Cover

Vorwort


Die in dieser Kurzgeschichte beschriebenen Personen sind frei erfunden. Einige Ereignisse beruhen auf Erfahrungen, andere entsprangen der Fantasie und geben empfindsame Begebenheiten wider, mit denen sich ein Mensch auseinandersetzt, dessen Stimme an Leistungsfähigkeit und damit an Aussagekraft verliert.

Es gibt Einblicke in die Tätigkeiten von Therapeuten, deren Handeln stets großen Einfluss auf die Persönlichkeit des Gegenüber haben, in welcher Form auch immer, wobei hier nur ein Beispiel angeführt wird.



Unsere Stimme

 

 Innerhalb der Ausbildung zum Logopäden gibt es zahlreiche supervidierte Therapiestunden, in denen die Studentinnen und viel zu wenigen Studenten dieses Faches ihre Fähigkeiten erlernen mögen.

 

Die Lernenden arbeiten in einem Therapieteam und versuchen mit dem Dozenten gemeinsam, dem Patienten, der sich freundlicherweise zur Verfügung stellt, Hilfe und Unterstützung bei der Behandlung seines Leidens zu gewähren.

 

Nach zahlreichen Theoriestunden und Selbsterfahrungsseminaren muss nun das erlernte Wissen in die Praxis umgesetzt werden.

 

So war es also an der Zeit, dass Aga Derm und Georg Monte sich einem Stimmpatienten annahmen, um ihre Fähigkeiten zu erproben.

Natürlich saßen sie vorher zusammen, werteten die ärztliche Diagnose, ihre selbst erhobenen Anamnesedaten und eigenen diagnostizierten Ergebnisse aus.

 

Dabei stellten sie fest, das ihr Patient Herr Frank Stern, im Alter von 37 Jahren, ein schwieriger Fall werden würde.

 

 

Sie lernten ihn als einen freundlichen, dennoch recht komplizierten jungen Mann kennen, der mit Hilfe zahlreicher anderer therapeutischer Behandlungen wie Gesprächspsychotherapie, Schmerztherapie oder auch autogenes Training sein Leben zu meistern versuchte.

 

Herr Stern war trotz seiner objektiven und subjektiven Beschwerden immer beruflich stark eingespannt und arbeitete schon seit mehr als 5 Jahren freiberuflich als Dozent für Betriebswirtschaftslehre an verschiedenen Lehreinrichtungen.

Für den ledigen, kinderlosen Herren war sein Beruf der Mittelpunkt seines Strebens, in dem er voll aufgehen wollte.

 

Vor etwa einem Jahr beklagte er seinem HNO-Arzt seine nicht mehr leistungsfähige Stimme, die er für seine Lehrtätigkeit von bis zu 30 Unterrichtsstunden in der Woche, in denen er über 90 Minuten, also zwei Einheiten zusammenhängend wirke, aber dringend bräuchte.

 

Als Ursache seiner Stimmprobleme führte er Halsschmerzen sowie eine enorme Anstrengung beim Sprechen an. Er hätte das Gefühl, dass er beim Reden mehr Kraft aufwandte als früher.

 

Weiterhin litt er an Migräne und Verspannungen im Hals-Schulter-Bereich. Die Besuche beim Orthopäden, der ihn drei Mal im Monat ausrenkte und die verschriebenen Massagen halfen nur bedingt.

 

Da der HNO-Arzt außer einer leichten Rötung und zuweilenden Trockenheit der Stimmlippen nichts weiter feststellte, verordnete er Logopädie mit der Diagnose: hyperfunktionelle Stimmstörung mit einer hypertonen Fehlhaltung im Bereich der HWS.

 

Obwohl die Symptome dieser Stimmstörung Außenstehenden kaum auffallen, nur wenn die Stimme heiser oder krächzend klingt eine Erkältung vermutet wird, ist es für die Betroffenen meist eine schwere Einschränkung im Alltag.

 

Die Stimme ist ein bedeutendes Tor zur Welt mit deren Hilfe wir Gedanken, Gefühle, Wünsche, Ärger, Erfahrungen sowie Erkenntnisse oder Visionen ausdrücken.

Sie ist Ausdruck unserer Seele und zeigt relativ schnell eigene Stresszustände auf.

 

So wurde es für Herrn Stern über einige Jahre seiner Schaffenskraft immer problematischer, sich den Faktoren der Überarbeitung zu entziehen, die er sich selbst aufbürdete und seine Stimmkraft ins Schwanken brachte.

 

Sicher können andere Menschen mit ebensoviel harten Arbeitsjahren über derartige Schwierigkeiten gelassen hinwegsehen, dies hängt jedoch stark mit der Konstitution, dem entsprechenden Wahrnehmungsvermögen und der Prägung eines jeden einzelnen zusammen.

 

 

Ihnen widerfährt bestimmt eine anderweitige Symptomatik durch Stress.

 

Herr Stern allerdings, bemühte sich seine Konstitution, vor allem seine körperliche Konstitution, die eigentlich durch eine hypotone Muskulatur gekennzeichnet ist, mit vermeintlich unbewusster muskulärer Gegenarbeit zu stärken und verfiel im Laufe der Zeit in einen Kreislauf, der wie eine Spirale nach oben und zur Verstärkung der nun aufgetretenen Problematik führte.

 

Viele Menschen verlernen im Verlauf ihrer Lebensjahre auf die kleinen warnenden Hinweise ihres Körpers zu achten oder setzen sich schnell mal darüber hinweg, ohne zu merken, dass sie dadurch ihrem Körper Schon- und Fehlhaltungen aufbürden, die sich schneller manifestieren und automatisieren als diese nach einem sogenannten negativen Synergieeffekt mit einer offen hervortretenden Erkrankung wieder rückgängig zu machen wären.

 

So ist also erklärbar, dass die hyperfunktionelle Stimmstörung des Herrn Stern eigentlich auf einer hypotonen Muskulatur beruht, die sich den beiden angehenden Logopäden deutlich in seiner schlaffen Körperhaltung sowie Mundmuskulatur und der leicht verwaschenen Aussprache zeigten.

 

 

Seine Schultern allerdings, die sowohl vom Orthopäden als auch vom HNO-Arzt als hyperton bezeichnet wurden, versuchten den Körper zu stützen und in seiner aufrechten Position zu halten.

Dies war sein Mittelpunkt, der in Anbetracht des Körperbaus eines Menschen viel zu weit oben lag. Die Anstrengung dieser unbewussten Muskelarbeit strahlte nun in andere Körperregionen aus und äußerte sich entsprechend in Kopf- und Rückenschmerzen sowie in der Stimmstörung.

 

Er presste zu sehr beim Sprechen, was zu einer Rötung der Stimmlippen, damit zur einer Schleimhautdisposition und Trockenheit in diesem Bereich sowie zu Heiserkeit und stimmlichen Leistungsabfall führte.

 

Innerhalb der genannten Körperbereiche verlernte er den Unterschied zwischen Entspannung und Nutzspannung, wodurch sich der Spannungszustand der Muskulatur immer höher schraubte und eine Entspannung ohne andere Hilfe kaum noch möglich war.

 

Jeder Körper versucht zunächst still und heimlich derartige Diskrepanzen auszugleichen, bis er dann in Form eines plötzlichen Aktionspotentials meldet, dass etwas nicht in Ordnung und es nun mehr als höchste Zeit ist, dagegen konstruktiv aktiv zu werden.

Er möchte wieder ursprüngliche Bewegungs- oder auch Verhaltensmuster aufgreifen, was leider eines der schwierigsten Aufgaben und nicht in allen Fällen machbar ist.

 

Der erste Gang zum Arzt ist deshalb ein ernstgemeinter Wunsch unseres Unterbewusstseins, dem Herrn Stern glücklicherweise folgte und nun im Fachbereich Logopädie auf Unterstützung hoffte.

 

Der Bereich Stimme vermittelt deshalb nicht selten ein allumfassendes Therapiekonzept, welches auch Lebensgewohnheiten zu verändern sucht und damit den Fokus unserer Aufmerksamkeit auf uns selbst zurückführt, wieder die Wahrnehmung in den Vordergrund rückt, denn aufgrund unserer Wahrnehmung haben wir uns zu einzelnen Charakteren entwickelt, deren Spuren im Alltagsrhythmus oft verloren gehen und dennoch bewahrt werden sollten.

 

Um diese Fährte zu finden, die keineswegs mit Narzissmus verwechselt werden darf, sondern als Innere Mitte bezeichnet wird, ergriff Herr Stern die Initiative, stellte sich sogar Studierenden zur Verfügung, weil das Haus, in dem die Therapien stattfanden einen sehr guten Ruf hatte.

 

Es war ihm so wichtig, dass er bereits das zweite Therapeutenteam um Unterstützung bat. Nicht dass das erste Team ihm nicht helfen konnte, nein es liegt vielmehr daran, dass eine Stimmtherapie meist eine langfristige Behandlung darstellt, auch wenn diese heutzutage von Krankenkassen unterbewertet wird.

 

 

 

Natürlich kann eine Therapie immer nur eine Hilfestellung sein, aber zu erwarten, dass ein Patient oder ein Therapeut einen Knopf drückt und die Symptomatik einfach wegpustet ist absurd, schließlich sehen wir bei einer Stimmstörung oft nur die Spitze eines Eisbergs.

 

Diesen im Gefecht einer Ellenbogengesellschaft, die durch Gewinnmaximierung geprägt ist, zum Tauen zu bringen, ist kein einfaches Unterfangen und ist abhängig von den Möglichkeiten des Patienten sich auf diese Veränderungen einlassen zu können.

 

Die Fähigkeit eines Therapeuten ist zwar ausschlaggebend für den Erfolg, aber nicht oft der Spiegel des Ergebnisses.

 

Der Therapeut darf dabei in seiner Tätigkeit nicht seine Lebensvorstellungen vermitteln oder oktroyieren, sondern die des Patienten herauskitzeln, stärken und positionieren.

Das ist nicht immer einfach, denn der Therapeut ist auch nur ein Mensch, muss oft selbst genug eigene Stresssituationen meistern.

 

Viele Patienten verlassen sich aber auch unbedenklich auf die Hilfe des Gegenüber, suchen viel zu wenig in sich selbst ihre verlorenen Stärken und brechen nicht selten vorzeitig die Therapie ab.

 

 

Eine Stimmtherapie ist immer harte Arbeit an sich und seiner Wahrnehmung, die durchaus zeitaufwendig sein kann.

 

Über das Anleitungsvermögen des vorherigen Therapeutenteams gewann Herr Stern jedoch einiges an Sicherheit zurück, was er Frau Derm und Herrn Monte mit Stolz berichtete.

Trotz seiner verschämten Eitelkeiten, die ein enormes Einfühlungsvermögen verlangten, wurde durch das erste Team mit Hilfe von Wahrnehmungsübungen sein unwiderruflicher Enthusiasmus gestärkt.

 

Er lernte über Tonusregulierungsübungen nach Jakobsen die willentliche An- und Entspannung einzelner Muskelgruppen, um im Moment der gefühlten Anspannung im Alltag diese lösen zu können.

Weiterhin wurde ihm die Ruhe- und Sprechatmung bewusst gemacht und seine Bauchatmung angeregt, wobei man nicht wirklich in den Bauch atmet, sondern durch eine tiefere Einatmung sein Lungenvolumen vergrößert und damit über das Zwerchfell die Baucheingeweide verschiebt, wodurch sich der Bauch leicht vorwölbt. Dadurch wird es später möglich, die Bauchdecke oder das Zwerchfell gezielt für das Sprechen, gerade in Sprechberufen, einzusetzen.

 

Bis dahin war es aber noch ein weiter Weg.

 

Ebenso wurde an der profunden Wahrnehmung des Mundraums und an der artikulatorischen Ausformung gearbeitet. Eine kraftvolle, zielsichere, aber nicht überschießende Bewegung von Zunge und Lippen sind für eine tragende Stimme von enormer Bedeutung.

 

Man kann es vielleicht wie ein Billardspiel betrachten, wobei der Kö als Konsonant und die Kugel als Vokal fungieren. Der Kö gibt dabei der Kugel Richtung, Lauflänge sowie Rotationsvermögen vor, so wie Zunge und Lippen dem Vokal die entscheidende Deutlichkeit und Tragweite ermöglichen.

 

Der gesamte Mund und die Nasennebenhöhlen als Resonanzraum geben der Stimme indes ihren charakteristischen Klang, den sich Herrn Stern mühsam durch das Erarbeiten eines vorderen und nicht kehligen Stimmansatzes stetiger zu eigen machte.

 

Allerdings hätte er noch große Probleme mit der Sprechatmung, was ihn bei seiner Arbeit ständig zurückwerfen würde. Er verfalle auch noch in ein zu schnelles Sprechen und komme nicht selten in Sprechatemnot, was ihn auf Dauer noch immer ärgere.

 

Ja, natürlich ist die Übertragung des Gelernten in einem geschützten Raum auf den Alltag sehr schwierig, da man gleichzeitig Situationen ausgesetzt ist, die einem die notwendige Aufmerksamkeit dafür rauben und sich schnell wieder alte Gewohnheiten durchsetzen.

 

Deshalb gedachten Frau Derm und Herr Monte im weiteren Therapieverlauf, genau diese Sprechatmung durch ein gezieltes Training der reflektorischen Einatmung positiv zu beeinflussen.

 

Sich in diesen Gedanken vertiefend, öffnet sich die Tür des Therapiezimmers. „Ach, der Patient ist noch nicht da? Das ist ja gut.“ sagt die Dozentin Frau Pett.

Sie ist eine selbstbewusste, junge Frau, die das Fach Stimme mit Leidenschaft doziert und ihre Seminare recht anschaulich hält.

 

Da sich die StudentInnen und DozentInnen in den logopädischen Fächern mit Vornamen ansprechen und auch duzen, fragt sie auf einer relativ persönlichen Ebene: „Machst Du heute die Therapie Aga?“

 

Den zuvor schriftlich erarbeiteten Therapieplan übergebend, der die genaue Vorgehensweise mit stichhaltigen Begründungen beinhaltet, erwidert Aga: „Ja. Wir erarbeiten gerade die reflektorische Atemergänzung durch ein exaktes Abspannen und wollen es am Ende der Stunde auf einen Text übertragen.“

 

„Sehr schön.“ stimmt Frau Pett zu. „Kannst Du vielleicht noch mal kurz die Ergebnisse Eurer Diagnostik zusammenfassen?“ fordert sie, um sich den Patienten in Erinnerung zu rufen.

 

Aga schlägt die erste Seite ihres Hefters auf und gibt zur Auskunft: „Herr Stern ...“ „Ach ja.“ platzt Frau Pett dazwischen, was keineswegs darauf hindeutet, dass sie unvorbereitet, vielleicht eher Ausdruck des Hetzens von einer Veranstaltung zu nächsten ist.

„Also, Herr Stern hat eine unauffällige Stimme. Seine Modulationsbreite ist physiologisch, wobei der Stimmansatz bei Anstrengung leicht nach hinten rutscht und ein hypernasaler, resonanzarmer Stimmklang auftreten kann. Die mittlere wie auch ungespannte Sprechstimmlage liegen im Normbereich, was für einen guten Spannungszustandswechsel der Stimmlippen spricht.“

 

„Mh, das ist wirklich gut, dass er jetzt auch schon richtig locker sprechen kann, wenn er sich zurücklehnt.“ freut sich Frau Pett. Ich erinnere mich noch daran, dass es zwischen beiden Sprechstimmlagen keinen Unterschied gab, er ständig angespannt sprach, ich würde meinen über die mittlere Sprechstimmlage sogar hinaus, schon fast gepresst.“

 

„Ja, das ist jetzt viel besser.“ entgegnet Aga. „Allerdings ist seine Aussprache noch immer zu undeutlich aufgrund seines schnellen Sprechtempos und der viel zu langen Phrasen, bedingt auch durch die unzureichende reflektorische Einatmung.

Seine Atempausen zeigen noch deutlich eine fehlende Abspannung, was nicht selten zur Hochatmung und Luftpumpeneinatmung führt, obwohl er dies in einigen Übungen schon recht gut umsetzen kann.

Aber auch gegenüber seiner Tonhaltedauer von ca. 20 Sekunden ist die Ausatemdauer auf [f] für 8 Sekunden und auf [s] für nur 6 Sekunden extrem herabgesetzt, was beweist, dass seine mundmotorischen Muskeln, trotz vielfältiger mundmotorischer Übungen noch nicht kräftig genug sind, um einen Unterrichtstag ohne Beschwerden durchzuhalten.“

 

Mit diesem Wissensstand will Frau Pett keine weitere Zeit verschenken und sagt: „Na dann gibt es ja noch einiges zu tun. Wollen wir uns nicht länger abhalten lassen. Ist der Patient denn schon draußen?“

 

Wohlwissend, dass Herr Stern schüchtern und wohlerzogen sicher auf dem Flur warte, geht Aga zu Tür und bittet ihn herein.

 

Währenddessen setzen sich Herr Monte und Frau Pett in die Nähe des Fensters, so als wären sie nicht im Raum.

 

Beide ins Zimmer kommende sind nun natürlich aufgeregt. Aga, weil sie eine gute Therapie zeigen möchte und Herr Stern wegen der Zuschauer, die jetzt wieder einen kleinen Teil seines Innenlebens erfahren können.

 

Aga weiß darum und ist gerade deshalb sehr froh, einen männlichen Co-Therapeuten an ihrer Seite zu haben, um zu sehen, wie sich Herr Stern ihm gegenüber zeigt und es in diesem Fall nicht an den zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau hapert.

 

Herr Stern ist Herrn Monte nur wenig aufgeschlossener, dennoch etwas gelassener gegenüber. Die Therapie steht also auf einer guten Basis, in der sich beide, Patient wie angehende Therapeutin, akzeptieren und gemeinsam lernen.

 

Herr Stern setzt sich, nachdem er kurz von Frau Pett und Herrn Monte begrüßt wurde, auf einen Stuhl, der sich prägnant, leicht schräg gegenüber Agas Sitzplatz befindet.

Der etwas schräge Winkel wirkt nicht so doktrinär und lockert die Atmosphäre entsprechend auf.

 

Ihm steht nun etwas Freiraum zu, um sich in die neue Situation einzugewöhnen, worauf Aga höflich fragt: „Wie geht es Ihnen heute? Haben Sie etwas Zeit gehabt, um zu üben?“

 

Mit einem kurzen Blick zu Frau Pett antwortet er: „Ach, mir geht es nicht sehr gut. Die letzte Woche war so stressig. Ich habe sehr viele Stunden gegeben und bin nicht sehr zufrieden mit mir.

Ich habe zwar etwas üben können, dennoch fühlte sich meine Stimme so fest an. Ich konnte in den letzten zwei Tagen kaum dozieren.

Mein Rücken schmerzte furchtbar und ich glaube, ich bekomme nachher noch Kopfschmerzen. Ich fühle, wie sich das Wetter ändert, dann habe ich immer mit Kopfschmerzen zu kämpfen.“

 

„Wird es Regen geben?“ unterbricht Aga seinen Monolog.

 

„Ja, ich habe es auch im Wetterbericht gehört. Die nächsten Tage sollen kälter und nässer werden. Zum Glück habe ich in der nächsten Woche weniger Stunden, obwohl ich dann viel zu Hause vorbereite. Sie wissen ja.“ beendet er zögerlich lächelnd seine Aussage.

 

„Fühlen Sie sich denn jetzt gut genug, um in der Therapiestunde mitzuwirken?“ fragt Aga absichernd.

 

„Aber ja, sonst wäre ich doch nicht gekommen und hätte abgesagt. Wir können gern anfangen.“

 

Erfreulich darüber, die Einführung beenden zu können, sagt Aga: „Okay, dann legen wir auch gleich los und wärmen uns erst einmal etwas auf. Einverstanden?“

 

Herr Stern rückt sich kopfnickend auf dem Stuhl zurecht.

 

„Vielleicht können Sie heute die Übungen vorgeben, die für das Aufwärmen der Mundmuskulatur von Bedeutung sind!“ fordert Aga ihn sogleich auf.

 

Er lässt sich nicht lange bitten und legt sofort los: „Die Augenbrauen hoch und runter ziehen!“

Beide sitzen sich nun direkt gegenüber, da Aga ihren Stuhl indes in die Arbeitsposition brachte.

 

Die Augenbrauen gehen 10-mal hoch und 10-mal herunter.

 

„Jetzt die Wangen aufblasen!“ Aga hört deutlich das Atemgeräusch des Patienten, der alles sehr exakt ausführen möchte.

 

„Jetzt die Lippen durch die Zähne ziehen!“ Eifrig beißt Herr Stern auf seine Oberlippe und führt die Zähne sanft nach hinten, wobei die Oberlippe massiert bzw. angeregt wird.

Nachfolgend setzt er seine Schneidezähne auf die Unterlippe und stimuliert diese.

 

Natürlich macht Aga kräftig mit, überprüft aber nebenbei die Ausführung der Übungen, um gegebenenfalls Hinweise zu geben. Es ist jedoch nicht nötig.

 

„Jetzt die Lippen spitz und breit machen!“ Nach dem dritten Mal gibt Aga dennoch kurz vor: Ja, sehr gut, aber vielleicht ein wenig langsamer und ruhig die Lippen kurz in der jeweiligen Position halten. Dann stärken Sie Ihre Lippen gleich ein wenig.“

 

Wohlgesonnen befolgt Herr Stern die Vorgabe und wiederholt diese Übung noch ein paar Mal in der Geschwindigkeit, wie Aga diese ausführt.

 

„Jetzt Lippen flattern lassen!“ sagt er bestimmend. Durch den Raum raunt es, als wären zwei kleine Pferde anwesend.

 

Herr Stern überlegt kurz, ob er eine Übung vergessen hat, setzt aber sogleich die erste Zungenübung an:

 

„Jetzt die Zunge raus und rein stecken!“ Seine Zunge ist dabei etwas schlapp und wird nicht zielsicher mittig herausgestreckt, sondern mit Unterstützung des Kinns und der Unterlippe nach oben, eher Richtung Nasenspitze gebracht.

 

Aga muss nun deutlich eingreifen und bittet Herrn Stern: „Versuchen Sie die Zunge frei von den Lippen gerade herauszustrecken. Vielleicht nicht ganz so weit, dann ist es etwas einfacher.“

 

Von seiner Schwäche innerlich berührt, fragt er: „Tu ich das nicht?“

 

Lächelnd schüttelt Aga den Kopf und gibt ihm die Möglichkeit: „Möchten Sie die Übung noch einmal am Spiegel überprüfen?“

 

Doch Herr Stern lehnt ab und führt die Zunge nun bewusster aus dem Mund, wobei es ihm recht schwer fällt.

 

Schon sehr lange macht er mundmotorische Übungen, doch gerade diese Muskelgruppe muss täglich beübt werden, um sie zu kräftigen und selbst dann dauert es noch relativ lange, bis sie ausreichend gestärkt ist und ein schneller Abbau der gewonnenen Kraft wieder verhindert wird.

Man kann schlecht mit Gewichten trainieren, wie es beim Bizepsaufbau üblich ist.

 

Seine Lippenkraft allerdings, versucht er mithilfe eines Gewichts zu Hause auf diese Weise zu verbessern.

Dazu hat er an einem Band auf der einen Seite einen großen Knopf, der von den Lippen fest umschlossen wird und am anderen Ende ist ein Gegenstand aus seinem Haushalt, der gerade so schwer sein darf, wie die Lippen das Gewicht dessen tragen können.

Er konnte bereits die Haltezeit verlängern und die Last leicht erhöhen.

 

Diese Kraftzunahme ist in der nachfolgenden Übung merklich zu erkennen, denn beide stecken nun abwechselnd die Zunge in die rechte, dann in die Linke Wangentasche, wobei der Mund fest verschlossen bleiben muss.

 

„Das geht schon sehr gut.“ lobt ihn Aga.

 

„Jetzt die Lippen im Kreis lecken!“ gibt Herr Stern weiter vor.

 

Ja, auch hier muss Aga nochmals darauf hinweisen: „Lassen Sie bitte den Mund locker offen dabei und versuchen Sie die Zunge allein arbeiten zu lassen. Nur die Zungenspitze darf die Lippen berühren.

Sie wissen ja, die Zunge ist unser einzigster Muskel, der dreidimensional tätig ist, weil sie nur einen Ursprung aber keinen Ansatz hat. Geben Sie ihr diese Freiheit! Versuchen Sie es!“

 

Natürlich bemüht er sich sofort und überträgt diese Vorgabe auch gleich auf die nächste Übung, bei der beide die Ober- und Unterlippe abwechselnd mit der Zungenspitze antippen.

 

„Hervorragend, viel besser, Herr Stern.“ ermuntert ihn Aga.

 

„Haben ich etwas vergessen?“ will er nun wissen.

 

„Eigentlich nicht. Das waren die wichtigsten Übungen, die uns auch jung halten und später die Falten glätten. Die Nase rümpfen könnte man vielleicht noch dazu nehmen.“ schmunzelt Aga.

 

Im gleichen Augenblick fällt ihr ein: „Eine Übung ist vielleicht noch wichtig. Die möchte ich in unserer Aufwärmphase nicht missen.

Ich weiß, sie ist Ihnen nicht so recht, aber dennoch sehr wichtig. Ich meine die Übung – das Gesicht verziehen.“

 

Dadurch, dass Aga von seinem Unbehagen wusste und es direkt ansprach, fühlte er sich ein wenig ertappt und verzieht ohne Murren sein Gesicht.

Beide meiden für diese Zeit den Augenkontakt, überprüfen dennoch die Ausführungen des anderen.

 

Sich zu zweit zum Trottel zu machen ist einfacher, wobei Aga ihn gut versteht, ging es ihr während der Selbsterfahrungsseminare mit anderen Übungen anfangs ähnlich.

 

Man kommt sich irgendwie doof vor, weil man die Zusammenhänge noch nicht kennt und nun plötzlich jemand Fremden die Zunge herausstrecken oder ein unschönes Gesicht zeigen soll.

 

Unser Gesicht ist schließlich eins unserer Markenzeichen.

 

Selbst Kinder zieren sich manchmal bei der Herausstreckübung, da es doch die Mama verboten hat. Sie zu überreden, ist im Spiel jedoch oft einfacher.

 

Herr Stern beendet die Übung entsprechend schnell und setzt somit ein Zeichen für den Beginn des nächsten Abschnitts der Therapie.

 

Dadurch, dass nun alle kurz ihre Aufmerksamkeit entziehen können, während sie sich neu zurechtsetzen, Herr Stern und Aga die Stühle zur Seite stellen, wird es etwas unruhig im Raum.

 

Die Agierenden suchen sich eine wohlpositionierte Stelle, um die nächsten Übungen im Stehen durchzuführen.

 

Der Abstand zwischen beiden regelt sich von ganz allein, da sich jeder seines eigens natürlich empfundenen Sicherheitsradius, genau dem Abstand, der die Balance zwischen sich einander nähern, Respekt waren oder Freundschaft bekunden, aufstellt.

 

Eine Überschreitung dieser Grenze bezeichnet man als distanzlos, ist selten ein Irrtum und bedarf eigentlich einer neurologisch bedingten Wahrnehmungsstörung oder übelster Unverfrorenheit.

 

Aber irgendwie wird es plötzlich dunkel, obwohl es noch nicht einmal 16:00 Uhr ist.

 

Tatsächlich, das Gefühl Herrn Sterns trog nicht. Dicke Regentropfen prasseln laut gegen das Fenster und Aga muss den Lichtschalter betätigen.

 

„Na, hab ich doch gesagt. Da haben wir den Regen.“ bekundet Herr Stern.

 

„Ja, ein bisschen heftig. Ich mag lieber den schönen warmen Landregen.“ fügt Aga hinzu und stellt sich ihm gegenüber auf.

 

„Ein Landregen ist wirklich schön. Vor allem aber und das ist von äußerster ökologischer wie wirtschaftlicher Bedeutung, wird das Wasser für die Bäume und Pflanzen nicht gleich weggespült. Der Boden kann es viel besser aufnehmen.“ doziert Herr Stern freundlich.

 

„Ich sage immer, Kaffeegrund und Regen machen schön. Wobei, und das darf ich vielleicht kurz anbringen, es schon einen äußerst charmanten Patienten gab, der mich in den Regen schickte.

Er hatte allerdings eine Aphasie, die sein Wortabrufvermögen beeinträchtigte und so kann ich nur hoffen, dass er sich in der Wortwahl vergriff oder einen Scherz machte.“ lacht Aga.

 

Der aufgelockerten Situation angemessen, bemerkt Herr Monte wohltuend: „In den Jungbrunnen wollen alle gern. Schön, wenn da schon ein kleiner Regenguss genügt.“

 

Frau Pett, die allen Ausführungen mit großer Aufmerksamkeit folgte, unterbricht das Geplänkel und fragt Herrn Stern: „Haben Sie jetzt Kopfschmerzen bekommen?“

 

„Nein, vielen Dank der Nachfrage.“ wendet er sich ihr zu. Ich habe derzeit nur ein leichtes Druckgefühl, wir können gern weitermachen.“

 

„Sehr gut.“ bekräftigt Frau Pett und reicht diese Aufgabe mit einem leichten Handzeichen an Aga weiter.

 

„Okay, dann möchte ich, dass wir mit dem Igelball unsere Fußsohlen massieren, indem wir mit der Sohle über den Ball rollen.“

 

Aga wirft Herrn Stern einen der Bälle zu und beide beginnen ihre Füße bewusster wahrzunehmen. Nach etwa 2 Minuten sind die Fußsohlen leicht erwärmt, um im Stand eine gute Haltung aufzubauen und die Aufmerksamkeit in Richtung Füße zu lenken.

 

„Stehen Sie gut?“ will Aga wissen.

 

Herr Stern tänzelt noch einmal ganz leicht, stellt beide Füße in Hüftbreite auf und gibt dann eine bejahende Auskunft.

 

„Gut, dann wollen wir erst einmal unser Zwerchfell anregen. Bitte sagen Sie ganz locker „hop“ und tun Sie so, als würden wir uns einen kleinen Ball zuwerfen, den wir auch fangen müssen! Ich beginne.“

 

Aga hebt ihren rechten Arm und führt ihn entsprechend eines Wurfes nach vorn, während Sie „hop“ sagt.

Herr Stern, der die Übung bereits kennt, ergreift pantomimisch den Ball und wirft ihn auf leichte Art und Weise mit einem „hop“ zurück.

Diese Übung erfolgt in einem längeren Wechsel auf allen möglichen Silben wie hup, hep, hip, hap oder auch hot, hut, het, hit, hat.

 

„Sehr schön, Herr Stern.“ leitet Aga die nächste Übung ein. „Versuchen Sie jetzt diese Übung auf eine Silbe mit einem Vokal am Ende zu übertragen! Versuchen Sie bitte das gleiche Abspanngefühl, welches durch den Konsonanten erheblich erleichtert wird, auf den Vokal anzuwenden.

Der Kiefer darf also nicht verspannen, den Mund locker öffnen und die Luft reflektorisch ergänzen lassen.

Die Lunge holt sich schon, was sie braucht. Das ist eigentlich automatisiert. Nur der Ausatem darf dosiert werden. Also bitte nicht einziehen! mahnt Aga noch.

 

Sie beginnt wieder und beide werfen sich imaginär einen Ball zu und phonieren dabei einzeln „ho, hu, he, hi, ha“, immer eine Silbe pro Wurf.

 

Nach einigen Wechseln unterbricht Aga und fragt: „Welche Silbe gefiel Ihnen gut und welche bereitet Ihnen noch Schwierigkeiten?“

 

„Mh..., na ja.“ kommt es etwas zögerlich, ist doch die Selbstwahrnehmung eine der schwierigsten. „Ich möchte meinen, dass es ganz gut war.“ gibt er kühn an.

 

„Ja, mir hat es auch gut gefallen, bis auf die Silbe [ha]. Auf [a] abzuspannen ist nicht leicht, da der Mund schon fast in Einatemstellung ist.

Hier hatte ich das Gefühl, dass Sie sich nicht genügend Zeit für die Atempause lassen und die Luft noch ein wenig einziehen.

Wenn Sie bedenken, sind die Spannungsunterschiede der Mundmuskulatur sehr gering, man benötigt also eine viel feinere bewusste Wahrnehmung als beispielsweise bei der Armmuskulatur.

Vielleicht können wir nur noch einmal auf [ha] abspannen und beachten Sie, dass sich der Mund nach der Phonation von [a] nicht noch weiter öffnet, sich eher durch die abgespannte Muskulatur wieder leicht schließt.

Versuchen Sie mehr an unser imaginäres Ballspiel zu denken, als an die Mundöffnung! Okay?“ bittet Aga Herrn Stern und wirft ihm den Ball auf „ha“ zu.

 

Jetzt unterbricht Herr Stern nach einigen Wechseln die Übung und fragt: „War es nun besser?“

 

„Ja, viel besser. Vielleicht könnten Sie das zu Hause noch ein wenig üben, damit es sich automatisiert. Das wäre schön.“ fordert Aga freundlich.

 

Herr Stern nickt mit dem Kopf und will gerade darauf hinweisen, dass seine Zeit begrenzt ist, doch Aga fällt ihm ins Wort: „Üben Sie so wie Sie Zeit finden. Am besten wäre natürlich täglich. Vielleicht teilen Sie sich die Übungen in der Woche so ein, dass keine unter den Tisch fällt!“

 

„Selbstverständlich werde ich mein Möglichstes tun“ antwortet er leicht pikiert.

 

Sich nicht davon irritieren zu lassen, schlägt Aga im weiteren Verlauf vor: „In der nächste Übung soll nun die reflektorische Einatmung aufgrund des Abspannens mit einer bewussten Ausatemverlängerung kombiniert werden.

Es ist praktisch eine Vorübung für Sätze. Erst phonieren wir auf [f] und beenden den Atemstrom mit [t], dann lassen wir das [t] am Ende weg. Es ist so ähnlich wie bei der vorherigen Übung mit dem [a] am Ende.

Was schlagen Sie vor? Wieviel Sekunden möchten Sie das [f] halten?“

 

Da Herr Stern die Übung bereits kennt, gibt er mutig an: „Zehn Sekunden.“ „Okay, dann zählen wir also innerlich bis Zehn und führen die Hand vom Mund aus von uns horizontal weg. Wenn wir Abspannen, lassen wir den Arm locker fallen.

Ich mache es noch einmal vor.“ und schon hebt Aga Ihren Finger, führt ihn während sie einatmet zum Mund und phoniert dann [f] genau 10 Sekunden, lässt ihren Arm fallen und wiederholt das Ganze, um deutlich die Atemergänzung zu zeigen.

 

Anschließend bittet Sie Herrn Stern: „Versuchen Sie es nun, gern 5-mal auf [ft] und dann 5-mal auf [f].“

 

Natürlich ist Herr Stern sehr bemüht. Ihm gelingt es auch ganz gut, da er jetzt vielmehr Luft verbraucht als bei der Vorübung und mehr neuen Atem ergänzen muss, das Abspannen also deutlicher zu spüren ist.

 

Beeindruckt von seinen Fortschritten platzt Aga, noch bevor er seinen Auftrag beendet, begeisternd heraus: „Das war hervorragend, genau so, wie gerade eben, sieht es sehr gut und locker aus.“

 

„Ja, wirklich?“ will er freudig wissen und schaut sogleich zu Frau Pett, um auch von ihr eine Bestätigung zu erhalten.

 

Diese reagiert natürlich kaum, lächelt nur ein wenig zustimmend, denn sie weiß, dass es nicht gut ist, sich in das Geschehen einzumischen, hält sich also bewusst zurück.

 

„Ja wirklich.“ antwortet Aga, um seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. „Das müssen wir gleich auf unsere nächste Übung übertragen, die Sie auch schon kennen.“

 

Herr Stern ahnt nichts gutes. „Meinen Sie die Übung mit dem Gummiband?“ fragt er ablehnend.

 

„Ja, genau. Haben Sie diese zu Hause üben können?“ wendet Sie sich ihm zu.

 

„Die Übung ist ja furchtbar. Sie gefällt mir überhaupt nicht. Ich möchte diese Übung nicht machen. Ich kann mich ja auch so nicht vor meine Studenten stellen.“ antwortet er etwas barsch und bestimmend.

 

‚Oh je’, mit dieser Antwort hat Aga nicht gerechnet, wobei er in der Stunde zuvor gut mitmachte, sie ihm diese Übung sogar schon als Hausaufgabe mitgeben konnte.

 

‚Was ist denn plötzlich los’ denkt sie. ‚Nun habe ich alles akribisch vorbereitet, will darauf aufbauen und der weigert sich einfach. Was mach ich denn jetzt?’

 

Völlige Ruhe herrscht im Raum. Niemand bewegt sich. Nicht einmal Frau Pett reagiert auf den fragenden Blick von Aga, denn diese kleine Meinungsverschiedenheit müssen die beiden Agierenden unter sich beenden.

 

‚Was mach ich jetzt?’ geht es ihr wieder durch den Kopf. Schließlich ist sie eine angehende Logopädin, deren therapeutische Flexibilität erst reifen muss.

 

Doch plötzlich kam ihr ein Gedanke, den sie auch sogleich äußert: „Eigentlich ist es eine wichtige Übung, die Sie weiterbringen soll. Vielleicht können Sie mir zeigen, was Ihnen nicht gefallen hat?“

 

Ob nun überrumpelt oder bereuend, Herr Stern nimmt das Gummiband in die Hand und führt bereitwillig die Übung aus und erklärt anschließend dennoch leicht verärgert: „Irgendwie klappt das mit dem Loslassen nicht.“

 

Aga wusste sofort, woran es lag. Er hatte den kompletten Bewegungsablauf vergessen. So konnte es auch nicht klappen. Offensichtlich war es ihm peinlich.

 

Um ihn aufzumuntern, lügt sie: „Na so schlecht klappte es nicht, wie Sie es gerade darstellten.“

 

Lächelnd führt sie fort: „Ich kann gern noch einmal erklären worauf es ankommt.

Mit Beginn der Phonation von [f] beginnen Sie das Band zu spannen und zwar so lange, wie Sie das [f] halten möchten.

Mit Beginn der Einatmung entspannen Sie das Band schnell, was für das Abspannen steht und eine reflektorische Einatemergänzung ermöglicht.“

 

Mehr ins Detail gehend sagt sie weiter: „Ich glaube, Sie spannen das Band schon viel zu früh und gönnen sich dadurch keine Wahrnehmungspause. Der Ablauf wird immer schneller und sie kommen ungewollt ins Hetzen.

Ich zeige es Ihnen noch einmal. Wir begrenzen die Phonation von [f] dabei auf 10 Sekunden, Okay?“ Aga nimmt sich also ihr Gummiband, hebt die angewinkelten Arme auf Brusthöhe und setzt nach der Einatmung das [f] an.

 

Während sie innerlich bis 10 zählt, spannt sie das Band vor der Brust und nach genau 10 Sekunden lässt sie das Band locker, spannt ab und atmet unhörbar ein. Direkt nach der Einatmung bereitet sie sich innerlich auf die Wiederholung vor und setzt erneut das [f] an, beginnt wiederum das Band zu spannen und am Phonationsende für die Atemergänzung zu entspannen.

 

Sie zeigt Herrn Stern fünf Wiederholungen, um ihm eine Idee des Rhythmus vorzugeben. „Versuchen Sie es jetzt bitte!“ fordert sie, ohne weiter auf seine Bedenken einzugehen.

 

Willig nimmt Herr Stern sein Gummiband und beginnt nun tatsächlich das Band erst zu spannen, als zwischen Oberlippe und den sanft dagegendrückenden unteren Schneidezähnen ein Strömungsgeräusch zu hören ist. Mit der Fokussierung auf ein Detail der gesamten Übung, gelingt ihm diese nun ohne große Probleme.

 

So führt er sie mehrmals aus und berichtet: „Ich glaube, das war jetzt anders als vorhin. Vielleicht besser, aber das es mir gefällt, kann ich nicht behaupten.“

 

„Das war sehr gut, Herr Stern.“ bekräftigt Aga sein eigentliches Gefühl. Sicher ist es eine ungewohnte Übung, aber seien Sie sich sicher, ich würde Sie damit nicht vor Ihre Studenten schicken.

Sehen Sie es wie ein Halteseil, wenn Sie eine schwere akrobatische Übung das erste Mal proben oder balancieren lernen wollen. Je besser Sie balancieren können, desto weniger benötigen Sie das Halteseil und um so seltener wird sie ein Windstoß umhauen können.“

 

Herr Stern lacht.

 

„Machen Sie es bitte noch einmal, damit wir uns beide sicher sein können, das Sie den Ablauf nun gut beherrschen.“ bittet Aga ihn.

 

Ohne zu zögern wiederholt er die Übung und wird sich zunehmends sicherer dabei, beendet sie schließlich lächelnd.

 

„Sehen Sie, hervorragend, sonst hätte ich Ihnen diese Aufgabe nicht für zu Hause mitgegeben.“ ermuntert Aga wiederholend.

 

„Um nicht abhängig von der Gummibandübung zu werden, möchte ich heute noch gern eine weitere Übung einführen, die das gleiche Ziel, nämlich die reflektorische Einatmung verfolgt.

Betrachten Sie es als ein anderes Hilfsmittel beim Lernen des Balancierens, vielleicht eine Stange, die Sie jederzeit ergreifen können, falls Sie im Gleichgewicht schwanken.

Können wir damit heute noch beginnen?“ sichert sich Aga fragend ab.

 

Herr Stern, der immer zwischen Ablehnung und erstarkendem Selbstbewusstsein in bezug auf die Anforderungen in der Stimmtherapie schwankt, sagt schlicht und einfach: „Probieren können wir es gern.“

 

Erfreut über seine Zusage, holt Aga zwei Geräte aus der Ecke und erklärt die nächste Aufgabe: „Das ist ein Baligerät, was wie eine große auseinandergebogene Sicherheitsnadel federt.

Nur hierbei müssen Sie das Gerät beim Phonieren zusammendrücken und für die Einatmung soll sich das Gerät wieder entspannen. Es ist einfach ein anderer Bewegungsablauf, der das gleiche bewirken soll.

Ich zeige es Ihnen. Vielleicht gefällt Ihnen diese Übung besser?“

 

Herr Stern guckt zu den beiden am Fenster sitzenden, die inzwischen etwas mit der Hospitationsmüdigkeit zu kämpfen haben und dieser hier und da schon mal auf Ihren Stühlen durch eine Veränderung der Sitzposition entgegenwirken.

 

Aga kennt dieses Phänomen ebenfalls und ist deshalb auch nicht erstaunt, dass Herr Monte mit leicht gesenktem Kopf und vielleicht geschlossenen Augen der Stunde folgt.

 

Außerdem weiß sie, dass Herr Monte, um sein Logopädiestudium zu finanzieren, sicher wieder die halbe Nacht mit dem Taxi unterwegs war.

 

Dies blieb ihr erspart. Sie finanzierte sich über einen Job an der Tankstelle an vielen Wochenenden und bekam zusätzlich Schulgeld.

 

Als jedoch Herr Stern sein Worte „Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir diese Übung gefällt.“ an sie richtet, hebt Herr Monte seinen Kopf und wirft einen Blick zu Aga, der sein völliges Unverständnis zum Ausdruck bringt.

 

Als TherapeutIn denkt man, ‚Mein Gott, stell Dich doch nicht so an, es passiert doch nichts schlimmes.’, dennoch weiß man natürlich, dass gerade in dieser supervidierten Situation, wo einen andere genau beobachten und man dies in einer solchen Offensichtlichkeit nicht gewöhnt ist, nicht gerade neue Erfahrungen seines eigenen Ichs machen oder Schwächen seines Körpers oder der Koordination kennenlernen möchte.

 

Frau Pett hält sich professionell zurück. Ihrer Miene ist nicht einmal zu entnehmen, was sie denkt.

 

Aga hat es also heute wirklich nicht leicht, geht aber mit Nonchalance über diese Bemerkung hinweg und beginnt mit dem Vorführen der Übung.

 

Sie greift die beiden Enden des Geräts, welche mit Gummigriffen bestückt sind und beginnt mit der Phonation von [f], nachdem sie eingeatmet hat.

Während der Phonation drückt sie die beiden Stangen, die durch einen Spiralkreis ihre federnde Wirkung aufbauen zusammen und nach genau 10 Sekunden gibt sie der aufgebauten Spannung nach und atmet unhörbar ein, wodurch eine Wiederholung des gesamten Ablaufs möglich ist.

 

Sie zeigt diese Übung einige Male, damit sich Herr Stern die Abfolge einprägen kann.

 

Mit den Worten „Jetzt sind Sie dran.“ fordert sie Herrn Stern zur Durchführung auf.

 

Etwas verschämt ergreift er das Baligerät und prustet kurz auf, während er die Federwirkung ausprobiert. „Mein Gott, dazu braucht man ja Kraft.“

 

„Das ist nur der erste Moment, Herr Stern. Sie werden sehen, es ist nicht schwerer als mit dem Gummiband. Probieren Sie ruhig. Wir wollen es heute nur einführen. Es muss also lange nicht perfekt sein.“ versucht Aga ihn zu beschwichtigen.

 

Fast unwillig holt er Luft, setzt das [f] an und beginnt die beiden Stangen zusammenzudrücken und lässt nach der Phonation sofort locker, was eine Einatmung bewirkt.

 

„Gleich noch einmal!“ bittet Aga ihn.

 

Irgendwie erstaunt, dass ihm diese Übung besser liegt, legt er los und es gelingt ihm ohne Korrektur für das erste Mal sehr gut.

 

Er muss hier seine Kräfte zusammen und nicht nach außen führen, was ihm koordinativ wesentlich besser gelingt.

 

Vielleicht hätte man bei ihm erst mit dieser Übung beginnen und dann das Gummiband einbringen sollen. Wenn man näher nachdenkt, ist es auch stets einfacher Kraft aufzubauen, indem man seine Konzentration zur Körpermitte führt als sie zentrifugal zu streuen.

Demnach ist es nicht verwunderlich, dass er sich sträubt.

 

Glücklich über diese Erkenntnis, legt Aga beide Geräte zur Seite und sagt abschließend: Diese Übung liegt Ihnen viel besser, allerdings können wir Ihnen kein Baligerät für zu Hause mitgeben, daher möchte ich Sie bitten, sich dennoch mit der Gummibandübung anzufreunden.“

 

Herr Stern lacht nun wieder und bekundet bereitwillig: „Ich werde es gern versuchen.“

 

Inzwischen ist schon mehr als eine dreiviertel Stunde vergangen und Aga muss nun noch in den letzten Zehn Minuten eine annähernde Übertragung der Übungen für den Alltag ermöglichen.

 

Sie nutzt dazu, schon wegen der häuslichen Übungsmöglichkeiten, das Gummiband und bittet Herrn Stern: „Versuchen Sie jetzt zum Schluss unserer Stunde das Gelernte auf kleine Sätze zu übertragen!

Ich habe Sie ihnen an die Tafel geschrieben. Die Sätze sind aus einem Therapiebuch und enthalten 11 Silben, so als würden Sie bis Zehn zählen.“

 

Aga öffnet die kleine Tafel auf der folgende Sätze stehen und liest diese vor: „Er hat am Samstag im Lotto gewonnen.“ und „Ich habe ihn schon lange nicht gesehen.“

 

Weiter fragt sie: „Können Sie das lesen oder habe ich es zu klein geschrieben?“

 

„Nein, das ist schon in Ordnung so. Das kann ich gut lesen.“ erwidert Herr Stern.

 

„Wunderbar, dann zählen Sie bitte beim ersten Durchgang laut bis 10 und anschließend lesen Sie pro Durchgang jeweils einen Satz laut. Einverstanden?

Möchten Sie dass ich es Ihnen vormache?“ will sie noch wissen.

 

„Nein, das wird nicht nötig sein. Das habe ich verstanden.“ bedankt er sich und beginnt schon mit der Einatmung.

 

„Einen Moment bitte noch.“ unterbricht Aga sein Vorhaben. „Mir ist noch wichtig, dass Sie während der ersten drei Durchgänge nach jedem Satz eine längere Pause machen und sich bewusst auf den Bewegungsablauf konzentrieren.

Wenn Sie sich dann sicher fühlen, wäre es nett, wenn Sie die Zahlen und Sätze so lesen, als würden Sie gerade einen Vortrag halten.

Stellen Sie sich vor, ich wäre Ihre BWL-Studentin, okay?“

 

„Ja, gern.“ antwortet Herr Stern nun ungeduldig.

 

Er setzt also erneut zur Einatmung an, hebt die Arme mit dem Gummiband in Brusthöhe und beginnt laut zu Zählen. Bei „Zehn“ gibt er der Spannung des Gummibandes nach und atmet ein.

 

„Wie ging das?“ fragt Aga.

 

„Gut, oder?“ fragt er zurück.

 

„Na dann, machen Sie mal weiter!“ folgt Agas Bitte.

 

Herr Stern probiert die Aufgabe mit dem ersten Satz, dann mit dem zweiten und will wissen: „War das in Ordnung?“

 

Aga gibt keine ermunternde Antwort, sondern fragt zurück: „Gefiel es Ihnen?“

 

„Ja, eigentlich fand ich es gut.“ sagt er bestimmend.

 

Sich davon nicht beeindrucken lassend stimmt Aga ihm zu, weist aber noch eindeutig darauf hin: „Wenn Sie jetzt die Sätze wie einen Vortrag halten, dann bitte nicht hetzen. Lassen Sie sich Zeit und denken Sie daran, nicht zu früh das Gummiband zu spannen. Das wäre sehr schön.“

 

Sich daran erinnernd, hebt Herr Stern erneut die Arme mit dem Gummiband auf Brusthöhe und beginnt nach der Einatmung mit der Aufgabe, erst zu zählen und dann die zwei Sätze zu sagen, dabei jeweils das Band zu spannen und für die Einatmung deren Spannung wieder zu lösen.

 

Als er fertig ist, wirft er einen prüfenden Blick auf Aga. Diese Kommunikationsgeste aufnehmend fragt sie sogleich: „Na, wie gut gelang Ihnen dieser Transfer der Gummibandübung?“

 

Herr Stern lacht. „Was wollen Sie denn jetzt hören?“ stellt er ausweichend die Frage an Aga.

 

„Ich möchte gern wissen, ob Sie mit sich zufrieden waren?“ gibt sie kurz zur Antwort.

 

Herr Stern lacht erneut und erwidert: „Das kann ich wohl nicht, sonst bräuchte ich nicht mehr zu kommen.“

 

„Ach Herr Stern, mir hat es für einen der ersten Transferversuche sehr gut gefallen. Setzen Sie ruhig Vertrauen in sich. Auch wenn Sie die Übungen ein wenig befremden, es ist bestimmt der richtige Weg, der Ihnen helfen wird.“

 

Wieder lacht Herr Stern und sagt abschließend: „Das hoffe ich sehr, aber mit Frau Pett an Ihrer Seite, habe ich keine Bedenken. Ich glaube, Sie machen das sehr gut.“

 

„Vielen Dank.“ erwidert Aga leicht verdattert. „Dann sehen wir uns in der nächsten Woche, wo Sie mit Herrn Monte die Therapie durchführen werden.“

 

Sich von Aga verabschiedend, sagt er: „Ja, sehr gern.“ und wendet sich den beiden am Fenster zu, um ihnen ebenfalls ein „Auf Wiedersehen.“ zuzurufen.

 

Beide heben instinktiv die Hand und verabschieden sich leicht winkend mit den gleichen Worten.

 

Nachdem Herr Monte das Zimmer verließ, setzt sich Aga zu den anderen beiden, worauf Frau Pett Aga fragt: „Wie fandest Du Deine Therapie?“

 

Jetzt steht sie vor dem gleichen Dilemma, wie Herr Stern zuvor. Was soll sie nun sagen.

 

Sie hat sich sehr bemüht, war zwischendurch oft irritiert von dem ständigen emotionalen Wechsel des Patienten, ist aber ganz froh, dass sie die komplette Therapie trotz einigen Murrens seitens Herrn Stern genauso durchziehen konnte, wie Sie es auf dem Therapieplan erarbeitet hatte, der Frau Pett vorlag.

 

Deshalb entscheidet sie sich für folgende Aussage: „Ich fand es heute relativ schwierig, bin jetzt aber sehr froh, dass ich trotzdessen alle Punkte mit ihm erarbeiten konnte. Ich glaube, er ist auch ganz zufrieden nach Hause gegangen.“

 

Herr Monte bringt noch treffend ein: „Also eine schöne schnuckelige Recurrensparese, wo man dem Stimmmuskel nur Power geben braucht, habe ich auch lieber.“

 

„Tja,“ sagt Frau Pett „das geht vielen so, schließlich sind funktionelle Stimmstörungen immer schwieriger zu behandeln als eine plötzlich eingetretene organische Stimmstörung.

Ich denke, wir haben alle so unsere kleinen Animositäten. Eine gute Therapeutin kann darauf eingehen und den Patienten unbemerkt lenken.

Ich möchte sagen, dass Dir dass heute ganz gut gelungen ist.“ wendet sie sich Aga zu.

 

„Sehr schön hat mir auch gefallen, wie Du mit Beispielen erklärt hast, welche Bedeutung die Hilfsmittel haben.

Weiterhin warst Du ein sehr gutes Vorbild und vor allem hast Du seine Eigenverantwortung in den Vordergrund gerückt, indem Du ihn am Anfang die Übungen auswählen ließest und immer wieder nach seiner Wahrnehmung und seinen Vorstellungen innerhalb der gesamten Therapie gefragt hast, nicht auf einen argumentativen Schlagabtausch eingegangen bist.

Vielleicht müsstest Du noch ein bisschen lauter sprechen.“

 

„Mir hat es auch gefallen.“ erklärt Herr Monte.

 

„Na dann, Georg! Ich wünsche Dir für Deine nächste Stunde auch so viel Erfolg.“ verabschiedet sich lachend Frau Pett von beiden und sagt noch beim Hinausgehen: „Die schriftliche Auswertung lege ich Dir morgen auf den Tisch. Also Tschüss dann.“ und schon ist die Tür hinter hier zu.

 

 

Aga und Georg räumen noch kurz das Therapiezimmer auf und verlassen dieses dann ebenfalls. Ihr heutiger Ausbildungstag ist beendet.

 

Impressum

Texte: Anne Adler
Bildmaterialien: Diagnostikbild der Stimmlippen eines Kindes mit Schreiknötchen beidseits am Übergang zum mittleren Drittel der Stimmlippe (Aufnahme, mehr als 10 Jahre her - geschenkt zum Lernzweck)
Cover: Anne Adler
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /