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Prolog

 

Meine Schwester Lilibeth war gestorben und kurz darauf starb auch Mama. Wir waren jetzt noch drei Kinder: Heinz, mein großer Bruder, und Lena unsere kleine Schwester. Ja und ich, ich war damals fast vier Jahre alt.

Unser Vater lag schwer verletzt im Lazarett. Dort wurde er bedrängt uns zur Adoption freizugeben. Weil es ihm schlecht ging, und er nicht glaubte wieder gesund zu werden, unterschrieb er, was man von ihm verlangte.

Zwei "braune Schwestern" brachten uns in drei verschiedene Familien. Lena war so klein, sie gewöhnte sich gleich an ihr neues Zuhause. Heinz kam zu Pflegeeltern, die ihn nicht adoptierten. Mich brachten sie gleich in die Nachbarschaft von ihm. Ich konnte meine Geschwister, Mama und Papa nicht vergessen, und handelte mir dadurch bei meiner neuen Mutter viel Ärger ein. 

 

Bei uns zu Hause

 

 

 Es war heiß und mein Bruder beschloss: „Heute fahren wir zum Baden." Elisabeth, die älteste von uns Kindern, wir nannten sie Lilibeth, wollte auch mit an den Baggersee. Lena war noch zu klein, sie blieb also bei Mama.

Mein Bruder Heinz und Lilibeth holten ihre Fahrräder aus dem hintersten Winkel der Tenne. Im gleichen Haus wohnte noch eine Familie. Die beiden Kinder, ein Mädchen, so groß wie Lilibeth, und ein Jungen, ungefähr so alt wie mein Bruder, gesellten sich zu uns und wir fuhren alle zusammen los. Ich musste bei meinem Bruder auf dem Schutzblech sitzen - einen Gepäckträger hatte sein Fahrrad nicht.

Mama rief uns nach: „Wenn es Fliegeralarm gibt, kommt bitte sofort heim.“ Alarm gab es nicht und wir haben herrlich gespielt. Genau genommen habe ich allein gespielt, die anderen konnten ja schwimmen. Ich planschte am Rande des Baggersees und manchmal kamen die Großen, um mich nass zu spritzen.

„Clärchen, das nächste Mal zeige ich dir wie man schwimmt", versprach mein Bruder. Damit meinte er mich. Aber es gab kein nächstes Mal.

Auf der Heimfahrt musste ich wieder aufs Schutzblech, ob es mir gefiel oder nicht. Heinz drohte: „Wenn du nicht aufsteigst, dann musst du ganz allein heim laufen." Also stieg ich auf und wir kamen alle unversehrt zu Hause an.

Mama hatte das Abendessen fertig. Danach durften wir auf die Dehle zum Spielen. Wir nannten die Tenne „Dehle" und es ließ sich dort toll spielen. Hier spielten wir immer abends oder bei schlechtem Wetter.

Bevor wir ins Bett gingen musste mein Bruder noch alle Fenster verdunkeln, wegen der Tiefflieger, die oft bei Nacht über die Häuser jagten.

Mama war Schneiderin. Wenn sie Aufträge hatte dann nähte sie manchmal die ganze Nacht.  

Papa war im Krieg und Mama erzählte uns: „Er liegt im Lazarett, aber Weihnachten kommt er ganz bestimmt."

Ich freute mich schon auf Weihnachten, hatte aber keine Ahnung, wann und was das war.

Die Großen gingen in die Schule und die Kleine spielte bei Mama in der Küche und weil es in meinem Alter kein weiteres Kind in der Nähe gab, spielte ich meistens allein. Mama legte großen Wert darauf, dass ich viel draußen spielte, so störte ich sie nicht laufend beim Nähen. Dort spielte ich für mein Leben gern im Hühnerhof. Ich jagte die Hühner durch den Stall und freute mich, dass sie Angst vor mir hatten. 

Im Hühnerhof entdeckte ich dann ein Fenster. Leise schlich ich mich an die Fensterscheibe und schaute direkt in unsere Küche. Ich traute meinen Augen nicht: Mama holte gerade aus dem Backofen einen Kuchen und stellte ihn auf den Tisch.

Nach einer Weile wollte ich noch einen Blick auf den Kuchen werfen, aber er war nicht mehr da. Heinz kam aus der Schule und ich erzählte ihm was ich entdeckt hatte.

„Wenn das wahr ist, dann kommt Papa", behauptete er und nahm mich mit ins Haus. In der Küche angekommen fragte ich sofort: „Mama ist morgen Weihnachten?" „Im Winter ist Weihnachten", antwortete Mama, "jetzt geht hinaus zum Spielen, ich habe noch viel Arbeit." Mit Lena gingen wir hinaus und spielten im Sand.

 Als wir morgens aufstanden richtete Papa unser Frühstück. Das war eine Überraschung! Er freute sich als er uns sah und nahm uns alle in den Arm. An der rechten Hand hatte er einen Verband. Ich fragte: "Was ist das?" Er sagte nur: „Da bin ich angeschossen worden, aber es ist bald wieder gut." „Tut das denn weh?" fragte ich schüchtern. Mein Vater schüttelte verneinend den Kopf.

Papa war da, und Heinz und Elisabeth hatten Ferien. Ach war das ein schöner Sommer, jetzt hatte immer einer für mich Zeit. Papa war immer ansprechbar. Wenn ich zwischen durch mal Hunger hatte, machte er mir ein Brot und er schnitt es einmal durch, ich sagte dann zu ihm: „Ich will aber srei." Drei konnte ich noch nicht sagen, aber Papa verstand mich. Er schnitt eine Hälfte noch einmal durch, da waren es drei und ich war zufrieden.

 Papa besserte den Zaun vom Hühnerhof aus, und ich sah ihm dabei zu. Ich fing an, Fragen zu stellen. Er wurde nicht müde zu antworten. „Warum kriegen unsere Hühner keine Kinder?" fing ich meine Fragestunde an. „Weil wir keinen Hahn haben." kam die Antwort. „Alle Kinder haben einen Vater, und die Küken brauchen auch einen Vater - und das ist der Hahn."

„Warum haben wir keinen Hahn?" war meine nächste Frage. Mein Vater wurde nachdenklich und sagte zu mir: „Ach Clärchen, du kannst ´ner Kuh ein Kalb abfragen." Das verstand ich nicht. Ich sah, wie er in den Stall ging und mit einigen Eiern zurückkam. Es waren mehr als fünf, denn bis fünf konnte ich schon zählen.

Nun sollte Heinz mit einem kleinen Korb und den Eiern zum Bauern gehen, um die Eier umzutauschen. Der Bauer hatte nämlich einen Hahn. Papa hatte gesehen, dass eines unserer Hühner ständig im Nest saß. Das wäre jetzt ein günstiger Augenblick, um dem Huhn die befruchteten Eier unter zu legen. Dann würden wir auch Küken bekommen. "Ich habe aber keine Lust", nörgelte Heinz. Weil Papa jedoch darauf bestand, ging er knurrend die Straße hinauf. Mein Vater schaute ihm nach, bis die Straße eine Biegung machte und er ihn nicht mehr sehen konnte.

Er ging dann wieder an den Zaun und ich stellte weiterhin Fragen was das Zeug hielt. Nun musste er sich wohl von mir erholen und ging die Böschung hinauf an die Straße, um nach Heinz Ausschau zu halten. „Was macht er denn da?" hörte ich Papa entsetzt rufen und eilte zu ihm an die Straße. Er hielt sich die Hand über die Augen, um besser gegen die Sonne schauen zu können. Ich machte es ihm nach. Heinz lief auf der Straße hin und her und spielte Ball mit den Eiern. Er warf die Eier in die Luft und versuchte sie zu fangen. Aber dies gelang ihm nicht, sie fielen immer auf die Straße. Dann kickte er mit dem Fuß die Eierschalen in den Graben.

Als er endlich zu Hause ankam, war kein einziges Ei mehr im Korb. Unser Vater kochte vor Wut und deshalb kassierte Heinz eine schallende Ohrfeige. Dieser log: „Der Bauer hat mir keine Eier gegeben." Wir wussten jedoch was passiert war, und fürs Lügen gab's auf die andere Seite auch noch eine Ohrfeige. Ich lachte schadenfroh und Heinz drohte, nie wieder mit mir zu spielen. Mir verging das Lachen und Papa dachte nach.

Er ging in die Küche und holte bei Mama ein Ei. Als er wieder im Hof war nahm er das Ei, warf es in die Luft und fing es auf. Dann sollte Heinz das Ei hochwerfen und auffangen. Er sagte: „Und dann kriege ich wieder eine Backpfeife?" „Nein“, antwortete Papa "ich will einen Test machen." Heinz warf das Ei in die Luft und griff wieder daneben.

Mama kam dazu und schimpfte: „Wir haben so schlechte Zeiten und ihr spielt mit Eiern! Mit Lebensmitteln spielt man nicht!" Wir Kinder schämten uns, aber Papa besänftigte Mama und erklärte: „Heinz sieht ganz schlecht, du solltest unbedingt mit ihm zum Augenarzt gehen." Sie stimmte zu und verschwand wieder in die Küche. Wir gaben jetzt unseren Wunsch auf kleine Küken auf.

Plötzlich war die schöne Zeit vorbei. Genauso wie Papa gekommen war, verschwand er auch wieder. Morgens stand nicht Papa in der Küche, sondern Mama, die Frühstück machte. Lilibeth weinte. „Ist Papa wieder in den Krieg?" Mama nickte.

 Der Sommer ging vorbei, und Mama arbeite unentwegt. Das Gemüse im Garten musste geerntet werden, und dann stand Mama am Herd in der Dehle und kochte ein. Ich spielte mit Lena wenn die Großen in der Schule waren.

An dem großen Herd in der Dehle wurde auch gewaschen. Mama hatte immer viel Wäsche von uns Kindern, besonders von mir. Ich vergaß beim Spielen immer aufs Klo zugehen. Mama hatte aufgehört mich zu schimpfen. Sie war inzwischen schon froh, wenn ich das Bett nicht nass machte. Immer wieder versprach ich Mama nicht mehr in die Hose zu pinkeln, aber das fiel mir immer erst dann ein, wenn die Hose schon nass war.

 Heinz und Lilibeth, pflückten nach der Schule Äpfel und Birnen. Heinz stieg dazu auf die Leiter, und Lilibeth hatte einen Apfelpflücker. Die guten Äpfel kamen in ein großes Regal und die nicht so schönen wurde Apfelmus eingekocht. Mama und Lilibeth schälten jeden Nachmittag Äpfel, dann spielten wir mit Heinz.

Es wurde zunehmend kälter und bald fing es an zu schneien. Wir spielten jetzt oft im Haus und Heinz versuchte mit mir Karten zu spielen, das war mir zu kompliziert, also spielten wir mit Knöpfen, wovon Mama ja genügend hatte.

In unserem Herd in der Küche brannte jetzt immer ein Feuer und wir hatten es schön warm. Als der erste Schnee fiel, erzählte mir Lilibeth Geschichten vom Christkind und vom Nikolaus. Mama mischte sich ein und sagte: „Das Christkind kommt nur zu braven Kindern!"

 Viel sprach Mama ja nicht, aber wir umso mehr. Heinz wusste, dass Mama aus Holland kam und der Opa jedes Jahr einmal aus Holland anreiste, wenn Mama Geburtstag hatte.

 Neugierig wie ich war, erkundigte ich mich: "Wann kommt Opa, gibt es dann Kuchen? „Er kommt, wenn ich Geburtstag habe“, sagte Mama“, und vorher kommt der Klapperstorch und bringt uns ein Baby." Heinz und Lilibeth freuten sich darüber. 

 Wir machten eine Schneeballschlacht. Mit eiskalten Fingern kamen wir in die Küche. Mama war am Backen, und sie tat sehr geheimnisvoll. Wir wollten wissen ob es Kuchen gäbe, aber wir durften nicht in den Herd schauen. Mama wärmte mir meine Hände, dann gingen Heinz und ich wieder nach draußen und nahmen unseren Schlitten mit. Wir schlichen uns in den Hühnerhof um zu sehen was Mama im Ofen hatte. Nach einer Weile holte sie ein Kuchenblech aus dem Herd, und ging damit in ein anderes Zimmer. „Was ist das für ein Zimmer?" fragte ich meinen Bruder. „Das ist die gute Stube, “ sagte er, „und wenn das Christkind kommt, dann bringt es in die Stube einen Christbaum und für jeden ein Geschenk."

Wir zogen den Schlitten die Böschung hinauf bis zur Straße, danach rutschten wir hinunter. Ich konnte davon nicht genug bekommen. Doch bald hatten wir wieder kalte Finger und zogen es vor in der Dehle zu spielen, wo auch Lilibeth mit Lena war.

Eines Abends waren wir alle in der Küche, die beiden Großen erzählten Geschichten, da polterte es an der Tür.

Ich rief: „Papa kommt!" Mama meinte: „Seht nach wer da ist." Lilibeth öffnete die Tür und flüsterte: „Das ist der Nikolaus." Ich versteckte mich hinter Mamas Nähmaschine, während ein Mann mit einem roten Mantel in die Küche polterte. Er hatte einen langen Bart, einen Sack und eine Rute, so wie in den Geschichten, die Lilibeth uns erzählt hatte. Ich zog es vor hinter der Nähmaschine zu bleiben bis er weg war.

Der Nikolaus wusste genau was Heinz  mit den Eiern angestellt hatte. Er bekam deshalb Prügel mit der Rute.

Lena bekam keine Schläge. Er lobte Lilibeth, weil sie immer so fleißig war. Dann rief er plötzlich: „Und wo ist Clara?" „Clara ist hier“, verriet mich Mama. Ich war von ihr enttäuscht und kam hinter der Maschine vor. „So, du bist also Clara?" fragte mich der Nikolaus. „Nein, ich heiße Clärchen“, versuchte ich mich zu retten. Es hatte keinen Zweck, der Nikolaus hatte genau gesehen, dass ich immer in die Hose gemacht hatte. Deshalb bekam auch ich eine Tracht Prügel. Ich schrie wie am Spieß, weil ich bis dahin noch nie Schläge bekommen hatte. Abschließend bekam jedes von uns einen Apfel und ein paar Plätzchen.

Der Nikolaus nahm seinen Sack und verschwand.

 Nun zündete Mama jeden Sonntag eine Kerze an. Wir sangen Weihnachtslieder und freuten uns auf Weihnachten. Ich freute mich aber eigentlich nur auf Papa. Mama war immer so still und arbeitete den ganzen Tag.

Dann kam Papa. Er nahm wieder jedes von uns in die Arme. Er fragte uns, was wir gemacht hatten in der Zeit als er nicht da war, und schließlich brachte er uns ins Bett. Danach hatte er dann Zeit für Mama. Ich war glücklich. Papa war da, draußen lag Schnee und jetzt musste Weihnachten sein.

Am kommenden Morgen schaute ich zuerst, ob Papa noch da war. Er war da und wartete schon mit Kakao auf uns. Alle saßen um den großen Küchentisch und frühstückten, auch Mama war dabei. Das erste Mal, dass sie nicht arbeitete. "Schön wäre es, wenn ihr jetzt einen großen Schneemann bauen könntet", meinte Papa. „Heute Nachmittag dann schaufelt ihr noch den Schnee vor der Tür weg, sonst kann das Christkind ja gar nicht zu uns."

Heinz hatte eine tolle Idee, er holte die Schaufel und schob den Schnee von dem Eingang gleich an die Seite für den Schneemann. „Dann haben wir gleich zwei Sachen auf einmal erledigt und sind bis Mittag fertig." So machten wir es. Der Schneemann wurde groß, und Lilibeth holte Kohlen für die Augen und für die Knöpfe. Weil wir nichts Passendes fanden, nahmen wir auch Kohlen für den Mund. Mama hatte einen Topf, der ein Loch hatte, den nahmen wir als Hut. Wir fanden, dass der Schneemann sehr schön war.

Die Kinder vom Nachbarn lachten uns jedoch aus, weil unser Schneemann keine Karottennase hatte. Ich verteidigte uns: „Mama hat gesagt, mit Essen spielt man nicht!" Wir waren nicht zum Streiten aufgelegt, weil ja gleich Weihnachten war. Mama rief uns zum Essen. Wir liefen ins Haus und hatten schon wieder kalte Finger. Das Mittagessen war fertig und wir konnten gleich essen.

Jetzt, dachten wir, ist Weihnachten. Aber nein, Mama überlegte, wie sie uns nun noch beschäftigen konnte bis das Christkind kam. Wir sollten jetzt die Dehle fegen. „Aber ganz sauber und auch in den Ecken!" Wir fegten die Dehle, wir fegten die Küche, und Lilibeth putzte den Tisch und spülte die Teller vom Mittagessen. Mama und Papa waren nicht zu sehen. „Die sind in der guten Stube." glaubte Heinz zu wissen. „Aber das dürfen die doch nicht, dann kommt das Christkind nicht." gab ich meinen Senf dazu.

 Wir begannen Weihnachtslieder zu singen und dann ging plötzlich die Tür auf. Zuerst nur ein kleines Stückchen, dann klingelte leise ein Glöckchen. Papa stand in der Tür und machte sie weit auf. Ich staunte mit aufgesperrtem Mund und vergaß ihn wieder zu zumachen. So schön hatten die Großen den Christbaum nicht beschrieben. Wir gingen ganz ehrfürchtig in die Stube und bestaunten den Baum, an dem viele Kerzen brannten. Papa stimmte ein Lied an und wir sangen: "Ihr Kinderlein kommet." Auf dem Tisch stand ein großer Teller voll mit Plätzchen und Nüsse.

Papa zeigte unter den Baum: „Da hat das Christkind für jeden ein Geschenk gebracht." Zuerst fand Lilibeth heraus was ihr gehörte: Es war ein Puppenwagen. Sie war schon viel zu groß für einen Puppenwagen, aber ich war noch zu klein dafür. Da war auch ein großer Teddy, den wollte ich mir nehmen, denn ich hätte ihn gern gehabt. Mama zog mich zurück: „Das ist das Geschenk für Lena, dein Geschenk ist daneben." Ich schaute nach und war enttäuscht - ich bekam eine Harfe. Damit konnte ich nun wirklich nichts anfangen. „Damit kann man Musik machen." sagte Papa. Ich wollte keine Musik machen ich wollte viel lieber den Puppenwagen oder den Teddy. „Vielleicht hat ja das Christkind die Geschenke vertauscht?" meinte ich und fing an zu weinen. Lilibeth sagte: „Wir spielen dann eben gemeinsam."

Heinz suchte immer noch  sein Geschenk. Dann entdeckte er ein kleines Schächtelchen. Er machte es auf, und es waren zehn Mark darin.

 

 

 Heinz strahlte und Papa stand am Schrank neben dem Weihnachtsbaum, den rechten Arm hatte er aufgestützt und an der Hand fehlten zwei Finger. Ich schaute ihn lange an und das Bild wie er da stand, blieb wie ein Foto in meinem Kopf.

 Wir sangen anschließend noch ein paar Lieder, und als Mama die Kerzen am Baum gelöscht hatte, folgten wir ihr in die Küche zum Abendessen. Papa machte Bockwürstchen heiß während Mama das Brot dazu schnitt. Lilibeth und Heinz deckten den Tisch.

Als wir alle am Tisch saßen legte Papa jedem Kind ein Würstchen auf den Teller und die Eltern bekamen zwei.

Heinz hatte ganz schnell seine Wurst gegessen und schielte immer zu meiner Wurst, weil ich noch gar nicht hinein gebissen hatte. Irgendwie hatte ich schon Hunger aber ich war immer noch traurig über mein blödes Geschenk. Da stand Papa auf und fragte mich: „Soll ich dir zeigen wie man Würstchen isst?" Naiv wie ich war stimmte ich zu. Papa nahm die Wurst von meinem Teller und eh ich mich versah hatte er die Wurst gegessen. Vor Schreck blieb das Gesicht stehen, und ich wartete auf eine neue Wurst, aber ich bekam keine. Nun war ich zum ersten Mal richtig enttäuscht von meinem Papa.

Bald danach gingen wir, begleitet von ihm zu Bett. Unsere Schlafzimmer waren alle hintereinander, zuerst kam das Elternschlafzimmer, darin hatte auch Lilibeth gleich neben der Küchentür ihr Bett. Dann ging es weiter in mein Schlafzimmer. Ich teilte es mit Lena, wir hatten jeweils ein Gitterbett. Als letztes war da noch das Schlafzimmer von Heinz, es war kleiner, aber er hatte es für sich allein. Des nachts blieben die Verbindungstüren alle offen und wir konnten uns unterhalten bis wir einschliefen.

Morgens weckte mich mein Bruder und fragte: „Kommst du mit, wir gucken ob Papa noch da ist." Papa war noch da und wir zwei legten uns noch ein wenig schlafen.

 

Dieses Mal ging unser Vater nicht bei Nacht weg, nein er verabschiedete sich von uns nach dem Mittagessen. Wir weinten und wünschten uns, dass er bliebe. Papa sagte jedoch: „Wenn ich nicht freiwillig gehe, holen sie mich, und dann bekomme ich nie wieder Urlaub." Wir winkten ihm nach und gingen traurig ins Haus zurück.

 

Der Schnee schmolz und es regnete Tränen

 

 

Die  Großen gingen wieder in die Schule und wir warteten auf den Klapperstorch. „Der kommt wenn es Frühling ist.", vertröstete uns Mama. Also warteten wir jetzt auf den Frühling. Wir legten Zucker aufs Fensterbrett, damit der Storch wusste wo er das Baby abgeben sollte.

 Opa hatte, als er voriges Jahr zu Besuch da war, ein großes schönes Stück schwarzen Stoff mitgebracht. Lilibeth sollte zur Konfirmation das schönste Kleid bekommen.

Jetzt saßen Mama und sie oft am Tisch und schauten Zeitschriften mit schönen Kleidern an. Sie konnten sich nicht entscheiden und Mama meinte: „Es ist ja noch Zeit genug bis dahin.“ Von Heinz wollte ich wissen was Konfirmation ist. Er konnte mir das nicht so richtig erklären. „Da gehen alle in die Kirche und am Nachmittag gibt es Kuchen und Torte." Unter Torte konnte ich mir nichts vorstellen.

  Der Schnee wurde langsam immer weniger, und es war nicht mehr so kalt. Wenn die Sonne schien, konnten wir wieder draußen spielen.

 Heinz hatte es sehr wichtig mit seiner neuen Brille und meinte, er schaue jetzt mal ob der Storch geflogen käme. Der kam noch nicht, aber er entdeckte eine Gruppe Flugzeuge am Himmel und schrie: „Da sind Bomber!" Jetzt hörten wir auch ein leises Brummen, die Flugzeuge flogen so hoch, dass man sie fast nicht sehen und hören konnte. Mama kam angelaufen und schaute hinauf. „Die fliegen nicht über uns, die sind schon weit weg." Beruhigt spielten wir weiter.

 Eines Morgens war der Schnee geschmolzen und wenige Tage später war es so schön, dass wir große Lust hatten, einen Spaziergang zu machen.

Heinz und Lilibeth kamen aus der Schule und Mama packte eine Tasche, um zum Nähen zu gehen. Immer wenn eine Frau ein Kleid wollte, dann nähte Mama bei der Kundin zu Hause, damit sie es gleich anprobieren konnte. Sie gab Anweisungen an die beiden Großen wegen dem Abendessen und sagte, sie würde erst am nächsten Morgen zurückkommen. „Wenn ihr Hilfe braucht, dann geht zu Tante Lore."

Wir vier machten uns jetzt schön. Lilibeth nahm den Puppenwagen und den Teddy, und wir machten einen Ausflug.

Hinter dem Haus war ein kleiner Fußweg. Der ging bergab über ein kleines Brückchen. Auf der anderen Seite vom Bach wohnte Tante Lore. Wir gingen den Weg hinab und wünschten Tante Lore „Guten Tag." „Wollt ihr denn nicht reinkommen?" fragte sie. „Nein danke!", erwiderte Lilibeth höflich. „Ich wollte den Kleinen nur zeigen wo du wohnst." Wir gingen noch ein Stückchen den Weg entlang, dann spielten wir auf einer Wiese.

Lena durfte mit dem Puppenwagen spielen. Sie hatte ihren Teddy darein gesetzt und war glücklich. Heinz und ich pflückten Gänseblümchen und brachten sie zu Lilibeth. Die flocht daraus Armbändchen. Für mich und für Lena, und weil Heinz keines wollte, machte sie noch eines für sich selbst.

Nun war aber in der Nähe wo wir spielten ein großes Loch in der Wiese. Vielleicht war es eine Lehmgrube oder ein Bombentrichter. Lena steuerte den Puppenwagen direkt darauf zu. Die Gefahr erkennend, schnellte Lilibeth wie der Blitz auf und rannte auf Lena zu. Sie packte Lena und schubste sie dem verblüfften Heinz vor die Füße. „Halt sie fest!“ schrie sie und wollte noch nach dem Puppenwagen greifen. Dann stürzten der Puppenwagen, der Teddy und unsere Schwester in das Loch.

Lena und ich konnten nicht aufhören mit Schreien. Heinz guckte in das Loch und fragte: „Bist du noch da?" „Ja!" kam es von unten herauf. „Da vorn ist der Bach, und da komme ich wieder hinauf." Beruhigt hörten wir auf zu schreien. Heinz lief zum Bach, nicht ohne vorher zu drohen, dass er uns verprügeln würde, wenn wir uns auch nur einmal bewegten. Wir hatten so Angst vor Prügel, dass wir es nicht wagten. Ich jammerte: „Ich muss mal!" Heinz rief: „Mach in die Hose, du weißt ja wie das geht." Er half Elisabeth durch den Bach. Sie hatte den Puppenwagen dabei und auch den Teddy.

In aller Seelenruhe setzte sie sich wieder und machte das letzte Armbändchen fertig. Jedes von uns drei Mädchen hatte jetzt ein Blüten-Armbändchen, und wir machten uns auf den Heimweg. Wieder kamen wir bei Tante Lore vorbei, die eigentlich gar nicht unsere Tante war, aber sie war lieb und mochte uns. Tante Lore hatte Bonbons für uns und bemerkte nebenbei: "Lilibeth, du siehst so blass aus."

So kamen wir zu Hause an. Lilibeth zog ihre schmutzigen Kleider aus und wusch sich, nebenbei erbrach sie sich zweimal. Heinz putzte auf und unsere Schwester ging ins Bett.

Mama hatte das Essen vorbereitet, wir aßen ein wenig davon. Ich glaube, wir hatten gar keinen Hunger.

Heinz bemerkte: „Wenn wir jetzt auch ins Bett gehen, brauche ich nicht zu verdunkeln."

Also gingen wir gleich ins Bett. Wir kamen bei unserer Schwester am Bett vorbei. Sie bekam von uns allen einen dicken Kuss. Sie lächelte uns an und dann schlief sie auch schon. Leise schwätzten wir noch ein wenig, bis wir auch einschliefen.

 Morgens stand zuerst Heinz auf. Er weckte uns: „Aufstehen Mama kommt bald." Als er bei Lilibeth vorbei kam sagte er: „Komm, wir müssen zur Schule." Dann ging er in die Küche.

Er wollte den Herd anmachen, aber da war keine Glut mehr da. Er hatte am Abend vorher das Brikett vergessen. Es gab also nur Brot mit Marmelade und keinen Kakao. Ich zog mich im Schlafzimmer an und nahm Lena mit in die Küche. Wir kamen am Bett von Elisabeth vorbei, sie lag genauso im Bett wie gestern, als wir ihr den Gutenachtkuss gegeben hatten. Einer ihrer schönen langen Zöpfe war aus dem Bett gefallen und hing bis auf den Fußboden. Ich konnte es nicht lassen und gab ihr einen Kuss.

Dann kam ich in die Küche und Heinz wollte wissen, wo Lilibeth bliebe. Ich erklärte: „Lilibeth schläft noch, ich habe ihr einen Kuss gegeben - der hat nach Schnee geschmeckt." „Du bist doof, Küsse schmecken nicht nach Schnee." sagte Heinz. Aber ich verteidigte mich stotternd: „Der war aber genau so kalt wie Schnee." Hans erschrak und rannte ins Schlafzimmer.

Er schrie Lilibeth an, sie solle aufstehen und wollte sie rütteln. Als er sie jedoch anfasste stellte er leise fest: „Sie ist tot." Wir gingen alle an ihr Bett.

Am Handgelenk hatte sie noch das Armband. Ich guckte auf meine Hand. Ich hatte es auch noch, nur Lena hatte ihres im Bett verloren. Ich holte es und streifte es ihr wieder über. Sie wollte nicht still halten. Sie wollte Kakao, und Lilibeth sollte den Kakao machen.

Heinz machte die Schlafzimmertür zu, dann zogen wir zusammen Lena an. Als sie endlich fertig angezogen war, setzte uns Heinz auf das Sofa und befahl uns, nicht aufzustehen bis er wieder da sei. Wir heulten und es war kalt in der Küche. Wenn er jetzt in die Schule geht, dachte ich, müssen wir lange warten.

Also schlich ich nochmal ins Schlafzimmer, um nachzusehen ob Lilibeth es sich vielleicht anders überlegt hatte. Vielleicht war sie ja doch aufgestanden. Aber es hatte sich nichts geändert. Ich sah sie lange und genau an, und in meinem Kopf machte es wieder „klick“. dies Bild kam zu Papas Bild, ganz hinten in meinem  Kopf. Ich weinte, aber nur leise - und draußen regnete es. Dann machte ich die Tür wieder zu.

Lena hatte Hunger. Sie heulte und bettelte auch noch einmal ins Schlafzimmer zu dürfen. In dem Augenblick hörte ich, wie Heinz zurück gerannt kam. Schnell sprang ich aufs Sofa. Er war nicht allein. Onkel Franz, der Mann von Tante Lore war mitgekommen.

Mama hatte immer eine Tafel. Dort schrieb sie mit Kreide drauf, wo man sie finden konnte. Der Onkel sagte: "Bring die Kleinen zu Tante Lore, ich hole die Mama."

Heinz brachte uns nun zu Tante Lore, die uns liebevoll aufnahm. Lena bekam ihren Kakao - ich natürlich auch, aber mir schmeckte er nicht, ich mochte auch nichts essen. Erst als Tante Lore dann kleine Figuren auf den Tisch stellte und mit uns spielte, vergaß ich was passiert war.

Wir blieben lange bei der Tante. Am Nachmittag  kam Onkel Franz zurück und sagte: „Euer Papa kommt auch bald." Ich staunte, weil ich geglaubt hatte, der Krieg sei weit weg und unser Papa  war doch im Krieg. Der Onkel verdunkelte inzwischen die Fenster, und ich wurde langsam unruhig. Mama ermahnte uns immer: „Wenn es dunkel wird müsst ihr ins Haus." Und ich wollte nach Hause.

Dort war inzwischen Papa und zündete eine Sturmlaterne an, die auch Mama immer anmachte, wenn abends der Strom abgestellt wurde. Der Strom wurde auch oft am Tag abgestellt, nur da bemerkte ich es nicht, da Mama immer auf einem Kohleherd kochte und wir am Tag ja kein Licht brauchten. Heinz sollte uns abholen, deshalb bekam er die Lampe. Papa ermahnte ihn noch aufzupassen, wenn es Alarm gäbe, oder wenn Tiefflieger kommen würden, dann müsse er die Lampe sofort ausmachen. Wir sollten dann im Dunkeln den Weg nach Hause finden.

 Heinz war stolz auf die ihm übertragene Verantwortung und machte sich auf den Weg. Bei Tante Lore bekam er noch etwas vom Abendessen und danach ging er mit uns Richtung Brückchen. Übermütig schwenkte er die Lampe hin und her. Ich hatte Angst, dass sie ausgehen könne. Er ließ die Lampe sogar ganz im Kreis schwingen, und sie ging nicht aus.

Heulend und mit ohrenbetäubendem Lärm kam plötzlich ein Tiefflieger. Heinz rannte mit uns unter einen großen Baum und versuchte die Lampe zu löschen. Aber er machte die Flamme immer größer. In seiner Angst setzte er sich auf die Lampe. Wir stellten uns daneben - da fielen Schüsse, ich glaube es waren fünf ganz schnell hinter einander. Wir zitterten und durften nicht schreien.

Das Flugzeug war weg, und vom Baum fiel ein Ast genau neben uns. Heinz klagte: „Mein Hintern ist verbrannt!“ Mit zitternden Knien machten wir uns wieder auf den Weg. Da stand Papa vor uns. Zuerst erschraken wir ganz fürchterlich, aber als wir ihn erkannten, fühlten wir uns endlich sicher - Papa war ja Soldat.

Die Nähmaschine ratterte, und Mama  nähte ein Kleid aus dem Stoff von Lilibeth. Ich war immer schnell mit dem Mundwerk und fragte: „Kriegt sie jetzt doch Konfirmation?" Heinz hielt mir den Mund zu, aber es war schon raus. Papa erklärte: „Mama braucht dringend ein schwarzes Kleid." 

Mama weinte unentwegt und wir hörten, dass es draußen wieder regnete. Papa schob den Tisch ein Stück beiseite und ließ sich aufs Sofa fallen. "Die Feinde schießen sogar auf kleine Kinder“, seufzte er. Heinz meinte, dass es ja dunkel war und das Flugzeug uns ja nicht sehen konnte, nur die Lampe. Jetzt glaubte ich unbedingt auch was sagen zu müssen und ich petzte: „Heinz hat die Lampe ja auch hin und her geschleudert." Dafür boxte er mich und ich schrie auf.

 Papa schaute sich den verbrannten Hintern von Heinz an und schmierte den mit Salbe ein. Lena hatte eine Beule auf dem Kopf, der Ast musste wohl auf sie gefallen sein. Papa kühlte die Beule mit einem nassen Lappen. Mir fehlte nichts. 

 Wir Kinder hatten ja schon bei Tante Lore gegessen, und Mama aß mit Papa was noch im Topf vom Vortag da war.

Ich überlegte, ob ich noch schnell nach Lilibeth fragen sollte, aber Heinz guckte mich gerade so ernst an, da ließ ich es lieber sein.

Wir wollten heute besonders brav sein, da Mama immer noch weinte. Also fingen wir an uns zu waschen und Heinz ging mit uns aufs Klo. Als wir ins Schlafzimmer kamen, war das Bett von Elisabeth frisch bezogen und schön gemacht. Wir lagen in unseren Betten, dachten an sie und weinten uns in den Schlaf.

 Heinz weckte mich morgens, wir schauten ob Papa noch da war. Heinz war in Eile, er wollte in die Schule. Mama sagte jedoch: „Erst nach der Beerdigung." Ich machte den Mund auf und fragte: „Gibt es da K...?" weiter kam ich nicht - mein Bruder hielt mir den Mund zu. „Kannst du heute mal das Fragen lassen?" bat mich Papa. „Ihr könnt spielen, aber bleibt beim Haus." Er musste wichtige Sachen erledigen und ging Richtung Bahnhof.

 Ein paar Tage später musste ich wieder zu Tante Lore. Ich sagte ganz vorsichtig, weil ich Angst hatte wieder was Falsches zu sagen: „Aber heute ist doch Beerdigung von Lilibeth." „Ja“, sagte Mama weinerlich „aber du bist zu klein und Lena auch. Darum geht ihr zu Tante Lore." Sie ging mit uns bis zum Fußweg und schickte uns den Weg hinab. Als wir über das Brückchen gegangen waren, kam uns Tante Lore schon entgegen.

Heute war die gute Tante auf Kinderbesuch vorbereitet. Sie hatte Kuchen gebacken und wir aßen so viel wir konnten. Dann spielten wir wieder mit den kleinen Holzfiguren und Lena schlief auf dem Sofa ein. Nachdem sie mit einer warmen Wolldecke zugedeckt war, ging Tante Lore in die Küche ans Fenster und schaute hinauf auf die Straße.

Hier gab es nur eine Straße und ich hatte da noch nie ein Auto fahren gesehen. Überhaupt, ich hatte noch nie ein Auto gesehen, nur hin und wieder einen Pferdewagen.

Onkel Franz war ganz elegant gekleidet alles in schwarz und auf dem Kopf trug er einen Zylinder. Tante Lore sagte: "Tragt das Kind würdevoll zu Grabe, und vergiss den Kranz nicht." 

Ich hatte wieder mit offenem Mund zugehört und versuchte das nun zu verstehen. Onkel Franz ging hinter das Haus und holte den Kranz. Er war wunderschön mit weißen Blumen und einer großen weißen Schleife. Er ging über das Brückchen und den schmalen Weg hinauf zu dem Haus in dem wir wohnten.

 Tante Lore wurde ganz unruhig und wollte nicht mehr spielen. Sie ging schon wieder an das Küchenfenster und sagte: „Sie kommen." „Wer kommt, Tante Lore?" Sie zog mich ans Fenster und ich durfte auf einen Stuhl steigen, damit ich besser sehen konnte.

Ich sah eine schwarze Kutsche, Geschmückt mit weißen Bändern, und davor zwei schwarze Pferde, die waren auch geschmückt und wie ich feststellte, waren auch die schwarz angezogen. Dahinter gingen mehrere schwarz gekleidete Leute, und viele Kinder. „Die Kinder sind mit Elisabeth in die Schule gegangen“, erklärte mir Tante Lore „und die anderen Leute sind aus dem Ort."

Der Wagen hielt bei uns, und die Pferde mussten einen Kreis laufen, so dass sie wieder in die Richtung blickten, aus der sie gekommen waren.

„Komm“, sagte Tante Lore „wir gehen nach draußen, dann sehen wir mehr."

Wir gingen in den Hof jedoch fand ich, dass wir oben am Fenster besser gesehen hatten. Also gingen wir über das Brückchen und ein Stückchen weiter zum Haus. Die Schulkinder sangen ein schönes trauriges Lied und Tante Lore weinte.

Als vier von den schwarz gekleideten Männern wieder aus dem Haus kamen, trugen sie einen weißen Kasten - den stellten sie in den schwarzen Wagen. Tante Lore schluchzte und sagte: „Jetzt holen sie die Kleine." Mama, Papa und Heinz kamen auch aus dem Haus, alle ganz in schwarz.

Der schöne Wagen fuhr langsam los, und hinter dem Wagen folgte zuerst der Herr Pastor. Der Pastor hatte ein großes Buch in der Hand. Dahinter kamen Papa und Mama und Heinz in der Mitte. Alle hatten  Blumen in der Hand. Dann kamen noch ein paar Männer und Frauen auch mit Kränzen und Blumen, zum Schluss die Schulkinder, auch die hatten kleine Blumensträuße. Ich staunte und plötzlich fiel mir das Blumenarmband ein. „Hat Lilibeth ihr Armband noch?" „Natürlich“, sagte Tante Lore „ich habe es an der Hand gesehen, als ich gestern Abend bei euch war."

 Ich sah noch einmal dem Leichenzug nach und winkte. Dann fing ich an zu weinen. Wir gingen beide schluchzend ins Haus wo Lena auf dem Sofa lag und gerade wach geworden war. Ich war froh, dass sie nicht auch weinte.

Bis Heinz uns abholte blieben wir noch bei Tante Lore in der Stube. Er hatte seine schöne Hose ausgezogen und wieder seine Alte an. Er sprach nichts und putzte sich laufend die Nase. Wir nahmen Lena in die Mitte und gingen den Weg bergan nach Hause.

Tante Lore hatte zu mir gesagt: „Wenn du genau aufgepasst hast, wirst du Lilibeth nie vergessen." Sie hatte mir erzählt, dass sie jetzt beim Christkind im Himmel sei und immer auf mich aufpassen würde. „Du musst nur an sie denken und darfst sie nicht vergessen.“ Das Bild vom Leichenzug und dem weißen Sarg - so nannte Tante Lore den Kasten - legte ich zu den anderen Bildern ganz hinten in meinen Kopf.

 Heinz ging wieder in die Schule und eil es ständig regnete, ich spielte immer mit Lena auf der Dehle. Wenn Lena unzufrieden war, rief sie nach Lilibeth. Ich versuchte ihr zu erklären, dass die nun ein Engel sei und auf uns aufpasste. Lena wollte mich nicht verstehen, kein Wunder, sie war einfach noch zu klein.

An einem Nachmittag schien dann endlich die Sonne. Mama war am Waschen, da fragte Heinz ob er mit mir spazieren gehen dürfe. „Wenn ihr Lena mitnehmt“, willigte Mama ein. Heinz passte das gar nicht, aber ihm blieb keine andere Wahl. Unter einem Tuch, in der Dehle, gleich neben den Fahrrädern stand ein Kinderwagen. Er holte ihn, Mama war überhaupt nicht begeistert von der Idee. Sie hatte den Wagen schön geputzt für das Baby, auf das wir ja immer noch warteten. Außerdem hatte Heinz die Angewohnheit alles kaputt zu machen, das sah man an seinem Fahrrad. „Aber macht ihn bloß nicht dreckig! Wo wollt ihr denn hin?" rief sie uns noch nach. Er rief etwas zurück, was kein Mensch verstehen konnte, das machte er immer, wenn er Geheimnisse hatte.

 Wir gingen in die Richtung, die für mich allein verboten war. Ich staunte, als wir in den Ort kamen. Bisher hatte ich immer nur das Haus gesehen in dem wir wohnten und das von Tante Lore. Heinz zeigte auf die Schule. Hier ging Heinz jeden Tag in die Schule.

Lena wurde ungeduldig, sie wollte aussteigen und Heinz half ihr aus dem Kinderwagen. "Müssen wir denn noch weit laufen?", fragte ich. Er zeigte auf eine hohe Mauer: "Bis dahin."

 Bald waren wir dort und wir gingen durch ein großes eisernes Tor. Ich staunte, wie immer mit offenem Mund. Da waren lauter kleine Blumenbeete und Lena wollte Blümchen pflücken. „Lass das!“ sagte Heinz, „das darf man nicht." Lena streckte trotzdem die Hand aus und Heinz klopfte ihr auf die Finger. Das war Grund genug für Lena laut zu schreien. Eine Frau kam und sah nach, was da los ist. Sie ermahnte uns, leise zu sein, schreien schickt sich nicht, auf dem Friedhof.

Heinz schob den Kinderwagen durch die engen Wege und hielt bei einem großen Haufen Blumen an. Lena konnte ihre Finger nicht beherrschen und pflückte doch eine Blume. Ich schalt sie: „Das darf man nicht." Heinz ließ sie in Ruhe und erklärte mir „Dieses hier gehört uns. Hier haben wir Lilibeth beerdigt." Lena interessierte sich nur für die Blumen.

Ich fragte so vieles und Heinz antwortete mir geduldig wie Papa. So wollte ich auch wissen wie Lilibeth denn aus der Erde und durch die Blumen in den Himmel kommen könnte. Darauf wusste er auch keine Antwort. Ich solle Tante Lore fragen. Warum ich nicht Mama fragen dürfe, wollte ich nun wissen. „Papa hat gesagt, wir sollen Mama in Ruhe lassen und nicht ärgern, sie ist schwermütig." Langsam lenkte mein Bruder den Kinderwagen Richtung Straße. Er setzte Lena wieder hinein. Wir passten auf, dass die Räder nicht schmutzig wurden und gingen großzügig um jede Pfütze herum.

Dann kamen wir um die Biegung und alle Häuser waren wieder verschwunden. Vor uns lagen die zwei Häuser, die ich kannte und sonst war da nichts mehr.

Wir hatten es nicht gemerkt, aber Lena war eingeschlafen.

Leise gingen wir durch die Dehle in die Küche und Heinz fragte vorsichtig ob er den Kinderwagen mit in die Küche bringen dürfe, weil Lena eingeschlafen sei. „Nimm den Handfeger und mach die Räder sauber!", meinte Mama. Heinz erledigte das und dann kam die Frage, worauf er schon gewartet hatte: „Wo warst du mit den Kleinen?" „Wir waren auf dem Friedhof." sagte Heinz mit einem respektvollen Abstand zu Mamas Handgelenk. Er bekam keine Ohrfeige, stattdessen ließ Mama einen fetten Seufzer hören.

Wie viele Tage so vergingen, zwischen Regen, Weinen und Spielen auf der Dehle, weiß ich nicht mehr.

Ich dachte jeden Tag an meine Lilibeth, und dann träumte ich von ihr: Sie kam und sie hatte das Kleid an, das sie bei unserem Ausflug getragen hatte. Es war nicht mehr schmutzig. Sie sagte leise mit ihrer sanften Stimme: „Wir gehen jetzt aufs Klo." Wir gingen auf die Dehle, und da waren so viele Türen, dass wir die Klotür nicht finden konnten. Die Dehle wurde immer größer und es waren immer mehr Türen. Endlich fanden wir die richtige und ich setzte mich aufs Klo. Ich war so froh, dass ich noch nicht in die Hose gemacht hatte. - Da war der Traum zu Ende, Lilibeth war wieder weg, und ich lag in meinem nassen Bett.

Ich erzählte Heinz, was passiert war und er stellte fest, dass ich ins Bett gemacht hatte. Er meinte: „Oh, das gibt Ärger!" Ich traute mich nicht aus dem Bett, aber Heinz nahm mich mit in die Küche.

Mama ging ins Schlafzimmer um Lena anzuziehen, dann frühstückten wir und gingen zum Spielen. Als Mama die Betten machte, sah sie die Bescherung. Sie rief mich durch das offene Küchenfenster: „Clara komm sofort zu mir!" Ich kam in die Küche. Da stand Mama

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien: Titel: Mit freundlicher Genehmigung: www.koblerhof.de, sonstige Bilder: eigene
Tag der Veröffentlichung: 04.01.2012
ISBN: 978-3-7309-3121-9

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