wirklich brauchst, dann ruf mich an, ich denke du kommst allein zurecht." Ich packte die Taschen auf mein Fahrrad und fuhr die Landstraße entlang direkt zu Hans. Er hatte mich kein einziges Mal besucht bei meiner letzten Stelle, ob er sich überhaupt freute?

Hans war nicht daheim, also ging ich in den Gasthof und mietete ein Zimmer für eine Woche. Nach einer Bockwurst mit Kartoffelsalat, ging ich auf den Friedhof. Das Grab meines Vaters war total verwildert. Hier war in dem letzten Jahr niemand gewesen. Papa tat mir leid, sie hatten ihn schon vergessen.

Beim Gärtner lieh ich mir Werkzeug und machte mich über das Unkraut her. Danach holte ich Efeupflanzen. Damit bepflanzte ich das Grab und hoffte, dass es schnell die Fläche bedeckte. Wenn ich dann ein oder zweimal im Jahr kam, musste ich nur alles glatt schneiden, so wie ich es von Vati gesehen hatte.

Mein Fahrrad stellte ich beim Gasthof hinter das Haus, Hans sollte nicht sehen dass ich da war. Meine Freude auf ihn, war mir vergangen. Jeden Tag ging ich meine Pflanzen gießen. Immer wieder traf ich Leute aus dem Ort, die meinen Vater sehr vermissten, aber auf Hans nicht gut zu sprechen waren. Seine Stiefmutter hatte sich schon getröstet, sie hatte wieder einen Liebhaber.

Am dritten Tag tauchte Hans im Gasthof auf, er hatte erfahren dass ich da war. Meine Wiedersehensfreude hielt sich in Grenzen und ich fragte wie oft er denn auf dem Friedhof war. "Jede Woche," log er. Ich war traurig, und dachte, ihm kann ich nicht vertrauen. Er wollte mit mir einen Ausflug machen mit seinem neuen Motorrad, hatte aber kein Geld und versuchte mich anzupumpen. Da verzichtete ich auf den Ausflug. Wir gingen im Ort spazieren und als die Woche um war, fuhr ich allein zurück nach Herford.

Dort holte ich meine Koffer aus dem Schließfach und verschickte es mit dem Fahrrad zusammen in meinen Ort, wo ich als Kind war und wo ich mich auskannte. Dort wollte ich mich niederlassen, ein Zimmer suchen und eine Arbeit. Niemand würde mich erkennen, dachte ich, denn ich hatte ja schon lange meinen alten Namen. Wenn mich jemand fragen würde: "Bist du nicht Anneliese Teichmann," wollte ich antworten: "Sie verwechseln mich, mein Name ist Schiller." So wollte ich trotz der üblen Gerüchte, die Mutti verbreitet hatte, einen Neuanfang starten.
Der Zug hielt, ich war angekommen.

Epilog

 

Heute bin ich 74 Jahre alt. Ich blicke zurück auf die 55 Jahre nach meinem Neuanfang. Mein Start war holprig. Es dauerte, bis ich ein Zimmer fand, in dem ich mich rundum wohlfühlte. Meine erste Arbeitsstelle war in einer Zigarrenfabrik. Dann fand ich eine Stelle als Werkstattschreiberin. Später standen mir durch den Job als Telefonistin nahezu alle Türen offen. Ich war noch nicht lange zurück, da starb Vati. Kurz vorher hatte ich ihn besucht. Zur Beerdigung war ich nicht eingeladen.

Ich sah mir die Beisetzung an, indem ich mich zwischen anderen Gräbern verdeckt hielt. Er kam in ein Einzelgrab, entgegen seinem Wunsch bei Lisbeth begraben zu werden. Als die Trauergäste gegangen waren, ging ich an sein Grab, um an ihn zu denken.

Wie werde ich ihn vermissen, dachte ich.

Seine Lebensweisheiten, Sprüche und Redensarten, begleiteten mich mein ganes Leben lang.

Fünf Schritte entfernt war sein altes Familiengrab, es war neu angepflanzt und ein fremder Name stand auf dem Grabstein. Da schaute ich mich um, dort stand einmal ein Baum mit einer Bank, die um den Baum gebaut war. Darauf war ich mit Margot gesessen.

Der Baum war nicht mehr da, die Bank auch nicht. Genau an dieser Stelle war jetzt eine schöne Anlage mit Urnengräbern. Wie im Traum ging ich an die Stelle, wo die Bank damals stand. Ich schaute auf den Grabstein vor mir, da stand Margot Jürgens.

Nun war sie also gestorben meine einzige Freundin. Von weit her hörte ich ihre lachende Stimme: "Hier gefällt es mir, da gehen wir noch mal hin." Jetzt stand ich an ihrem Grab und weinte. In meiner Hand hatte ich drei dunkelgelbe Rosen, eine legte ich auf ihr Grab die anderen gab ich zu Vatis vielen Blumen obenauf.

Ja und dann war da noch Fräulein Bockmann. Nachdem sie unsere Schulklasse bis zur mittleren Reife geführt hatte, starb sie nachts an den Abgasen ihres Kohleofens. Zu der Beerdigung ging ich nicht.

Meine Magenbeschwerden wurden wieder schlimmer. Der erste Chirurg dachte mit einer Blinddarm-Operation die Beschwerden zu beseitigen.

Mit 23 Jahren musste ich als Notfall in die Klinik. Die Gallenblase war voll Steine und hatte die Bauchspeicheldrüse angegriffen. Neun Wochen später waren alle Wunden verheilt und die Beschwerden wie weggeblasen. Meinen Bruder traf ich öfters, dann heiratete er. Ab da hatte er keine Lust mehr zu arbeiten. Er begann Schrott zu sammelt und lief herum wie ein Gammler.

Eines Tages fand er unsere Schwester Lena, der es ausgesprochen gut ergangen war. Mit ihr hatte er sich getroffen. Ich bekam die Anschrift, und schrieb ihr. Sie schrieb mir nicht zurück. Wahrscheinlich reichte es ihr, dass sie Hans kennen gelernt hatte. Vielleicht hatte er sie auch anpumpen wollen. Später als ich Mutti besuchte, fuhr ich noch zweimal an dem Haus vorbei, aber ich wollte nicht anhalten.

Mit 21 Jahren, traf ich meinen Traumprinz. Wir waren unendlich verliebt. Er hatte die schönsten Augen. Seine Mutter trieb einen Keil zwischen uns und so wurden aus uns nichts. Er hat seine Tochter nie kennengelernt, er wollte sie nicht sehen. Sie hat seine Augen.

Für eine ledige Mutter mit einem kleinen Kind war früher nicht leicht unterzukommen. Aufs Sozialamt zu gehen, war zu der Zeit eine Schande. So heiratete ich einen Gastarbeiter. Es war nicht die große Liebe, aber die hatte ich ja schon. Wir arbeiteten Schicht und teilten uns die Arbeit mit der Kleinen. Als er nach unserer Eheschließung (zu zweit, mit Trauzeugen von der Straße) den deutschen Pass bekam, war er am Ziel seiner Wünsche.

Er zeigte sein wahres Gesicht und ich lernte seine Fäuste kennen. Alle schlechten Eigenschaften, die ich von Mutti gerade vergessen hatte, kamen jetzt zum Vorschein. Er war jähzornig, egoistisch und wo er jemandem schaden konnte, um einen Nutzen daraus zu ziehen, da machte er es. Ich bekam zwei Kinder von ihm, einen Jungen und ein Mädchen. Im siebten Ehejahr wagte ich es, die Scheidung einzureichen.

Die beiden Kinder von ihm brachte er nach Griechenland, die älteste blieb bei mir. Da wir nach griechischem Recht gar nicht verheiratet waren, galt für die Kinder das Griechische Recht und ich hatte keine Chance sie zu holen. Später kamen sie mich besuchen. Der Vater hatte sich kaum um sie gekümmert. Aber die Großeltern hatten sie liebevoll aufgezogen. Mit mir pflegen sie den Kontakt, vom Vater wollen sie auch nichts mehr wissen.

Nach meiner Scheidung hatte ich Mühe mich und das Kind allein durchzubringen. Die Kleine wollte nicht in den Hort, sie wollte auch nicht in die Schule. Sie schwänzte wo sie konnte, es war eine schwierige Zeit. Obwohl ich das vermeiden wollte, heiratete ich noch einmal. Mein jetziger Mann hatte auch einen Sohn aus der ersten Ehe, der war etwas älter als meine Tochter. Wir zogen nach Oberschwaben.

Dort bekam ich noch zwei Mädchen. Mein Mann war Krankenpfleger und war außerdem handwerklich sehr begabt. Er war fleißig und verdiente gut. Wir pachteten einen Bauernhof, und unsere beiden Kleinen wuchsen mit Tieren in einer wunderbaren Natur auf. Sie hatten die schönste Kindheit und jede hatte eine Freundin.

Als die Kinder beide in die Schule gingen, und uns die Pacht zu teuer wurde, kauften wir ein Haus. Das bauten wir um. Nach und nach wurden die Kinder flügge und heirateten eins nach dem anderen. Mein Mann erlitt einen Schlaganfall, und erholte sich nie richtig davon. Wir zogen in eine altersgerechte Wohnung, da sind wir jetzt allein und freuen uns wenn eines der Kinder zu Besuch kommt.

Alle Kinder haben einen Beruf und eine Familie. Der Mann meiner ältesten Tochter ist leider schon vor Jahren gestorben. Unsere Wohnung ist voll mit Fotos von ihnen und ihren Kindern. Wir lieben alle und sind stolz auf sie.

Zum Schluss möchte ich noch von Mutti erzählen. Elfriede, ließ sich nur noch selten bei ihr blicken. Als der Mann von Tante Anni starb, zog die zu Mutti ins Haus. Ihr Haus schenkte Mutti einer, der zahlreichen Töchter von ihrer Lieblingsschwester. Diese nahm gleich eine Hypothek auf das Haus auf. Da wollte sie das Haus zurück haben und ging vor Gericht. Nach jahrelangem Streit ging sie bis zum Oberlandesgericht. Dort bekam sie Recht und ihr Haus zurück.

Mit ihrer Schwester hatte sie ständig Streit, sie sprachen kein Wort mehr mit einander. Tante Anni zog eines Tages wieder aus. Jedes Jahr fuhr Mutti nach Sylt, bis sie dort auf dem Pflaster stolperte und sich ihr ganzes Gesicht aufschlug.

Helmut, der Maler kam immer noch zu ihr und richtete ihr den Garten. Er hatte alle Obstbäume gefällt und Rasen angelegt. Das heimelige war nicht mehr da. Helmut kam einmal zu Besuch zu uns nach Oberschwaben, und bat mich Mutti zu besuchen, sie sei so einsam geworden.

Ich hatte sie vorher schon mehrmals besucht, nachdem sie mich zum Kaffee eingeladen hatte und vergeblich gewartet hatte. Ich erklärte ihr damals, dass 600 km Entfernung, für einen Kaffeeklatsch, etwas weit waren. Einmal besuchte ich sie mit meinen Kindern, ein anderes Mal mit meinem Mann. Nach einem der Besuche behauptete sie ihr Sparbuch sei seit dem verschwunden. Ich war sauer, hörte das denn nie auf? Vier Wochen später war es wieder da.

Dann bekam ich eine Einladung zu ihrem 100. Geburtstag. Meine jüngste Tochter und ich fuhren hin. Sie wurde 103 Jahre alt und zur Beerdigung fuhr ich mit unserem Großen und unserer Jüngsten. Sie wurde auf einem anderen Friedhof begraben, denn das Grab von Vati hatte sie schon aufgegeben.

Helmut erbte das Haus von ihr, weil er der einzige war, der täglich nach ihr schaute. Er gab es gleich an seine Tochter weiter. Nach der Beerdigung von Mutti traf ich Renate. Sie wollte, als wir noch Schulkinder waren, meine Freundin sein. Mutti passte das nicht, weil Renates Mutter geschieden war und in einer Fabrik arbeitete. Jetzt holten wir unsere Freundschaft nach. Ich besuchte sie mehrmals, meistens einmal im Jahr. Regelmäßig schrieben wir uns oder telefonieren miteinander. Sie ist der einzige Kontakt zu meiner Heimat.

 

 



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Bildmaterialien: Titelbild: eigenes Foto
Tag der Veröffentlichung: 01.12.2012

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