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Vorwort

 


Die in diesem Buch beschriebenen Personen sind frei erfunden.

 

Einige Ereignisse beruhen auf Erfahrungen, andere entsprangen der Fantasie und geben die bedrückenden, grotesken oder auch empfindsamen Begebenheiten wider, mit denen sich Aphasiepatienten und ihre Angehörigen oder Freunde auseinandersetzen müssen.

 

Die Erkrankung der Hauptfigur wurde absichtlich so konstruiert, dass diese nicht gleich im weiteren Krankheitsverlauf auffällt. Dadurch ist es möglich, prekäre Verhaltenssituationen aufzuzeigen.

 

Die neurologischen Ausprägungen der Störungen aller Aphasiepatienten sind allerdings so zahlreich und zugleich unterschiedlich, dass es unmöglich ist, das gesamte Spektrum derer darzustellen. Somit gibt das Buch nur einen kleinen Einblick in das eigentliche Gesundheitsbild dieser Patienten.

1. Kapitel

 

Langsam öffnen sich die leicht verklebten Augen. Ein schnelles Blinzeln verrät, dass die Sonne direkt ins Gesicht scheint und ein wenig blendet.

Er spürt die Wärme des Sonnenstrahls deutlich auf seiner rechten Gesichtshälfte. Leicht benommen versucht er sein Gesicht in die wärmende Richtung zu drehen.

 

‚Was war geschehen? Wo bin ich?’ Das Fenster ist leicht geöffnet und von draußen hört er ein vorbeifahrendes Auto.

 

Direkt vor dem Fenster steht ein großer Baum mit einer vollen Baumkrone. Die Sonne steht so günstig, dass sich der Lichtstrahl durch die raschelnden Blätter mogelt.

 

Für einen Moment fühlt er sich sehr wohl und vergisst seine ersten Gedanken. Den Kopf drehend, mustert er das Zimmer.

Links vom Fenster, gleich gegenüber des Bettes bemerkt er einen Tisch, an dem zwei Stühle stehen. Auf dem Tisch steht eine kleine Vase mit Blumen, sonst aber nichts weiter, auch keine Decke.

Die Stühle sind aus Holz und irgendwie gepolstert. ‚Die Farbe kann ich nicht erkennen’, dachte er kurz. ‚Was ist das für eine Farbe?’

 

Schon leicht erschöpft, lässt er den Kopf wieder ins Kissen sinken, schließt für einen Augenblick seine Augen und atmet tief durch. ‚Was war geschehen?’, geht es ihm durch den Kopf.

 

Er öffnet wieder seine Augen und bemerkt direkt in der Ecke, schräg über dem Tisch, einen an der Wand angebrachten Fernseher.

Erst jetzt fällt ihm auf, dass er dieses Zimmer nicht kennt, in einem fremden Bett liegt.

 

Plötzlich öffnet sich eine Tür und eine junge Frau tritt an sein Bett. Sie ist erstaunt und sagt sogleich freudig: „Oh, Hallo Herr Weber, sie sind ja wach. Ich bin Schwester Katharina. Können Sie mich hören?“

 

Seine Augen öffnen sich weit und er sieht in ein freundliches Lächeln. „Ja“ antwortet er. Doch es fällt ihm schwer, seine Lippen sind so träge.

Er versucht sich aufzusetzen, ist ihm diese Frau doch sehr fremd.

 

„Bleiben sie ruhig liegen, sie haben ja gerade erst ihre Augen geöffnet.“ begegnet ihm die Schwester. „Ich hole den Arzt.“

 

Schon huscht sie wieder hinaus, die Tür etwas zu laut zugeschlagen.

Er erschreckt sich leicht, gewinnt aber dadurch an neuer Energie, um sich weiter im Zimmer umzusehen.

 

Die Tür ist weiß und kaum einsehbar. Eine Wand, die ins Zimmer eingerückt ist, verhindert einen offenen Blick. Sie ist hellgelb angestrichen und mit einem kleinen Wandbild versehen. Auf diesem ist eine Landschaft, die ihn jedoch nicht weiter interessiert.

 

Den Kopf weiter nach links wendend, sieht er einen weißen Ständer, an dem ein Beutel baumelt und gleich daneben ein kleines Schränkchen.

Es steht auf Rädern und hat eine kleine Tür in leichter Holzmaserung. Mit seinen Armen würde er es nicht erreichen können.

 

‚Aha’, das Bett steht mit dem Kopfende an der Wand und ist sonst von allen Seiten leicht zugänglich.

 

Ihm geht es jetzt immer besser und so atmet er tief durch und fährt sich mit der rechten Hand durch sein Haar.

Irgend etwas stimmt nicht. Sein ganzer Arm ist schwer und seine Finger wirken wie gefroren.

 

Er schaut sich seine Hand an und versucht die Finger wie gewohnt zu bewegen. Doch es gelingt ihm viel zu langsam.

‚Warum kann ich denn keine richtige Faust machen?’ fragt er sich und schaut nun gedankenvertieft auf seine linke Hand.

 

Diese lässt sich uneingeschränkt bewegen und ist auch nicht so schwer. Er fühlt nun seinen rechten Arm ab, aber alles wirkt normal, manchmal kribbelt es nur ein wenig.

 

Da hört er schon Stimmen, die direkt auf seine Tür zukommen. Sie öffnet sich und drei Personen kommen herein.

Die junge Frau erkennt er gleich wieder, weshalb er ein wenig lächelt. Gleich nach ihr sieht er einen jungen Mann in einem weißen Kittel und eine etwas ältere beleibtere Dame.

 

„Guten Tag, Herr Weber.“ sagt der junge Mann.

Herr Weber will es erwidern, doch seinem schwerfälligen Mund entlockt er nur ein: „Tag“.

 

Die beiden Schwestern stellten während dieser kurzen Begrüßung das Kopfende hoch, sodass der Patient nun aufrecht sitzt.

„Ich bin hier der Stationsarzt. Mein Name ist Herr Lodes. Es freut mich sehr, dass sie wach sind. Das ist die Stationsschwester Marga und unsere Schwester Katharina kennen Sie ja bereits. Wie geht es Ihnen?“

 

Herr Weber nickt mit dem Kopf und sagt: „Ja“. Merkwürdig, denkt er, eigentlich wollte ich ‚Gut’ sagen.

 

„Herr Weber, sie hatten einen Schlaganfall und sind hier bei uns im Krankenhaus. Nun können wir gleich ihre Mutter informieren, dass es ihnen besser geht.“

 

 

Die Stationsschwester schiebt indessen das kleine Schränkchen näher an den Tisch und fährt eine kleine Platte aus, es war also der Beistelltisch.

„Schwester Katharina wird ihnen gleich etwas zu trinken bringen und es hier auf den Tisch stellen.“ spricht sie kurz dazwischen und schon entwischt die junge Frau aus dem Zimmer.

 

„Können Sie sich an irgend etwas erinnern, Herr Weber?“ fragt der Arzt weiter.

Herr Weber ist momentan überfordert und schüttelt einfach nur den Kopf.

 

„Ich sehe schon, sie brauchen noch etwas Ruhe. Wir reden dann später weiter, wenn sie besser bei Kräften sind.“ verabschiedet sich der Arzt und greift seine linke Hand. Irgendwie eilig verlässt er dann das Zimmer. Nur die Stationsschwester bleibt im Raum und öffnet das Fenster weit.

 

„Jetzt lassen wir mal richtig frische Luft hinein. Sie haben sich einen wirklich schönen Tag ausgesucht, um ihrer Mutter diese große Freude zu bereiten. Draußen ist es herrlich sonnig und warm.“

 

Sein Blick schweift in Richtung Fenster, aber irgendwie waren alle Worte, die er hörte, so schnell verloren. „Mutter“ sagt er nur kurz.

 

 

„Ja, ihre Mutter. Fast jeden Tag kam sie sie besuchen. Sie wird glücklich sein.“

 

Plötzlich hebt sich der Store und umschlingt fast die Stationsschwester. Die Tür ging auf und selbst die Blumen auf dem Tisch bewegten sich wild durch den Windzug.

 

„So, da bin ich wieder.“ sagt Katharina und stellt ihm einen Becher mit Tee auf den Beistelltisch.

„Huch, das war ja ein Wind.“ bringt die Stationsschwester lachend hervor und bittet Herrn Weber etwas zu trinken.

„Warten Sie, ich helfe ihnen ein wenig.“ spricht wieder Katharina und reicht ihm den Becher.

 

Instinktiv greift Herr Weber mit der rechten Hand zu, doch dieser rutscht ihm leicht aus der Hand, sodass er sofort seine linke zu Hilfe nimmt.

 

Schwester Katharina hatte noch ihre Hand schützend unter dem Becher, denn sie weiß, dass der rechte Arm leicht gelähmt ist.

„Ach, kein Problem, das wird bald besser.“ sagt sie lächelnd.

 

Herr Weber guckt sie etwas irritiert an, führt dann aber den Becher zum Mund und nimmt einen großen Schluck.

Er muss husten und bemerkt wie sein Hals nass wurde.

 

Mit der rechten Hand fühlt er seinen nassen Hals ab und verfolgt dieses nasse Empfinden bis in Richtung der Lippen. Der Zeige- und Mittelfinger liegen nun auf dem rechten Mundwinkel.

Irgendwie spürt er den Mundwinkel nicht. Er scheint auch etwas zu hängen.

 

Beide Finger ertasten jetzt etwas kräftiger die Ober- und Unterlippe. Er bemerkt einen deutlichen Unterschied zu beiden Seiten.

Er versucht beide Mundwinkel zu bewegen, als würde er lächeln wollen, doch es hebt sich nur die linke Seite.

 

„Sie müssen etwas langsamer trinken, Herr Weber. Nehmen Sie einen kleineren Schluck, dann läuft nicht soviel daneben.“ begegnet ihm Katharina und tupft leicht den Hals und das inzwischen nass gewordene Bruststück des Nachthemds mit einem Tuch trocken.

„Ihr Mund ist leider auch leicht gelähmt, dadurch ist ihnen der Tee wieder aus dem Mund gelaufen. Schmeckt er denn?“

 

Herr Weber schaut zu der Stationsschwester, die ihm aufmunternd zulächelt und erwidert „Ja.“

Es war eher automatisiert, denn er schmeckte erst einmal gar nichts. Ihm ist alles irgendwie fremd. Selbst seine rechte Hand rutscht nun plötzlich von der Anstrengung zurück ins Bett.

 

„Das wird schon, Herr Weber.“ sagt die Stationsschwester beruhigend. „Sie sind jetzt ein wenig verstört, aber vertrauen sie uns, in ein paar Tagen sind sie viel kräftiger und können auch schon aufstehen.“

 

Lächelnd schaut sie ihm tief in die Augen, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. „Nehmen sie noch einen Schluck.“, doch Herr Weber winkt ab und äußert „Ja.“

 

Beide Schwestern gehen auf seine Äußerung nicht weiter ein, wissen aber aus Berufserfahrung, dass Herr Weber nun wieder etwas Ruhe benötigt. Vielleicht antwortete er noch auf die Äußerung, dass er bald kräftiger sein werde, aber das war momentan nicht wichtig.

 

Katharina nimmt ihm den Becher ab und stellt ihn zurück auf den Beistelltisch.

Das Kopfende wieder herunterstellend sagt Schwester Marga, die Stationsschwester: „Ruhen sie sich nun ein wenig aus. Wir werden nachher noch einmal nach ihnen sehen und inzwischen mit ihrer Mutter telefonieren.“

 

Irgendwie zufrieden, ließ er sich das gefallen, schließt beide Augen und entrinnt sofort dem Geschehen.

 

Die beiden Schwestern, nach dem Marga noch schnell das Fenster ankippte, verschließen die Tür nun sehr leise, um den ermüdeten Patienten nicht unnütz zu stressen, ihn einfach ruhen zu lassen.

 

 

Im Schwesternzimmer angekommen, nimmt Marga die Akte des Patienten und schreibt sofort die neuen Ereignisse ein. - Patient um 14:30 Uhr erwacht; Dr. Lodes Bescheid gegeben; erstes Gespräch war möglich; Patient trank etwas Tee, hustete dabei und verlor Flüssigkeit aus dem rechten Mundwinkel; rechte Arm eingeschränkt; wirkte insgesamt noch recht geschwächt; Mutter informiert -

 

Dieses Stichwort veranlasst sie nach der Telefonnummer zu gucken. ‚Na, ob sie schon unterwegs ist?’ fragt sie sich leise und nimmt den Hörer in die Hand.

„Sieben, drei, vier, neun, sechs, drei.“ murmelt sie beim Drücken der Tasten und schon klingelt es am anderen Ende.

 

Es klingelt bereits das 4. Mal, als sie fragend Katharina anschaut. „Na, Frau Weber ist bestimmt schon unterwegs.“ entgegnet die junge Schwester ihrem Blick, während sie die Abendmedizin stellt.

 

Doch plötzlich erklingt die Stimme am anderen Ende: „Weber, mit wem spreche ich?“

„Oh, Hallo Frau Weber, ich bin es, Schwester Marga.“

„Um Gottes Willen!“ rief Frau Weber gleich in die Sprechmuschel. „Ist meinem Jungen etwas passiert?“

 

„Nein, nein“ beruhigt sie sogleich Marga und erzählt freudig: „Wir haben heute mit ihrem Sohn gesprochen. Er ist aufgewacht und hat sogar schon einen Schluck Tee getrunken.“

 

„Was, was?“ fragt Frau Weber ganz aufgeregt. „Er ist wach?“

 

„Nein, Frau Weber, derzeit schläft er wieder. Er ist noch relativ schwach, lächelte aber bereits.“

 

„Wirklich? Sie haben mit meinem Sohn gesprochen? Und er hat schon etwas getrunken? sprudeln die Fragen aufgeregt ins Ohr von Marga.

Merklich lächelnd antwortet sie: „Ich sag`s ihnen ja. Kommen Sie vielleicht zum Abendbrot vorbei, dann wird er sicher wieder wach sein.“

 

„Ja, ich mache mich gleich auf den Weg“ verspricht Frau Weber.

 

„Lassen sie sich Zeit, er schläft doch noch.“ versucht Marga die Mutter etwas zu beruhigen. Doch diese Worte verhallen im nichts, da Frau Weber den Hörer vor lauter Aufregung schon aufgelegt hatte und nun dabei ist, sich für ihren Jungen besonders fein zumachen.

 

Völlig aufgelöst vor Freude geht sie an ihren Schrank und holt sich eine neue Bluse heraus, die hervorragend zu der beigefarbenen Leinenhose passt. Sie rückt die olivefarbene, aus rauer Seide geschneiderte Bluse zurecht, begibt sich ins Bad und schaut in den Spiegel.

‚Ach, ich werde noch einmal die Lippen nachziehen’, denkt sie sich, während sie sich mit dem Kamm durch das kurze, weißliche Haar fährt.

 

Frau Weber war bereits seit 5 Jahren verwitwet, wobei es einen neuen Mann an ihrer Seite gibt. Doch er wohnt in seiner eigenen Wohnung.

Die noch stattliche Frau im Alter von 68 Jahren wollte nicht mehr heiraten. Sie genießt ihr Rentendasein und führt aufgrund der zusätzlichen Witwenrente ein zufriedenes Leben.

 

Ihr Mann war Ingenieur und kannte nichts als Arbeit. Sein Rentenleben war leider von Krankheit gezeichnet. Er starb an einem nicht vorhersehbaren Herzinfarkt, kurz nachdem er sich zur Ruhe setzte.

 

Nach mehr als 2 Jahren Trauer, lernte sie ihren neuen Partner über eine Annonce kennen. Gemeinsam verbringen sie nun einige Stunden ihrer freien Zeit, besuchen Konzerte sowie andere Veranstaltungen, machen kleine Reisen und genießen die Natur.

 

Ihr Sohn drängte sie zu dieser Anzeige, denn er konnte es nicht ertragen, dass seine Mutter nichts mehr unternahm.

Und nun erwischte es ihn, in noch so jungen Jahren.

 

 

Seine Mutter war völlig entsetzt, als sie von seinem Unfall hörte.

Er brach auf der Baustelle zusammen. Glücklicherweise wurde sofort vom Polier der Krankenwagen gerufen. Dadurch konnte eine schnelle ärztliche Versorgung gewährleistet werden.

 

Noch vor dem Spiegel stehend, aus dem kleinen Rückblick erwachend, bemerkt sie eine Träne, welche gerade die linke Wange herunterperlt. Sie wischt diese mit dem Finger weg und fängt sich wieder.

‚Hoffentlich kann ich mit meinem Sohn heute noch sprechen’, macht sie sich leise Mut und beginnt die Lippen mit einem etwas dunkelrotfarbenen Stift nachzuziehen.

 

Nun gefällt sie sich wieder und schäkert mimisch, wie so oft, mit ihrem Spiegelbild, um noch einmal zu prüfen, ob alle Farbstriche gut gezogen sind.

Sie geht in den Flur, wechselt die Schuhe und greift ihre leichte Sommerjacke.

 

‚Ach, meine Tasche, wo habe ich die denn nur wieder hingestellt’, fragt sie sich nun doch in Eile und huscht noch einmal in die Küche. ‚Da ist sie, alles drin?’

Nach einem kurzen Blick wirft sie diese über ihre Schulter und verlässt die Wohnung.

 Auf dem Weg zur Klinik gehen ihr tausend Gedanken durch den Kopf, was sie wohl ihrem Sohn als erstes sagen würde.

 

Die Klinik erreicht sie etwa 50 Minuten später mit einem Bus, der unweit ihrer Wohnung im Stadtzentrum hält und über das Land bis zum Klinikgelände tuckert.

Auch eine Regionalbahn nimmt diese Richtung, doch der Weg vom Bahnhof zur Klinik ist ihr zu weit. Der Bus ist also sehr bequem, da er direkt am Klinikgelände hält, auch wenn er nicht immer zuverlässig fährt.

 

Im Aussteigen verabschiedet sie sich freundlich beim Fahrer und geht so schnell wie sie kann auf die Station, auf der ihr Sohn liegt.

 

Sie will gerade in das Zimmer ihres Sohnes stürzen, als sie von Schwester Marga aufgehalten wird.

„Hallo, Frau Weber. Schön, dass sie schon da sind. Darf ich bevor sie Ihren Sohn besuchen, kurz mit ihnen sprechen?“

Marga hakt sich bei Frau Weber unter und zieht sie sanft ins Schwesternzimmer.

 

Frau Weber schaut wehleidig dabei zurück, stimmt aber etwas unsicher zu: „Äh, wenn es denn unbedingt sein muss. Lieber würde ich gleich zu meinem Sohn wollen.“

 

Marga begegnet den Worten beruhigend: „Frau Weber, seien sie ganz unbesorgt. Ihr Sohn schläft noch. Ich würde die Zeit gern nutzen, um mit ihnen kurz über ihren Sohn zu sprechen. Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Ich habe heute etwas Zeit, Schwester Katharina und unsere Praktikantin haben heute gemeinsam Dienst, wodurch wir die Arbeit besser aufteilen können.“

 

„Ja, gut, ich nehme dann gern eine Tasse Kaffe.“ ließ sich Frau Weber besänftigen.

 

Sie setzt sich an den Tisch, während Marga aus dem Schrank zwei Tassen holt und den bereits gekochten Kaffee aus der Kaffeemaschine in die Tassen gießt.

 

„Ich glaube, er ist noch heiß genug. Unsere Praktikantin hat ihn vor einer halben Stunde für uns gekocht. Wir genießen zwischendurch ganz gern mal einen Schluck Kaffee. Möchten Sie Zucker oder Milch?“

 

Frau Weber antwortet nun viel entspannter: „Nur Milch, bitte nicht zu viel.“

Marga gibt in beide Tassen ein paar Tropfen Milch uns setzt sich zu Frau Weber an den Tisch.

Beide Frauen nehmen erst einmal einen Schluck Kaffee, bevor Marga beginnt.

 

„Frau Weber, wie sie ja schon wissen, ist ihr Sohn heute endlich wach geworden. Es deutete sich ja bereits aufgrund seiner guten Werte an, weshalb er auch auf unsere Station verlegt wurde.

Er war bereits völlig unabhängig von medizinischen Geräten, es war also nur noch eine Frage der Zeit, bis er sich dazu entschied, wieder seine Augen zu öffnen.“

 

„Sie glauben gar nicht, wie sehr ich mich freue“ brachte Frau Weber kurz ein.

 

„Oh, doch, natürlich. Es ist für uns alle eine große Freude. Meist ist es jedoch so, dass die Patienten dennoch geschwächt sind und nicht gleich überfordert werden dürfen.“

 

„Das verstehe ich, Schwester Marga. Selbstverständlich werde ich das berücksichtigen.“

 

Schwester Marga begegnet wohlwollend: „Das weiß ich, Frau Weber. Dennoch möchte ich Sie davon in Kenntnis setzen, worauf sie sich zunächst einstellen müssen.“

 

Marga steht kurz auf und bittet einen anderen Patienten, der sich gerade in den Eingang des Schwesternzimmers stellt, sich an Schwester Katharina zu wenden.

„Ich werde mal die Tür schließen, dann können wir uns ungestört den neuen Fakten widmen.“ äußert Marga und setzt sich wieder an den Tisch.

 

Mit gespannten Augen greift Frau Weber die Kaffeetasse, die nun doch etwas unruhig in ihrer Hand liegt.

 

„Leider ist unser Stationsarzt zu einer wichtigen Besprechung, weshalb er mich bat, ihnen erste Hinweise zu geben.“

 

 

„Das ist sehr nett.“ bemerkt Frau Weber nur kurz, mit der Hoffnung, dass ihre innere Aufregung nicht auffällt.

 

„Sie wissen ja,“ fängt Marga vorsichtig an, „ihr Sohn hatte eine Schlaganfall, der glücklicherweise medizinisch schnell versorgt werden konnte. Dadurch bestehen gute Heilungschancen.

Es ist aber dennoch nicht möglich, genau vorherzusagen, welche neurologischen Störungen der Schlaganfall mit sich brachte und wie schnell sie sich zurückbilden.

Gehen sie also bitte davon aus, dass es für sie und ihren Sohn in den ersten Tagen schwer sein wird. Sie müssen beide erst einmal die neuen Begebenheiten akzeptieren lernen.“

 

Frau Weber fällt ihr ins Wort: „Ach, das wird schon. Hauptsache mein Junge kann jetzt wieder aufstehen.“

 

„Frau Weber, genau dies wird noch einige Tage brauchen. Wundern sich bitte auch nicht, wenn die rechte Seite ihres Sohnes etwas schwerfällig ist und er Schwierigkeiten beim Essen und Trinken hat.“

 

„Ich glaube,“ erwidert Frau Weber sich selbst stärkend, „das ich damit gut umgehen kann. Herr Lodes sprach bereits deswegen mit mir. Auch die anderen Ärzte im anderen Krankenhaus haben schon so etwas angedeutet.

Außerdem kann er ja sprechen und mir sagen was er möchte, wie sie mir am Telefon bereits mitteilten.“

 

Schwester Marga ist es nun etwas unangenehm, weil sie doch sehr euphorisch am Telefon klang und versucht jetzt einlenkend Frau Weber auf die Sprachstörung hinzuweisen.

„Ja, ihr Sohn kann sprechen. Allerdings war er so erschöpft, dass er nur wenige Worte sprach. Laut Angabe der Läsion im Gehirn müsste er eine Sprachstörung haben, was sie aber sicher auch schon wissen.“

 

Frau Weber nickt mit dem Kopf, nimmt noch einen Schluck Kaffee, um sich abzulenken und erwidert unruhig: „Theoretisch bin ich schon darauf vorbereitet, hoffe aber auf einen guten Verlauf, schließlich ist mein Sohn noch sehr jung.“

 

„Ja, Gott sei Dank.“ bemerkt Marga erleichtert.

 

Frau Weber sieht auf die Wanduhr. Inzwischen ist bestimmt eine halbe Stunde vergangen, deshalb äußert sie: „Ich möchte jetzt aber doch ganz gern meinen Sohn sehen. Es würde mich wieder etwas beruhigen, da ich in dem Moment, wo er aufwacht, gern an seinem Bett sitzen möchte.“

 

„Selbstverständlich, Frau Weber“ sagt Marga schon im Aufstehen und beide Frauen gehen gemeinsam in das Zimmer des Patienten.

 

Nachdem Frau Weber die Tür hinter sich schloss, schaut sie gespannt in Richtung des Bettes, aber es scheint so, als würde ihr Sohn noch immer schlafen.

 

„Machen Sie sich keine Sorgen.“ bringt Marga leise hervor. „Er wird heute bestimmt noch einmal wach. Wenn Sie so lange bleiben möchten? Sie können auch gern etwas zum Abendbrot bekommen.“

 

„Ja.“ flüstert Frau Weber, nimmt einen Stuhl vom Tisch, stellt ihn neben das Bett und setzt sich freudig auf ihn.

Sie greift die linke Hand ihres Sohnes und begrüßt ihn freundlich mit: „Hallo Peter, ich warte jetzt bis du wach wirst.“

 

Marga zieht sich nun zurück und bemerkt nur noch kurz: „Wenn irgend etwas ist oder sie etwas brauchen, klingeln sie einfach.“

 

Wieder flüsternd: „Natürlich, Schwester Marga, und vielen Dank.“

 

Es ist sehr ruhig, denn das Zimmer liegt am Ende des Ganges. Die Station ist ziemlich groß und verfügt über 20 Betten. In nur wenigen Zimmern befinden sich zwei Betten.

Frau Weber ist ganz froh, dass ihr Sohn in einem Einzelzimmer liegt.

In der anderen Klinik und auf der vorherigen Station war dies nicht gegeben.

 

Auch scheinen die Patienten auf dieser Station, jedenfalls jene, die Frau Weber bereits sah, nicht so arg betroffen zu sein. Sie verlassen ihre Zimmer und wirken recht selbständig.

Manche sitzen zwar im Rollstuhl, doch diese sind wesentlich älter als ihr Sohn, vielleicht ihr Alter.

Und all dies macht ihr große Hoffnung.

 

Außerdem kann Sie sich daran erinnern, wie ihr der Arzt der eine Treppe tiefer liegenden Station erklärte, was der Unterschied zwischen den beiden Stationen wäre und warum ihr Sohn nach oben verlegt werden müsse.

 

Hauptsächlich waren es natürlich Kapazitätsgründe, die der Arzt jedoch etwas kaschierte. Seinen Worten entnehmend, lag er auf einer Station der Phase B, wo die Patienten schwer bewusstseinsgestört sind und eine intensive rehabilitierende Einzelförderung erhalten.

 

Erst verstand sie nicht, warum ihrem Sohn nun diese intensive Einzelförderung nicht mehr zukommen sollte. Doch dann brachte der Arzt erklärend hervor, dass er auf eine Station verlegt würde, die für ihn schon zukunftsweisend wäre.

Auf der Station der Phase C lägen, trotz großer neurologischer Schädigungen, die bereits kooperativ ansprechbaren Patienten.

 

Selbstverständlich würden sie auch eine umfassende rehabilitierende Therapie und Pflege erhalten, aber eben im direkten Gespräch mit dem Patienten, was bei ihrem Sohn entsprechend seiner hervorragenden Genesung bald der Fall sein dürfte.

 

An diese hoffnungsvollen Worte zurückblickend, schaut sie erneut zu ihrem Sohn. Doch dieser schläft noch immer, allerdings nicht mehr so tief, denn er bewegt sich mehr und mehr in seinem Bett.

 

Frau Weber blickt auf ihre Armbanduhr und ist erstaunt, wie schnell die Zeit vergangen ist.

Draußen wirkt es etwas stürmischer. ‚Na, es sieht so aus, als würde es gleich ein großes Abendgewitter geben.’ schweift sie wieder ab.

 

Die langen Äste des direkt vor dem Fenster stehenden Baumes schlagen nun heftiger gegen die Scheiben.

Sie schaltet das Wandlicht ein, da es etwas dunkler wurde.

 

Plötzlich donnert es heftig, als hätte der Blitz unweit eingeschlagen. Dicke fette Regentropfen prasseln laut gegen die Scheiben. Schon wieder ein gewaltiges Grollen, als würde Gott über das Verdursten der vielen Bäume, Pflanzen und Blumen zürnen.

 

Und RUMPS, im Flur knallt eine Tür zu. Die Ruhe ist schlagartig vorbei. Draußen hört sie die Schwestern aufgeregt umherlaufen.

 

Offensichtlich mussten sie nun alle Fenster schließen, die wegen des warmen Tages offen standen.

 

Frau Weber öffnet die Tür - schon wieder ein hartes, lautes Donnern - und guckt auf den Flur, um das Treiben einordnen zu können.

 

Ein starker Windzug drückt ihr die Tür aus der Hand. Die auf dem Tisch stehende Vase fällt um und zerbricht in großen Scherben auf dem Fußboden.

‚Ach Gott, das Fenster’, erinnert sie sich und läuft schnell zurück, um es zu schließen.

 

Sie bemerkte gar nicht, dass ihr Sohn durch das Getöse erwacht ist und versucht, sich aufzusetzen.

 

Erst als sie einige Scherben aufgehoben hatte und einen Blick zum Bett wirft, bleibt ihr fasst der Mund vor Freude offen stehen.

Sie legt die Scherben schnell auf den Tisch und geht zu ihrem Sohn.

 

„Mein Junge, ich bin es. Erkennst Du mich?“ sprudeln die Worte. „Wie geht es Dir? Kann ich Dir helfen? Ist das toll, du bist wach.“

 

Peter erkennt natürlich seine Mutter und lächelt zurück, obwohl er es ein wenig als Überfall empfindet.

 

Seine Mutter tätschelt sein Gesicht und beginnt zu weinen. „Ich freue mich so. Entschuldige bitte, aber auf diesen Moment habe ich schon so lange gewartet.“ bringt sie mühevoll hervor.

 

Genau in diesem Augenblick öffnet sich die Tür und Schwester Katharina tritt ein. „Hallo Herr Weber, wieder wach?“ unterbricht sie die emotional überschäumende Situation, wodurch sich Frau Weber wieder fängt und freudestrahlend posaunte: „Ja, gerade eben.“

 

„Oh, die Vase liegt ja auf dem Boden.“ bemerkt Katharina ablenkend.

 

„Das war das Gewitter. Das Fenster war noch offen. Daran habe ich nicht gedacht, als ich auf den Flur schaute.“ entschuldigt sich Frau Weber.

 

„Ach, das macht nichts. Ist nicht so schlimm. Das räume ich gleich weg.“ entgegnet erneut Katharina, wendet sich aber erst einmal Herrn Weber zu.

„Na Herr Weber, kräftig genug uns zwei Frauen zu begegnen?“

 

Herr Weber lächelt und blickt seine Mutter an. „Mama“ bringt er etwas heiser hervor, doch das liegt an seinem trockenen Hals.

 

 

Darauffolgend hustet er, was Schwester Katharina dazu veranlasst ihn zu fragen: „Möchten sie einen Schluck Tee?“

 

„Tee, ja“ erwidert er.

 

Frau Weber war nun etwas regungslos und zugleich erstaunt, wie zwanglos die Schwester mit ihrem Sohn umging. Sie rückt ein wenig beiseite, während Schwester Katharina das Kopfende hochstellt und ihm die Tasse reicht. Diesmal greift er gleich mit beiden Händen zu und nimmt einen Schluck.

 

Abermals entrinnt ihm etwas Flüssigkeit aus dem rechten Mundwinkel. Verschämt blickt er zu seiner Mutter, als er die Nässe am Hals spürt.

 

Sie zwinkert ihm aufmunternd zu, worauf er noch einen weiteren Schluck nimmt. „Trink! Trink!“ sagt sie kurz und stellt sich auf die andere Seite des Bettes.

 

„Vielleicht können sie ihm ein wenig helfen? fragt Katharina, dann kann ich erst einmal die Scherben beseitigen.“

 

„Selbstverständlich.“ äußert sie und will die Tasse halten.

Doch Peter hat die Tasse nun fest in beiden Händen und zeigt eine abwinkende Geste, in dem er diese leicht der Handbewegung seiner Mutter entzieht. Ihre Fingerkuppen erreichen nur noch leicht die Hand ihres Sohnes.

 

Sofort erkennend, nimmt sie ihre zurück und freut sich über seinen ihr schon aus Kinderzeiten bekannten Drang nach Selbständigkeit.

Er sagte früher immer, dass er das schon allein könne, auch wenn er manche Situation überschätzend, den Misserfolg mit Verdruss abrupt bockig beendete.

Er zeigte schon sehr früh einen durchsetzenden Charakter, war aber dennoch ein süßer und kecker kleiner Bengel.

 

Herr Weber hustet nach dem genommenen Schluck erneut, übergibt jetzt aber die Tasse an seiner Mutter.

 

„Machen sie sich keine Sorgen, Frau Weber.“ beruhigt Katharina die Mutter. „So lange Ihr Sohn hustet, ist er recht gut geschützt. Das sagte uns die Logopädin. Wichtig ist allerdings, dass die Schlucke nicht so groß sind.“

 

„Ja, gut, vielen Dank.“ lächelt sie zurück, noch bevor die Schwester mit den Scherben das Zimmer verließ.

 

„Na Peter, geht es dir gut? wendet sie sich ihrem Sohn zu.

Er nickt mit dem Kopf und möchte sofort losplaudern. Stockend erwidert er: „Ja, gut.“

 

Sie streichelt ihm über die Schulter und erzählt vom Gewitter, wodurch er wahrscheinlich wach wurde. „Die dicken Tropfen prasselten laut gegen die Scheiben. Der Regen ...“

„Regen?“ bringt Peter mühsam hervor.

„Ja, kannst du den Regen noch riechen?

„Riechen, riechen.“ wiederholt er und entgegnet: „Nein.“

 

„Ja, so sind die Männer.“ witzelt Frau Weber und lacht dabei ein wenig. Peter lächelt zurück.

 

„Ich habe mich für dich heute besonders fein gemacht. Gefällt dir meine Bluse?“ fragt sie fast unbekümmert ihren Sohn und verfällt nun in eine vertraute Unterhaltung mit ihm.

„Bluse.“ sagt Peter und nickt irgendwie zustimmend.

 

„Leider habe ich vor lauter Aufregung an keine frischen Blumen für dich gedacht. Ich war von Schwester Margas Anruf so überwältigt, dass ich mich gleich im Bad anhübschte und sofort losfuhr.

 

Der Bus...“ „Bus?“ klingt es fragend aus seinem Mund.

„Ja, ich bin mit dem Bus gekommen. Nachher werde ich mir wohl ein Taxi nehmen, denn der Bus fährt um 18:00 Uhr das letzte Mal.

Nun, wir haben es schon nach 18:00 Uhr.“

„Uhr.“ entgegnet Peter und sieht sich im Zimmer um.

 

„Ich bringe dir morgen einen Wecker mit, dann bist du nicht zeitlos.“

 

Ihr Sohn nickt abermals zustimmend und lässt den Kopf dann leicht ins Kissen zurückfallen.

 

„Ach, ich rede wieder nur von mir.“ fällt Frau Weber nun auf, die sehr gern über Gott und die Welt schnackt, als Schwester Katharina mit einem kleinen Wischeimer das Zimmer betritt.

 

„Ich werde noch schnell den Boden trocken wischen und die Blumen in eine neue Vase stellen.“ bringt sie eilig hervor, als würde sie nicht stören wollen.

 

„Oh, vielen Dank, Schwester Katharina. Das kann ich gar nicht wieder gut machen.“

 

„Hallo, Herr Weber!“ tönt es plötzlich von der Tür.

 

Alle schauen kurz auf, als Schwester Marga mit einer kleinen Schüssel warmer Suppe hineinkommt.

„Na Herr Weber, haben Sie etwas Appetit? Das ist eine leckere warme Suppe. Probieren Sie mal!“ fordert sie freundlich.

Natürlich würde er nur ein paar Löffel zu sich nehmen können, wurde er doch bisher über eine PEG ernährt.

 

„Soll er das löffeln? fragt Frau Weber verwundert. „Selbstverständlich. Wir wollen doch sogleich mit der Entwöhnung der Sondennahrung beginnen.“

 

„Braucht er die PEG ...“ will Frau Weber fragen, doch Peter platzt dazwischen.

„Peh“ bringt er nur heraus.

 

„Herr Weber,“ spricht Marga nun beruhigend auf ihn ein: „sie wurden bisher über diesen Schlauch,“ sie zieht ihn unter der Bettdecke hervor, „der direkt in ihren Magen führt, ernährt. Doch nur richtiges Essen versüßt das Leben, oder? Das dürfen sie nun gleich genießen.“

 

Lächelnd nimmt sie den Löffel mit etwas Suppe und schiebt diesen dem verdutzten Herrn Weber in den Mund, den er fast automatisiert öffnet. „Sehen sie, das ging doch gut.“ lacht Marga.

 

Frau Weber guckt dem Geschehen erstaunt wie erfreut zu. Offensichtlich schmeckt ihm die Suppe. Er muss auch nicht husten.

 

Langsam erfolgt der zweite und dritte, auch ein vierter Löffel. Herr Weber genießt die ersten Eindrücke der Nahrungsaufnahme.

 

Natürlich lief immer ein wenig aus dem Mund, was Marga leicht abtupfte, aber die etwas wärmere Suppe führte zu weniger Irritation im Rachenbereich, wodurch Herr Weber ungestört schluckte.

Vielleicht liegt es auch daran, dass die Suppe etwas dicker ist als der Tee.

 

„Hervorragend, da wird sich aber die Logopädin freuen, dass sie nicht so viel Arbeit mit ihnen hat. Sie wird sicher dennoch nach ihnen schauen und uns Schwestern schon einweisen.“ tönt Marga erfreut und reicht ihm einen weiteren Löffel.

 

Nun öffnet sich der Mund nicht mehr so weit, wodurch Herr Weber indirekt ausdrückt, dass es jetzt erst einmal genug sei.

Während er diesen Rest herunterschluckt, winkt er mit seinem rechten Unterarm ab.

 

„Sehr schön.“ ermutigt Marga den Patienten dennoch und stellt die Schüssel mit dem Löffel auf den Beistelltisch.

 

„Frau Weber, möchten Sie nicht auch eine Kleinigkeit essen? Unsere Praktikantin wird ihnen gern etwas bringen.“

 

„Oh, nein, nein. Vielen Dank. Ich habe mir Obst mitgenommen, um meinen eventuell aufkommenden Hunger zu stillen.“ antwortet sie freundlich.

 

„Nun gut, dann lasse ich sie noch einen Augenblick allein. Nachher werden dann die Schwestern kommen und ihren Sohn zur Nacht betten.“ gibt Marga kurz vor und geht mit dem Geschirr in Richtung Tür.

 

Noch bevor sich diese schließt, hört sie die Worte Frau Webers: „Ach, da bin ich bestimmt schon weg. Dann können sie ungestört arbeiten, aber einen Augenblick möchte ich gern noch bleiben.“

 

„Sehr gern.“ und die Tür war zu.

 

Frau Weber stand die ganze Zeit neben seinem Bett und bemerkt: „Peter, ich werde mich noch einen Moment auf den Stuhl setzen, mir tut der Rücken etwas weh. Ich hätte mir doch den anderen Stuhl nehmen sollen.“

 

Während sie sich auf diesen setzt, jauchzt sie ein wenig: „Ach, ich bin so froh, dass es dir wieder besser geht, mein Junge. Jeden Tag habe ich darauf gewartet. Ich dachte schon, es würde Dir wie Papa gehen.“

Sie ruckelt etwas an ihrem Stuhl, um noch näher ans Bett zu kommen und greift seine Hand.

 

Peter lächelt sie an und erwidert: „Nein, gut.“

 „Ach, ja.“ freut sich Frau Weber. „Hoffentlich kannst du bald wieder aufstehen. Die Ärzte haben dir gute Chancen zugesprochen.“

 

Peter lächelt erneut und nickt leicht. Dann fällt sein Kopf ins Kissen zurück. Er atmet etwas erschöpft tief durch und schließt die Augen. Seine Mutter gewährt ihm diesen Augenblick Ruhe.

 

Dann fragt sie leise: „Peter, möchtest du dich jetzt wieder ausruhen? Ich mache mich dann auf den Weg, damit du schlafen kannst. Es ist auch schon spät und ich bin jetzt schon fast 3 Stunden hier.“

 

Ihr Sohn öffnet müde beide Augen und lächelt zustimmend.

„Gut, mein Junge.“ Sie gibt ihrem Sohn einen Abschiedskuss auf die Wange, tätschelt dabei seine Schulter und flüstert: „Ich komme morgen wieder und schaue nach dir. Machs gut. Gute Nacht.“

Peter erwidert leise: „Nacht.“

 

Frau Weber nimmt ihre Jacke und verlässt leise das Zimmer. Sie wollte ihren Sohn nun nicht mehr stören.

 

Auf dem Flur ruft sie: „Schwester Katharina, Schwester ...“

Schon dreht sich Katharina um und folgt ihrem Ruf.

 

„Ich fahre jetzt nach Hause. Mein Sohn ist doch sehr geschafft. Er möchte jetzt schlafen.“

 

„Oh, gut, dass sie uns Bescheid geben.“ sagt sie verabschiedend zu Frau Weber und guckt noch einmal in das Zimmer des Patienten.

Sie stellt das Kopfende herunter und wünscht ihm eine angenehme Ruhe, obwohl sie in etwa einer halben Stunde sowieso noch einmal in seinem Zimmer sei, um die Nacht vorzubereiten.

 

Frau Weber ging indessen zum Schwesternzimmer und bat um ein Taxi.

 

„Ich rufe ihnen ein Taxi.“ unterbricht Marga ihre Arbeit und greift nach dem Hörer.

Als sie diesen wieder auflegt bittet sie Frau Weber: „Nehmen sie den Aufgang A! Der Taxifahrer wird in spätestens 10 Minuten vor der Tür auf sie warten.“

 

„Oh, das ging ja schnell. Vielen Dank, Frau Marga. Ich komme morgen gleich wieder. Wahrscheinlich am Nachmittag.“

 

„Gern, Frau Weber, vielleicht hält ihr Sohn dann schon etwas länger durch. Ich wünsche ihnen eine gute Heimfahrt.“

 

Frau Weber lächelt und erwidert kurz: „Nochmals vielen Dank.“

 

Marga geht wieder an ihre Schreibtischarbeit zurück und Frau Weber nimmt das Taxi nach Hause.

 

Etwa 40 Minuten später betritt Schwester Katharina und die Praktikantin das Zimmer des Herrn Weber. Die Praktikantin arbeitet erst seit knapp 2 Wochen auf der Station und beging heute ihre erste Spätschicht.

Zuvor half sie meist in der Küche, teilte die bereits gestellte Medizin aus oder brachte die weniger mobilen Patienten zu Therapien.

 

Nun soll sie lernen, wie man einen Patienten richtig bettet.

 

Schwester Katharina tritt an das Bett und fragt: „Herr Weber, Herr Weber? Sie rüttelt ihn dabei leicht. Dieser war jedoch fest eingeschlafen und raunte nur aus dem Halbschlaf: „Mh...“

 

„Herr Weber, wir möchten das Bett richten.“ sagt Katharina.

„Warum lässt du ihn nicht schlafen? fragt die Praktikantin.

 

„Wir müssen gucken, ob die Windel in Ordnung und das Laken glatt ist, damit kein Decubitus entsteht.“ erwidert Katharina.

„Was ist ein Decubitus?“ will die Praktikantin wissen.

 

„Eine durchgelegene Stelle.“ folgt als erste kurze Antwort. „Die meisten Patienten bewegen sich zu wenig und liegen meist lange in der gleichen Position. Dadurch wird die Haut an den Auflageflächen schlechter durchblutet. Es entstehen dann erst rote Stellen und wenn man nicht darauf achtet, können diese nekrotisch werden, also absterben.

Manchmal werden große schwarze Löcher daraus, die bis zum Knochen gehen können. Ganz besonders muss man hier auf die Schultern, das Steißbein und die Fersen achten. Aber eigentlich darf das nicht passieren.

 

Es ist immer ein Zeichen für eine unwissende oder schlechte Pflege.“ erklärt sie weiter.

 

Sie klemmt nun den Katheter ab, nimmt den Katheterbeutel um diesen im Toilettenraum der Station zu lehren. „Ich bin gleich zurück.“ sagt sie kurz und lässt die Praktikantin allein im Zimmer.

 

Herr Weber regt sich etwas, worauf die Praktikantin sich bei ihm zaghaft vorstellt: „Herr Weber, ich bin die Praktikantin. Mein Name ist Anja.“

Doch Herr Weber ist noch immer nicht ganz wach und reagiert kaum. „Mh...“ tönt es nur wieder.

 

Schon ist Katharina zurück, setzt den leeren Beutel wieder an, nimmt die Klemme weg und bittet Anja auf die andere Seite des Bettes zu gehen. Sie schlägt die Bettdecke zurück und sagt: „Herr Weber können sie sich auf die rechte Seite drehen?“

Mit ihrer Frage löst sie die Windel, stellt das linke Bein an, greift an seine Schulter und Hüfte und dreht ihn in die entsprechende Position. Anja packt unterstützend zu und hält ihn nun etwas fest, damit er nicht zurückrollt.

 

„Der Tag war wohl etwas anstrengend für ihn. Er ist heute schon zweimal wach gewesen. Ich glaube wir bekommen ihn nicht richtig wach. Aber er ist ja nicht so schwer.“ erklärt Katharina, während sie die Windel zum Körper zusammenrollt, das Gesäß mit einem feuchten Tuch reinigt und eine neue Windel, ebenfalls zur Hälfte eingerollt, dicht mit dem eingerollten Ende an die andere Windel schiebt.

Dann zieht sie noch das Laken glatt und reibt den Rücken mit Franzbrandwein ein.

 

„Wozu ist das?“ fragt Anja.

„Ach, für eine bessere Durchblutung der Haut.“ antwortet Katharina und wechselt nun auf die andere Seite des Bettes.

„Man kann den Patienten auch zu sich herandrehen. Aber das entscheide ich immer nach Gewicht und Muskelspannung des einzelnen. Würdest du rübergehen?“ bittet sie die Praktikantin.

 

Dann drehen beide geschickt den Patienten auf die andere Seite, indem sie ihn erst wieder langsam auf den Rücken legen, dann das rechte Bein anstellen und mit Elan auf die linke Seite drehen.

Katharina zieht die alte Windel weg, glättet abermals das Laken und rollt die neue Windel aus.

 

„So, nun wieder zurück auf den Rücken.“ gibt sie einen kurzen Befehl. Sogleich zieht sie die Windel durch die Beine und klebt die Enden fest. „Das wäre geschafft.“ lacht sie, ihn zudeckend.

 

Herr Weber ließ sich kaum stören. Katharina schiebt noch leicht ein langes Kissen unter den rechten Oberkörper, wodurch Herr Weber nun in einer anderen Position liegt als vor dem Betten.

 

„Siehst du! guckt sie die Praktikantin an. „So verändert man die Lage eines Patienten, um einem Decubitus vorzubeugen. Je öfter die Position geändert wird, desto geringer ist die Gefahr.

Manchmal polstert man auch bspw. die Fersen ab. Aber das wirst du noch alles lernen.“

 

Anja war begeistert. Sie ist nun richtig mutig und fragt nach dem Ständer, der nahe dem Wandbild in der Ecke steht.

„Und was macht man damit?“ will sie wissen.

 

Katharina, heute gut gelaunt, antwortet: „Ach das. Das ist ein Infusionsständer für die Magensonde.“

„Wozu sind denn die Knöpfe an dem kleinen Kasten?“ kommt prompt eine neue Frage.

„Damit stellt man die Nahrungszufuhr ein. Die ist sozusagen pumpgesteuert.

Ich persönlich mag diese Geräte jedoch nicht. Die fallen oft aus, pumpen irgendwie nicht richtig und geben dann einen furchtbar hohen Ton ab. Mich würde das als Patient schrecklich nerven.

Ich finde die Infusion über Schwerkraftapplikation einfach besser. Da dreht man ein Rädchen und wenn es mal nicht läuft, na dann dreht man einfach mal wieder am Rädchen oder verändert die Position der Sonde leicht.

Man muss bei dieser als auch bei der einfacheren Variante regelmäßig kontrollieren und auch mal die Sonde mit einer Spritze durchspülen. Was soll`s also? Das Ding da, ist nicht wirklich eine Erleichterung für uns.“

 

„Ah, ich verstehe.“ erwidert Anja. „Was ist denn in der Spritze drin?“ lässt sie nicht locker.

„Einfach nur Wasser oder Tee.“ folgt die Auskunft.

 

„Ah, vielen Dank. Sehr nett.“ freut sich Anja und nimmt die Windel, während Katharina das Wandlicht ausschaltet.

 

Beide verlassen gemeinsam das Zimmer und bringen ihre Utensilien in den Toilettenraum der Station. Herr Weber aber, schläft weiter tief und fest.

2. Kapitel

Am nächsten Morgen, so gegen 5:00 Uhr, betritt Pfleger Hans das Zimmer des Patienten und sieht die Windel vor dem Bett liegen.

 

Herr Weber war schon früh erwacht und entfernte diese. Als junger Mann konnte er dieser Fürsorge nur schamhaft gegenübertreten.

 

Glücklich darüber, dass ihm nun ein Pfleger gegenübersteht, zeigt er auf den Katheterschlauch und fragt ein wenig erbost: „Was?“

Im gleichen Moment versucht er am Schlauch zu ziehen, was ihm wegen der Kraftlosigkeit seiner rechten Hand nicht gelingt.

 

„Herr Weber!“ ruft Hans sogleich dazwischen, während er sich schnell von der Tür zum Bett bewegt, ohne ihn begrüßen zu können. „Sie dürfen den Katheter nicht einfach so herausziehen, sie können sich verletzen.“

 

„Nein, nein, weg.“ schimpft der Patient jedoch.

 

„Herr Weber, am Katheter ist ein mit Luft gefüllter Ballon, der diesen in der Blase hält. Es würde sehr weh tun und durchaus bluten. Bitte lassen sie das!“ entgegnet ihm Hans nun sehr streng.

 

Herr Weber schaut nur kurz auf und besteht weiterhin unbeeindruckt auf die Entfernung des Katheters. „Weg, weg, nein ,nein, weg! fordert er vehement.

 

Hans ist sich nicht ganz sicher, wie er diese Reaktion deuten soll. Er ist zwar schon sehr lange als Pfleger tätig, geht in fast 3 Jahren in Rente und liebt deshalb die Nachtschichten auf dieser Station, weil sie so herrlich ruhig sind, aber man kann sich anfangs der Reaktionen eines Schlaganfallpatienten nicht immer sicher sein.

 

‚Ist er verwirrt oder meint er es ernst? Hat er einen HOPS?’ fragt sich Hans, denn nicht selten müssen sich die Schwestern und Pfleger in den ersten Tagen bis Wochen mit einem Hirnorganischen Psychosyndrom (HOPS) auseinandersetzen.

 

Die Patienten sind dann zuweilen leicht verwirrt, obwohl sie in anderen Momenten wieder klar denkend, völlig unauffällig auftreten.

 

Dieser Zustand ändert sich glücklicherweise meist mit zunehmender Genesung. Aber was war mit Herrn Weber? Aus Sicherheitsgründen entscheidet Hans den Katheter zu entfernen.

Er greift Herrn Webers Arm und sagt: „Warten sie bitte einen Moment. Ich werde den Katheter ziehen.“

 

Eine Spritze aus der Hemdtasche nehmend, setzt er diese an und zieht die Luft aus dem Ballon. „So, nun geht es leichter.“ beschwichtigt Hans, wobei etwas Urin nachläuft.

„Ich werde ihnen eine Ente ans Bett bringen, denn ihre Blase muss sich erst wieder daran gewöhnen, den Urin zu halten. Mit der Ente können sie dieses kleine Malheur dann sicher verhindern.“ beruhigt Hans den Patienten, der gerade schon wieder leicht aufbrausen wollte.

Stattdessen kommt von ihm ein erlöstes: „Mh, ja.“

 

Die Situation wird nun wesentlich entspannter und beide Herrn sehen sich freundlich in die Augen.

 

Aufgrund des resoluten Auftretens Herrn Webers fragt Hans vorsichtshalber: „Möchten Sie sich am Bett oder im Bad waschen?“

Ein willenstarker Fingerzeig in Richtung Tür begleitet Herrn Webers Erwiderung: „Waschen.“

 

Hans überlegt, wie kräftig wohl Herr Weber sei, ob er ihm einen Stuhl vor das Waschbecken stellen oder ihn unter die Dusche setzten soll. Er entscheidet sich für den Stuhl, da er währenddessen das Bett wieder in Ordnung bringen kann.

 

„Einen Moment bitte, ich bringe schnell den Stuhl ins Bad und helfe ihnen dann sogleich.“ erläutert er sein Handeln.

 

 

Herr Weber ist inzwischen an die Bettkante gerutscht und will schon aufstehen, als Hans eilig zurückkommt und ihm unterstützend unter die Arme greift.

„Oh, mein Bein.“ ächzte Herr Weber ganz spontan und bemerkte beim Aufstellen seines rechten Beines ein leicht taubes Gefühl.

 

Es wollte ihm nicht wie früher gehorchen und so knickte der Fuß ganz leicht nach innen weg. Glücklicherweise ist Hans kräftig und verhindert das Zurückfallen, denn trotz der geringen Lähmung ist die Irritation für Herrn Weber sehr groß, zumal er auch fast 6 Wochen im Bett lag und nun das erste Mal aufsteht.

 

„Ich hole einen Rollstuhl, Herr Weber. Ist das okay?“ fragt Hans noch beim Abstützen.

„Nein, nein.“ folgt eine für Herrn Webers erste Krankenresignation entsprechende Antwort.

Also bleibt Hans nichts anderes übrig, als Herrn Weber hinlänglich zu stützen und mit ihm langsam zum Waschbecken zu gehen.

 

‚Hoffentlich übernimmt er sich nicht.’ denkt er, macht ihm dennoch Mut und beschließt diesen Kraftakt mit: „Geschafft.“

 

Herr Weber lächelt ihm über den Spiegel zu und setzt sich mit beiden Händen, am Waschbecken festhaltend, auf den Stuhl. Einen Moment innehaltend, lässt er es sich gefallen, dass Hans warmes Wasser ins Waschbecken lässt, auf die Zahnbürste Zahnpasta gibt und diese auf den Beckenrand sowie Waschlappen und Handtuch auf die Stuhllehne legt.

 

„Ich mache inzwischen ihr Bett.“ sagt er beiläufig. „Beim Rücken werde ich ihnen etwas helfen, wenn sie nichts dagegen haben.“

 

Die Antwort des Patienten gar nicht erst abwartend, begibt er sich sofort zum Bett, um das Laken zu wechseln und es zu richten.

 

Indessen entledigt sich Herr Weber des am Rücken offenen Nachthemds und wäscht sich das Gesicht.

 

Es ist herrlich, dieses frische Nass, wobei er langsam sein Gesicht abtastet und erneut dem tauben Gefühl des rechten Mundwinkels nachspürt. Irgendwie fühlt sich die gesamte rechte Wange gänzlich anders als die linke an.

Mit der rechten Hand am Ohr angekommen, ist er froh, dass er dieses als normal empfindet.

 

Dann nimmt er, um sich den Missempfindungen zu entziehen, sicher wie bestimmt die Zahnbürste und putzt sich die Zähne.

Leider rutscht diese auf der rechten Seiten immer wieder aus dem Mund, was ihm zu einem verärgerten Raunen treibt.

 

„Kann ich ihnen helfen?“ kommt eine prompte Reaktion von Hans. Da er keine Antwort bekommt, guckt er kurz ins Bad, sieht aber, dass Herr Weber sich gerade den Lappen nimmt, ihn mit Flüssigseife und Wasser benetzt, worauf er sich wieder seiner Arbeit widmet.

 

Obwohl der rechte Arm und die Hand leicht beeinträchtigt sind, meistert dies Herr Weber sehr gut und wäscht sich Arme, Achseln, Brust und Bauch. Hier ist alles in Ordnung, er bemerkt nur das leichte Kribbeln in seiner rechten Hand.

Am Bauch ist er natürlich sehr vorsichtig und macht die Klebebinde, welche den Eingang der Magensonde abdeckt kaum nass.

 

Noch während er sich abtrocknet erscheint Hans und bittet ihn aufzustehen. Er ruppelt ihm ordentlich den Rücken erst mit dem Lappen und anschließend mit dem Handtuch ab.

Herr Weber schwankt dabei leicht, hält sich aber am Waschbecken fest. Es tut ihm sehr gut, da er seinen Rücken bewusst spürt und daraus etwas frische Kraft zieht.

 

Nackt steht er nun also am Waschbecken und Hans gibt ihm den Lappen zurück, damit er sich sein Genital und das Gesäß selber waschen kann.

 

Natürlich ist Herrn Weber dies etwas unangenehm. Nicht weil er es nicht gewohnt war mit anderen Männern gemeinsam zu duschen, schließlich kannte er es vom Schwimmen, war diese Sportart doch ein regelmäßiger Ausgleich für ihn.

 

Nein, heute liegt es vielmehr an der Situation, in der er sich befindet. Unter so genauer Beobachtung wusch er sich noch nie.

 

Nach dem Abtrocknen sinkt er in den Stuhl zurück und zieht stillschweigend das nun geschlossene Nachthemd an, welches ihm Hans zuvor reichte. Seine Mutter muss ihm erst einen Schlafanzug mitbringen.

Geschafft schleppt er sich mit kräftiger Unterstützung des Pflegers zum Bett und hält einen Moment auf dem Bettrand inne.

„Danke.“ seufzt er zufrieden und begibt sich unter die Bettdecke.

 

Hans hilft ihm ein wenig und sagt abschließend: „Nun können sie noch etwas schlafen. Es ist erst 5:30 Uhr. Das Frühstück bekommen sie später.“

Mit einem kurzen „Mh...“ schließt Herr Weber die Augen und fällt alsbald in einen gesunden Morgenschlaf.

 

Hans bringt das Bad wieder in Ordnung, stellt den gesäuberten Stuhl zurück, hinterlässt eine Ente am Bett und bringt, wobei er selbstverständlich ganz leise die Tür schließt, die Wechselwäsche sowie das andere Pflegezubehör in den Toilettenraum der Station.

 

Zum Abschluss seiner Schicht schreibt er noch in die Akte des Herrn Weber – Katheter musste aus Sicherheitsgründen entfernt werden; Patient etwas resolut; evtl. geringe Krankeneinsicht; wirkte leicht verwirrt, evtl. HOPS; das Laufen fällt ihm noch schwer; wusch sich allein mit nur wenig Unterstützung am Waschbecken und Sitzhilfe; nimmt Hilfen ungern an; Ente am Bett.

 

Die Akte zuklappend, bemerkt er, wie die Stationsschwester Marga ins Dienstzimmer kommt.

 

Freundlich wie immer, begrüßt er sie sogleich: „Guten Morgen, Schwester Marga! Haben wir uns nicht gestern Abend erst verabschiedet?“

Marga erwidert noch etwas müde: „Guten Morgen, Hans! Gestern habe ich einen wichtigen Termin bei Gericht ausgeglichen. Warum soll ich mich nicht auch einmal einem kurzen Wechsel unterziehen.“

 

„Wie ging es denn bei Gericht aus?“ fragt Hans, der den Grund für diesen Termin natürlich kannte. Schließlich arbeiten beide bereits seit mehr als 10 Jahren zusammen, sodass sie sich schon oft über ihr Leben austauschten.

 

„Ach, ganz gut. Ich behalte das Haus. Es war nicht einfach. Dafür ist die Abfindung geringer, aber mein kleiner Garten ist mir so ans Herz gewachsen.

Mein Exmann war nicht gerade erfreut, sogar fast erbost. Wirklich traurig, dass man so auseinandergehen muss.

 

Selbst meine Tochter ist über diesen Wandel ihres Vaters erstaunt.

Seine neue junge Freundin scheint sehr anspruchsvoll zu sein. Jetzt wird er auch noch einmal Vater. Na ja.“

 

„Mh... Marga, ich wäre dir immer treu geblieben. Wir wären bestimmt ein ausgeglichenes, herzzerreißendes Paar gewesen.“ tröstet Hans Marga ein wenig.

 

Marga lacht sofort. „Hans, du hast doch deine Frau. Was für ein Glück, dass sie dich gerade nicht hört.“ erwidert sie leicht verlegen, obwohl sie genau wusste, das Hans scherzte.

 

„Oh, das ist aber ein schönes Kompliment. Du kümmerst dich um meine Frau und erteilst mir keine grässliche Abfuhr. Ich bin geradezu entzückt.

Ich wusste immer, dass wir beide auch gut zusammenpassen würden. Aber natürlich hast du recht, ich liebe meine Frau nach wie vor.“ erwidert er schmunzelnd.

 

 

Marga nun schäkernd: „Hans, du gehst doch auch bald in Rente. Willst du deine Reisen wirklich allein unternehmen? Du weißt doch, ich muss noch über 10 Jahre arbeiten. Wer weiß, was du in der Zwischenzeit anstellen würdest, so fitt wie du bist.“

 

„Marga, Marga, was denkst du von mir?“ folgt eine schauspielerisch empörte Äußerung von Hans. „Ich würde für dich kochen.“

 

„Ah, das sagen sie alle.“ lacht Marga. „Aber ich weiß von Deiner Frau, dass du ein ausgezeichneter Koch bist.“

 

„Apropos, in drei Wochen machen wir ein Grillfest mit einigen Nachbarn.“ platzt Hans dazwischen, da es ihm gerade einfällt und er schon vor einer Woche fragen wollte. „Meine Frau und ich wollen dich gern einladen, damit du auch mal wieder auf andere Gedanken kommst. Wird wie immer nett. Kommst du?“

 

„Ach ja, gern, das ist keine schlechte Idee.“ beendet Marga den kleinen Flirt.

 

Den Arbeitsalltag einleitend, fragt sie Hans nun in gewohnter diensthabender Ausdrucksweise: „Gab es irgend etwas besonderes in der Nacht? Wie geht es Herrn Weber?“

 

„Alles bestens. Es war ruhig. Herr Weber wirkt noch leicht verwirrt. Ich musste ihm den Katheter ziehen. Sonst arbeitet er aber ganz gut mit. Er müsste jetzt schlafen.“ kommt die Auskunft.

 

„Wunderbar.“ äußert Marga, indes sie sich ihren weißen Kittel überwirft und sich an den Schreibtisch setzt.

 

Während andere Mitarbeiter der Station langsam eintreffen, packt Hans seine Sachen zusammen und verabschiedet sich allgemein von allen.

 

Auf der Station beginnt ein reges Treiben. Da schon um 7:30 Uhr mit den ersten Therapien begonnen wird, bleibt den Schwestern auf der Station nicht viel Zeit für das Austeilen der Medizin, mancher Hilfeleistung bei der Morgentoilette der anderen Patienten und die Vorbereitung des Frühstücksraums.

 

Nur sehr wenige Patienten bekommen ihr Frühstück direkt ans Bett. Heute zählt Herr Weber aber dazu.

 

Schwester Marga bestellte am Vortag extra eine warme Puddingsuppe, mit der Hoffnung, seinen Geschmack getroffen zu haben.

 

Sie beauftragt eine Krankenschwester für Herrn Weber noch ein paar Weißbrothappen mit Butter zu bestreichen und ihm beim Frühstück zu begleiten.

Schwester Monika betritt nach den Vorbereitungen das Zimmer des Patienten und stellt das Frühstückstablett auf den Beistelltisch.

 

Herr Weber wacht in dem Moment auf, wo er das Klappen des Fensters wahrnimmt, welches Monika gerade öffnet. Es klemmte irgendwie.

 

Von draußen hört er einen LKW am Fenster vorbeifahren. Das ist wohl ein Versorgungstransport des Krankenhauses, aber das kann er nicht wissen.

 

Nun hat ihn das Leben wieder vollends zurück. Ab heute muss er sich neuen Herausforderungen stellen, die die Genügsamkeit eines jeden Menschen auf die Probe stellt.

 

„Guten Morgen, Herr Weber! Ich bin Schwester Monika und habe ihnen das Frühstück gebracht.“ begrüßt sie ihn lächelnd.

 

„Tag!“ bringt Herr Weber noch etwas schläfrig hervor. Dann nimmt er den Duft des Frühstücks wahr, was seine Sinne anregt und vollkommen erwachen lässt.

 

Schwester Monika stellt das Kopfende hoch und schiebt die Tischfläche des Beistelltisches über das Bett, sodass ein herrliches Sonntagsfrühstück möglich wäre. Über soviel Service ist der Patient erst einmal erstaunt, greift die Tasse Tee mit beiden Händen und nimmt einen Schluck.

Diesmal läuft nicht so viel aus dem Mund, nahm er extra einen ganz kleinen Schluck.

 

Verwundert über die Schwester, die sich nun einen Stuhl nimmt und sich ans Bett setzt, nimmt er das bereitgelegte Papiertuch und tupft den rechten Mundwinkel ab. Der fragende Blick des Patienten veranlasst Monika dazu, ihm ihr Vorgehen zu erklären.

 

Aus den Akten wissend, dass Herr Weber sehr eigen ist, sagt sie mit viel Charme: „Ich hoffe, es stört sie nicht, wenn ich ihnen bei ihrem ersten Frühstück etwas Gesellschaft leiste.“

Natürlich war das gelogen, aber sie muss den Patienten unbedingt wegen einer möglichen Schluckstörung beaufsichtigen.

Ebenso ist zu beachten, dass ihm diese Mahlzeit bekommt, wird er doch noch über die Magensonde ernährt, wobei er die Sondennahrung heute erst im Laufe des Vormittags als Zusatz bekommt.

 Die Ernährung muss langsam und schonend umgestellt werden.

 

Im selben Augenblick öffnet sich die Tür und die Logopädin kommt ins Zimmer. „Hallo, Guten Morgen!“ begrüßt sie die Anwesenden.

 

‚Noch eine Schwester?’ denkt Herr Weber fragend.

 

Frei heraus sagt sie weiter: „Ich bin die Logopädin und möchte sie beim Essen beobachten, wie sie schlucken und ob sie Schwierigkeiten haben. Ich hoffe, es stört sie nicht.“

 

Herr Weber guckt nur verdutzt und hört dem kurzen Gespräch der beiden Frauen zu.

 

 

„Oh, dann werde ich mich mal auf die Socken machen.“ entgegnet Schwester Monika. „Wir müssen ja nicht beide zusehen, oder Herr Weber?“

 

„Ja, mir ist gerade eine Therapie ausgefallen, sodass ich etwas Zeit habe, mich um Herrn Weber zu kümmern. Schwester Marga sprach mich deswegen eben an.“ begegnet die Logopädin und mustert dabei das bereitgestellte Essen und Getränk.

Alles ist in Ordnung. Verschiedene Konsistenzen wurden ihm angeboten. Dadurch ist ein schnelles Abprüfen der Schluckfunktion möglich.

 

„Er hat gerade erst angefangen. Das Trinken klappt ganz gut. Manchmal hustet er wohl und aus dem rechten Mundwinkel läuft Flüssigkeit.“ erklärt Monika.

 

„Hat er schon etwas Suppe und Brot gegessen?“ will die Logopädin noch wissen.

„Nein, bisher nahm er nur einen Schluck Tee zu sich.“

„Sehr schön.“ denkt die Logopädin laut.

 

‚Was reden die nur?’ empört sich Herr Weber still.

Irgendwie hat er recht, sprachen sie in ihrem Arbeitseifer über seinen Kopf hinweg. Doch diese kurze Absprache war einfach notwendig.

Herr Weber muss sich wohl noch daran gewöhnen, dass er jetzt unterlegen und auf Hilfe angewiesen ist.

 

 

Als Ingenieur oblag ihm bisher dieses Privileg für andere zu entscheiden, Anordnungen durchzusetzen und entsprechende Kontrollen durchzuführen, auch mit der Maßgabe, nicht alle Empfindungen der Untergebenen zu beachten, schließlich ging es immer um Aufwand, Kosten und Nutzen.

 

Im Zuge der Krankheitseinsicht wird er sicher bald verstehen, dass diese Absprachen nur zu seinem besten sind, wobei natürlich darin eine Gefahr besteht, nicht im Sinne des Patienten zu agieren, weil man die augenblickliche Lage trotz aller medizinischen Objektivität stets subjektiv betrachtet, mit eigenen Vorstellungen verbindet und auch Kostengründe zwingend sind.

 

Herr Weber greift erneut die Tasse und nimmt einen weiteren Schluck, worauf er leicht hustet.

Beide Frauen gucken nun den Patienten an, bemerken aber keine weitere Auffälligkeit.

 

„Na dann ein gutes Frühstück!“ verabschiedet sich Schwester Monika und verlässt das Zimmer, während sich die Logopädin auf den Stuhl setzt. „Lassen sie sich bitte durch mich nicht stören! Lassen sie es sich schmecken!“ äußert die Logopädin freundlich.

 

„Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Frau Zeder. Wir sehen uns jetzt öfter, bestimmt einmal pro Tag.“

 

Herr Weber, nun wieder innerlich beruhigt, guckt sie nur an und sagt ganz schlicht: „Tag.“

 

Beide lächeln und Herr Weber greift den Löffel, um sich etwas Suppe zu nehmen. Der Löffel liegt irgendwie viel zu locker in seiner Hand.

„Sie können gern die andere Hand nehmen!“ ermuntert Frau Zeder ihn.

 

Entsprechend versucht er die Suppe mit links zu löffeln, wobei er einen deutlichen Unterschied zum Tee bemerkt. Sie lässt sich viel leichter schlucken und es läuft auch nur sehr wenig aus dem Mundwinkel.

Er hustete noch nicht einmal. Den Grund dafür kann er sich nicht erklären.

Nach etwa sechs bis sieben Löffel hält er inne.

 

„Ich würde mich freuen, wenn sie auch mal das Brot probieren könnten.“ ermuntert Frau Zeder Herrn Weber erneut.

 

‚Ja, warum nicht?’ denkt er und kaut munter drauf los, schluckt einen Teil herunter und versucht den Rest, der in seine Wange rutschte, mit der Zunge zu holen.

Ein dumpfes Druckgefühl stört ihn, was seine Zunge automatisch versuchen lässt, die Wangentasche zu leeren.

 

Leider bereitet es ihm Schwierigkeiten und er wird das Gefühl nicht los, das in der Wange noch etwas ist, was ihn plagt.

Wäre er jetzt allein, würde er einfach mit dem Finger die Wangentasche säubern. Aber unter Beobachtung tut er so, als sei alles in Ordnung.

 

Weit gefehlt. Natürlich nimmt die Logopädin seine Bemühungen anhand seiner Mundbewegungen wahr und greift einen Spatel aus ihren Mitbringseln, um sich die Wangentasche anzusehen.

„Herr Weber, darf ich ganz kurz in ihren Mund sehen, ob sie alles heruntergeschluckt haben?“ fragt sie höflich.

 

Verdutzt darüber, dass die Logopädin anscheinend von seinem Problem wusste, öffnet er, wenn auch etwas zögernd, den Mund.

Frau Zeder streift mit dem Spatel die rechte Wangentasche von innen und sieht noch einige Essensreste darin.

Gleich anschließend prüft sie, fast unbemerkt vom Patienten, die Wangenkraft, indem sie die Wange mit dem Spatel nach außen wölbt.

 

Bei genügend Kraft, ausreichender Sensibilität und Reflexsicherheit würde der Patient sofort dagegen arbeiten und die Wange zum Mundschluss wieder heranziehen.

Dies geschieht bei Herrn Weber etwas verzögert und unzureichend.

 

Alles zusammen, sind das eindeutige Indizien für die Lähmung und Sensibilitätsstörung der rechten Wangenpartie, wobei der rechte Mundwinkel nur dezent herunterhängt.

Die Stirn scheint aber in Ordnung zu sein, worauf Frau Zeder auf eine zentrale Facialisparese schließt.

 

Der Nervus facialis innerviert die Gesichtsmuskulatur. Aber die geschädigte Region lag demnach in der Großhirnrinde und nicht im Hirnstamm, sonst wäre es eine periphere Parese. Allerdings könnte die Sensibiltätsstörung und weitere motorische Beeinträchtigungen der Schluckfunktion aus einer Hirnstammschädigung resultieren, wodurch die Funktion der Nervi vagus, trigeminus, glossopharyngeus und hypoglossus beeinträchtigt sein könnten.

 

Der Vagus ist für die Sensibilität des Rachens zuständig, wobei der Hustenreflex sehr gut bei Herrn Weber ausgelöst wird. Den Würgreflex, der dadurch abgeschwächt auftreten kann, überprüft Frau Zeder später.

Sie möchte das Erdulden ihrer Untersuchungen während des Frühstücks nicht überstrapazieren.

 

Für die Sinneswahrnehmung der Gesichtsmuskulatur ist der Trigeminus und für den weichen Gaumen sowie das hintere Drittel der Zunge ist der Glossopharyngeus entscheidend.

Die motorische Funktion des Trigeminus ist jedoch in Ordnung, da das Kauen problemlos erfolgte und auch keine Kinnabweichung zu sehen ist.

 

Der Hypoglossus dagegen innerviert die Zungenmotorik. Diese wirkt auch leicht beeinträchtigt, es liegt aber zum Glück keine ausgesprochene Lähmung vor, sonst würde die Zunge zu einer Seite abweichen. Die präzise Zungenmobilität prüft sie aber ebenfalls später ab.

 

Es ist für eine Logopädin, bei einem solch diffusen Störungsbild, nicht einfach zu beschreiben, was exakt die Ursache ist. Deshalb klassifiziert Frau Zeder aufgrund ihrer Beobachtung es als eine orale Schluckstörung, bei der das unwillkürliche Schlucken kaum betroffen ist und als eine leichte Dysarthrie, eine Sprechstörung, bei der die Patienten oft undeutlich sprechen.

Hier kann sie jedoch nicht genau bestimmen, in welchem Ausmaß die Deutlichkeit abnahm, da sie nicht weiß, wie der Patient vor seinem Schlaganfall sprach und er bisher fast nur Einwortsätze äußerte.

 

Um ihre Erstdiagnose abzusichern, bittet sie Herrn Weber, ohne den Mund mit dem Spatel zu säubern: „Nehmen Sie bitte einen Schluck Tee zu sich und versuchen sie die Wangentasche zu säubern!“

 

Sich nun auf die kleine Untersuchung einlassend, folgt Herr Weber dieser Aufforderung. Doch es gelingt ihm nicht. Nur ein paar Krümel werden auf die Zunge gespült. Er schluckt gemäß und spürt die Nässe an seinem Hals.

Sofort greift er zum Papiertuch und tupft den Tee ab.

 

Die Logopädin ansehend, schüttelt er dezent den Kopf, was bedeutet, dass noch etwas in der Wangentasche ist.

Frau Zeder schaut noch einmal in seinen Mund und bemerkt: „Na, das sieht doch ganz gut aus. Es ist kaum noch etwas darin.“

 

Herr Weber ist über diese Äußerung verwundert, fühlt er doch deutlich noch Essensreste.

‚Sie wird schon recht haben.’ denkt er kurz und nimmt noch einen Schluck Tee, um sicher zu gehen, dass sein Mund danach sauber sein würde. Das klappte diesmal besser.

 

Entsprechend der Bitte der Logopädin, probiert er noch weitere zwei bis drei Happen, wobei er stets etwas Tee nachtrinkt sowie ab und zu mit dem Papiertuch den rechten Mundwinkel abtupft.

 

Frau Zeder gibt ihm indessen Hinweise, worauf er bei der Nahrungsaufnahme achten möge, scheint sein Sprachverständnis im Gespräch kaum gestört zu sein.

 

Langsam erklärt sie ihm: „Wenn sie Tee oder Wasser trinken, dürfen sie nur kleine Schlucke zu sich nehmen, da ihre Zunge derzeit die Flüssigkeit nicht richtig führen kann. Es läuft auch weniger aus dem Mundwinkel, sonst müsste man die Getränke leicht andicken, ähnlich dieser Suppe. Aber ich denke, dass ist nicht nötig.“

 

Ein kopfnickendes „Mh...“ äußert Herr Weber verstehend.

 

„Beim Brot, bitte ich sie ebenfalls um kleine Happen. Dann haben sie eine bessere Kontrolle über den Kaubrei. Und ganz wichtig, bitte erst etwas nachtrinken, wenn sie gut geschluckt haben, nicht dass sie etwas in die Luftröhre bekommen.

Sie können zwar husten, es ist dennoch nicht erstrebenswert. Die Sensibilitätsstörung kann leicht zur Irritation führen, also essen sie bitte langsam und lassen sich dabei nicht stören, so wie heute. Okay?“

 

Herr Weber lacht ein wenig, fand er sein Frühstück im nachhinein doch recht amüsant.

 

Ob er wirklich alles verstanden hat, kann allerdings erst überprüft werden, wenn er wieder etwas zu sich nimmt.

Jetzt hat er aber genug und schiebt die Tischplatte leicht beiseite.

 

Frau Zeder entfernt den Beistelltisch und sagt entschuldigend: „Ich hoffe, es hat dennoch geschmeckt. Aber es war äußerst wichtig. Nicht dass sie sich durch das Essen eine Lungenentzündung zuziehen.“

 

Herr Weber versteht diese Maßnahme und erwidert schmunzelnd: „Danke.“

 

Etwas geschafft legt er sich zurück. Das Kopfende bleibt allerdings noch eine Weile oben, um eine Aspiration, die Aufnahme von Fremdstoffen in die Lunge, zu verhindern.

 

 

Inzwischen sind fast eine halbe Stunde vergangen. Der nächste Patient wird bald vor dem Therapiezimmer der Logopädin stehen. Die Schwestern werden sich schon weiter um ihn kümmern.

 

Angebracht verabschiedet sich Frau Zeder mit den Worten: „Na dann, bis später.“, stellt den Stuhl zurück, verlässt mit dem Tablett das Zimmer, welches sie in die Küche bringt und trägt ihre Erkenntnisse in die Akte des Patienten, damit sich die Schwestern entsprechend einstellen können.

 

Zusätzlich weist sie noch darauf hin, dass zunächst faseriges Fleisch und Gemüse nicht gereicht werden darf, da es im Rachen hängen bleiben könnte. Die Muskulatur müsse erst gekräftigt werden.

 

Weil noch immer keine Schwester zu sehen ist, hängt sie die Akte in den Schrank und begibt sich in ihren Therapieraum, der sich auch direkt auf der Station befindet.

 

Auf dem Flur hört sie Stimmen. Dem Klang nach, gehen gerade der Stationsarzt und die Stationsschwester an ihrer Tür vorbei.

Wenn keine Oberarzt- oder Chefvisite ist, gehen beide gemeinsam jeden Vormittag zu einigen Patienten, um mit ihnen zu sprechen oder auch weitere nötige Untersuchungen sowie Therapien zu veranlassen.

 

Eine weibliche Stimme aus der anderen Richtung kommend, begrüßt gerade den Stationsarzt: „Guten Morgen, Herr Lodes!“

 

„Morgen, Schwester Monika.“ erwidert er beiläufig, wobei die Stationsschwester diese kurze Begegnung nutzt und Monika sogleich auffordert: „Kannst du bitte Herrn Weber seine Sondennahrung geben!“

 

„Ach, wie geht es denn unserem Herrn Weber heute?“ wird Herr Lodes, zuvor gedankenvertieft, nun doch aufmerksam.

„Ich denke ganz gut.“ folgt eine kurze Antwort der Schwester Monika.

 

„Hat er etwas zum Frühstück eingenommen?“ platzt Marga fragend dazwischen.

„Ich denke schon. Die Logopädin hat das Frühstück beaufsichtigt.“ äußert sie etwas entschuldigend.

 

„Ach ja, ich hatte sie darum gebeten. Dann wird sicher etwas in den Akten stehen.“ gibt Marga dem Stationsarzt zur Auskunft.

 

„Nun, so werden wir uns gleich einmal um Herrn Weber kümmern!“ bestimmt Herr Lodes und bringt wie schon oft, seinen Visitenplan durcheinander, wobei dies meist aufgrund von Veränderungen des Therapieplans der Patienten erfolgt.

 

Manchmal vergessen aber auch die Patienten das Arztgespräch und nutzen ihre vermeintlich freie Zeit im schönen Klinikpark, der mit seinen zwei netten Cafes, dem Wasserspiel im kleinen Teich und zahlreichen Bänken immer zu einer Erholung einlädt.

 

„Marga, holen Sie doch bitte die Akte!“ wünscht er, sich schon auf den Weg zu Herrn Weber begebend.

 

Schwester Marga kommt nur etwa 5 Minuten später ins Zimmer, als sie Herrn Lodes am Bett stehend sagen hört: „Hat es denn geschmeckt?“

„Ja.“ erwidert Herr Weber kurz, während der Arzt seinen Puls fühlt.

 

Schwester Marga gibt Herrn Lodes schweigend die Akte, worauf er sogleich zu blättern beginnt und die neuen Aufzeichnungen liest.

 

Für einen Moment ist es im Zimmer ganz ruhig. Man hört nur das Rascheln der Seiten. Schwester Marga und Herr Weber schauen sich beide in die Augen, als würden sie ein kleines Gespräch führen, mit dem Ausblick, auf die gewichtigen Worte des Arztes zu warten.

 

„Mh..., ja, na das ist ja bestens.“ beendet Herr Lodes die Stille, wobei er die gespannte, abwartende Haltung des Patienten nicht so recht bemerkte.

 

„Ich lese, dass der Katheter gezogen wurde, sie heute Morgen schon aufgestanden sind, wenn auch mit etwas Mühe und Hilfe, sie bereits gestern eine Kleinigkeit zu sich nahmen, es aber natürlich noch anstrengend für sie ist.

Das ist doch schon sehr gut. Was sagen Sie dazu? wendet sich Herr Lodes an den Patienten.

 

„Ja, gut.?“ entgegnet Herr Weber, wobei seine Stimmführung nicht klar verständlich zum Ausdruck brachte, ob es eine Aussage oder Frage war.

Sicher wollte er sich auch noch einmal vergewissern, inwieweit der Arzt wirklich zufrieden ist und ob es nun schnell gesundheitlich voran gehen würde.

 

Herr Lodes lächelt ihn an und äußert aufmunternd: „Na dann werden wir sie mal stärken. Dazu bedarf es einiger Therapien.

Beginnen wir zunächst mit Fahrradfahren, Ergotherapie und natürlich Logopädie. Was halten sie von drei Therapien am Tag?“

 

Herr Weber guckt kurz zu Schwester Marga, als wolle er seinen Gedanken - ‚Ich soll schon mit dem Fahrrad fahren?’ – laut aussprechen.

Nach einem zustimmenden, klaren Nicken der Schwester, bleibt ihm nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Ist er nun doch ein wenig unsicher geworden?

 

 

„Ah, Schwester Marga,“ will der Arzt noch wissen, „ist ihnen auch aufgefallen, dass Herr Weber zeitweise desorientiert ist?“

 

„Also, ich empfinde ihn als noch sehr geschwächt, wobei er seinem gesundheitlichen Zustand entsprechend manchmal etwas zu aktiv und ein wenig uneinsichtig wirkt. Sie wissen ja, wie das mit den jungen Männern ist, Herr Doktor.“

 

„Mh..., gut.“ sagt Herr Lodes, schon die nächste Frage an den Patienten richtend: „Dann waren sie über den Katheter wohl sehr erbost, Herr Weber?“

 

„Ja, ja, ja.“ klingt es aus dem Mund des Patienten, als hätte er sich in die Lage von heute Morgen wieder versetzt gefühlt.

 

„Schon gut.“ beschwichtigt der Arzt, die kleine Erregung bemerkend, sofort.

 

„Okay,“ wendet er sich an Marga, „dann schlage ich vor, dass sie für heute Nachmittag die Physiotherapie organisieren und ab morgen kommen dann Ergo und Logo dazu.“

 

„Das kriegen wir schon hin.“ äußert sie beiden mit der präzisen Befolgung der Anordnung dem Arzt und der bestärkenden Geste dem Patienten gegenüber deutlich.

 

Herr Lodes gibt Schwester Marga, nachdem er seine Notizen und weitere notwendige Untersuchungen in die Akte schrieb zurück und verabschiedet sich vom Patienten mit dem Hinweis, dass sie noch ein ausführliches Gespräch führen würden.

 

Indessen kommt Schwester Monika herein und lädt Herrn Weber zu einer Mahlzeit ein.

 

„Sie machen einem die Sondennahrung aber schmackhaft.“ witzelt Herr Lodes im Hinausgehen.

 

„Na ja, der Arzt hat schon recht.“ entschuldigt sie sich für ihre übertriebene Preisung, weil selbst Marga darüber lachen musste.

„Sie können es natürlich nicht schmecken, aber es wird sie stärken.“

 

„Apropos,“ fällt Marga ein, „ich habe für heute Mittag etwas Suppe bestellt. Die werden sie dann schmecken können. Ist das in Ordnung?“

 

Auf das kleine Durcheinander nicht eingehend, antwortet er etwas geschafft: „Suppe, ja.“

 

Monika hängt den Beutel auf, verbindet den Schlauch mit der Magensonde und stellt das Gerät, die Pumpe, entsprechend so ein, dass die Nahrung nicht zu schnell in den Magen gelangt.

 

Während Marga alles wohlwollend beobachtet, gibt sie Herrn Weber noch den Hinweis: „Lassen sie sich dadurch nicht stören! Ruhen sie sich nun einfach ein wenig aus!

Und bitte, stehen sie vorerst nicht ohne unser Beisein auf! Sie haben eine Ente am Bett. Andernfalls oder auch wenn die Pumpe piept, klingeln sie schlichtweg. Wir eilen dann.“

 

„Ja, und ich komme nachher mit der Suppe. Also bis dann.“ verabschiedet sich Schwester Monika lächelnd, der natürlich auch sogleich die Stationsschwester folgt.

 Herr Weber hört nur noch die Tür, ist dann für einige Momente in seine Gedanken vertieft und schläft darüber ein.

 

Etwa eine halbe Stunde später klingelt das Telefon im Dienstzimmer. Da sich die Stationsschwester und der Arzt noch auf Visite befinden, stürzt Monika ans Telefon.

Es klingelt bereits das achte Mal, offensichtlich ist es wichtig.

 

Ein wenig außer Atem spricht sie in die Hörmuschel: „Rehaklinik - An der Wolfslichtung, Neurologie, Station C, Schwester Mo...“

 

Noch bevor sie aussprechen kann, hört sie eine nette, wenn auch leicht aufgeregte Stimme: „Sind Sie es, Schwester Monika? Ich bin es, Frau Weber. Ich möchte gern wissen, wie es meinem Sohn heute geht. Ist er wieder aufgewacht? Geht es ihm gut? Ich habe die Nacht vor Aufregung so schlecht geschlafen.“

 

Monika kann sie kaum unterbrechen, startet aber dennoch einen Versuch: „Frau Weber, ja, ich bin Schwester Monika.“

 

„Geht es ihm gut?“ fragt Frau Weber dazwischen.

„Frau Weber, aber ja. Ihrem Sohn geht es sehr gut.“

 

Gänzlich erleichtert unterbricht Frau Weber erneut: „Ach, das freut mich ja so. Sie können sich das gar nicht vorstellen, Schwester Monika.“

„Doch, natürlich, wir ...“ erwidert Monika nur kurz, da Frau Weber ihr abermals ins Wort fällt: „Sagen sie meinem Sohn bitte, dass ich ihn heute noch besuche. Ich komme am Nachmittag. Darf ich ihm etwas Obst mitbringen?“

 

„Selbstverständlich. Ach, mir fällt gerade ein, dass ihr Sohn aber keine Ananas essen soll.“ gibt Monika zur Auskunft.

 

„Nein, nein, ich dachte an Birnen, die isst er am liebsten. Vergessen sie ihm bitte nicht Bescheid zu geben, er wartet bestimmt!“ mahnt sie die Schwester.

 

„Nein, Frau Weber, seien sie beruhigt. Ich vergesse es nicht. Wenn ich ihm seine Suppe reiche, erzähle ich ihm von ihrem Anruf.“

 

Plötzlich piept es im Flur.

„Frau Weber, ich muss jetzt Schluss machen. Ein Patient benötigt Hilfe. Es piept hier.

Entschuldigen Sie bitte!“ verabschiedet sich Monika noch die Worte am anderen Ende wahrnehmend: „Ja, Auf Wieder....“ und schon liegt der Hörer auf.

 

Immerzu haben die Schwestern etwas zu tun. Nur selten bleibt Raum für eine größere Pause, da für das wenige Personal die Zeit meist eng begrenzt ist.

 

Das Gesundheitswesen ist in den Kliniken aufgrund der Pauschalbeträge, die von den Krankenkassen pro Patient bzw. Krankheit gezahlt werden zwar erträglicher als in der ambulanten Pflege, welche inzwischen in Akkordarbeit den Pflegenden gegenüber agiert, dennoch ist die Hilfe streng solidarisch organisiert.

 

Die Gelder im Gesundheitswesen wirken sich sogar nachteilig auf die Assistenzärzte aus, die oft nach dem Studium auf ihrem Weg zum Facharzt bestimmte Fachbereiche durchlaufen müssen und nicht selten als Stationsärzte fungieren.

 

Glücklicherweise werden inzwischen ihre Nacht- und Sonderdienste, zumindest dem Gesetz nach, finanziell ausgeglichen. Das Bezahlungsniveau der Therapeuten ist dem gegenüber aber seit fast 20 Jahren unverändert und bewegt sich etwa in Höhe des Mindestlohns eines Postmitarbeiters oder auch Briefträgers, wobei die Psychotherapeuten nicht unter diese Kategorie der Heilmittelerbringer fallen und um ein Vielfaches finanziell besser dastehen.

 

Die Logopäden werden noch am besten bezahlt, gefolgt von den Physiotherapeuten, die dafür allerdings viel in ihre Weiterbildung investieren müssen. Sich daran anschließend, wären die Ergotherapeuten zu nennen und das Schlusslicht bilden die Kunst- und Musiktherapeuten.

 

Eigentlich ist in Anbetracht der Ausbildung, ihrer menschlich wertschöpfenden Arbeit sowie der manchmal auch psychischen Belastung, nämlich immer Mut und Kraft zu spenden, auch wenn man selbst persönliche Probleme mit sich trägt, die Höhe der finanziellen Anerkennung ein Grad unserer Ellenbogengesellschaft, welche überwiegend auf Gewinnmaximierung angepasst wurde und das wirtschaftliche Gut höher bemessen wird als die Gesundheit eines Menschen, man kaum auf Schadensersatzansprüche hoffen darf.

 

Einzig dem Pflegepersonal sowie den Therapeuten, Sozialarbeiter sind nicht auszuschließen, werden mahnend die sozialen Aufgaben innerhalb unserer Gesellschaft vor Augen geführt. Von einem Bänker würde man dies nie verlangen. Vielleicht sind sie ja ehrenamtlich tätig.

 

 

Die Physiotherapeutin, die gerade an die Tür des Herrn Weber klopft, denkt über die gesundheitspolitischen Zusammenhänge leider viel zu selten nach. Dabei würden alle Therapeuten gemeinsam, die größte Gruppe stellen die Physiotherapeuten, eine enorme Lobby bilden, um mögliche Veränderungen durchzusetzen.

 

Sicher liegt das an den Verbänden, die einzeln über die Aufstellung von Qualitätsvorgaben berechtigt versuchen, ihren Status innerhalb des Gesundheitswesens dem Hochschulniveau gleichzusetzen und dem üblichen europäischen Standard anzupassen, am Ende ihrer Gespräche jedoch immer wieder nachteilige Kompromisse eingehen. Die Türen scheinen sehr fest verschlossen zu sein.

 

Da die Physiotherapeutin auf ihr Klopfen nichts hört, öffnet sie diese und tritt an das Bett des Patienten.

 

Herr Weber sitzt in seinem Bett und schaute zuvor gelangweilt aus dem Fenster, beobachtete das Spiel der Blätter und die geschäftigen Vögel, die den Baum vor seinem Fenster immer wieder anflogen und mitunter laut trällerten. Selbst die Sondennahrung war schon durchgelaufen und abgestöpselt.

 

„Guten Tag! Ich bin ihre Physiotherapeutin. Sie können mich Laura nennen. Ich hoffe, ihnen ist ihr Mittag wohl bekommen, denn ich möchte sie jetzt zum Fahrradfahren abholen.“ sagt sie freundlich.

 

Herr Weber guckt sie etwas verdutzt an, da sie mit einem Rollstuhl das Zimmer betrat und denkt: ‚Was soll das denn? Und dann soll ich mit dem Fahrrad fahren?’ Doch ihm bleibt nichts anderes übrig, denn Laura ist eine zierliche, noch sehr junge Frau und kann Herrn Weber beim Laufen nicht unterstützen. Es besteht nach wie vor die Gefahr, dass er stürzen würde.

 

Unbeirrt setzt Laura ihre Worte fort: „Darf ich Ihnen in den Rollstuhl helfen? Wir müssen eine Etage tiefer. Der Geräteraum befindet sich dort.“

 

Mürrisch gibt er seine Zustimmung, denn nun müsse er, der sonst immer vor Kraft strotze, das Zimmer verlassen und alle würden sehen, dass er zu einem nutzlosen Frack geworden ist, welches auf fremde Hilfe angewiesen ist, nicht einmal richtig laufen kann.

 

Herr Weber schlägt seine Decke zurück, wobei Laura auffällt, dass kein Bademantel zu sehen ist. „Haben sie einen Bademantel?“ fragt sie sogleich.

 

Her Weber zuckt mit seinen Schultern, worauf Laura zum Schrank am Eingang geht und nach einem solchen schaut. „Ah, hier hängt einer. Den können sie anziehen.“ und hilft Herrn Weber in den selben.

 

 

Nachdem er sich aus dem Bett in den Stand drückte, dreht er sich mühsam, an der Armlehne festhaltend auf seinen noch schwachen Beinen und fällt mit dem Gesäß in den Rollstuhl, der fast umzukippen droht.

Laura steht etwas betreten daneben und findet keinen rechten Ansatzpunkt für eine fachgerechte Assistenz. Sie greift nur kurz an seine linke Schulter , um ihm etwas Sicherheit vorzutäuschen.

 

Normalerweise geben die Therapeuten mehr Unterstützung, indem sie sich vor den sitzenden Patienten stellen, die Arme des Patienten um ihre Schultern legen, dieser sich natürlich festhalten muss, mit leicht gebeugten Knien die Beine des Patienten fixieren und dann über leichte Schaukelbewegungen gemeinsam mit dem Patienten in den Stand gelangen sowie über eine drehende Bewegung in Richtung des fixierten Rollstuhls langsam den Patienten auf der Sitzfläche absetzen.

 

Aber diese Hilfe nahm Herr Weber nicht an, brauchte er vielleicht auch nicht.

„Na, hervorragend.“ lobt ihn Laura trotzdessen und schiebt den Patienten aus dem Zimmer in Richtung Fahrstuhl.

 

Auf ihrem Weg begegnet ihnen nur ein Mann, der kaum Notiz von ihnen nimmt. Auch der Flur der unteren Etage ist menschenleer.

 

Erst als sie den Geräteraum betreten, sieht Herr Weber drei Patienten. Darunter eine ältere Frau, ebenfalls im Rollstuhl sitzend, die sich mit einer anderen Therapeutin gerade einen Ball zuwirft.

Dann einen kaum jüngeren Herrn, der auf dem Fahrrad sitzt und Musik über Kopfhörer hört. Er nimmt Herrn Weber so gut wie nicht wahr, da das Fahrrad so aufgestellt wurde, dass der Übende aus dem Fenster sehen kann.

Der dritte Mann, erstaunlich jünger als Herr Weber, sitzt auf einer Matte und muss irgendwelche Übungen unter Aufsicht durchführen. Alle sind auf ihre Weise beschäftigt, sodass Herr Weber fast ungehört zum Bewegungstrainer gefahren wird.

 

Laura bittet ihn: „Können sie ihre Füße in die Pedalen stellen?“ und dreht die Fußstützen des Rollstuhls nach außen. Selbstverständlich folgt er dieser Bitte, wobei er nun über seine Gedanken, wie er wohl Fahrradfahren sollte, schmunzelt.

Mittels Klettbänder positioniert Laura die Füße fest in den Pedalen und betätigt die Steuereinrichtung, um die Pedalen langsam rotieren zu lassen.

 

‚Nanu, ich brauche ja nicht einmal selbst treten’ wundert sich Herr Weber und lacht über diese noch nicht gekannte Kuriosität leise, worauf Laura zur Auskunft gibt: „Sie müssen jetzt 15 Minuten so sitzen bleiben, Herr Weber. Mit Hilfe des Bewegungstrainers wird ihr Kreislauf und ihre Muskulatur gestärkt. Wir beginnen ganz langsam. Sie werden schon sehen, bald sitzen sie auch auf dem Fahrrad am Fenster.“ ermuntert sie ihn.

 

Den Kopf in Richtung Fenster bewegend, äußert er nur kurz, aber wesentlich freundlicher: „Mh..., gut. Danke.“

 

Während Laura den Geräteraum verlässt, gibt sich Herr Weber dem schnarrenden Geräusch des Bewegungstrainers hin und beobachtet die anderen Patienten. Eifrig bemüht, widmen sie sich ihren Übungen und die Zeit vergeht schneller als erahnt. Herrn Weber wurde bei seinem Training sogar leicht warm.

 

Es war keinesfalls anstrengend und so bringt ihn Laura wieder in sein Zimmer, wo schon seine Mutter auf ihn wartet.

Sie war noch nicht lange da, breitete aber inzwischen schon eine Serviette mit den darauf liegenden Birnen auf dem Beistelltisch aus, wobei sie noch sehr fest waren, ganz so wie sie diese selbst mag.

 

‚Sicher wird das Obst schnell die angenehme Reife für Peter haben.’ denkt sie im Augenblick, als sie von der Physiotherapeutin kurz begrüßt wird.

„Oh, Hallo! Sich wieder zu Herrn Weber wendend: „Na wunderbar, da wartet ja schon Besuch auf sie.“

 

„Guten Tag, junge Frau! Ich bin die Mutter.“ stellt sich Frau Weber vor. „Und sie sind die Physiotherapeutin? Schwester Katharina sagte mir, dass er zur Therapie sei.“

„Ja, mein Name ist Laura. Herr Weber musste etwas Fahrrad fahren.“

 

Erstaunt begrüßt Frau Weber fragend ihren Sohn: „Hallo mein Junge, du bist mit dem Fahrrad gefahren? Das ist ja großartig.“

Peter schüttelt nur leicht den Kopf über diese unbedachte Euphorie seiner Mutter, sie war jedoch schon immer etwas leichtgläubig, nicht naiv, aber wohlwollend.

 

Indes Frau Weber Peters Wange tätschelt, sagt Laura: „Na ja, er ist nicht direkt Fahrrad gefahren. Es war vielmehr ein Bewegungstrainer, mit dem die Beine wie auf einem Fahrrad bewegt werden. Ich habe schon ihrem Sohn erklärt, dass dadurch der Kreislauf und die Muskulatur gestärkt würden.“

 

„Ach, das ist doch auch gut.“ versucht Frau Weber einzulenken. „Wie geht es dir Peter? Hattest du einen anstrengenden Tag?“ fragt sie weiter.

 

Doch bevor Peter antworten kann platzt Laura dazwischen: „Ich muss gleich gehen und will sie nicht länger stören.“

„Haben sie Feierabend?“ wendet sich Frau Weber der Physiotherapeutin zu, während Peter sich zurückhält und wie so oft denkt: ‚Wenn sich Frauen erst einmal unterhalten, dann ...’

 

Schon geht die Tür auf und Schwester Katharina bringt zur Kaffeezeit eine Tasse Tee.

„Wieder zurück von der Therapie?“ fragt sie, wobei sie die Tasse auf den Beistelltisch abstellt.

 

Natürlich antwortet Frau Weber in ihrer großen Freude über die neue Situation seit mehr als 6 Wochen Hoffen: „Ja. Und sieht er nicht wieder gut aus?“

Laura und Katharina müssen kurz lachen, denn Herr Weber wirkt trotz seiner derzeitigen Schwächen sehr attraktiv, auch wenn man seinen möglichen Charme im Moment erahnen muss.

Er ist recht groß, trägt kurzes dunkles Haar, wobei seine feurigen, dunkelbraunen Augen dem etwas rundlichen Gesicht, welches ein markantes Kinn charakterisiert, den entscheidenden männlichen Flair gebühren.

 

Dennoch geht keine der beiden Frauen darauf näher ein.

Aber Herr Weber äußert nun entsetzt: „Mama!?“, denn er kannte die zahlreichen Verkupplungsversuche seiner Mutter bereits, ist dieser jedoch augenblicklich extrem unangebracht.

Frau Weber fällt erst mit dieser Ermahnung auf, dass ihre Aussage wohl etwas falsch aufgefasst wurde und lächelt etwas verneinend.

 

Sogleich einlenkend beginnt Katharina: „Ja, ich denke auch, dass Herr Weber schnell genesen wird. Doch heute muss er zunächst ins Bett zurück. Wir wollen nichts übereilen.“

Laura fährt den Rollstuhl ans Bett und unterstützt Herrn Weber nur geringfügig dabei, sich wieder ins Bett zu hieven, wobei ihr Unverständnis ausdrückender Blick die Augen von Schwester Katharina streift.

 

„Peter, du kannst dir ruhig helfen lassen.“ bringt die Mutter ein. „Die Schwestern sind doch sehr nett.

Ach, Entschuldigung, Sie sind ja die Physiotherapeutin.“

„Mh..., Mama.“ stößt Peter etwas erschöpft hervor, als würde er sagen wollen, dass er kein kleines Kind mehr sei.

 

Mit dem Überlegen der Decke verabschieden sich beide Frauen und wünschen noch einen schönen Nachmittag.

 

Nachdem sich die Tür schließt, sagt Frau Weber „Peter, ich öffne erst einmal das Fenster und lasse die Sonne herein. Was hältst du davon? Es ist herrlich warm draußen.“

Diese gute Idee regt Peter zu einer spontanen Reaktion an: „Gern, brauch frische Luft.“

 

Er ist höchst erstaunt über seinen kleinen Satz, fiel es ihm sonst furchtbar schwer die Worte zu finden. Bisher dachte er darüber noch nicht ausgiebig nach, da es wenig Gelegenheiten für eine ausführliche Kommunikation gab und er im Taumel seiner Gefühle noch sehr unsicher ist, aber irgendetwas nimmt ihm die Möglichkeit seinen Gedanken hörbaren Ausdruck zu verleihen.

 

Er fühlt sich irgendwie gefangen und mit jedem neuen Wunsch einer aussagekräftigen Äußerung bahnt sich mehr und mehr Ohnmacht über diese Restriktion an. ‚Was könne er nur tun?’ schaut er gedankenvertieft seiner Mutter beim Öffnen des Fensters zu, für die sein Empfinden in dieser Form gar nicht wahrnehmbar ist.

 

Trotz aller Gutmütigkeit und manchmal übertriebener Fürsorge könne sie seine Qual nicht einmal erahnen.

 

Sich nun ihrer großen Tasche zuwendend, die sie neben dem Tisch abgestellt hatte, erklärt sie Peter: „Ich hoffe, ich habe nichts vergessen, aber hier ist etwas Wäsche, die ich in den Schrank lege. Ist dir das recht?“

„Ja, Schrank.“ folgt die Zustimmung.

 

„Und guck mal, die zwei Hosen und dein komischen Sportanzug habe ich dir mitgebracht. Ich wollte nicht deinen ganzen Schrank durchsuchen.“

„Gut, Mama.“

„Ja wirklich?“ will sie wissen. „Ja, gut.“ sagt Peter lächelnd.

 

„Dann habe ich noch die drei Pullis als gut befunden und dir vier Hemden mitgebracht. Die sind ja leicht. Außerdem bin ich heute mit dem Taxi gekommen, sodass ich nicht so sehr auf das Gewicht der Tasche achten musste.“

 

„Mh..., Danke.“ ermuntert er seine Mutter, die nun ein wenig unsicher wirkt, weil es ihr unangenehm ist, dass sie in seinen Sachen suchen musste.

 

Obwohl beide im gleichen Haus, einem Zweifamilienhaus wohnen und Peter oft unterwegs war, respektierte sie stets seine Privatsphäre, öffnete nicht einmal die Post, selbst wenn diese beim Leeren des Briefkastens wie eine Rechnung aussah.

Sie spionierte ihm auch niemals nach, schließlich liebt sie ihre eigene Freiheit, auch wenn diese, wie oft üblich, nicht mit Egoismus gleichgesetzt werden darf.

Ihr einziger Fehler bestand darin, dass sie, sobald eine hübsche oder auch schöne junge Frau in seiner Nähe auftauchte, ihren Sohn lobpreiste und ihn stets anstachelte.

 

Es nervte ihn meist, doch er verstand in gewisser Weise auch seine Mutter, die unbedingt Enkelkinder haben möchte. Bisher fand sich aber noch nicht die richtige Frau, mit der er sein Leben hätte teilen wollen und so verführte er die Frauen in kurzweiligen Liaisons.

Was jedoch die Zukunft bringen würde, ist momentan nicht voraussehbar und selbst für die Mutter nicht relevant.

 

Voller Freude packt sie seinen Lieblingsschlafanzug aus, in dem er manchmal, einen Bademantel übergezogen, zum Sonntagsfrühstück hinunterkommt und legt ihn ans Bettende.

 

„Den kannst Du nachher gleich anziehen.“ bestimmt sie freudig.

 

Gemütlich zurückgelehnt, gönnt sich Peter nun einen Schluck Tee. Er ist schon ein wenig kalt, aber bei der Wärme sehr erfrischend.

 

Langsam kommt auch Frau Weber zur Ruhe und stellt einen Stuhl an sein Bett, um noch ein wenig zu plaudern.

„Ach, ich habe uns etwas Kaffee mitgebracht. Da ich nicht weiß, ob du schon richtigen Kaffee trinken darfst, ist er koffeinfrei. Magst Du einen Schluck?“ fragt sie und holt, bevor sie sich auf den Stuhl setzt die Thermoskanne und die Tassen.

„Ja...“ antwortet Peter etwas zögerlich, weil er eigentlich kein großer Fan von koffeinfreiem Kaffee ist.

 

„Probier mal!“ bittet ihn seine Mutter die Tasse reichend.

Nun genießen beide den noch heißen Kaffee für einen längeren Augenblick der Stille.

„Und schmeckt er?“ hebt Frau Weber die Ruhe auf.

 

„Ja, gut.“ erwidert Peter, wobei er darüber erstaunt ist, dass ihm dieser Kaffee schmeckt. „Lange nicht.“ schiebt er noch hinterher, abermals völlig spontan und hoch emotional.

Beide lachen sich an.

 

 

Von draußen kommt ein kleiner Spatz auf das Fensterbrett geflogen und guckt neugierig ins Zimmer.

„Oh, wir bekommen Besuch. Sieh mal Peter!“ und zeigt mit dem Finger in Richtung Fenster.

Doch Peter konnte dem kleinen Schauspiel nur kurz folgen, da die Armbewegung der Mutter höchstwahrscheinlich den Vogel erschreckte und er folglich schnell wieder das Weite suchte.

 

„Ach, ich liebe Vögel.“ schwärmt Frau Weber. „Sie verkörpern in gewisser Weise Freiheit, fühlen sich überall zu Hause und können sich jederzeit dem Rausch der Lüfte hingeben, jederzeit neue Perspektiven betrachten. Ist das nicht herrlich?“

Peter schmunzelt und sagt: „Vogel“ wobei er an die vielen Winter denkt, in denen seine Mutter sorgfältig alle Vogelhäuschen in die Bäume des Gartens hängt, um ihnen über den Winter zu helfen.

 

Als Kind baute er diese Häuschen unter Anleitung seines Vaters selbst, was ihn noch heute in Stolz versetzt, wenn die Vögel diese aufsuchen.

Es war der Beginn seiner heutigen beruflichen Tätigkeit. Inzwischen sind es Bürobauten in ganz Europa geworden.

‚Vielleicht hat der Stress seine heutige Erkrankung verursacht.’ denkt er kurz und nimmt noch einen Schluck Kaffee.

 

„Möchtest Du eine Birne essen?“ wird er in seinen Gedanken unterbrochen.

„Nein, nein.“ wendet er die freundliche Geste seiner Mutter ab. ‚Sie scheinen noch nicht ganz reif zu sein.’ glaubt er.

 

„Peter,“ beginnt Frau Weber ein ernstes Gespräch „ich hoffe, dass du nun schnell gesund wirst und wieder nach Hause kommst. Dein Kollege fragt nach dir, der Garten wartet, unser gemeinsames Frühstück muss fortgesetzt werden und ... Ach, übrigens, soll ich Deinem Kollegen Bescheid geben. Vielleicht will er dich besuchen. Ihr Männer habt vielleicht etwas zu ...“

 

„Nein.“ unterbricht Peter sogleich, schließlich ist er nicht fit genug, um seinem Kollegen gegenüber zu treten.

Emotional erregt wimmelt er die Frage ab und äußert fließend: „Später, jetzt nicht.“

 

Diese bestimmte Antwort erstaunt Frau Weber, war sein Kollege doch auch sein bester Freund, sie studierten schon zusammen.

„Waru...“ will sie fragen, wird aber sofort mit einem entschiedenen „Nein.“ unterbrochen.

 

Jetzt bemerkt sie den Zorn ihres Sohnes über sein derzeitiges Unvermögen.

‚Wie konnte mir das nicht auffallen?’ versucht sie sich ihre plötzlich sinkende Freude über den Genesungsstand ihres Sohnes aufrechtzuerhalten. Natürlich braucht es noch ein paar Wochen, bis er wieder völlig zu Kräften kommen würde.

„Ja, vielleicht später.“ beschwichtigt sie ihn. „Ich dachte nur, es wäre für dich ganz nett, nicht nur deine alte Mutter zu sehen.“

 

Peter greift ihre Hand und will ‚Schon gut.’ sagen, seine Stimme versagt aber mit einem drückenden Gefühl im Bereich der Kehle.

Er reißt sich auch soweit zusammen, dass nicht eine einzige Träne seine Augen verlässt.

 

Dennoch fällt Frau Weber auf, dass sie leicht wässrig wurden.

„Ich verstehe dich Peter. Wir machen es so, wie du willst. Wenn du mich brauchst, bin ich so lange ich kann da.“

 

Über die Worte – so lange ich kann – kommt Peter wieder ins Lachen.

‚Seine hochagile Mutter und diese Worte, das passt nicht zusammen.’ schmunzelt er innerlich.

Sie ist wie ein Wirbelwind und war immer aktiv.

 

Obwohl sie Hausfrau gewesen ist und nur in ihren jungen Jahren als Sekretärin arbeitete, engagierte sie sich ehrenamtlich jahrelang in der Kirche, im Frauenverein, unterstütze das Kinderheim im Nachbarort und genoss das Leben.

 

Er weiß nicht genau, ob seine Mutter seinem Vater immer treu blieb, wobei sie sich innig liebten.

Aber sein Vater war eben auch oft unterwegs.

Insgesamt waren sie mit nur wenigen Schwierigkeiten eine herzzerreißende Familie.

 

Inzwischen sind fast zwei Stunden vergangen, die Frau Weber in der Klinik ist. Sie ist doch etwas übermüdet, da sie in der letzten Nacht relativ schlecht schlief.

Deshalb beschließt sie nun langsam nach Hause zu fahren und bereitet Peter darauf vor: „Mein Junge, ich möchte nicht unbedingt den letzten Bus nehmen. Man kann sich auf diese Linie nicht hundertprozentig verlassen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich mich allmählich auf die Socken mache. Wir sehen uns morgen wieder.“

 

Da für Peter der Tag auch anstrengender war, als er zugibt, ist er ganz froh, sich wieder etwas ausruhen zu können.

Nicht dass ihn seine Mutter stört, aber er muss immer präsent sein, was er noch nicht leisten kann.

„Mh, Mama. Gut.“ sagt er zustimmend.

 

Nach noch kurzem Geplänkel packt Frau Weber die Tassen und die Thermoskanne ein, kippt das Fenster an, nimmt die leere Reisetasche und verabschiedet sich von ihrem Sohn. „Bis morgen, mein Guter.“ und drückt ihm natürlich noch abschließend einen Kuss auf die Wange.

„Morgen.“ erwidert Peter und winkt leicht beim Herausgehen seiner Mutter aus dem Zimmer.

 

 

Er ist irgendwie erleichtert mit sich nun allein zu sein. Im selben Augenblick fällt ihm sein Schlafanzug ins Auge, den er sogleich, wenn auch etwas mühsam, anzieht.

Das Nachthemd wirft er über den am Bett zurückgelassenen Stuhl und sinkt in sein Kissen.

 

Wie am Vorabend erhält er wenig später etwas Abendbrot und bereitet sich mit Unterstützung der Schwester Katharina auf die Nacht vor, wobei sie nur den Wechsel in den Rollstuhl überwacht und ihn ins Bad und wieder zum Bett bringt.

Natürlich richtet sie noch das Bett, leert die Ente und verabreicht ihm seine Medizin über die Magensonde, dann überlässt sie Herrn Weber aber seiner Nachtruhe.

 

Gelassen schließt er die Augen, denn aufgrund seiner Willenskraft gelang es ihm sogar schon die Toilette zu benutzen.

Das durfte jedoch niemand wissen, war es anstrengend genug den Rollstuhl in die richtige Position zu bringen.

Nun weiß er aber, dass er es schaffen kann.

3. Kapitel

Der folgende Tag bringt viele neue Eindrücke für Herrn Weber.

 

Unmittelbar nach dem Frühstück, welches er in seinem Zimmer zu sich nahm, kommt die Diätassistentin herein und übergibt ihm einen Zettel mit den Worten: „Guten Morgen. Ich kümmere mich um die Essenswünsche unserer Patienten. Könnten Sie bitte ankreuzen, was sie in der nächsten Woche essen möchten!“

 

Ohne sich weiter vorzustellen erklärt sie knapp: „Da sie nicht alles essen dürfen, gilt für sie nur die 3. Spalte mit den Suppen.“ und zeigt kurz mit dem Zeigefinger auf diese. „Sie müssen dort ein Kreuzchen machen. Haben Sie einen Stift?“

 

Herr Weber guckt die Assistentin etwas verwirrt an. Er weiß eigentlich gar nicht, was sie von ihm will.

Den Schreiber nahm er zwar entgegen, doch dieser liegt faktisch fragend in seiner Hand.

 

Seine Augen schauen auf den Zettel und fixieren einzelne Buchstaben. Eine Blockade, die ihm über die Augen entlang der Großhirnrinde bis hin zum Hinterhaupt einen in den Kopfgelenken endenden dumpfen Schmerz und plötzlichen Schwindel hervorrufen, erschöpft ihn in einer kaum messbaren Schnelligkeit, sodass er kopfschüttelnd Zettel und Stift auf die Bettdecke sinken lässt.

 

Diesen Einbruch bemerkt die Assistentin, obwohl sie sonst recht oberflächlich wenn auch nett wirkt, sofort und fragt deshalb etwas weniger forsch: „Kann ich Ihnen helfen?“

 

Herr Weber guckt sie verzweifelt an und ist über sein Unvermögen diesen Zettel nicht entziffern zu können unaussprechlich entsetzt.

Er kann zwar erkennen, dass hier eine Tabelle vor ihm liegt, jedoch ist es ihm nicht möglich auch nur ein einziges Wort zu lesen.

 

Da die Diätassistentin während ihres schnellen Sprechens mehrmals das Wort Essen erwähnte, ahnt er mögliche Zusammenhänge, doch diese nützen ihm nichts, obwohl er jetzt noch einmal auf den Zettel starrt, um die Blockade lösen zu wollen.

 

„Herr Weber, darf ich Ihnen vorlesen?“ fragt die Assistentin wohlwollend und nimmt den Zettel und Stift vorsichtig von der Bettdecke.

 

Herrn Weber schossen indes dicke Tränen in die Augen, von denen nacheinander drei auf der Decke landen.

Während sich sein Nacken vor Entsetzen mehr und mehr verspannt hebt er nur verunsichert die Arme ohne seinen Kopf zu heben, als würde er sagen wollen, dass er nicht wisse, ob sie dürfe. Es ähnelte einem Schulterzucken.

 

Die Assistentin greift mit Ihrer Hand beschwichtigend auf seine rechte Schulter und weiß sich nicht anders zu helfen, als einfach mit dem Vorlesen zu beginnen.

 

Doch Herr Weber ist zu fassungslos, um entsprechend adäquat zu reagieren und hebt nur erneut beide Arme, jetzt etwas energischer, um deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass er nicht könne, jetzt genug hätte.

 

Nun ist die Assistentin aber auch überfordert und bemerkt kurz: „Herr Weber, ich glaube, wir kommen hier nicht weiter. Ich gebe den Zettel im Schwesternzimmer ab. Vielleicht können Sie diesen später mit einer Schwester ausfüllen und nachreichen lassen.“

Sie fühlt, dass sie Herrn Weber in seinem Schmerz nun allein lassen sollte.

 

Auch wenn dies absurd klingen mag, aber jedem Menschen steht es zu über seine momentan ausweglose Situation weinen zu dürfen, ohne sich gleich dafür rechtfertigen oder entschuldigen zu müssen.

Nur bei Kindern ist es üblich, dass sie sofort bei einer anderen Person Trost suchen, da sie es meist so von ihrer Mutter gewohnt sind.

Mit zunehmender Reife allerdings, und das gilt vor allem für Männer, zeugt weinen von Schwäche, hören sie doch oft genug – hab dich nicht so, reiß dich zusammen, so schlimm ist es doch gar nicht.

 

Derartige Gefühle werden also, wenn möglich, nur unter sehr guten Freunden sowie engen Familienmitgliedern gezeigt, sonst aber schnell gesellschaftlichen Normen angepasst, denen sich nun auch die Assistentin unterwirft und leise das Zimmer verlässt.

 

Auf dem Weg zum Schwesternzimmer trifft sie die Stationsschwester. „Guten Morgen, Frau Willenbach.“

„Morgen“ erwidert Marga nur kurz.

„Frau Willenbach,“ spricht die Assistentin weiter „könnten Sie den Essenszettel mit Herrn Weber gemeinsam ausfüllen und nachreichen? Ich glaube, er kann nicht lesen. Er ist im Moment vollkommen überfordert und völlig aufgelöst über diese Tatsache.“

 

„Ach, das auch noch.“ bringt Marga zuteil werdend mit fallender Melodie zum Ausdruck.

„Was?“ fragt die Assistentin etwas irritiert.

„Ich meine, ja, natürlich.“ korrigiert Marga ihre Äußerung ein wenig.

„Herr Weber ist wohl doch schwerer betroffen, als wir alle hofften. Er ist doch noch so jung.“ stellt sie bestürzt in den Raum.

„Ja, da kenne ich mich nicht ...“ bekennt die Assistentin während sie von Marga unterbrochen wird. „Wissen sie was? Ich schicke nachher die Logopädin rein. Frau Zeder kann den Zettel ausfüllen. Sie weiß am besten, was Herr Weber essen darf. Reicht es Ihnen, wenn Sie den Zettel heute Nachmittag zurückerhalten?“

„Selbstverständlich.“ stimmt die Assistentin zu. „Wir benötigen die Auskunft bis morgen 12:00 Uhr.“

„Okay, ich werde mich darum kümmern.“ beendet Marga das Gespräch.

 

Während Marga sogleich zum Therapieraum der Logopädin geht, begibt sie die Diätassistentin zum nächsten Patienten.

 

Da Herr Weber trotz seines emotionalen Einbruchs ruhig wirkte, unternahm niemand eingreifende Maßnahmen.

Nachdem er sich wieder fing, legte er sich matt in sein Kissen zurück, schaute aus dem Fenster und döste vor sich hin.

 

Es verging etwa eine Stunde, als sich erneut die Tür öffnet und die Ergotherapeutin das Zimmer betritt.

Abermals erfolgt die übliche Begrüßung. „Guten Tag, Herr Weber. Ich bin Sandra, ihre Ergotherapeutin.“

 

Sandra ist eine recht robust wirkende Frau und entsprechend laut und tief auch ihre Stimme.

 

Etwas erschrocken aus dem Dösen erwacht, blickt er zu Sandra und sagt noch ein wenig unwirsch „Tag.“

 

„Nanu, so schlecht gelaunt?“ kommt Sandra offenherzig auf ihn zu. „Das müssen wir jetzt unbedingt ändern. Nun werfen sie mal alle Laster von sich, sonst komme ich nämlich umsonst. Sie verfälschen mir alle Ergebnisse.“ lacht sie ihn an.

„Ergebnisse?“ fragt Herr Weber freundlicher.

„Ja, wir beide gucken jetzt mal, wo ich Ihnen helfen kann, damit sie schnell wieder unser edles Haus verlassen können.“ antwortet sie schlicht und einfach über alle Gefühlsebenen hinweg.

 

„Ach“ winkt Herr Weber ab.

„Was, was?“ fragt Sandra „Wollen Sie unser Haus etwa länger genießen, als andere? Das kostet bestimmt ein Aufgeld, welches Ihnen eigentlich nur unser schöner Park und das kleine Cafe am See abgelten können. Dazu müssen Sie aber fit sein. Also, es bleibt bei jeder Variante nur der eine Weg. Wir müssen jetzt loslegen.“ lacht sie ihn wieder an.

 

Irgendwie angetan von diesem burschikosen Auftreten setzt sich Herr Weber auf und folgt gespannt den weiteren Ausführungen der Ergotherapeutin.

 

Diese nimmt sich einen Stuhl, setzt sich ans Bett und holt eine dicke Mappe aus der mitgebrachten Tasche. Sie entnimmt dieser einen Bogen und schreibt erst einmal Namen und Datum in die dafür vorgegebenen Felder, während sie dabei laut alles mitspricht, was sie aufschreibt.

 

Anschließend legt sie ein großes A3-Blatt auf die Bettdecke. Es scheint selbst angefertigt zu sein.

 

Obwohl es viele Standardtests gibt, arbeiten doch viele Therapeuten mit solchen, die eigens von den einzelnen Lehranstalten entwickelt wurden, um den Lernenden nicht die Kosten für die teuren standardisierten Tests aufzubürden, die man nicht unbedingt in allen Kliniken oder Praxen vorfindet und nicht immer direkt am Patientenbett anwendbar sind.

 

„Herr Weber, Sie sehen hier verschiedene einfache Bilder. Ich hoffe Sie können mich gut verstehen. Ich frage sie jetzt nach einem Bild und sie zeigen mir, wo es auf dem Blatt ist. Okay?“ will sie sich noch vergewissern und guckt direkt in seine Augen.

Herr Weber reagiert jedoch zögerlich, sodass sie einfach beginnt.

 

„Zeigen sie mir den Stuhl!“ Sofort zeigt der Patient auf die Mitte des A3-Blattes.

„Zeigen sie mir den Schrank!“ Herr Weber benötigt nur einen kurzen Moment länger und tippt mit dem Finger in die rechte oberer Ecke des Blattes.

 

Sandra schreibt unmittelbar neben den Angaben oberer rechter Quadrant o.B., was bedeutet, dass alles in Ordnung ist, also ohne Befund.

 

„Zeigen sie mir das Bett!“ erfolgt eine weitere Aufforderung. Auch das bereitet Herrn Weber keine Mühe und so verweist er nach links unten.

Somit ist auch der untere linke Quadrant ohne Befund.

 

Man teilt das Sehfeld in 4 Quadranten, jeweils zwei oben und unten sowie zwei links und rechts, wobei oberer und rechter identische Quadranten sind. Gleiches gilt für die anderen.

 

Ohne Pause fordert Sandra aber gleich weiter: „Zeigen sie mir den Tisch!“ Wieder reagiert Herr Weber problemlos und deutet auf die Ecke rechts unten.

Auch das Bild im oberen linken Quadranten findet er sehr schnell, sodass Sandra freudestrahlend posaunt: „Na das sieht ja wirklich gut aus. Sie haben keine Gesichtsfeldeinschränkung. Sie können alles sehen. Super.“

 

Herr Weber guckt etwas entgeistert, war doch die Aufgabe sehr einfach ,und natürlich würde er alles sehen’ denkt er noch.

 

„Doch, doch, Herr Weber. Sie können sich wirklich freuen, denn die Patienten merken nicht, wenn das Gesichtsfeld oder die Wahrnehmung eingeschränkt ist, weil das Gehirn dies nicht meldet.“ holt sie noch einmal aus.

 

„Ja?“ will Herr Weber wissen, der nun nicht weiß, ob er alles verstanden hat.

„Ja, glauben sie mir ruhig. Es gibt Patienten, die essen nur die eine Hälfte des Tellers leer, weil für sie die andere Seite momentan nicht existiert.

Erst wenn sie dazu in der Lage sind und den Kopf schwenken, gleichen sie das dunkle Sehfeld aus und leeren auch die andere Seite.

Andere finden den Stift neben dem Blatt nicht, weil ihr Suchverhalten nicht gut genug ausgeprägt ist.

Manche beschreiben nur eine Hälfte eines Blattes. Oder sie laufen auch gegen einen Stuhl, weil sie die Seite, wo der Stuhl steht, nicht wahrnehmen können.

Es gibt da die unmöglichsten Kuriositäten mit vielen blauen Flecken und ungewollten Stürzen.“

 

„Mh ...“ kommt nur als Reaktion auf die Ausführungen der Therapeutin während diese beim Wegnehmen des A3-Blattes einen kleinen roten Stab dicht in die Nähe des Bauchnabels des Patienten legt.

 

„Herr Weber, ich habe noch eine Bitte.“ nimmt sie wieder Kontakt mit ihm auf. „Ich benötige den roten Stock, den ich gerade in ihr Bett gelegt habe. Könnten Sie mir diesen geben!“

 

„Stock?“ folgt eine entgeisterte Frage, hat doch Herr Weber davon nichts bemerkt. „Ja, bitte geben Sie mir den Stock!“ fordert Sandra noch einmal.

 

 

Herr Weber sucht mit seinen Augen die Bettdecke ab, indes er von Sandra sehr genau beobachtet wird.

Es braucht nur einen kleinen Moment, da fällt Herrn Weber der Stock schon ins Auge, den er mit einem Lächeln der Therapeutin übergibt.

 

Nur kurz Danke sagend, schreibt Sandra in den Bogen – Suchverhalten sehr gut. Da sie bereits in seiner Patientenakte gelesen hatte, dass er sich nur mit wenig Hilfe selbst wasche und auch ankleide, überträgt sie diese Informationen jetzt weiter unten stehend in ihren Bogen und äußert dabei laut: „keine Apraxie, Handlungen erfolgen logisch ohne Unterbrechung und Suchverhalten, beginnen am Anfang und enden prompt.“

 

Sich Herrn Weber zuwendet, bringt sie ihm auch darüber ihre Freude zum Ausdruck, denn eine Apraxie ist eine sehr schwere Störung, selbst in ihrer geringsten Ausprägung.

 

Man versteht darunter eine Ausführungsstörung eigens gewünschter Bewegungen, wobei keine Lähmung der Muskulatur vorliegt.

Somit ist der Gebrauch von Werkzeugen des alltäglichen Lebens oder auch der Sprechwerkzeuge andernfalls der Extremitäten eingeschränkt.

 

In sehr schlimmen Fällen sind die Patienten unfähig sich selbst zu versorgen, unfähig sich anzukleiden oder auch das Essen zuzubereiten, Kaffee oder Tee zu kochen.

Ja sogar das Essen selbst kann schwierig sein, wenn die Reihenfolge des Vorgangs – bspw. den Löffel greifen, ihn zum Teller heben, die Suppe aufnehmen und anschließend den Löffel zum Mund zu führen – nicht logisch ausführbar ist.

 

Eine Apraxie kann so auch das Schreiben, Sprechen oder den Gang einschränken, weil der Patient bspw. einfach nicht den Anfang der folgerichtigen Handlung findet und diesen als oft übliches Symptom sichtbar sucht.

 

Aber der Bogen ist noch nicht vollständig ausgefüllt. Sandra folgt weiter den Punkten und muss nun die Sensibilität überprüfen.

 

Zunächst geht sie mit dem Bogen langsam auf die andere Seite des Bettes, um einen Hinweis auf einen möglichen Neglect zu bekommen, der aber bei Herrn Weber eigentlich, auch in Anbetracht des guten Gesichtsfeldes, ausgeschlossen sein müsste.

 

Außerdem ist ein Neglect bei einem linksseitigen Schlaganfall viel seltener und wesentlich weniger ausgeprägt sowie relativ schnell rückgebildet, also regeneriert.

Meist trifft es eher Patienten, die eine Schädigung im Bereich der Arteria cerebri media der rechten Seite und damit einen Ausfall im rechten hinteren Scheitellappen haben und nicht in der linken Sprachhemisphäre.

 

Ein Neglect ähnelt auf den ersten Blick einem halbseitigen Gesichtsfeldausfall, einer Hemianopsie durch einen Verschluss der Arteria cerebri posterior.

Allerdings wird bei einem Neglect die Raum-, meist sogar Körperhälfte völlig vernachlässigt.

Dieser Bereich ist nicht existent, sodass der Patient bspw. seinen linken Arm nicht beachtet und diesen frei am Rollstuhl baumeln lässt, obwohl eine starke Lähmung des selben nicht vorliegt.

 

Oder im Gegensatz zu dem Leidenden mit dem Gesichtsfeldausfall müsste bei einem Neglect-Patienten eine Krankenschwester, auch ein Angehöriger, den Teller drehen, damit er leer werde, wobei der Kranke denken würde, er bekäme Nachschlag.

 

Wie bei dem erwähnten Stuhl im Gang, würde ein Patient mit Gesichtsfeldeinschränkung auf eine in diesem Stuhl sitzende Person reagieren, weil sie vielleicht gerade beim Zeitungslesen etwas raschelt und damit eine prompte Kopfbewegung des Vorbeigehenden auslöst, somit das Gesichtsfeld durch Kopfdrehung bei ausreichender Mobilität und Konzentration erweitert und ein Ausweichen ermöglicht.

Bei einem Neglect-Patienten dagegen könnten auf dem Gang mehrere Personen sitzen und sich laut unterhalten ohne jemals eine Reaktion darauf zu erhalten.

 

Damit stehen die Ärzte, Therapeuten und Pflegekräfte vor einem sehr großen Problem, dem sie nur mit Ausdauer begegnen können und dem Betreffenden stets von der nichtswahrnehmungsfähigen Seite ansprechen, berühren, mobilisieren und sensibilisieren, um ständige Aufmerksamkeit auf diese Seite zu gewährleisten und eine mögliche Verhaltensänderung des Patienten diesbezüglich auszulösen, damit dieser die ihm unbewusste Seite bewusst beachten lernt, also bspw. regelmäßig guckt, ob sein linker Arm auch auf der Armlehne liegt.

 

Es ist aber wirklich sehr schwierig und meist langwierig, doch die Art der Therapie benötigt Herr Weber glücklicherweise nicht, da er auf alle Bewegungen der Therapeutin an seiner rechten Seite adäquat reagiert bzw. diese verfolgt.

Demnach setzt Sandra hinter dem Wort Neglect ebenfalls ein o.B. und folgt weiter der Fragestellung des Bogens.

 

Sie berührt mit dem Ende eines kleinen Reflexhämmerchens Bereiche des rechten Armes und bemerkt, dass dieser leichte Sensibilitätsstörungen ab dem Unterarm bis in die Hand aufweist.

Herr Weber berichtet vom Kribbeln und Schwäche in diesem Bereich auf die Fragen der Therapeutin.

Gleiches beobachtet sie für den rechten Unterschenkel und Fuß.

 

„Aber die andere Seite kribbelt nicht?“ möchte Sie von Herrn Weber wissen. „Nein, gut, gut.“ äußert er zufrieden und zeigt stolz, wie er seine linke Hand kräftig schließen und wieder öffnen kann.

„Wunderbar, Herr Weber.“ gibt sie zur Antwort.

 

Sich langsam zur Tür bewegend erklärt sie: „Ich hole jetzt mal etwas Eis, um ihr Kälteempfinden einschätzen zu können. Bin gleich wieder zurück.“ und schon knallt die Tür leise ins Schloss.

 

Nur wenige Augenblicke später muss er allerdings das Eis ertragen, was ihm große Schmerzen bereitet.

„Au!“ sagt er kurz und zieht den Arm sofort an sich heran.

 

„Nanu!“ erwidert Sandra und will wissen: „Tut es ihnen am Bein und Fuß auch weh?“ während sie das Eis dort entlang zieht.

„Kalt.“ antwortet er, lässt aber das rechte Bein liegen.

„Okay, dann scheint die obere Extremität mehr betroffen zu sein.“ folgt eine eher versunkene Auskunft.

„Und wie ist es mit dem anderen Bein?“ und zieht das Eis, einfaches gefrorenes Wasser, vom Unterschenkel zum Fuß.

„Kalt“ erfolgt die gleiche Antwort des Patienten.

 

„Mh..., Herr Weber,“ muss Sandra noch wissen: „merken sie einen Unterschied zwischen dem rechten und linken Bein? Ich benetzte noch einmal beide Beine nacheinander im direkten Vergleich.“

Sie streift also erst über das rechte, dann über das linke Bein und fragt wiederholend: „Merken sie einen Unterschied?“

„Nein, kalt“ arbeitet Herr Weber sorgfältig mit.

 

Er verfolgt, wie der linke Arm geprüft wird, aber dieser ist natürlich auch vollkommen in Ordnung, denn schließlich hatte er seinen Schlaganfall im Bereich der linken Hemisphäre, welche die rechte Körperhälfte innerviert.

 

Alle Ergebnisse trägt Sandra in die entsprechenden Felder des Bogens.

„Herr Weber, wir sind gleich am Ende. Ich hoffe Sie können sich noch einen Augenblick konzentrieren. Wollen wir noch den letzten Test ausführen?“

 

Herr Weber pustet einen kleinen Windstoß aus, als hätte er genug. Aber er hat sich nur kurz entspannt und antwort freundlich: „Ja.“

 

Daraufhin holt Sandra ein kleines Brett heraus, aus dem viele Stöckchen unterschiedlicher Größe und Dicke stecken. Sie kippt es kurzerhand um und alle Stöckchen fallen auf die Bettdecke.

Während sie einige beiseite schiebt, um das Brett direkt vor seinen Bauch zu legen, bittet Sie Herrn Weber: „Stecken sie jetzt die Hölzer bitte in die entsprechend vorgesehenen Löcher zurück! Bitte nur mit einer Hand! Mit welcher Sie anfangen, ist egal.“

 

Da Herr Weber bautechnisch sehr versiert ist, hätte er nicht einmal viel von der Aufgabenstellung verstehen müssen, um diese richtig zu lösen. So nimmt er sogleich seine kräftige linke Hand und steckt flink alle Hölzchen in die richtigen Löcher.

 

„Na, ohne Probleme.“ lobt ihn Sandra und bittet nach dem erneuten Umkippen des Brettes nun die rechte Hand zu nehmen.

 

Die großen dicken Hölzer fanden schnell ihren richtigen Platz, aber je kleiner und dünner diese wurden, desto schlechter konnte Herr Weber sie greifen. Das kleinste fiel ihm sogar drei mal aus der Hand.

Er flucht ein wenig, indem er laut stöhnt.

 

„Immer mit der Ruhe. Das klappt schon.“ ermutigt Sandra ihn.

Doch das kleinste Hölzchen will ganz und gar nicht.

„Na, dann wissen wir ja, woran wir arbeiten müssen.“ gab Sandra zielstrebend und forsch zum Ausdruck, um etwaige Launen des Patienten zu überspielen.

Demnach ist die Feinmotorik der rechten Hand eingeschränkt, was sie auch entsprechend in ihrem Testbogen dokumentiert.

 

Da die vorgesehene Therapiezeit eigentlich schon überschritten ist, erklärt sie nun abschließend: „Das sieht ja alles ganz gut aus. Ab morgen legen wir dann mit der Therapie los. Wir werden hauptsächlich Ihre Hand stärken, okay?. Mit dem Bein wird sich der Physiotherapeut auseinandersetzen. Ich erläutere ihnen dann morgen alles weitere, wie wir vorgehen. Jetzt ruhen sie sich aber erst einmal aus.“ lächelt sich noch.

 

Sie räumt das Testbrett ein und reicht ihm zur Verabschiedung die Hand, wobei sie auf die Belange der rechten Hand des Patienten absichtlich keine Rücksicht nimmt.

Sie fordert ganz einfach die Etikette, begleitend mit den Worten: „Bis morgen und noch einen schönen Tag“, was Herr Weber freundlich mit „Ja.“ erwidert.

 

Schon halb ins Kissen gesunken, blickt er noch einmal zur Tür, wie sich diese gerade hinter der Ergotherapeutin schließt.

Er ist nun etwas müde und schließt seine Augen, aber wesentlich beruhigter, denn seinem Gefühl nach, schloss er diesen Test mit recht guten Ergebnissen ab, was ihn hoffen lässt.

 

Obwohl er träge im Bett liegt und für einen Moment die Außenwelt ausschließen möchte, drängen sich seinen Ohren die regen Geräusche vom Flur auf.

Es polterte, als hätte die Putzfrau in aller Eile den Fußboden gesäubert und dabei gegen eine Tür gehauen. Seine blieb unbeschadet.

Doch in unmittelbarer Nähe seiner Tür müssen sich auf dem Gang Stühle befinden, denn nun ist lautes Scharren zu hören.

 

Plötzlich flucht die Putzfrau unbewusst: „Auch das noch.“ Der Stress, der in ihrer Stimme lag, ist bis in sein Zimmer wahrnehmbar.

 

Er erinnert sich an eine zufällige Situation in einem Büro in Berlin, wo er an einem großen Projekt mitwirkte, schon vor vielen Jahren, noch in der Anfangszeit seiner steilen Karriere.

Dort putzte eine sehr gut aussehende junge Frau, weshalb sie ihm überhaupt ins Auge fiel, das direkt gegenüberliegende Büro in rasanter Schnelligkeit ohne Aufzublicken.

 

Es war ein sehr feines Gebäude, in dem die einzelnen Räume geschickt nur durch Glaswände und Glastüren abgeteilt waren. Das ursprünglich ausgelegte Großraumbüro erhielt so interessante Sitzecken und Arbeitsbereiche mit feinsten Möbeln.

 

Während seine Augen damals ständig zwischen dem technisch hochentwickelten Computer und der Putzfrau wechselten, gewann sie durch ihre anmutigen Bewegungen ungewollt immer mehr seine Aufmerksamkeit.

Schließlich lehnte er sich ganz zurück und beobachtete sie nun sehr genau, bis ihm bald auffiel, dass ihr kleine Perlen von der Nase tropften.

 

Es war im Frühjahr, also noch nicht so warm. Auch die Räume waren nicht übermäßig geheizt.

Sie zückte zwar ein kleines Taschentuch aus ihrer Hosentasche, um das Gesicht zu trocknen, aber es war nur ein nicht signifikanter Augenblick, den sie dafür verwendete.

Eilig wirkte sie weiter und nahm aus ihrer Umwelt wohl nur wenig auf.

 

,War diese Arbeit so schwer?’ dachte er damals. ,Warum beeilt sie sich so? Wie kann denn in diesem Tempo alles sauber werden? Vielleicht bekommen sie ja mehr Geld, wenn sie mehr Räume schaffen?

 

Völlig ahnungslos über die Umstände im Reinigungswesen dachte er an seine Mutter, die auch für Sauberkeit im Haus sorgte.

Ihr dabei aber über die Schultern zu gucken, war eigentlich nicht möglich. Er betrat stets ein makelloses Heim, egal von wo er kam, ob von der Schule oder Uni, immer war schon alles sauber.

Sie hatten keine Putzfrau, seine Mutter war darin sehr eigen und er hörte sie auch nie klagen.

 

Aber das Wirken dieser jungen Frau stank nach Akkordarbeit, wie er sie aus Dokumentationen über Fließbandarbeit vom Fernsehen kannte.

 

Sicher, im ersten Moment könnte man glauben, weniger geistige Arbeit verdiene einen geringeren Lohn, weil die- oder derjenige keine Synergieeffekte provozieren und die Wirtschaft voranbringen müsse, aber gegen Dumpinglöhne war er schon immer.

Und wenn man an manche Manager denkt, dann wälzen diese nur Papier und werden bei ihren Besprechungen immer dicker und dicker, während sie angeben mindestens 80 Stunden in der Woche zu arbeiten. Ist da überhaupt noch Synergie möglich?

 

Das Arbeitslosenheer tritt den Beweis an. Mit möglichst wenig Aufwand muss allerdings Jahr für Jahr mindestens eine Umsatzsteigerung von 5% erwirtschaftet werden, um überhaupt als Firma Anerkennung zu finden. Die Gewinnmaximierung überragt inzwischen jegliche Moral und Ethik.

Erscheint es nicht eigentlich sehr einfach, das Geschäft auf Drittländer zu verlagern, bis man, weil alles erneut abgegrast wurde, sich den Viertländern widmet?

 

Häufig deklariert man diesen Konflikt zum Sparzwang so, dass dort Arbeit geschaffen wird. Das ist auch gut so, wenn es nicht an Ausbeutung grenzt und diesen Ländern zu wirtschaftlichem Aufschwung verhilft, obgleich es das Billiglohnland gänzlich abschaffen würde.

 

Wir stehen vor einem großen Problem in Anbetracht der rasant wachsenden Bevölkerung, der zunehmenden Armut und den abgrenzenden Vorurteilen auf der Erde. Was wollen wir tun?

Kann uns nur die Pest oder eine andere Epidemie retten, um unseren ewig wachsenden Anspruch, der durchaus biologisch wie psychologisch begründet ist, geltend zu machen, anstatt zu teilen?

 

Sollen wir wirklich in Kasten denken, so wie es in Indien benannt aber überall auf der Welt vollzogen wird?

 

Schon aus verhaltenspsychologischer Sicht ist es wichtig, dass sich Menschen entsprechend ihrer Fähigkeiten in der Familie, in Gruppen, einer Staaten- sowie Weltgemeinschaft einordnen müssen, damit ein alltäglicher Rhythmus und ein wirtschaftliches Miteinander den Fortbestand der Spezies Mensch garantiert.

 

Aber irgendwie verkennen wir stets den Darwinismus, der eigentlich nicht vorsieht seine Ressourcen sowie Symbionten zu vernichten, sondern im Einklang mit diesen auszukommen, auch wenn der Schwächere unterliegt.

 

Wir setzen aber die Nahrungskette der Wildtiere oft mit Nitzsches Worten über das Recht des Stärkeren als „Der Stärkere gewinnt“ gleich. Sind wir aktive Kannibalen?

 

Ist nicht die Innovation etwas aus dem Nichts stanzen zu müssen genauso anerkennenswert?

 

Selbst die großen Säugetiere zu Wasser und zu Land achten ihre Putzfreunde. Sollten nicht deshalb die Löhne in einem würdevollen Verhältnis zueinander stehen?

 

Herr Weber dachte nun aktiv nach: ,Mein Gott, das ist doch mein Dreck. Manchmal riecht es sogar. Natürlich möchte ich, dass dieser vorbehaltlos und vertrauensvoll entsorgt wird.’

 

Im gleichen Moment fällt ihm eine Dokumentation ein, die er im letzten Jahr sah. Darin wurde recht ausführlich über die Logistik im Ritz-Carlton, einer hochrangigen Hotelkette, berichtet.

Man prahlte, dass sogar das Putzpersonal in logischer Abfolge, obwohl jede einzelne Putzfrau sich darin eigens organisieren müsse, jedes einzelne Zimmer abarbeite, um möglichst unnötige Wege, Schritte und Zeit zu vermeiden.

,Als Anreiz gäbe es Bienchen, die am Monatsende großzügig an das beste Personal verteilt würden’ erinnert er sich lächelnd an die Worte der Leiterin dieser Abteilung.

,Nein’ schüttelt er innerlich seinen Kopf ,wie im Kindergarten oder in den unteren Schulklassen.’

Natürlich wurde nicht bekannt gegeben, was das Personal an Gehalt erhielt. Vielleicht war es ja besser als gedacht.

 

,Ich würde diese Arbeit aber auf keinen Fall machen wollen. Mir wäre dies zu wider, gar zu eklig. Es gibt doch auch richtige Dreckschweine auf Erden.’ sinnt er zu Ende.

 

Seiner Überzeugung entsprechend, bezahlte er seine Putzfrau seit dem Ereignis im Glasbüro gut, auch wenn diese nicht oft kommen brauchte, da er ja viel unterwegs gewesen ist.

 

Mit seinen Gedanken wurde es langsam wieder ruhiger auf dem Flur, die Putzfrau scheint weitergezogen zu sein.

 

Doch die Ruhe weilt nur kurz, denn Schwester Monika trat ins Zimmer.

„Guten Tag, Herr Weber.“ bringt sie ihm höflich entgegen, worauf Herr Weber mit einem leichten Kopfnicken reagiert.

„Ich möchte die Magensonde anschließen.“ erklärt sie weiter.

 

Während Sie den Beutel an den dafür vorgesehenen Ständer hängt, hebt Herr Weber die Bettdecke zur Seite und zuppelt den Schlauch aus seinem Schlafanzug.

„Oh, vielen Dank.“ freut sich Monika über diese Zuarbeit und verbindet beide Enden.

Dann stellt sie noch die Fließgeschwindigkeit am Pumpgerät ein.

 

Herr Weber bringt sein Bettzeug wieder in den gewünschten Zustand und fragt Monika etwas zögerlich und beschämt: „Fenster?“

Mehr Worte sind nicht möglich, ist der doch schon froh, einen Wunsch äußern zu können.

 

„Fenster?“ reagiert Monika ebenfalls fragend. „Möchten Sie, dass ich das Fenster öffne?

„Ja“ folgt eine freudige Antwort.

Herr Weber ist höchst beglückt über diesen erfolgreichen Kommunikationsversuch.

 

„Ja, Sie haben recht. Es ist ziemlich warm und frische Luft macht munter.“ lacht Monika zurück und öffnet den rechten Flügel, den sie mit einem langen Haken einhängt, damit dieser nicht gleich zufällt, wenn die Tür geht.

 

„Brauchen sie sonst noch etwas?“ will sie wissen, sich schon langsam auf dem Weg nach draußen begebend.

„Danke“ erwidert Herr Weber und lässt seinen Blick sogleich in Richtung des Baumes schweifen, welcher direkt vor seinem Fenster leise säuselt.

 

Die frische Luft tat wirklich gut, was Herrn Weber zu tiefem Luftholen bewegt. Wieder legt er sich ausgeglichen in sein Kissen zurück und lauscht den Geräuschen, die der Frischluft folgen.

Impressum

Texte: Anne Adler
Bildmaterialien: Bild - ABC Kunstschule Paris
Cover: Anne Adler
Tag der Veröffentlichung: 10.09.2010

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