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Prolog

Meine Schwester Lilibeth war gestorben und kurz darauf starb auch Mama. Wir waren jetzt noch drei Kinder: Hans, mein großer Bruder, und Lena unsere kleine Schwester. Ja und ich, ich war damals fast vier Jahre alt.

Unser Vater lag schwer verletzt im Lazarett. Dort wurde er bedrängt uns zur Adoption freizugeben. Weil es ihm schlecht ging, und er nicht glaubte wieder gesund zu werden, unterschrieb er, was man von ihm verlangte.

Zwei "braune Schwestern" brachten uns in drei verschiedene Familien. Lena war so klein, sie gewöhnte sich gleich an ihr neues Zuhause. Heinz kam zu Pflegeeltern, die ihn nicht adoptierten. Mich brachten sie gleich in die Nachbarschaft von ihm. Ich konnte meine Geschwister, Mama und Papa nicht vergessen, und handelte mir dadurch bei meiner neuen Mutter viel Ärger ein.

   Heinz durfte nach mehreren Monaten nach Hause, weil Papa wieder gesund geworden war. Ich konnte nicht verstehen, warum er mich nicht auch abgeholt hatte.

Meine neuen Eltern, gaben mir gleich einen anderen Namen. Nun hieß ich nicht mehr Clara, jetzt hieß ich Anneliese.

Vati war immer gut zu mir, denn für ihn war der Wunsch in Erfüllung gegangen, endlich eine kleine Tochter zu haben. Mutti dagegen war launisch und boshaft. Vor ihr hatte ich immer Angst.

Aber sie war eine gute Hausfrau, sie hielt ihr Haus sauber, arbeitete im Garten und kochte ein. Sie war eine ausgezeichnete Köchin und an Festtagen brachte sie die schönsten Torten auf den Tisch. Jeden Samstag backte sie einen Kuchen. Ihr Butterkuchen war einmalig.

Meine Freundinnen waren die Hühner. Mein Lieblingshuhn hieß Ilsabein. Die Hühner zu füttern und zu versorgen, war ganz allein meine Aufgabe. Ilsabein legte fast jeden Tag ein schönes großes Ei. Aus diesem Grund brauchte sie sich vor dem Kochtopf nicht zu fürchten.

Aber meine beste Freundin war Margot. Sie wohnte gleich in der Nachbarschaft, und wir gingen zusammen zur Schule.

Margot war ein lebhaftes Mädchen und immer lustig und witzig, ich dagegen war ein ruhiges Kind. Wir verstanden uns so gut, dass wir glaubten, unsere Freundschaft würde nie zu Ende gehen.

Eines Tages wurde Vati krank und musste ins Krankenhaus.

Mutti war meistens schlecht gelaunt

Margots Mutter war sehr erstaunt, als ich so früh ankam. „Darf ich noch schnell meine Hausaufgaben fertig machen?", fragte ich freundlich und Margot machte Platz am Frühstückstisch. Ich packte meine Tafel aus und stellte den Essensträger auf den Tisch. Frau Jürgens sah hinein und sagte: „Der ist aber nicht sauber, ich werde ihn schnell heiß auswaschen." Dafür war ich ganz dankbar.

Meine zwei Reihen hatte ich bald fertig, und ich packte wieder alles in meine Schultasche. „Hast du mit deinem schlimmen Bein gestern den ganzen Nachmittag bei den Äpfeln geholfen?", wollte Margot wissen. „Als ich auf der Straße war, habe ich dich gesehen. Ich habe dir gewunken, aber du hast mich nicht bemerkt."

Wir machten uns auf den Schulweg und ich erzählte Margot, was ich gestern alles mitgemacht hatte. „Heute läufst du aber schlecht“, bemerkte sie. Jetzt konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten und heulte herzzerreißend los. Ich schluchzte und konnte ihr kaum klar machen, dass mein Bein so wehtat. Wir kamen in der Schule an und ich war immer noch am Heulen.

Da sagte Margot zur Lehrerin: „Anneliese geht es heute nicht gut, ihr Bein tut so weh."

Fräulein Schneider schaute das Bein an und stellte fest, dass es durch den Verband geblutet hatte. „Ich denke, du wirst die eine Stunde durchhalten", dann gab sie uns eine Arbeit auf und verschwand für ein paar Minuten. Als sie wieder im Klassenzimmer war, kam sie bei mir vorbei und sagte: „Du bleibst in der Pause hier, dann reden wir noch."

Ich konnte mich kaum auf den Unterricht konzentrieren, so belastete mich das, was Mutti gestern zur Frau Bollmann gesagt hatte. Ich schob Margot meinen Essensträger unter dem Tisch zu und bat sie, mir auf jeden Fall das Essen zu holen. Mutti kochte doch zurzeit nicht.

Endlich läutete es zur Pause. Die Kinder stürmten auf den Schulhof und Margot und ich blieben sitzen. Fräulein Schneider setzte sich wieder in die Bank vor uns. Dann sagte sie: „Ein Lehrer wird dich gleich ins Krankenhaus fahren, er hat ein Motorrad. Du warst doch im Krankenhaus mit dem Bein?"

„Ja ein Arzt hat vorgestern daran rum geschnitten. Ich sollte gestern wieder nachsehen lassen aber Mutti hat es mir nicht erlaubt."

„Nimm deinen Ranzen mit, du brauchst heute nicht mehr in die Schule zu kommen. Margot wird dir die Hausaufgaben bringen." Sie nahm mich an die Hand und führte mich vor die Schulhaustür, wo der Lehrer schon wartete. Herr Heinzelmann schaute mich freundlich an und sagte: „Darf ich das Fräulein zu einer kleinen Spritztour einladen?" Ich wurde rot bis über die Ohren. Die Lehrerin half mir auf das Motorrad und wir fuhren los. Am Krankenhaus ging er mit bis zur Pforte und sprach mit der Schwester, die am Fenster saß. Ich sollte zur Schwester in die Pforte gehen, da würde man mich gleich abholen. Der Lehrer strich mir über das Haar und fuhr wieder weg. „Danke“, rief ich ihm nach, und er lachte freundlich.

Nachdem ich ziemlich lange gewartet hatte hörte ich Schritte auf dem Flur, die mir bekannt vorkamen. Das musste Vati sein! Er kam zur Tür herein und strahlte, als er mich sah. „Komm meine Kleine, wir gehen jetzt zur Schwester Paula."

Die Schwester stand schon wartend auf dem Flur. „Seit gestern warte ich hier auf dich, wo warst du denn?" Ich schluckte zweimal, aber ich konnte es nicht verhindern, plötzlich schluchzte ich los. Jetzt konnte ich kein Wort herausbringen und zeigte auf mein Bein. Die Schwester setzte mich auf eine Liege und fing an mein Bein auszupacken. Der blutige Verband verwunderte sie und sie fragte: „Was hast du denn gemacht, hast du Fußball gespielt?"

„Nein, ich habe den ganzen Tag Äpfel versorgt." Vati wurde grün vor Zorn und wollte auf der Stelle nach Hause. Die Schwester regte sich auf und erklärte ihm, dass bei ihm noch nicht einmal die Fäden gezogen wurden.

Jetzt kam mein Knie zum Vorschein. „Um Himmels willen!" schrie die Schwester, „die Fäden sind alle ausgerissen, ich weiß nicht ob der Doktor das noch einmal nähen kann. Du solltest dich doch schonen."

„Das hätten sie zu meiner Mutter sagen müssen, ich muss machen was sie will", sagte ich mutig. Vati sah mich etwas böse an, es war ihm nicht recht, dass ich schlecht von Mutti sprach, und das bei fremden Leuten. Als die Schwester ging, den Arzt zu suchen, sagte er freundlich: „Musste das jetzt sein." Ich erzählte ihm, dass ich gestern so viel arbeiten musste und dass sie mich obendrein noch geschlagen hatte. Alles andere wollte ich ihm später erzählen, jetzt hatte ich Angst vor dem Arzt.

Es dauerte eine Weile, da kam die Schwester und schob mich mit der Liege ins Behandlungszimmer, wo der Doktor schon sein Handwerkszeug sortierte.

Als er mein Knie sah, rief er entsetzt: „Du hast meine ganze Arbeit ruiniert." Er tupfte und stocherte, ich schrie dazu. Dann war es mir schlecht und ich ließ mich auf die Liege fallen, worauf er mir gleich zwei Spritzen gab.

„Schrei bloß nicht, du bist selbst schuld an deinem Elend. Wenn du gehorcht, und dein Bein geschont hättest, dann wäre es fast schon wieder gut."

Ich weinte leise vor mich hin, denn ich fühlte mich nicht schuldig. Der Arzt machte eine Pause und ging aus dem Zimmer. Vati wollte mich beruhigen, aber ich wollte nichts hören. Schwester Paula streckte ihren Kopf zur Tür herein und fragte mich ob ich auch Hunger hätte.

„Ja, ich habe nicht einmal Schulspeise bekommen, mir ist ganz schlecht." Sie versprach, mir etwas auf Vatis Zimmer zustellen. Dann kam der Arzt wieder. Er hatte einen Brief in der Hand, den gab er Vati - ich solle ihn Mutti geben. Gleich darauf setzte er sich wieder vor mein Bein und quälte mich und mein Knie aufs Neue. Mir rutschte ein „Aua" heraus.

„Ich kann nichts dafür, dass es wehtut, es ist alles entzündet, da nützt auch die Betäubung nicht", entschuldigte sich der Doktor. „Aber jetzt haben wir es gleich." Er band das Bein wieder auf eine Schiene, und drohte: „Wenn du morgen nicht kommst, dann lass ich dich von der Polizei holen." Das flößte mir enorm Angst ein, aber bei Vati konnte ich ein schelmisches Grinsen entdecken. Ich fragte mich. ob er wohl schadenfroh sei? Er hob mich von der Liege und nahm mich mit in sein Zimmer, wo das Essen schon bereit stand. Mein Bein war noch betäubt und wollte nicht laufen, da stützte er mich.

Schwester Paula bestimmte, dass ich mindestens noch eine Stunde im Krankenhaus bleiben solle. Das Essen stand auf dem kleinen Tischchen im Zimmer. Da vergaß ich alle guten Tischmanieren, so hungrig war ich. Es gab eine Frikadelle, Kartoffeln und Wurzelgemüse. Die Frikadelle nahm ich gleich in die Hand und biss zweimal herzhaft davon ab. Dann nahm ich das Essbesteck in die Hand und aß manierlich weiter. Das Wurzelgemüse schmeckte Vati überhaupt nicht, er gab es auf meinen Teller. Es war wirklich nicht besonders lecker, aber ich hatte riesigen Hunger. Darum schaute ich ganz entgeistert, als er mir eine Kartoffel vom Teller nahm. „Das ist für die Karotten“, erklärte er. Zum Schluss waren unsere Teller leer, aber wir waren beide nicht richtig satt.

„Schläft dein Bein noch?", wollte er wissen. Daraufhin machte ich eine Probe und stellte fest, dass es langsam wieder ging. Da wollte Vati auf den Balkon und fragte ob ich mitgehen könne. Ich wäre gerne, aber ich zog es vor, solange in sein Bett zu liegen. Also ging er allein.

Nach einer Weile kam er wieder ins Zimmer, da war ich eingeschlafen. Er ließ mich schlafen und setzte sich an den Tisch, um Zeitung zu lesen.

Als die Schwester den Kaffee brachte, hatte ich schon zwei Stunden geschlafen. Sie stellte mir auch ein kleines Brötchen und einen Kaffee hin. „Schön dass du noch da bist." Dann half sie mir aus dem Bett und schaute ob ich gehen könne. „Gut, aber wenn du gehst, sollst du einen Stock mitnehmen“, sagte die Schwester, den würde sie dann gleich bringen, wenn sie das Geschirr holte.

Ich schaute Vati an und fing schon wieder an zu weinen. „Alle werden mich auslachen."

„Ach nein“, meinte Vati, „das ist doch nur, damit du sicher nach Hause kommst, weil du ja allein gehst. Morgen, wenn Margot dabei ist, kannst du ohne Stock gehen."

Er wollte wissen, was ich ihm noch erzählen wollte, aber ich hielt es für gescheiter dies nicht zu tun. Er würde am Ende doch zu Mutti halten, schließlich wollte er unbedingt ein Kind und sie hatte es lediglich geduldet.

„Mutti wird mir nicht glauben, dass ich bei dir im Krankenhaus war, sie wird mich wieder schlagen“, bemerkte ich ängstlich. Vati glaubte das nicht und versprach, nächste Woche wieder nach Hause zu kommen.

„Du bist doch gar nicht wegen mir ins Krankenhaus gekommen, du warst doch wegen deinem Bein beim Doktor. So musst du es sagen, und dass die Lehrerin dich geschickt hat." Wir warteten auf die Schwester und ich erzählte Vati, dass der Bauer, der neben unserem Garten das Feld hatte, jetzt anfing, ein Haus dahin zu bauen. Er hatte schon ein tiefes Loch ausgegraben. Das wusste Vati noch gar nicht.

Ob Mutti einen neuen Hut gekauft hatte, wollte ich noch wissen. Vati meinte, sie habe so viele Hüte, dass sie ganz sicher keinen neuen gekauft habe.

„Hast du die Zigarren mal wieder gezählt?", fragte er. "Nein, du hast doch gesagt ich brauche sie nicht zu zählen", war meine Antwort, und ich fügte hinzu: „Ich hatte auch gar keine Zeit dazu." Vati meinte, ich sollte sie nun doch zählen.

Jetzt kam Schwester Paula mit dem Krückstock. Der war ganz voll geklebt mit Rosenbildchen. Sie passte den Stock an und zeigte mir, wie ich ihn halten musste, damit mein Bein auch entlastet würde. Ich bedankte mich bei der Schwester wegen dem Essen, und Vati nahm mich noch einmal in den Arm. Dann ging ich los. Schwester Paula wollte mit bis an die Treppe und sehen, ob ich klar käme. Sie sagte: „Jetzt wird sich deine Mutti aber freuen wenn du wieder heimkommst"

„Bestimmt nicht, ich habe Angst vor ihr", entgegnete ich und humpelte die Treppe hinunter. Fast hätte ich meinen Ranzen und den Brief vergessen doch die Schwester reichte mir sie nach.

Den Weg hatte ich an anderen Tagen in dreißig Minuten zurückgelegt, aber heute wollte ich ja eigentlich gar nicht nach Hause - ich ging vorsichtig und langsam. Am Gymnasium schaute ich auf die große Uhr, es war fast halb fünf. Jetzt war es nicht mehr weit. Mutti würde mich nicht fragen warum ich erst jetzt kam, sie würde mich bestimmt gleich schlagen. Ich hatte richtig Angst, und meine Beine zitterten, als ich durch das Gartentor ging.

Ilsabein war ganz aus dem Häuschen, sie freute sich, dass ich endlich heimkam. Dann lief sie vor mir her und schaute sich laufend um, sie wartete darauf, dass ich sie streicheln würde. Aber ich konnte mir heute keine Extras erlauben. So kam ich in den Hof mit Ilsabein. Ich konnte nicht glauben, was ich jetzt sah. Da saß Mutti auf der Bank und neben ihr Fräulein Schneider.

„Jetzt bin ich aber froh!", rief Fräulein Schneider. „Na komm, setz dich zu uns“, sagte Mutti und lächelte mich süß-säuerlich an. Ich wusste dass es nicht echt war, aber ich setzte mich auf den Stuhl und streckte mein Bein aus. Fräulein Schneider sprang auf, holte einen zweiten Stuhl für mein krankes Bein und legte es vorsichtig darauf.

„Lassen sie mal, Fräulein Schneider, so schlimm wird es schon nicht sein. Anneliese übertreibt gerne“, meinte Mutti. „Dann würde ich an ihrer Stelle morgen mit ins Krankenhaus gehen und zuschauen wenn der Arzt es neu verbindet", riet ihr die Lehrerin. Die Hausaufgaben sollte ich heute nicht mehr machen. „Wenn du willst kannst du morgen ohne Ranzen kommen."

„Schön“, sagte ich zaghaft, „aber ich kann nicht mit der Krücke in die Schule gehen, die werden mich auslachen und hänseln."

„Dann geht doch über die Eckstraße, da laufen nicht so viel Kinder“, schlug Fräulein Schneider vor. Ich würde mich morgen mit Margot beraten. Zu Mutti sagte ich: „Vielleicht möchtest du wissen wie es Vati geht, es geht im schon ganz gut." Da ich bei Mutti immer aufpassen musste was ich sagte, verzichtete ich darauf zu erzählen, dass er heute nach Hause wollte. Dafür berichtete  ich: „Er kommt nächste Woche, wenn die Fäden gezogen sind."

Die Lehrerin wollte wissen ob mein Knie auch genäht wurde. „Ja, mit drei Stichen, glaube ich." „Und wieso weißt du es nicht?", wollte sie wissen. „Mir war schlecht, da konnte ich nicht hingucken, aber morgen werde ich hinsehen. Der Arzt hat gesagt ich darf die Naht nicht wieder kaputt machen, und er hat mir einen Brief mitgegeben." Ich holte den Brief aus meinem Ranzen und gab ihn Mutti. Sie las ihn und gab ihn Fräulein Schneider weiter.

Da stand, was der Doktor gesagt hatte: das Bein nicht biegen und drei Tage hintereinander zum Nachsehen kommen, bis dahin mit Krücke laufen und mehrmals das Bein hochlegen.

Fräulein Schneider wollte wissen, was ich denn gemacht hatte, wie es überhaupt passiert sei. Ich erzählte ihr, wie ich mehrmals auf der Straße gestolpert war. Dann sei Mutti aber so schlecht gelaunt gewesen, wegen dem Tagelöhner, und ich wollte sie mit meinem Knie nicht belästigen. Nach zwei Tagen hatte es dann geeitert, weil Steinchen drin steckten. Dass mich Mutti gestern nicht ins Krankenhaus gelassen hatte sagte ich jetzt lieber nicht. Die Lehrerin gab sich zufrieden und verabschiedete sich.

Ich lockte die Hühner und Mutti versorgte das Schwein. Dann schloss ich die Hoftür und sie ging durch den Keller, um dort abzuschließen. In der Küche stand mein Essensträger. „Den hat Margot auf die Treppe gestellt“, sagte sie. Es gab Kartoffelsalat und ein Würstchen. Das Würstchen machte Mutti mir warm, und sie zündete den Kohleherd an, weil es abends schon kühl war. „Möchtest du heute nicht wieder bei mir schlafen?", fragte sie mich. „Lieber nicht“, war meine Antwort, "ich weiß nicht, ob ich schlafen kann, mit dem Bein, und dann störe ich nur." Das leuchtete ihr ein.

Ein wenig blieb ich noch auf, um auf warmes Wasser zu warten, damit ich meinen Essensträger putzen konnte. Als das Wasser warm war, wollte Mutti allein die paar Sachen spülen.

Bestimmt hat sie jetzt ein schlechtes Gewissen, dachte ich und saß schweigsam auf Vatis Stuhl. Immer wieder versuchte sie mich zum Reden zu bringen, und schließlich fragte sie: „Sollen wir noch eine Birne essen?"

„Haben wir denn Birnen oben?", war meine Frage. „Ich hole ein paar aus dem Keller", sagte sie bereitwillig. Sie ging und ließ die Küchentür auf, da schlich ich in den Korridor, um Zigarren zu zählen. Bei den kleinen Kisten fehlte eine, die großen waren noch alle da.

Mutti kam die Treppe herauf, und ich nutzte die Gelegenheit, am Küchenschrank einen Teller und ein Küchenmesser zu holen. Sie kam in die Küche und sagte vorwurfsvoll: „Du sollst dein Bein doch schonen." Ob sie das jetzt ehrlich meinte, konnte ich ihr nicht ansehen. Nachdem ich die Birne gegessen hatte fragte ich, ob ich schon ins Bett gehen dürfe. Sie sagte: „Schade, wir könnten doch noch ein bisschen klönen." Also blieb ich noch ein wenig.

Mutti strickte wieder an dem Faltenrock, und als sie merkte, dass ich unruhig mein Bein hin und her schob, stellte sie mir einen Stuhl hin und legte mein Bein darauf. Artig sagte ich „danke". Heute wollte ich zuhören was sie zu erzählen hatte.

„Meinst du, dass du am Sonntag mit mir zu Oma fahren kannst?", fragte sie, „Ich möchte sie besuchen." Sie guckte mich gespannt an, weil sie sich nicht sicher war, ob ich aufgepasst hatte. „Vielleicht geht das, wir fahren ja mit dem Zug. Aber bis zum Bahnhof ist es so weit", jammerte ich. „Du hast ja die Krücke", meinte Mutti.

Auf ihr Bitten sang ich ihr dann das Lied vor, welches wir in der Schule gelernt hatten. Sie kannte es und sang mit. Richtig Lust hatte ich nicht mehr zum Singen, ich wollte gern ins Bett. Als es dann halb acht war fragte ich, ob ich jetzt schlafen gehen dürfe. „Schlaf doch bei mir“, bat sie erneut, als ich dann nickte holte sie mein Nachthemd und mein Kissen.

Im Bett überlegte ich, warum Mutti wohl heute so übertrieben freundlich zu mir war. Entweder sie hatte was vor, oder es war vielleicht wegen Fräulein Schneider. Während ich so grübelte, stellte ich mir alle mit Krücken vor: Mama, Papa, Lilibeth, Hans und Lena. Alle kamen mit Krücken auf mich zu, und wir gingen einen Weg, durch eine große Wiese.

 

Als ich morgens aufstand, wollte ich meinen Ranzen packen, Mutti meinte aber, dass ich doch keinen mitnehmen müsse. „Und wo ist mein Essensträger?“, wollte ich wissen. Sie steckte den Topf in meinen Handarbeitsbeutel und gab ihn mir mit. „Willst du von der Schule aus gleich ins Krankenhaus gehen?", fragte sie noch. „Nein, ich komme lieber zuerst heim, sonst muss ich solange warten - der Doktor macht Mittagspause."

Ich brachte den Milchtopf auf die Treppe und wollte die Hühner raus lassen, aber das hatte Mutti heute schon gemacht. Also ging ich Margot abholen. Margot kam gerade aus ihrer Haustür.

„Wo ist dein Affen?", fragte sie erstaunt. „Heute darf ich ohne in die Schule, hat Fräulein Schneider gesagt“, erklärte ich ihr. Nun erzählte ich, dass die Lehrerin gestern da gewesen sei und dass wir über die Eckstraße laufen sollten, wegen der Krücke.

Wir gingen also heute anders herum und Margot berichtete, wie sie mir gestern meinen Essensträger bringen wollte. Sie sei vom Hof aus zum Hintereingang in den Flur. Mutti  hatte sie kommen gehört, aber scheinbar geglaubt, dass ich es sei. Als Margot gerade die Klingel drücken wollte machte Mutti von innen die Korridortür auf mit einem Stock in der Hand. Mutti sei erschrocken, als sie sah, dass es Margot war. Margot ließ vor lauter Schreck den Essensträger fallen und flüchtete durch die Haustür. Nachdem sie mit ihrer Mutter gesprochen hatte, sei sie dann zu Fräulein Schneider gegangen um ihr alles zu erzählen. Sie habe so Angst gehabt, dass ich Schläge bekommen würde, und Fräulein Schneider habe versprochen, sich darum zu kümmern.

Jetzt wusste ich, warum Mutti gestern so seltsam freundlich gewesen war. Ich würde mir nichts anmerken lassen wenn ich nach Hause käme, versprach ich Margot. Während wir schwätzten erreichten wir die Schule.

Die Lehrerin bemerkte, dass ich mich nicht konzentrieren konnte und ließ mich in Ruhe. Wir bekamen Hausaufgaben auf, die Rechenaufgaben hatte die Lehrerin mir aufgeschrieben darunter schrieb sie die Seite der Fibel, von der ich abschreiben musste. Dann gab es noch Schulspeise, und wir konnten nach Hause gehen.

Margot und ich blieben in der Klasse, bis die meisten Kinder vom Schulhof waren, dann gingen wir auch. Hin und wieder schielte jemand auf meine Krücke, aber es lachte mich niemand aus. So kamen wir über die Eckstraße, wo gleich zu Anfang eine Plakatsäule stand. Da war auf einem Plakat eine wunderhübsche junge Dame. Das Plakat hatte ich schon einmal gesehen, und hatte Vati gefragt wer das sei. Er gab mir auch eine Antwort, aber ich konnte mich nicht so richtig erinnern hatte er Muse oder Miese oder gar Mieze gesagt, es wollte mir nicht einfallen.

Margot fragte prompt: „Weißt du wer das ist?"

„Ja, Miese, hat mein Vati gesagt." Sie lachte herzhaft, aber der Name gefiel ihr, und ich hieß von dem Augenblick an bei ihr nur noch Miese. Der Name Anneliese war ihr immer schon zu lang, da kam ihr die Gelegenheit gerade recht.

Mir gefiel der Spitzname überhaupt nicht. Ich war beleidigt und wollte heute nicht mehr mit ihr sprechen. Sie lief hinter mir und ärgerte mich, indem sie mir immer auf die Hacken trat, so dass ich fast hingefallen wäre. Ich bog in die Bachstraße ab und ließ Margot allein weiter laufen.

Zu Hause aß ich den Rest von meiner Schulspeise und machte meine Hausaufgaben.

Mutti wollte wissen, ob Margot nichts gesagt hätte. Ich erzählte ihr, dass wir uns gezankt hatten. Mutti war das scheinbar ganz recht, und sie forderte mich auf, jetzt ins Krankenhaus zu gehen. Für Vati gab sie mir Birnen mit und ich sollte ihn grüßen.

Schwester Paula freute sich als ich kam, sie würde später nach meinem Bein schauen. Vati kam mir schon im Flur entgegen und strahlte: „Heute hat man Fäden gezogen! Ich darf bald nach Hause." Ich konnte ihn gut verstehen, er wollte wieder richtig essen. So freute ich mich mit ihm und erzählte nichts von dem, was Margot mir berichtet hatte.

Gut gelaunt kam Schwester Paula und machte meinen Verband los, weil der Doktor es sehen wollte. „Na“, sagte sie, „das sieht ja richtig gut aus." Der Arzt kam herein warf einen Blick auf mein Knie und meinte: „Jetzt machst du mich bald arbeitslos."

Die Schwester musste alles schön säubern und desinfizieren, dann machte sie wieder einen neuen Verband. „Weiter so“, ermahnte sie mich und klopfte mir auf das gesunde Knie. Vati zeigte mir seine Wunde und ich fand sie noch nicht so gut, aber die war auch ganz schön groß. In einem Gläschen hatte er seine Gallensteine auf dem Nachttisch stehen, die würde er mit Heim nehmen.

Er zog seinen Morgenmantel an, und wir gingen in den Garten. Auf einer Bank blieben wir in der schönen Herbstsonne sitzen,  bis die Besuchszeit zu Ende war. Vati ging allein die Treppen hinauf, und ich ging nach Hause.

Dort angekommen nahm ich gleich die Hühner mit in den Stall, damit ich nicht noch einmal raus musste. Dann ging ich in die Küche. Mutti hatte Nudeln gekocht mit Backobst. Das war auch etwas was ich nicht gerne aß. Das Backobst war mir zu süß, die Nudeln waren schon recht. Also aß ich von den Nudeln und von dem süßen Obst nur einen Löffel voll. Mutti war beleidigt, sie meinte: „Das schmeckt doch lecker", und wollte mir noch schöpfen. Schnell zog ich meinen Teller weg, und das Backobst landete auf dem Tisch. Sie schimpfte und wollte, dass ich es esse. Ich wehrte mich und vereidigte mich indem ich ihr vorhielt, dass sie selbst gesagt habe, man solle nicht mehr schöpfen wie man essen könne. Sie fing an wie immer: Ich sei frech, vorlaut, hätte keinen Respekt und müsse immer das letzte Wort haben. Jeden Tag hätte ich Schläge verdient und schade um jeden Schlag der vorbei ginge.

Ich sagte nicht, dass Vati bald heim kommen würde. Aber ich wollte jetzt auch nicht mehr bei ihr schlafen. Also holte ich mein Nachthemd und mein Kissen. Weil sie aber gerade am Spülen war, trocknete ich noch ab und räumte das Geschirr weg. Danach sagte ich gute Nacht und schnappte mir mein Nachtzeug. Sie bruddelte mir noch nach: „Frech wie Rotz und gleich eingeschnappt.“

Als ich in meinem Zimmer war holte ich tief Luft und war froh, dass ich allein war. Im Bett ließ ich den Tag noch einmal an mir vorbeiziehen und kam zu dem Schluss: Er war sehr durchwachsen.

Dann schlief ich ein und wurde mitten in der Nacht wach. Abends hatte ich vergessen aufs Klo zu gehen und jetzt hatte ich die Wahl, entweder in den Flur aufs Klo, oder auf den dunkelroten Nachttopf. Ich entschied mich für die zweite Möglichkeit.

 

Als ich morgens aufstehen musste, nahm ich zuerst meinen Nachttopf, um ihn im Klosett zu leeren. Danach musste ich an den Wasserhahn beim Hintereingang, wo die Fahrräder standen, um den Topf auszuspülen. Als ich da meinen Topf spülte kam Otto von oben, um zur Arbeit zu fahren. Da es mir peinlich war, einen Nachttopf benutzt zu haben, steckte ich ihn in einen Putzeimer, der dort immer stand und deckte den Putzlappen darüber. Otto nahm sein Fahrrad, grüßte freundlich und wunderte sich vielleicht, dass ich im Nachthemd da herum stand. Dann fuhr er los, und ich befreite meinen Topf aus seinem Versteck.

Im Stillen dachte ich, der Tag fängt ja gut an. Heute Abend werde ich ihm die Luft aus dem Fahrrad lassen, zur Strafe dass er im falschen Augenblick herunter gekommen ist.

Nachdem ich mich angezogen, und die Hühner hinaus gelassen hatte, ging ich frühstücken. Anschließend kämmte Mutti meine Haare, und ich richtete mich für die Schule. Heute würde ich Margot nicht abholen, wir waren uns ja böse.

Ich ging bei Margot am Haus vorbei und wollte jetzt allein gehen. Da kam sie vom Hof und rief: „Miese warte!" Als ich das hörte, war ich schon sauer. Darum drehte ich mich auch nicht um.

Margot lief jetzt direkt hinter mir, und ich hatte Angst, dass sie mir wieder auf die Hacken trat. So kamen wir an der Schule an und sprachen kein Wort miteinander. In der Pause blieben wir wieder in der Klasse und arbeiteten schweigend an unseren Hausaufgaben. Wir hatten heute eine Stunde mehr, Handarbeit bei Fräulein Talmann. Wir mussten einen Tintenwischer machen, der bestand aus lauter runden Stoffteilen. Die hatten wir sorgfältig zickzack ausschneiden müssen. Das ganze wurde dann mit einem Knopf zusammen genäht. Nächstes Jahr würden wir anfangen mit Federhalter zu schreiben und an diesem Teil konnte man dann die Feder putzen.

Danach ging es nach Hause. Ich wollte, dass Margot vor mir lief, aber sie wollte. Sie lief wieder hinter mir, und bolzte mir kleine und große Steinchen an die Beine. Weil ich mich nicht beschwerte, machte sie munter weiter bis nach Hause.

Mutti hatte den Herd angezündet und Äpfel gesammelt. Davon machte sie jetzt Apfelsaft. Ob ich mich nicht entschuldigen wolle für meine Frechheit von gestern Abend, fragte sie mich. „Nein“, war meine bestimmte aber freundliche Antwort. „Ich hatte doch gesagt ich möchte nichts mehr - von dem süßen Obst tun mir die Zähne weh."

Ich half ihr die Flaschen mit Gummikappen zu verschließen und ging dann daran, meine Hausaufgaben fertig zu machen.

Mein Essensträger war leer, es gab Bratkartoffeln mit Fisch und das hatte ich aufgegessen. Mutti wärmte die Nudeln mit dem Backobst auf und fragte mich, ob ich vielleicht auch noch etwas mochte, sonst müsse sie es dem Schwein geben. Da holte ich mir einen Teller und Besteck und ließ mir schöpfen. Sie tat mir die Nudeln auf und einen Löffel von dem süßen Zeug und sah mich dabei scharf an. Der Topf war fast leer, und ich sagte, dass sie mir den Rest noch auf den Teller geben dürfe. Dann aß ich meinen Teller leer und Mutti meinte triumphierend: „Na, es geht doch, wenn du willst."

„Ja, aber ich will selbst bestimmen, wie viel ich essen möchte“, erklärte ich ihr.

Als ich meine Hausaufgaben fertig hatte, zeigte ich sie ihr, und räumte anschließend meinen Ranzen weg. Dann fragte ich, ob ich noch etwas helfen solle. Mutti war für heute fertig mit ihrer Arbeit und meinte wir würden jetzt noch Kaffee trinken, dann könne ich ins Krankenhaus gehen.

Sie packte die Flaschen in die große Einkaufstasche und brachte sie in den Keller. Als ich allein war, schlich ich mich in ihr Schlafzimmer, um nach dem Hut zu schauen, den sie vielleicht gekauft hatte. Tatsächlich lag der dämliche Hut, aus dem Schaufenster auf ihrer Hutablage. Schnell schloss ich die Schranktür und ging zurück in die Küche, dort deckte ich den Kaffeetisch.

Mutti kam wieder aus dem Keller und wir tranken gemeinsam Kaffee. Nebenbei fragte ich, ob ich jetzt ins Krankenhaus gehen solle, und ob sie vielleicht auch mitgehen wolle. Sie überlegte kurz, dann sagte sie: „Wenn du warten kannst, komme ich mit." Also wartete ich. Ich war gespannt was sie für einen Hut aufsetzen würde. Sie kam aus dem Schlafzimmer ganz in blau. Da ich keine Jacke hatte, zog ich meine Strickweste über, denn es war schon ein wenig frisch geworden. Man konnte merken, dass es langsam Herbst wurde.

Wie jedes Mal wartete Schwester Paula auf mich. Sie war gerade damit beschäftigt das Kaffeegeschirr aus den Zimmern zu holen. Während Mutti hochmütig grüßte und dann in Vatis Zimmer verschwand, begrüßte mich die Schwester liebevoll. Sie holte das Verbandszeug und kam mit in Vatis Zimmer. Mit einem Satz setzte sie mich auf Vatis Bett und machte den Verband los.

„Schauen Sie mal Frau Teichmann, wie schön es jetzt schon verheilt ist", sagte sie zu Mutti und war sichtlich erfreut. Zu mir meinte sie: „Heute werden wir noch einmal die Schiene anlegen, aber wenn der Arzt einverstanden ist, können wir die morgen weglassen. Dann brauchst du auch die Krücke nicht mehr." Das freute mich, und ich sah zu, wie die Schwester mein Bein wieder verband.

Danach gingen wir mit Vati in den Garten, wo wir blieben bis die Besuchszeit zu Ende war.

Auf dem Heimweg zeigte ich Mutti das Bänkchen auf dem ich mich immer ausruhte, wenn ich vorbei kam. Sie wollte sich aber nicht darauf setzen, weil ihr Kostüm vielleicht schmutzig werden könne.

Die Hühner warteten schon auf uns, und ich ließ sie in den Stall. Mutti fütterte das Schwein, dann ging sie durch den Keller, um zu schließen und ich schloss die Hintertür ab. Im Vorbeigehen ließ ich noch schnell die Luft aus dem Fahrrad von Otto. In dieser Nacht schlief ich sehr gut, hatte ich doch heute das gemacht was ich wollte. Ich war es einfach leid, immer nur das zu machen was ich durfte.

 

Als ich morgens aufstand, war ich nicht nur gut ausgeschlafen, sondern auch gut gelaunt. Da nahm ich mir fest vor, mir die gute Laune von niemandem verderben zu lassen.

Ich setzte mich an den Frühstückstisch. Mutti war dabei sich ihre eigenartig, seltsame Frisur zu machen. Es widerte mich an, wenn sie an den Haaren fummelte, während das Frühstück noch auf dem Tisch stand. Einmal hatte ich ein Haar auf meinem Frühstücksbrot gehabt. Seitdem schaute ich genau hin, was ich in den Mund schob. Umso mehr freute es mich, als ich Otto hörte, wie er Luft in seinen Reifen pumpte. Dann schob er sein Fahrrad zum Hintereingang hinaus, schaute zu unserem Küchenfenster hinauf und grüßte mich freundlich.

Vati pflegte zu sagen: Der Otto mit dem Höckerpatent. Weil er doch einen Buckel hatte. Ich sagte das nie, denn das war der einzige von Vatis Sprüchen, den ich nicht gut fand. Der arme Otto war wirklich zu bedauern, aber er war immer freundlich, höflich und er war sehr klug.

Mutti hatte einen Spiegel auf den Tisch gestellt und rollte jede einzelne Haarsträhne auf einen Federhalter auf. Dann steckte sie die Rollen mit zwei Haarklammern fest und schlug die hinteren Haare mit Kämmchen ein. Die seitlichen Haare wurden zwischen den Haarrollen auch mit Klämmerchen festgesteckt. An ihrer Stelle hätte ich dann auch Angst vorm Gewittern, bei so viel Metall auf dem Kopf.

Als sie endlich fertig war, kamen meine Haare dran. „Bitte nur Zöpfe“, bettelte ich, 2damit fühle ich mich am wohlsten." Und wie ein Wunder machte sie Zöpfe. 2Du musst mir dringend zeigen wie man selber Zöpfe macht“, bat ich sie, „sonst gehst du wieder zum Stöhnen, und ich muss schauen, wer mit die Haare macht." Sie hielt die Idee für sehr vernünftig.

Nachdem ich meine Schultasche gerichtet hatte ging ich zur Schule. Im Vorbeigehen machte ich die Stalltür auf, und Ilsabein und Paula gingen mit mir bis ans Gartentor.

Heute ging ich nicht bei Margot vorbei, ich ging geradewegs die Lindenstraße hinauf. Einer der Jungen, die in der alten Fabrik wohnten, lief mit mir mit. Mutti hatte es zwar verboten, aber es war mir egal. „Hast du ein schlimmes Bein?", fragte er mich. „Geht schon wieder“, gab ich zur Antwort. „Komm, ich nehme deinen Affen“, sagte er freundlich. Bevor ich ablehnen konnte, nahm er mir den Ranzen vom Rücken.

Ich wollte wissen wie er denn heiße, und er stellte sich als Hans vor. Nun war ich den Tränen nahe. Ich dachte an meinen Bruder, der auch immer so freundlich war.

Was hatte Mutti nur gegen diese netten Kinder, ich konnte es nicht verstehen. Hans ging mit mir bis zur Klassentür, die er mir öffnete, und dann gab er mir meinen Ranzen. Die anderen Kinder kicherten, „Anneliese ist verliebt“, sangen sie. Sie hörten auf, als die Lehrerin ins Klassenzimmer kam. „Stimmt das?" fragte mich Fräulein Schneider. Ich bekam rote Ohren und antwortete ihr: „Natürlich nicht, das ist ein Junge aus der Nachbarschaft und der hat meinen Ranzen getragen." Danach sagte sie zu den Kindern „Schämt euch!"

Ich bemerkte dass Margot nicht da war, und machte mir Sorgen um sie. Wenn sie mich auch geärgert hatte, ich mochte sie trotzdem. Als die Schule zu Ende war, gab mir Fräulein Schneider die Hausaufgaben von Margot. „Vergiss nicht, gute Besserung von mir zu bestellen", trug sie mir auf.

Nachdenklich machte ich mich auf den Heimweg. Was war bloß los mit Margot, warum war sie so oft krank?

Zuerst ging ich nach Hause, brachte meinen Ranzen in die Küche und sagte Mutti, dass ich schnell die Hausaufgaben zu Margot bringen müsse, die schon wieder krank sei. „Aber nur bis Frau Jürgens den Tisch deckt, dann gehst du sofort", rief sie mir nach.

Margot lag im Bett, ich solle nicht so lange bleiben, bat ihre Mutter. Da gab ich die Hausaufgaben gleich bei Frau Jürgens ab, weil ich Margot jetzt nicht damit belästigen wollte. Ich ging dann zu ihr ins Zimmer. Sie schaute mich ganz traurig an, und sagte ihr sei so schlecht. Margot tat mir wirklich leid und ich setzte mich an ihr Bett und streichelte ihre Hand.

„Bist du mir nicht mehr böse?", fragte sie mich. „Wir sind doch Freundinnen“, sagte ich zu ihr. „Wenn es mir schlecht geht, bist du auch immer für mich da." Margot freute sich, und ich richtete ihr Grüße von Fräulein Schneider aus.

Komischer Weise schlief sie ein, während ich noch mit ihr sprach. Durch meinen Kopf schossen Erinnerungen an Lilibeth, und ich rannte zu Margots Mutter. Die beruhigte mich und versprach mir, es sei alles in Ordnung, sie habe ihr ein Schlafzäpfchen gegeben. Erleichtert ließ ich mich auf den nächsten Stuhl fallen. Frau Jürgens meinte ich solle morgen wieder kommen, dann ginge es ihr wieder besser.

Mutti wunderte sich, dass ich so schnell wieder da war. Ich wollte wissen was Margot wohl habe. Sie hatte keine Ahnung, Frau Jürgens habe ihr erzählt dass kein Arzt etwas fände.

Mutti schaute ob mein Essensträger leer war und deckte sich den Tisch. „Willst du auch was essen?", fragte sie nebenbei. Ich hatte keinen Hunger und wollte nichts. Als sie dann gegessen hatte, begann ich mit meinen Hausaufgaben.

Mutti wollte in den Garten, um das letzte Gemüse zu holen. Außer den Kohl, wollte sie alles ernten. „Wenn ich fertig bin helfe ich dir“, versprach ich. Sie meinte ob ich denn nicht ins Krankenhaus müsse. „Nein morgen wieder“, war meine Antwort. „Später werde ich nachkommen, ich darf nur nicht auf dem Boden rutschen."

Es dauerte eine Weile, bis ich fertig war. Dann räumte ich meine Sachen weg, weil Mutti sicher noch den Tisch brauchen würde. Ich band mir meine Schürze um und ging hinaus in den Garten. Von ihr würde ich mich nicht antreiben lassen, ich würde nur das machen, was meinem Knie nicht schadete.

Wir zogen die Bohnen und die Erbsen aus dem Boden. Mutti bündelte sie und hing sie zum Trocknen auf die Wäscheleine. Als wir die Gurken raus zogen, waren da auch noch ein paar unter den Blättern versteckt und sie meinte, „die könnten wir zum Abendessen nehmen."

Mutti zog die Karotten aus dem Boden und legte sie in einen Korb. Dann trug sie den in den Keller und ich legte die Karotten in einen großen Steintopf, in Sand. Immer eine Lage Wurzeln und dann ein paar Schäufelchen Sand. Bis der Topf voll war. So hatten wir dann bis Ostern immer frische Karotten.

Jetzt hatten wir noch Rote Beete. Die wollte Mutti einkochen wie Gurken süß-sauer. Zwei Eimer hatten wir voll, und sie ging in den Keller, füllte die Eimer mit Wasser und stellte sie auf eine Kiste. So konnte ich die Knollen bürsten, ohne dass ich mich die ganze Zeit bücken musste.

Während der Zeit ging Mutti noch an die Zwiebeln. Die kamen dann in eine luftige Kiste in eine dunkle, kühle Ecke.

Wir zogen noch die Stangen von den Stangenbohnen aus dem Beet und versorgten die im Hof. Mir stellte sie zwei Körbe auf den Gartenweg, da sollte ich die Tomaten hinein legen. Für die war es nachts jetzt auch schon zu kalt. Als letztes waren noch Kohlrabis da, die wollte sie dann morgen einkochen. Jetzt war sie froh, dass sie mit dem Garten fertig war, bis auf den Kohl. Aber der könne auch ruhig Frost bekommen, sagte sie.

Vor lauter Arbeit hatte Mutti ihren Nachmittagskaffee vergessen.

Ich wollte meine Hühner jetzt gleich versorgen, damit ich dann mein Bein ausruhen konnte. Also schnappte ich mir die Schüssel mit dem Futter und schüttelte sie. Da kamen sie um die Ecke gesaust. Ilsabein war die erste und Lina war die letzte.

Dann schloss ich die Hoftür und ging in die Küche. „Jetzt mache ich nichts mehr“, machte ich Mutti klar, „ich bin total kaputt."

„Aber du hast doch gar nicht so viel gemacht!", meinte sie. Am Liebsten hätte ich etwas darauf gesagt, aber ich ließ es bleiben. Ich zog mir einen Stuhl heran und legte mein Bein darauf. Sie nahm den großen Einkochkessel und setzte die Rote Beete zum Kochen auf den Herd.

Mir brachte sie Zwiebeln, die könne ich doch neben dem Ausruhen pellen, dann könne sie die Zwiebeln schneiden. Also pellte ich die Zwiebeln. Jetzt wusste ich warum Vati beim Zwiebeln schneiden immer weinte.

Sie setzte noch einen Topf mit Essigwasser auf den Herd und schüttete Gewürze hinein. Sie wollte also wirklich die Rote Beete noch einmachen. Ich wollte aber nur noch Abendessen und ins Bett. Als sie die Zwiebeln geschnitten hatte, deckte sie den Tisch fürs Abendbrot. Sie schaute auf mein Knie, und stellte fest, dass der Verband noch ganz sauber war.

Nach dem Abendessen bat ich noch meine Mithilfe beim Spülen an, aber sie wollte heute nicht mehr spülen. Stattdessen legte sie Handtücher auf den Tisch und kippte die gekochte Rote Beete darauf. Sie meinte: „Wenn du die pellst, dann kann ich sie schneiden, danach kannst du dann gleich ins Bett gehen."

Sie holte ein Messerchen aus der Schublade und legte es mir hin. Dann ging sie ins Bad und holte große Zubinde-Gläser. Mein Blick fiel auf die Uhr, es war noch nicht einmal halb sieben. Also riss ich mich zusammen und fing an zu pellen. Die Dinger waren heiß, ich brauchte eine Gabel um sie zu halten. Mutti meinte: „Wenn du eine Gabel brauchst, dann hol dir eine. Wer nicht heiß anfassen kann, kann auch nicht schweigen." Den Spruch fand ich so blöd, schließlich hatte ich mehr als zwei Wochen nicht gesprochen.

Sie schaute mich wartend an, bis ich die erste fertig hatte. Dann guckte sie nicht mehr auf meine Finger und fing an Scheiben zu schneiden. Jetzt ging das Pellen gleich besser, ich konnte es nicht leiden, wenn sie mir immer auf die Hände sah. Während ich Rote Beete schälte, färbten sich meine Finger blutrot. Als ich fertig war mit Pellen, stand ich auf um die Abfälle in den Futtereimer zu werfen. Essbare Abfälle bekam bei uns immer das Schwein. Dann versuchte ich, meine Hände sauber zu bekommen. Ich konnte waschen solange ich wollte, sie wurden nicht sauber.

„So kann ich morgen nicht in die Schule gehen, das sieht ja schlimm aus“, maulte ich. Sie machte eine Seifenlauge aus Schmierseife und ich musste meine Hände da hinein halten. Als ich zehn Minuten später meine Hände ansah, waren sie sauber aber ganz verschrumpelt. Da gab sie mir eine fette Salbe zum einreiben.

Für heute hatte ich genug, und ich wollte jetzt endlich ins Bett.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Sprüche und Redensarten, nicht nachweisbar, aus dem 19. Jahrhundert
Bildmaterialien: Cover, eigenes Foto
Tag der Veröffentlichung: 04.04.2012
ISBN: 978-3-7309-3134-9

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