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Leseprobe


Die Sache mit den Männern...
...wenn man Missbraucht wurde.
Von
Anna Sorglos
Begrüßung
Ich bin Jung. Ende zwanzig. Meinen wahren Namen möchte
ich nicht verraten, aber ich stelle mich euch als Anna vor. Wenn
man sich Anna vorstellen soll, würde ich sagen, sie ist eine
junge, lebenslustige Frau. Mit einem festen, gut bezahlten Job,
die ein geregeltes Leben hat. Wie Anna auf andere wirkt?
Fröhlich. Sympathisch. Eine Frohnatur, höre ich oft, die nicht
zickig ist. Anna liebt Blumen, den Sonnenschein, das Meer,
Tiere.
Doch Anna hat ein Problem. Wenn man Anna fragen würde,
was für ein Problem und sie würde es ihren Freunden oder
Kollegen sagen, würden sie es sicher nicht glauben. Sie würden
ungläubig den Kopf schütteln und sagen: „Was? Nein. Aber
doch nicht Anna!“
In den Köpfen der Menschen gibt es ein bestimmtes
Schubladendenken. Das machen wir Menschen ganz
automatisch. Schubladendenken bedeutet, das wir für uns
Menschen einkategorisieren. Wie zum Beispiel:
Eine übergewichtige Frau isst viel, sie treibt keinen Sport und
lässt sich gehen, pflegt sich nicht.
Dabei gibt es durchaus übergewichtige Frauen, die zwar mehr
wiegen, aber gerne Sport machen, sich gesund ernähren und
mehr als die Durchschnittsfrau auf ihr äußeres achten.
Doch unser Schubladendenken verleitet uns dazu, jede
übergewichtige Frau als Faul und ungepflegt zu bewerten.
Jeder der es schafft, nicht in Schubladendenken zu verfallen,
dem gratuliere ich hiermit ganz herzlich. Denn das ist oft gar
nicht so einfach.
Genau so ist es mit Frauen, oder auch Männern, die in ihrer
Kindheit oder Jugend missbraucht wurden. Natürlich auch
spätere Übergriffe, wie eine Vergewaltigung oder Missbrauch
in der Ehe oder einer Partnerschaft.
Aber als Kind missbraucht zu werden, ist anders.
Man ist klein und wehrlos, ist schutzlos. Ist eigentlich darauf
angewiesen, von den erwachsenen beschützt und behütet zu
werden. Doch mehr als jedes 3 Mädchen und jeder 7 Junge
werden im Kindesalter missbraucht. Einmalig. Mehrmals. Über
Jahre, teilweise sogar bis ins Erwachsenen alter hinein. Selten
sogar solange, bis der Peiniger verstirbt.
Das sind aber nur Zahlen und Fakten.
Wenn du dir dieses Buch gekauft hast, kennst du dich sicher
auch mit dem Thema Missbrauch aus. Dir sind Begriffe wie
„Dunkelziffer“ nicht unbekannt, du weist, das beinahe 300.000
Kinder in Deutschland Jährlich Opfer von Missbrauch werden.
Kinder, die in eine eigentlich geordnete Gesellschaft
hineingeboren werden. Kinder, die Liebe erfahren sollten, aber
dafür Leid und Schmerzen kennen lernen.
Vorwort
„Das macht ja was mit einem.“ ,höre ich eine Kollegin sagen,
als wir am Mittagstisch sitzen und sie von früher erzählt.
Früher, das war vor wenigen Jahren, als sie beim Jugendamt
gearbeitet hatte. Nur für ein paar Monate. Ein Praktikum.
Kurz tritt eine angespannte Stille ein, obwohl wir umringt von
anderen Kollegen sind, die hier essen und rauchen, sich gar
nicht um uns kümmern. Wir sind nur eine kleine Gruppe von
jungen Frauen, die sich hier in der Firma immer treffen, um
gemeinsam zu Mittag zu essen.
Oft reden wir über Schuhe, die neueste Mode. Stress auf der
Arbeit. Die zickigen Kolleginnen, die mal wieder hysterisch
durch das Büro gerannt sind oder der Chefin, die mal wieder
keine Ahnung von nichts hat. Aber manchmal entwickeln sich
Gespräche auch in eine ernste Richtung.
Solche Situationen sind gefährlich für mich. Für mich? Ja, ich
bin Anne. Eigentlich fröhlich und heiter, doch solche
Gespräche sind gefährlich für mich. Denn ich wurde als Kind
missbraucht.
Doch das darf niemand wissen. Niemand.
„Tja.“ ,eine andere Kollegin rührt mit einem Strohhalm ihren
Orangensaft herum, bricht das eisige Schweigen.
Wir sind heute sieben junge Frauen und jede hatte etwas zu
diesem Thema zu sagen.
Die erste meinte, das man da nichts machen kann, aber so
etwas natürlich melden sollte.
Die zweite meinte daraufhin, das melden doch nichts bringt, da
die Täter hier in Deutschland doch kaum bestraft werden. Die
ein bis zwei Jahre, vielleicht zehn, wenn das Kind ermordet
wird.
Die dritte meinte daraufhin, das solche Täter sich doch nie
ändern und man sie für immer wegsperren müsste.
Die anderen hielten sich größtenteils heraus, nickten aber
fleißig nach jedem Satz der ausgesprochen wurde.
Ich aber sitze da und habe das Gefühl, das sie über mich
sprechen.
Und genau jetzt befinde ich mich in einer gefährlichen
Situation. Denn ich weiß nicht, wie ich mich verhalten so. Alle
schweigen und ich hadere mit mir. Soll ich das Thema
wechseln? Was denken sie dann? Das es mir auch passiert ist?
Soll ich lieber auch einen heroischen Satz von mir geben um
nicht aufzufallen? Oder ist es jetzt schon zu spät, nachdem
dieser theatralische Schweigemoment bereits durch ein „Tja“
durchbrochen wurde? Oder lieber gar nicht sagen?
Es sind diese wenigen Sekunden, die ich zu Boden starre oder
mir etwas zu essen in den Mund schiebe. Aus Angst. Aus purer
Angst, das jemand merken könnte, wie sehr mich dieses Thema
berührt. Immer noch belastet.
Das gute ist aber, das meine Kolleginnen sehr oberflächlich
sind. Sicher, jede ist irgendwie nett und sympathisch. Sie sind
nicht hinterhältig und nur selten zickig. Das legt sich aber
wieder, so wie das unter Frauen nun mal so ist .
Und da sie sehr oberflächlich sind, reden wir nur sehr selten
über ernste Themen. Noch seltener über solche Themen wie
„Missbrauch“. Es bringt ja eh nichts, mit ihnen darüber zu
reden.
Es bringt weder mit etwas, noch ihnen, noch den Kindern, die
in Deutschland missbraucht wurden oder aktuell werden.
Übrigens... vom Anfang dieses Buches, bis zu dieser Zeile,
wurden Statistisch 4 Kinder in Deutschland missbraucht. Eines
konnte sich retten. Eines weiß nicht was auf es zukommt. Zwei
davon, kennen es bereits und wehren sich nicht länger dagegen.
Jedoch gibt es noch mehr gefährliche Momente in meinem
Leben. Und das alleine nur im Büro, dort wo viel getratscht
wird. Kolleginnen sind meistens keine Freundinnen, denen mal
alles erzählen und anvertrauen würde. Sie sind auch nicht
fremd, sondern irgendetwas dazwischen.
„Ich hab da wen kennen gelernt. Gestern war´s richtig toll.“
Elena wackelt verdächtig grinsend mit ihren Augenbrauen und
starrt in unsere Mittagsrunde. Kleine Angeberin. Sie schleppt
doch ständig einen ab. Ist einfach so. Natürlich lernt sie wen
kennen. So wie jedes Wochenende.
Jeden Freitag freut sie sich auf das Wochenende. Party ist
angesagt! Enges Top, kurzer Rock, hohe Schuhe und auf zur
„Männerjagt“. Sie kann es sich auch irgendwie leisten. Elena
ist hübsch, jung, schlank und hat eine tolle Ausstrahlung. Sie
kann hemmungslos flirten und jeder Mann, den sie haben will,
den bekommt sie auch.
Etwas neidisch bin ich schon, das gebe ich offen zu. Es wäre
zwar besser, wenn sie sich für einen entscheiden würde, aber es
ist ihr leben. Sie darf frei entscheiden, was sie tut und mit wem.
Ich beneide sie aber darum, so gelassen an diese Sache heran
zu treten. Einem Mann so nahe zu kommen. Ihn zu umarmen
und zu küssen, ohne jegliche Angst.
Während sie so erzählt, wie toll er aussieht und das sie ihn
vielleicht sogar noch einmal treffen möchte, komme ich ins
grübeln, starre Gedankenversunken auf Elena und träume mich
weit weg. Ich frage mich... Was wäre wenn?
Ja, was wäre wenn, ich auch so ein leben führen würde? So
unbesonnen und heiter, wie ich immer tue. Was, wenn ich mich
nicht verstellen müsste, sondern meine fröhliche Art wahr wäre
und nicht nur gespielt. Aufgesetzt. Wie eine Maske, zu meinem
Schutz.
Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich keinen Missbrauch
hätte erfahren müssen?
Wäre ich verheiratet?
Könnte ich Nähe genießen?
Ohne Angst mit einem Mann im Raum stehen?
Hände fuchteln vor meinem Gesicht herum. Die „Mädels“
lachen und amüsieren sich über meinen starren Blick. Wie
gesagt. Solche Situationen sind gefährlich für mich.
„Sag. Wie lange bist du gleich noch Single? Willst du nicht
auch endlich mal jemanden kennen lernen?“ ,wird mir an den
Kopf geworfen.
Na, als ob ich diese Fragen in den letzten Wochen nicht oft
genug gehört hätte, entwickelt sich daraus ein Gespräch, aus
dem ich am liebsten fliehen würde.
„Willst du denn gar nicht? Ich hab dich noch nie mit einem
Kerl gesehen.“
„Stehst du vielleicht auf Frauen?“
Ohne das ich es wollte, stand ich erneut im Mittelpunkt.
Sicher, natürlich fällt es auf. Ehrlich wie ich bin, verneine ich
immer, das ich eine Beziehung habe. Warum auch einen Mann
erfinden? Das ist doch lächerlich. So etwas habe ich doch gar
nicht nötig, also tue ich es auch nicht.
Ich schaue leicht genervt in die Runde. Meine aufkommenden
Magenschmerzen spürt niemand. Das es mir schwer fällt meine
Tränen zu unterdrücken, sieht mir zum Glück niemand an.
„Sehr witzig.“ So kann ich nur noch kontern, was soll ich auch
anderes tun? Wenn so viele auf einen einreden, bleibt mir ja
keine andere Möglichkeit.
„Es ist nicht so einfach. Ich kann nicht einfach mit einem Mann
zusammen kommen, weil ich Angst habe. Ich wurde
missbraucht als Kind und kenne so etwas wie wahre Liebe
nicht.“
Am liebsten würde ich das sagen.
Sicher würden sie zusammen schrecken und mich mit weit
aufgerissenen Augen und Mund anstarren, sich entschuldigen
und schämen, das sie mich damit seit Monaten aufziehen.
Aber will ich diese mitleidigen Blicke ertragen? Ich wäre keine
mehr von ihnen. Ich wäre nicht mehr „normal“. Ehe ich noch
ein weiteres Wort sprechen könnte, wäre ich in einer Schublade
drin, aus der ich nicht mehr heraus käme.
„Die – wurde missbraucht. Also ist sie suizidgefährdet.“
„Die – ritzen sich, wollen Mitleid.“
„Die – sind nicht Beziehungstauglich.“
„Die – haben sich nicht unter kontrolle.“
„Die – nehmen doch meistens Drogen.“
Suizidgefährdet war ich als Kind. Mit zehn Jahren wollte ich
mich erhängen, um diesem Alptraum zu entfliehen.
Mitleid will ich nicht.
Beziehungstauglich? Wohl eher nicht.
Aber ich habe mich unter Kontrolle, habe noch nie Drogen
genommen, oder daran gedacht welche zu nehmen.
Aber gibt es nicht auch Menschen, die sich wegen
gescheiterten Beziehungen umbringen? Weil der Partner fremd
ging oder Schluss machte? Bringen sich nicht jährlich tausende
Menschen um, weil sie Schulden haben oder aus anderen
Gründen, die nichts mit Missbrauch zu tun hat?
Beziehungstauglich? Was ist mit den Frauen und Männern, die
den drang haben Fremd zu gehen oder ihren Partner belügen
um eigene Vorteile daraus zu erhaschen? Sind die
Beziehungstauglich? Auch das hat nichts mit dem Missbrauch
an sich zu tun.
Dennoch würde man mir genau das vorwerfen. Noch bevor ich
etwas getan hätte. Und wenn eine Beziehung scheitert, sollte es
heißen: Na klar, die wurde ja auch missbraucht. Das konnte ja
nur schief gehen!
Es gab viele Jungs und Männer in meinem Leben.
Ich war oft verliebt. Habe einmal richtig lieben dürfen.
Wurde jedes mal enttäuscht.
Bitter.
Eiskalt.
Die erste Liebe im Kindesalter
Ich erinnere mich noch genau an meine erste Liebe. Damals
war ich acht Jahre alt und in der zweiten Klasse. Leider kann
ich mich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Aber was ich
noch weiß ist, das er sehr gut aussah, also von einer 8-Jährigen
aus betrachtet. Er war sehr beliebt und richtig cool. Jedes
Mädchen wollte Händchenhaltend mit ihm über den Schulhof
schlendern.
Nach der Schule waren wir beide noch in einer
Nachmittagsgruppe, bevor wir von unseren Eltern abgeholt
wurden.
Er mochte mich, weil ich irgendwie anders war. Ich war halt
irgendwie kein richtiges Mädchen. Ich trug Jeans, T-Shirts und
mir machte es nichts aus mich im Dreck zu wälzen. Ich spielte
Fußball und ließ mich von den Jungs nicht ärgern. Wir
unterhielten uns und spielten auch zusammen, bis wir uns
küssten. Es war toll. Bauchkribbeln und Schmetterlinge,
überall um mich herum. Es war Sommer und selbst die Lehrer
bekamen mit, das wir „ein Pärchen“ waren.
Damals war ich so unbeschwert, genoss es, von ihm so
umworben zu werden. Er pflückte Blümchen für mich, teilte
sein Kaugummi mit mir. Brachte mir etwas süßes von zuhause
mit. Nahm meine Hand, sagte mir, das ich hübsch bin. Er ließ
die anderen Mädchen abblitzen, sagte mir, das ich so
vollkommen normal bin und ihn nicht hysterisch ankreischen
würde. Das mochte er.
Es fühlte sich gut an, wie er durch mein Haar streichelte, mich
umarmte. Ich fühlte mich so geborgen und wahrgenommen,
kannte ich das ja von zuhause nicht. Dort gab es keine Liebe,
keine Umarmungen. Wenn dann natürlich so ein junge
auftaucht und mir all diese Liebe gibt... natürlich wollte mein
kleines unschuldiges Kinderherz da nicht nein sagen.
Wir schlichen uns oft in die kleine Turnhalle im Keller, küssten
uns dort und redeten. Er war mein kleiner Seelenpartner und
ich freute mich richtig auf die Schule, weil wir uns danach in
der Nachmittagsgruppe sahen.
Als der Sommer seinen Höhepunkt erreichte, heirateten wir auf
dem Schulhof.
Er flechtete einen Blumenkranz für meine Haare, die ich als
kleine Krone trug und er hatte eine Krawatte von seinem Vater
stibitzt. Vor unseren Erzieherinnen und den anderen Kindern
wurden wir spielerisch geehelicht.
Natürlich war es für die Erzieherinnen ein Spaß. Wir waren ja
so „niedlich“. Freudig schluchzten sie. Die anderen Mädchen
und jungen, die auch in der Nachmittagsgruppe waren, waren
teils neidisch, teils machten sie sich darüber lustig. Fanden es
„igitt!“ das er ein Mädchen küsste und ich einen Jungen.
Es war damals das erste mal, das ich verliebt war. Damals
glaubte ich, alles richtig gemacht zu haben. Ich stellte mir
sogar vor, ihn später tatsächlich heiraten zu können, Kinder zu
bekommen und mit ihm erwachsen zu werden. Alt war damals
noch viel zu weit weg. Erwachsen war „alt“ genug.
Dann kamen die Sommerferien. Dann zog er weg.
Ich war unheimlich traurig und bin sogar von der Schule
weggelaufen, als ich am ersten Schultag der dritten Klasse
hörte, das er weggezogen war. Seine Eltern und auch meine,
duldeten es nicht weiter, das wir und sahen und so durften wir
nicht außerhalb der Schule miteinander spielen.
Dabei war es doch nur eine unschuldige Kinderliebe.
Das traurige daran ist nur... das dies meine erste und einzige
bleiben wird, wo ich mich ganz habe fallen lassen können. Wo
ich alles genießen konnte. Jeden Satz und jede Berührung habe
ich so angenommen, wie er sie mir gab. Ohne darüber
nachzudenken, ob er es ernst meint. Ob ich hübsch genug bin.
Ob er sich ekeln würde, wenn er wüsste, was ich bereits
durchlitten habe.
Damals war einfach alles anders. Dabei weiß ich nicht einmal,
ob es heute auch so wäre, wie damals. Was, wenn ich nicht
missbraucht worden wäre? Würde ich einem Mann mit dem
gleichen Gefühl gegenüber treten können, wie damals meinem
ersten Freund? Ohne Angst. Ohne die Befürchtung haben zu
müssen, das alles scheitert? Ohne ihm zu unterstellen, mich zu
betrügen oder ihn als einen gewalttätigen, Alkoholabhängigen
Mistkerl zu betrachten?
Natürlich gab es Freundinnen, die ich ausgehorcht habe. Immer
beschrieben sie mir eben dieses Gefühl, das ich in meiner
Kindheit hatte.
Ein warmes, wohliges Gefühl. Tiefe Verbundenheit.
Ich erinnere mich gerne daran zurück, an meine erste Liebe.
Mein erstes verliebt sein. Doch zugleich wünsche ich mir, das
ich es vergessen könnte. Denn zu wissen, das ich dieses Gefühl
nie wieder verspüren werde, ist viel schlimmer. Nun sehne ich
mich danach. Ich bin neidisch auf andere junge Frauen, die
solche Gefühle aufbringen können, denn ich weiß, das ich
niemals dazu in der Lage sein werde.
Außer, ich verstelle mich. Aber wem nützt es was? Mir? Dem
Mann, der sich in mich verliebt?
Nein, es schadet nur uns beiden.
Das erste verliebt sein – nach dem Missbrauch
Ich möchte gar nicht weiter darauf eingehen, wann und wie ich
missbraucht wurde oder wie oft es Schläge gab. Welche
„Psychospiele“ gespielt wurden. Welche Drohungen es gab.
Jeder, der so etwas auch nur im entferntesten
mitgemacht hat oder es aktuell durchleidet, kann sich gut
vorstellen, was passiert. Mehr hat hier auch nicht zu suchen.
Mehr schreibe ich in einem anderen Buch. Mehr kann ich jetzt
auch nicht schreiben, ohne wieder weinend auf der Couch zu
sitzen und mir einzureden, das alles gut ist.
Ich kann nur soviel sagen, das ich zehn Jahre alt war, gerade
erste geworden. Das ich keine Ahnung hatte, was mit mir
geschah und das ich keine Hilfe zu erwarten hatte. Weder von
meiner wissenden Mutter noch meiner ahnenden Familie, noch
von meinen spekulierenden Freundinnen oder
Klassenkameraden, Nachbarn oder Bekannten.
Ich war zehn Jahre alt und Tobias war 15 Jahre alt. Ich ging in
die 5 Klasse, er in die 9 Klasse. Über `zich Ecken kannte seine
Großmutter meine Mutter und so gingen wir, das erste mal
gemeinsam in eine Schwimmhalle. Da kannte ich Tobias noch
gar nicht.
Zum ersten mal, sah ich ihn vor der Schwimmhalle, als wir alle
davor Parkten. Seine, meine und eine dritte Familie, samt
Kindern. Tobias war echt cool. Gutaussehend, tolle Kleidung
und eine lässige Art. Wir haben uns kurz unterhalten, hatten
beide nicht so „Bock“ auf einen „Familienausflug“. Aber genau
das verband uns irgendwie sofort.
Damals, als ich zehn war, sah ich eher aus wie 14. Ich war
bereits über 1.65 m groß und hatte Körbchengröße B, eine
Taille und wirkte ganz und gar nicht wie ein Kind.
Im Schwimmbad, das auch ein Erlebnisbad war, riesig groß mit
mehreren Restaurants, mehreren Rutschen, kleinen Inseln und
weiterem, zogen wir uns zurück, rutschten, alberten herum.
Ich fand ihn cool, er hat sich da in mich verliebt. Ich wusste gar
nicht was liebe ist, er aber hatte schon die ein oder andere
Freundin gehabt.
Wir rannten über die Fliesen, flohen vor den „bösen“
Bademeister verfolgten uns. Doch wir rannten nur vor ihnen
weg, versteckten uns unter den ganzen anderen Badegästen im
Wasser.
Wir lachten und ich fühlte mich unbeschwert. Ich sprang im
Wasser auf seinen Rücken, klammerte mich an ihm fest. Er
tauchte mich unter.
Ich hatte ewig nicht mehr so einen Spaß! Dann fanden wir
heraus, das wir beide auf die gleiche Schule gingen. Ich war ja
erst seit wenigen Wochen in die 5 Klasse gekommen.
Als er hörte, das ich erst 10 bin, war er ganz schön erstaunt und
nahm erst einmal Abstand, aber das legte sich nach wenigen
Minuten wieder.
Von nun an grüßten wir uns in der Schule. Obwohl es natürlich
für ihn, ganz schön uncool war, eine 5-Klässlerin toll zu finden.
Jedes zweite Wochenende trafen sich nun unsere Familien, um
gemeinsam Schwimmen zu gehen.
Doch ich veränderte mich.
Wenn einem Kind so etwas widerfährt, verändert es sich. Ich
habe mich auch verändert.
Ständige Angst. Panikattacken. Ticks.
Doch wenn Tobias bei mir war, war es anders. Er ging so
unbeschwert mit mir um und ich merkte, das ich mich in ihn
verliebt hatte.
Doch genau das löste eine viel größere Panik in mir aus.
Plötzlich war er nicht mehr der coole Junge der auf meine
Schule ging, sondern ein Potentieller Verbrecher. Nur einer
dieser Männer, die sicher auch nur auf das eine aus waren. Die
sich mit Gewalt das nahmen, was sie wollten.
Ich schloss mich ein, sagte, das ich meine Tage hatte, es mir
nicht gut ging. Zog mich zurück. Ging nicht mehr mit zum
schwimmen. Zugleich litt ich darunter, denn Tobias war
weiterhin ein lieber Junge zu mir. Grüßte mich in der Schule,
redete mit mir. Doch ich sah ihn nicht mehr an. Wendete mich
ab. Tat so, als sei er mir gleichgültig. Denn die Angst in mir,
das er auch über mich herfallen könnte, übertraf all die schönen
Momente in meinem Herzen, wenn ich an ihn dachte.
Monatelang war Funkstille, doch dann flog ich aus der Klasse.
Dabei konnte ich gar nichts dafür. Es war Julia, die so
rumgequietscht hat, aber der Lehrer dachte, das ich es war.
Also musste ich für die restliche Unterrichtsstunde auf dem
Flur stehen. (Das erste und letzte mal in meiner
Schullaufbahn). Ich gammelte also auf dem Flur herum und
fing an zu weinen, weil ich es so unfair fand, als Tobias
plötzlich die Treppen runter kam. Er flog öfters mal aus der
Klasse und freute sich, das wir uns mal ungestört unterhalten
konnten.
Das er sich Hals über Kopf in mich verliebt hatte, das wurde
mir erst im Nachhinein bewusst, denn sein Verhalten war mehr
als deutlich.
Doch ich wandt mich von ihm ab, bis ihm nichts anderes übrig
blieb, als wieder zu gehen. Er dachte, das ich ihn nicht mögen
würde und ignorierte mich seither.
Dabei wäre ich ihm am liebsten in seine Arme gesprungen und
hätte mich bei ihm ausgeweint. Ihm alles erzählt. Doch meine
Scham war zu groß. Und so habe ich einen tollen Jungen gehen
lassen, der sich über Monate gesorgt hat und immer versucht
hat, sich um mich zu kümmern.
Das zweite verliebt sein – nach dem Missbrauch
Ich war zwölf. Er war zwölf. Ich fand ihn süß. Er mochte mich
wohl ganz gerne.
Ich war ein Schatten meiner selbst. Hatte zugenommen, war
ein kleines Pummelchen geworden. Gut 20 kg hatte ich zu viel
auf den Rippen, fraß alles, was mit in meine Finger kam. Ich
wollte dick und hässlich sein, sodass man mich nicht mehr
anrührte. Ich trug weite Kleidung, benutzte kein Deo, meine
Haare waren fettig. Ich tat einfach alles um hässlich zu sein.
Hinzu kam ein gestörtes Körpergefühl. Andere Mädchen in
meinem alter machten sich hübsch. Kaufen ihren ersten BH,
schminkten sich und begannen sich für Jungs zu interessieren.
Ich dagegen, tat alles um unattraktiv zu werden.
Ich durfte mich morgens, wenn ich zur Schule ging, nicht
waschen, mir nicht die Zähne putzen. Es war eine Strafe
meiner „Erziehungsberechtigten“ um mich auch außerhalb
meines Zimmers zu demütigen. Ich roch und zog eine
unangenehme Fahne hinter mir her, wurde so zur absoluten
Außenseiterin. Denn auch meine Kleidung wurde nicht mehr
gewaschen.
Deswegen trug ich auch im Sommer eine Jacke, weil es mir
unangenehm war. Natürlich auch, weil ich meinen Körper
schützen wollte und ich mich für die blauen Flecken schämte.
Erstaunlicherweise gab es nie einen Anruf meiner Lehrer bei
meiner Mutter, warum ich selbst bei 35° in der Klasse mit einer
Jacke und langen Hosen sitze. Ich wurde abgestempelt, es war
ihnen egal. Ich habe nicht gesprochen, zog mich vollkommen
zurück. Baute mir meine eigene kleine Traumwelt auf.
Und dennoch war ich verliebt. Glaubte ich zumindest damals.
Daniel war etwas größer als ich, hatte gute Noten und
wunderschöne, hellblaue Augen. Blondes, verwuscheltes Haar
und trug seine Hose oben, nicht wie andere, in den Kniekehlen,
was damals in Mode kam. Er machte keinen Unsinn, sondern
seine Hausaufgaben. Rauchte nicht, ärgerte die anderen
Mädchen nicht, sondern hörte ihnen zu. Ein kleiner Kavalier.
Ich saß nur da und habe alles von meinem Platz aus beobachtet.
Manchmal redeten wir miteinander. Er war einer der wenigen,
die mich normal behandelt haben. Ja, er war sogar einer der
wenigen, der mich fragte, warum ich mich so in mein
Schneckenhaus verziehe.
„Keine Lust.“ Ich zuckte nur mit den Schultern. Was hätte ich
auch sagen sollen?
Also blieb mir keine andere Wahl, als ihn aus der ferne zu
beobachten und mir vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn ich
eine normale Familie hätte.
Vielleicht hätte ich mich in den Pausen mit ihm treffen können.
Wir hätten uns angelächelt. Ja, vielleicht wäre mehr daraus
geworden. Vielleicht wäre ich heute mit ihm verheiratet?
Aber ich musste dabei zusehen, wie eine andere ihn bekam und
mies mit ihm umsprang. Sie versuchte aus ihm einen kleinen
Raufbold zu machen. Zwei mal war sie sitzen geblieben und
fünfzehn Jahre alt. Er war ganz schön eingeschüchtert. Denn
sie war bildhübsch. Hatte sogar ein Handy, was damals noch
niemand in den Klassen hatte. Sie hatte eine super Figur, war
sexy gekleidet und hatte immer die coolsten Sachen.
Es hielt nur ein paar Wochen. Danach machte sie sich über ihn
lustig und er wurde ebenso zum Außenseiter wie ich. Wechselte
sogar später die Schule, weil es einfach zu schlimm wurde.
Und ich saß immer noch da und fragte mich...
...warum musste sie diesen lieben Jungen so behandeln? Ich
hätte ihn gut behandelt. Aber nein. Ich konnte einfach nicht.
Ich hatte zu viel Angst. Und wie hätte das auch ausgesehen?
Ein hübscher Junge, gut gekleidet und gut in der Schule. Dazu
ein dickes Mädchen, in alten, „miefigen“ Klamotten, die steht´s
fettige Haare hat und aus dem Mund riecht?
Da kann der Charakter noch so gut sein.
Überall nette Jungs
Die Mädchen in meiner Klasse waren nun vierzehn, teils sogar
fünfzehn oder sechzehn Jahre alt.
Ich war dreizehn, somit die jüngste, da ich ein Jahr früher
eingeschult wurde.
Sie trugen Bauchfrei. Minirock. Hohe Schuhe. Rauchten.
Schwänzten die Schule, wollten cool sein. Knutschten mit
anderen Jungs aus den Parallelklassen herum. Gaben mit ihnen
an, prahlten, wie gut derjenige doch küssen konnte.
Sie machten sich auch über mich lustig. Über mich, Anna. Dem
Mädchen, was ganz alleine dasaß und auf ihren Tisch starrte.
Augenkontakt vermied und nicht sprach. Das selbst im
Hochsommer in Winterjacke dasaß und nicht einmal auf
Fragen antwortete. Das Mädchen, was still während des
Unterrichts weinte und niemand ihre Tränen mitbekam.
Ich wollte nur noch sterben. Genug Suizidversuche hatte ich
bereits hinter mir, überlegte während des Englischunterrichts,
wie viele Tabletten ich wohl schlucken müsste, um friedlich
einzuschlafen.
Und trotz all diesen schlimmen Situationen und
Lebensumständen, keimte stets ein wenig Hoffnung in mir auf.
Irgendwann würde ich dieser Hölle entfliehen können. Einfach
nur raus hier! Weit weg!
Endlich Duschen können, Zähne putzen, mich schön anziehen
und richtige Freundinnen finden. Einen Freund, der mich in
den Arm nimmt und sagt, das er mich liebt.
Nette Jungs gab es schließlich überall. Wo man nur hin sah, sie
schienen an jeder Straßenecke zu stehen und nur darauf zu
warten, das ein nettes Mädchen sie ansprach.
Zum Beispiel Florian, der in der 10 Klasse in meine versetzt
wurde. Ich fand ihn super.
Zu diesem Zeitpunkt war ich 15 Jahre alt und wog bereits über
100 kg, sprach bereits seit Jahren kein Wort mehr. Nur ab und
an, quälte ich mir einen Satz heraus, doch ich lebte ganz in
meiner Traumwelt.
Florian war sehr beliebt, gut in der Schule. Ein kleiner Macho.
17 Jahre alt war er und er war der einzige, der mir einen guten
Morgen wünschte. „Tschüss“ sagte und mich verteidigte.
Wenn mal wieder welche aus meiner Klasse meinten, sich über
mich lustig zu machen, ging er dazwischen und scheuchte sie
weg. Auf ihn hörten sie wenigstens. Er war mein strahlender
Held, von dem so ein junges Mädchen träumt. Ich weiß bis
heute nicht, warum er das überhaupt gemacht hat. Verliebt war
er sicher nicht in mich, hing er doch immer mit dünnen
Mädchen herum, die lachten und strahlten. Ich hingegen war
das genaue Gegenteil.
Der Ausbruch – Weg von zuhause
Mit 16 Jahren wurde ich vor die Tür gesetzt. Zuvor war ich
mehrmals weggelaufen, doch ich wusste nicht wohin mit mir.
Also blieb mir nichts anderes übrig, als zurück nach hause zu
gehen. Doch als ich gerade 16 geworden war, landete ich von
jetzt auf gleich in einem Heim. Es war ein spezielles Heim, für
schwer erziehbare Kinder. Dabei hatte ich nichts getan, sogar
einen guten Abschluss hingelegt. Nie geraucht. Nie Drogen
genommen. Und dann lande ich zwischen schwer erziehbaren
Kindern. Es war ein Alptraum.
Aber diese Zeit in diesem Heim hat mir auch sehr geholfen. Ich
habe endlich gelernt mich durchzusetzen. Schließlich waren sie
alle in meinem alter und genauso stark wie ich.
Allerdings wog ich zu diesem Zeitpunkt bereits über 110 kg,
jedoch, dank viel Sport und einer Größe von 1,75 war alles gut
verteilt und man sah mir dieses Gewicht kaum an.
In diesem Heim gab es auch eine Schülerstation. Für
Auszubildende, die dort für ein paar Wochen, alle paar Monate
wohnten, weil die Fahrt zu ihrer Ausbildungsstätte zu weit weg
war. Im ganzen Heim gab es fast nur Jungs. Von etwa 100
Jugendlichen, waren wir gerade mal 4 Mädchen mit mir
zusammen. Die meisten Jungs konnte man aber vergessen. Sie
nahmen Drogen, tranken sich bis zur Bewusstlosigkeit und
waren dumm wie Brot. Sebastian war da aber anders.
Wir kamen irgendwie ins Gespräch, hingen abends zusammen
ab, mit einer ganzen Gruppe.
Die meisten Kifften und betranken sich. Er trank zwar auch
etwas, aber wollte mit Drogen nichts zu tun haben.
Diese Jungs fanden mich irgendwie cool. Verkehrte Welt.
Endlich mal ein Mädchen, mit der man Unsinn anstellen
konnte. Diese Gruppe beflügelte mich. Ich bekam endlich
wieder etwas Selbstwertgefühl.
Er spielte Gitarre. Ich sang gerne und war auch gar nicht
einmal so schlecht. Er schrieb Gedichte und las sie mir vor. Wir
unterhielten uns darüber. Wenn ich mit ihm alleine war, war er
ganz anders. Sanft, zeigte mir seine weiche Seite. Wir alberten
herum. Ich schwänzte sogar die Schule, die ich gewechselt
hatte nach meinem Abschluss. Sollte eigentlich in die 11 Klasse
gehen, aber blieb immer länger fern.
Ich war schon ganz schön verliebt in ihn. Doch ich war nun
mal der Kumpeltyp. Ich hatte zwar endlich ein eigenes
Badezimmer, weil die anderen Mädchen alle weg waren und
ich somit das letzte Mädchen in diesem Heim war, konnte mich
so Duschen und Pflegen, aber dennoch hatte ich nur meine alte
Kleidung. Weit. Kaputt. Verblasst. Kein Schmuck. Keine
Schminke. Ich hatte seit Jahren keine neue Hose mehr gekauft
oder ein neues Shirt.
Natürlich zählen innere Werte, aber das äußere ist auch
wichtig. Und so gut wie er aussah, wie einfühlsam, wie
Talentiert, da hatte ich leider keine Chance.
Ich hasste mich dafür, das ich so dick war. Das ich nicht in
einer Familie aufgewachsen war, die sich um mich richtig
gekümmert hatten. Dabei wuchs ich nicht in Armen
Verhältnissen auf. Wir hatten eigene Häuser, Autos, Urlaube.
Geld gab es genug, aber nicht für mich.
Andererseits war ich auch dankbar, dass ich keine eingebildete
Kuh war, die nur auf Äußerlichkeiten schaut, sondern auf
innere Werte. Ich bekam eine tolle Möglichkeit, Menschen
kennen zu lernen, gleich so, wie sie wirklich sind. Denn wenn
vor ihnen nur ein dickes Mädchen steht, was sollen sie sich da
verstellen? Das faszinierende daran war auch, das ich
beobachten konnte, wie sich die Jungs benahmen, wenn sie nur
mit mir zusammen waren und wie sie sich veränderten, wenn
ein Mädchen hinzu kam, die ihrem Beuteschema entsprach.
Dadurch konnte ich viel lernen, über das verhalten des anderen
Geschlechts und wie die Mädchen sich benahmen, um den
Jungen „herumzukriegen“.
Es hatte was von „Tiere im Zoo beobachten“ und anschließend
Studieren.
Wenn ich mal nicht die Schule schwänzte, dann war ich
tatsächlich dort. Ich bekam ja kein Geld und wenn ich mal
etwas bekam, konnte ich es mir auch leisten, mit dem Bus zur
Schule zu fahren. Da sollte man doch meinen, das so was
selbstverständlich war, aber so war es nicht.
In meiner Klasse war auch ein Junge, den ich am Anfang gar
nicht mochte. Dieser hieß auch Sebastian...
Frei und dennoch Gefangen
Die erste große Liebe in Freiheit
Ich genoss meine neu erworbene Freiheit. Nun konnte ich
selbst über mein Leben bestimmen. Im Heim hatte ich ein
kleines Zimmer, etwa 7qm groß. Darin stand ein Bett, ein
kleiner Fernseher, ein Waschbecken und ein großer
Kleiderschrank. Ich bekam sogar einen alten Computer
geschenkt, der auf einem kleinen Computertisch stand. Es war
eng, aber es war mein Zimmer. Meine eigenen vier Wände.
Direkt neben meinem Zimmer hatte ich ein kleines
Badezimmer mit einer Dusche. Es war fast wie eine eigene
Wohnung. Ein kleines Paradies, für mich ganz allein.
Wenn ich Abends in meinem Bett lag, konnte ich Fernsehen
oder Musik hören. Ich konnte schlafen und wusste, das ich
auch tatsächlich schlafen konnte. Ich bekam ein altes Handy,
konnte mir manchmal sogar eine neue Karte kaufen um SMS
zu versenden. Meine Oma oder einer meiner Onkel steckte mir
ab und an Geld zu, das ich natürlich annahm. Und wie man als
Jugendliche so ist, gibt man da sein Geld lieber für neue
Sachen aus, anstatt für Fahrkarten.
In meiner Klasse gab es einen Jungen. Sebastian. Da war ich
immer noch 16 Jahre alt, er beinahe 18.
Ich mochte ihn überhaupt nicht. Er war mir schon am ersten
Schultag aufgefallen, da ich direkt neben ihm saß und er mit
seinen Jungs die Mädchen ab checkte. Die ist süß. Die nicht.
Wie sieht die denn aus?
Ich schüttelte nur meinen Kopf und dachte mir meinen Teil.
Was ein Vollidiot! Große Klappe und sicher nichts dahinter.
Natürlich kamen wir an diesem ersten Schultag, wo wir mit
über 90 Schülern in einer Klasse waren in die Selbe. An diesem
Tag wurden wir in drei Klassen aufgeteilt. Dabei hatte ich
gehofft, nicht mit ihm in ein und dieselbe zu kommen.
Zum Glück konnte ich mit meinen Mädels, die ich dort kennen
lernte, einen Platz weit weg von ihm erhaschen. Doch er fiel
einfach immer wieder durch seine große Klappe auf.
Wir hatten Religionsunterricht. Er saß links von mir, nur ein
paar andere Mitschüler trennten uns. Er zeichnete vor sich hin,
ich las in einer Zeitschrift. Religion hat mich einfach noch nie
interessiert und meine Rebellion begann, sodass mir die Schule
so ziemlich egal war.
Mitten im Unterricht, der sehr locker war, bekam ich plötzlich
einen Zettel zugesteckt. Ich schaute irritiert und öffnete ihn. Da
schrieb mir dieser Mistkerl tatsächlich einen kleinen Brief! Er
grinste mich an und wollte wissen, was ich von dem Inhalt
denke.
Darin stand: „Na? Interessierst du dich für diese Filme? Ich hab
welche zuhause. Hätte nicht gedacht, das ein Mädchen wie du,
so was cool findet.“ Naja, so etwas in der Art.
Ich guckte ihn irritiert an und schrieb zurück: „Fick dich.“ Ja,
meine Rebellion war nicht sehr Ladylike. Aber das fand er
wohl irgendwie cool und stand auf um sich hinter mich zu
stellen. Er beugte sich zu mir runter und fing tatsächlich eine
Unterhaltung mit mir an, über diese Zeitschrift die ich in
meiner Hand hielt und die Filme und Serien, über die Berichtet
wurden. Zuerst dachte ich, er erlaubt sich einen schlechten
Scherz. Aber ich wurde eines besseren belehrt. Er kannte sich
wirklich damit aus, was mich total verwundert hat. Doch davon
wollte ich mich nicht so schnell beeindrucken lassen und ich
konterte, sodass er sich zurück auf seinen Platz setzte.
Natürlich auch, weil unser Religionslehrer verzweifelt
versuchte, ruhe in die Klasse zu bringen.
Sebastian sprach mich immer öfters an, ob ich denn mal wieder
dies und das geschaut hätte. Kam an meinen Platz in der Pause.
Ließ mit Zettelchen zukommen. Zog mich auf. Ärgerte mich.
Anfangs ärgerte ich mich darüber, aber seine Art brachte mich
auch zum lachen. Gespielt eingeschnappt schlug ich zurück. Es
war wie ein kleines Ping Pong Spiel. Immer Aktion in der
Klasse.
Mittlerweile hatte ich auf 100 kg abgenommen. Doch ich hatte
immer noch alte Schlabberkleidung an und so wurde mir
schnell klar. Der sieht mich eh nur wieder als Kumpeltyp.
Schulterzuckend machte ich weiter, verstand mich gut mit ihm.
Einige aus meiner Klasse, gestylt und gertenschlank, baggerten
ihn schon mal an. Aber er war anders zu ihnen, als zu mir.
Im Nachhinein betrachtet. War es eine tolle Erfahrung und ich
ärgere mich, dass ich diese Chance nicht ergriffen habe.
Wenn ich nicht missbraucht worden wäre. Wäre alles anders
gekommen...
In der Mittelstufe (12 Klasse) wurden unsere drei Klassen zu
zwei Klassen zusammengelegt, weil viele Schüler
abgebrochen hatten. Wir waren nun nicht mehr über 90
Schüler, sondern nur noch circa 55.
Da war auch eine neue dabei. Rebecca. Gertenschlank. High
Heels. Sehr weiblich und Bildschön. Natürlich schlawenzelte
sie ständig um Sebastian herum und zickte mich regelmäßig an,
wenn wir uns unterhielten. Was eine Furie.
Einmal ging sie an seinen Platz und schaute sich eine von
seinen Zeichnungen an, wollte etwas dazukritzeln. Als er
wieder kam und das sah, hat er es ihr gleich entrissen und ihr
deutlich gemacht, das sie seine Sachen nicht ungefragt
anfassen soll. Sie wollte schon zickig abrauschen, doch ich
ergriff meine Chance und nahm ihm sein Blatt weg. Sofort
lächelte er wieder und ging mir nach.
„Hey!“ Er lachte, nahm mir sein Bild aber nicht weg, was ich
nach belieben verunstalten durfte, ohne das er mich in die
Schranken wies.
Es war das erste Mal, das ich gegen eine schlanke, schöne,
junge Frau gewonnen hatte.
Wir tauschten sogar Handynummern aus. Alberten per SMS
herum. Damals gab es ja noch nicht für jeden Internet und
wenn, dann wurde per Minute abgerechnet.
Ich war verrückt nach ihm, idealisierte ihn vielleicht auch ein
wenig. Aber selbst heute, mehr als zehn Jahre später, mag ich
ihn irgendwie immer noch.
Es kam wie es kommen musste.
In der Klasse schwärmte ich vor meinen Mädels von einem
neuen Kinofilm, den ich unbedingt sehen musste.
Er mischte sich natürlich ein, das der Film doch total schlecht
sei. Wir stritten uns ein wenig, natürlich mit einem lächeln auf
den Lippen und unterhielten so die gesamte Klasse.
Irgendwann reichte es einer und sie schrie: „Meine Güte. Jetzt
geht doch zusammen hin und gut is´!“ Scheinbar hatte es wohl
jeder bemerkt, das wir uns mochten, nur uns selbst war dies
noch nicht wirklich klar geworden.
Ich zischte ihn gleich an: „Ich zahle meine Karte aber selbst“
Er gab sich geschlagen und somit stand unsere
Kinoverabredung.
Moment?! Verabredung? Ich? Mit einem Jungen?
Was hatte ich da nur angestellt? Sebastian lief hochrot an und
auch ich drehte mich erst einmal weg.
Hörte mir „Ohooo´s und Ahaaa´s“ von meinen Mädels an. „Da
läuft doch was! Ich habe es ja geahnt!“ ,feixten sie.
Doch innerlich brach ich in diesem Moment zusammen.
Es ging nicht! Unter keinen Umständen!
Ich wurde Kreidebleich, denn mir wurde bewusst, das ich einen
großen Fehler begangen hatte.
Ich hatte mich verliebt und es wurde erwiedert. Irritiert stand
ich auf. Mir wurde übel. Ich musste hier raus. Mich übergeben.
Wie sollte das bitte funktionieren?
Ich wog noch immer 100 kg, auch wenn ich eher für 75 kg
durchgegangen wäre. Etwas pummelig. Aber dennoch einfach
zu viel. Ich hatte nur Jeans und T-Shirt. Keine Schminke. Keine
Ketten. Keine schönen Schuhe.
Und er? Das ging einfach nicht! Wie sähe das denn aus?
Doch nicht nur das. Was wäre wenn? Wenn was?
Wenn er meine Hand nehmen würde? Ein Kuss? Undenkbar!
Ich erbrach mich und ging nach Hause, meldete mich Krank
und ging Tagelang nicht zur Schule. Verkroch mich in meinem
kleinen Zimmer. Antwortete nicht auf seine SMS.
Ich stellte mir die Frage, wie das bitte gehen sollte? Ich und er?
Ein Paar? Nicht nur rein Optisch. Was bitte tat man als Paar?
Ich hatte doch noch gar keine Erfahrungen in Sachen liebe.
Und wenn ich an das dachte, was Paare nun mal so taten,
wurde mir erneut übel. Ich zitterte, mir war schwindelig und
ich übergab mich ständig. Ich wollte nicht zur Schule gehen.
Denn dort war er ja auch und würde mich fragen, wann wir
denn nun gehen würden. Ins Kino.
Das ging einfach nicht! Alleine die Vorstellung, das er mich
nun tatsächlich küssen könnte, war mir zuwider.
Ich weinte, war verzweifelt und hasste mich dafür, das doch
etwas so schönes, wie Liebe und Zärtlichkeiten in mir Übelkeit
und Angst auslösten.
Er schrieb mir, wie es denn mit Montag Abend sei?
Also meinte er es tatsächlich ernst.
Wie geht es dir? Schwänzt du nur oder bist du wirklich krank?
Ja, er meinte es ernst. Er sorgte sich um mich.
Ich war nur noch am weinen, konnte nicht mehr schlafen.
Schrieb zurück: „Sorry. Grad kein Geld. Aber wir gehen noch,
versprochen!“ Ich vertröstete ihn acht mal.
Acht mal, sagte er „Ok.“ ,und fragte zugleich nach einem
neuen Termin.
Ich dachte mir immer neue Ausreden aus. Auf der einen Seite
wollte ich ihn nicht verlieren. Auf der anderen Seite ihn nicht
an mich heran lassen.
Nach der achten Absage hörte ich nichts mehr von ihm.
Ich fragte ihn, was denn los sei? Und er meinte nur: „Nichts.
Bin heute Abend weg.“
Ich fragte ihn, ob er sauer sei, weil ich ihn ständig versetzen
würde.
Er meinte nur: „Sauer? Warum? So einen Kinoabend habe ich
öfters, als ob der mir was mit dir bedeutet hätte. Bilde dir mal
nichts darauf ein.“
Das hatte gesessen.
Als ich wieder zur Schule ging, stand ich mit meinen Mädels
draußen vor der Tür. Wir tratschten, lachten. Bis es hieß: „Oha,
da kommt er ja.“ Ich drehte mich herum und sah ihn auf uns
zugehen. Eigentlich dachte ich, er begrüßt mich jetzt, so wie
immer.
Jedoch ging hinter uns die Tür auf und das Mädchen, was neu
in unsere Klasse gekommen war, Rebecca, kam heraus.
Wir verzogen unser Gesicht. Denn wir mochten sie alle nicht.
Doch als sie aus der Tür kam, strahlte Sebastian über sein
ganzes Gesicht. Keine zwei Meter von mir entfernt, umarmten
und küssten sie sich. Gingen dann gemeinsam in die Schule.
Als hätte mich jemand mit einem Hammer geschlagen, starrte
ich auf dieses Pärchen, hörte nur noch beiläufig die Stimmen
meiner Freundinnen, die damit im Leben nicht gerechnet
hatten.
Doch jetzt anfangen zu heulen? Nein. Ich war schließlich selbst
daran Schuld.
Es war eine große Demütigung, die beiden ständig turtelnd und
verliebt zu sehen. Sie saß ständig auf seinem Schoß und das
während des Unterrichts.
Wir hatten ein sehr lockeres Schulsystem. Die Lehrer sagten
um 8 Uhr was wir machen sollten und kamen um 15 Uhr
vorbei um sich unsere Arbeiten anzusehen. In der Zwischenzeit
war kaum jemand da – soweit die Erklärung dazu.
Er beachtete mich überhaupt nicht mehr. Sah mich nicht mehr
an. Lächelte nicht mehr. Ein gigantischer Cut wurde in unser
Leben geschnitten. Vielmehr in das meine.
Also ließ ich es bleiben. Blieb Monatelang von der Schule weg.
Suchte mir neue Freunde.
Interessiert hat es niemanden, das ich die Schule schwänzte.
Erst zwei Tage vor der Zeugnisvergabe, meldete sich ein
Lehrer und teilte mit, das ich im gesamten Schuljahr nur 32
Tage anwesend war. Da war es natürlich zu Spät. Ich wurde
nicht versetzt.
Aber da war es mir egal.
Ich hatte Aussichten auf eine Ausbildung, wurde bald 18 und
kam bei einer Freundin unter.
Mehr als ein Jahr später, saß ich am Hauptbahnhof und wartete
auf meinen Zug. Ich wollte zu meiner Ausbildung fahren, als
plötzlich eine junge Frau vor mir stand und sich neben mich
setzte.
Rebecca!
Ich dachte wirklich, ich sehe einen Geist.
Sie wirkte ruhig und gefasst, in ihrer hübschen Kleidung und
dem kleinen Handtäschchen. Streifte sich ihre Haarsträhnen
hinter ihr Ohr und lächelte mich an.
Es war das erste mal, das ich sie nicht unsympathisch fand.
„Hey, Anna.“ Sagte sie freundlich. Jetzt wollte sie auch noch
mit mir reden!
Genervt schaute ich auf die Anzeigetafel der Bahn, die
ankündigte, das mein Zug, ausgerechnet an diesem Tag, wenige
Minuten später eintreffen würde.
Ich versuchte sie so gut wie es ging zu ignorieren, jedoch fing
sie einfach an zu reden.
„Ich wollte dir nur kurz etwas sagen.“ ,stammelte sie vor sich
hin und knetete nervös ihre Finger.
„Schieß los.“ Auch wenn ich darauf keine Lust hatte, zuhören
konnte ich ihr ja wenigstens.
„Ich und Sebastian, wir sind nicht mehr zusammen.“
Und das erzählt sie mir? Anstatt eines „Wie geht es dir?“ oder
„Lange nicht mehr gesehen, übrigens – Sorry! - das ich immer
so Scheiße zu dir war.“ kam so ein Unsinn aus ihrem Mund?
„Schade.“ ,antwortete ich ihr und schaute auf einen leeren
Bahnsteig, wo jetzt eigentlich mein Zug stehen sollte. +
„Ok, du willst anscheinend nicht mit mir reden. Kann ich auch
verstehen. Ich war ja nie sonderlich nett zu dir.“
Besser eine späte als gar keine Einsicht, dachte ich, antwortete
ihr darauf aber nicht.
„Ich wollte dir nur sagen, das er Schluss gemacht hat, als klar
wurde, das du nicht mehr kommst. Er war eigentlich die ganze
Zeit über in dich verliebt. Wollte dich eifersüchtig machen. Das
ging wohl nach hinten los.“
Ich hielt das für einen schlechten Scherz und starrte sie an.
Rebecca aber stand auf und ging weg.
Damit hatte sie mir echt den Tag versaut.
Jahre vergingen und ich hatte meine eigene Wohnung, fand
Sebastian auf einer Internetseite, wo man sich ein Profil
anlegen konnte.
Ich schrieb ihn an. Einen Computer und mehrere Kilometer
Luftlinie zwischen ihm und mir, machten mir Mut.
Zuerst sprachen wir nur sporadisch miteinander.
Was hast du so gemacht?
Was machst du so?
Wie ist das Wetter bei dir?
Dieser Zauber kam zurück. Bei mir. Bei ihm leider nicht.
Er hatte eine feste Freundin und ich wollte ihn nicht damit
konfrontieren, was Rebecca mir einst gesagt hatte.
Und wie das so ist, verliert man sich wieder aus den Augen.
Erst ein Jahr später schrieb ich ihn erneut an.
Wollte endlich mit der Vergangenheit aufräumen.
„Wusstest du eigentlich, das ich total verliebt in dich war?“
,schrieb ich ihm. Doch es war sinnlos. Er meinte nur, er hätte es
nie gemerkt. Aber es täte ihm leid, er hätte nie so gefühlt.
Wir schrieben noch ein paar Sätze miteinander... und dann habe
ich, bis heute, nie wieder etwas von ihm gehört.
Aber ich bin stolz auf mich, auch heute noch, das ich es ihm
gesagt habe. Sehr stolz sogar, das ich den Arsch in der Hose
hatte, offen zu meinen Gefühlen zu stehen.
Es brachte mich weiter. Einen kleinen Schritt nach vorne,
Vergangenes zu verarbeiten und in meine neue Zukunft zu
schauen.
Das Kapitel Sebastian, war damit für mich beendet.


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Impressum:
Anna Sorglos
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(Ich bitte von Beileidsbekundungen und Flirt anfragen
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Texte: Shutterstock
Tag der Veröffentlichung: 12.12.2011

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