Die erste Nacht
Sie lief... lief immer schneller und schneller. Die Muskeln in ihren Beinen brannten und ihr Atem gehorchte ihr nicht nicht mehr. Sie wusste kaum noch zu atmen. Die Luft kam gar nicht schnell genug in ihre Lunge. Doch sie wollte, musste weiter laufen. Ohne sich um zuschauen rannte sie weiter, während der Waldboden unter ihren nackten Füßen bedrohlich knirschte. Es war so glatt und rutschig, sie rechnete schon fest damit, gleich hinzufallen. Ihr Herz pochte wild und ihre Panik stieg mit jedem Schritt. Wie weit waren sie noch entfernt? Sie wagte es nicht, auch nur einen Blick hinter sich zu werfen, zu groß die Angst vor ihren Verfolgern.
Plötzlich glaubte sie einen Schatten neben sich zu sehen. Verwirrt und ängstlich zu gleich, versuchte sie im Laufen mehr zu erkennen, als nur eine schemenhafte Gestalt.
Noch etwas hatte sich verändert: es war mit einem Mal ganz still geworden. Sie hörte nichts mehr, selbst ihren Atem nahm sie kaum noch wahr, glaubte schon er sei gänzlich verschwunden. Erschrocken versuchte sie noch schneller zu laufen, wollte ihm entkommen, ihrem Verfolger und diesem Schatten. Vielleicht waren sie ja auch ein und dasselbe, ihr Verfolger und der Schatten neben ihr. Wer wusste das schon? Sie nicht, sie wollte es auch gar nicht wissen. Das Einzige, was sie wollte, weit weg, so weit wie nur möglich, auch ohne zu wissen wohin und wie weit es noch war.
Sie hatte kein Ziel, sie wusste schließlich noch nicht einmal, wo sie sich befand.
Hier, um sie herum war nichts als Wald, überall Bäume mit dichten Baumkronen und Büsche, so weit das Auge reichte. Dazu war der Wald in ein seltsames Licht getaucht. Alles schimmerte in einem hellen gelb und blau und grün. Noch immer war kein Geräusch zu hören.
Einmal wagte sie es, sich um zuschauen, nur ganz kurz, nur um zu wissen, ob ihr Verfolger noch hinter ihr war, doch leider konnte sie nichts erkennen. Neben der Angst stieg auch die Nervosität.
Diese grässliche Stille! Am liebsten hätte sie geschrien, ganz laut. Hauptsache diese nicht auszuhaltende Stille wäre bloß für einen Moment unterbrochen. Doch statt eines Schreis kam nur ein leiser, wimmernder Laut aus ihr hervor. Jetzt liefen ihr Tränen, unzählige Tränen über das Gesicht. Zuerst glaubte sie, ihr weinen wäre das einzige Geräusch, doch für einen kurzen Augenblick nahm sie ein weiteres wahr. Erschrocken über einen plötzlichen Windzug an ihrem Oberschenkel blieb sie abrupt stehen und blickte an sich hinunter. Ihr Kleid hatte einen großen Riss bekommen. Sie blickte zurück, sah einen Ast, der etwa in ihrer Beinhöhe an einem der Bäume gewachsen war. Sie hatte ihn nicht bemerkt, doch das Geräusch, was sie wahrgenommen hatte, kam vom reißenden Stoff ihres Kleides. Ein Fetzen ihres Kleides hatte sich um den Ast gewunden. Sie nahm den Rock ihres Kleides in beide Hände und sah sich den Riss an.
Nur einen Lidschlag später später ließ ein entsetzliches Kreischen sie zusammen zucken und unterbrach die Totenstille. Dann schrie sie, so laut sie nur konnte. Wollte los rennen, doch ihr Verfolger hatte sie eingeholt. Er stand keine Baumlänge von ihr entfernt, hinter einer Kapuze und einem langen Mantel verbarg sich seine Gestalt. Er streckte bereits eine Hand nach ihr aus. Nein! ,durchfuhr es sie. Nicht! Sir schloss ihre Augen, presste ihre Lippen hart aufeinander. Dann geschah es, ein letzten Herzschlag und sie spürte eine Hand, hörte ein Flüstern ...und wurde nach hinten geschuppst.
Sie fiel, sah sich schon auf dem harten Waldboden, doch ihr Fall endete nicht... Sie fiel ins Leere, in eine unendliche Leere, ein unendliches Nichts.
Panisch öffnete sie ihre Augen. Schwärze. Sie schrie, wollte lauter sein als ihre Angst, die sie nicht bewegen ließ, starr wie eine Porzellanfigur fiel sie immer weiter. Neue Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie schluchzte, was war nur geschehen? Doch sie bekam keine Antwort.
Stattdessen erstickte ihr Schluchzen erneut in einer Stille, die plötzlich etwas beruhigendes hatte.
Sie wusste nicht warum, aber ihre Tränen versiegten, sie verspürte keine Angst mehr und schloss erleichtert ihre Augen.
Eine Hand griff nach der ihren, drückte sie fest. Kühle Lippen hauchten einen Kuss auf ihren Mund.
Sie öffnete ihre Augen. Dunkelheit, aber keine Stille. Orientierungslos versuchte sie das Geräusch zu orten. Langsam wandte sie ihren Kopf und blickte auf ein violettfarbenes, leuchtendes Ziffernblatt. Es war ihr Wecker und er zeigte 3:33 Uhr. Er klingelte, daher das Geräusch.
Sie drückte ihn aus. Verwirrt legte sie sich zurück, atmete erleichtert aus, sie lag in ihrem Bett!
Beinah musste sie lachen, war sie doch eben noch vor … ja, vor wem eigentlich weggelaufen?
Egal, dachte sie, es war doch bloß ein Albtraum gewesen, mehr nicht. Entschieden richtete sie sich auf, wobei ihre Hand auf etwas feuchtes griff. Sie umschloss dieses Etwas mit der einen und suchte mit der anderen Hand nach dem Lichtschalter ihrer Nachttischlampe. Das Licht der Lampe war grell, ihre Augen brauchten einen langen Moment, um sich an das Licht zu gewöhnen. Dann blickte sie in ihre Hand. Geschockt stellte sie fest, das diese Etwas der von Tränen durchdrängte Stofffetzen ihres Kleides war, der bis eben noch an dem Ast des Baumes in ihrem Albtraum hing...
Panisch schlug sie die Decke weg, um sich zu vergewissern... tatsächlich, sie trug noch immer ihr weißes Kleid und es hatte einen Riss. Aber wie konnte das sein? Warum trug sie nicht ihren Schlafanzug? Warum dieses Kleid? War das ganze vielleicht doch kein Traum? Diese Erkenntnis ließ sie erstarren. Was um alles in der Welt war hier los? Erst Traum und jetzt Realität? Mit einem stummen Schrei ließ sie sich zurück fallen, umklammerte das nasse Stück Stoff und starrte gelähmt an die Zimmerdecke. Ihr Herz trommelte in ihrer Brust. Schrecklich! Was wenn.... weiter wollte sie nicht denken. Nicht an ihren Verfolger. Doch der Gedanke ließ sich nicht verdrängen und mit ihm auch der Gedanke an das geheimnisvolle Flüstern vor ihrem Fall, die Hand, die Lippen auf ihrem Mund....
Tagtraum
Am Morgen war sie mehr als verwirrt erwacht, sogar ohne die Hilfe ihres Weckers. Die letzten Stunden waren traumlos gewesen, ganz im Gegensatz zu den Stunden davor. June war um zehn Uhr am Abend im Bett gewesen und sofort eingeschlafen, nachdem sie in ihr Tagebuch geschrieben hatte. Sie träumte einen seltsamen Traum, den sie selbst kaum beschreiben konnte - geschweige den wollte, denn einerseits war er zu schrecklich gewesen, um ihn sich erneut vorstellen zu wollen, anderseits war er ihr so zusammenhanglos erschienen, dass man sich ihn einfach immer und immer wieder in seine Gedanken zurückholen musste, um ihn vielleicht irgendwann begreifen zu können.
Vor wem bin ich geflohen? Wer war der Fremde in dem dunklen Umhang? Warum wurde ich verfolgt? Wer hat mich gerettet? Was war mit dem Stofffetzen meines Kleides, denn ich jetzt in meiner Hosentasche bei mir trage?
Jetzt saß June in der Schule, stellte sich diese Fragen und schrieb etwas von der Tafel ab, was sie nicht wirklich interessierte, außerdem war sie durch die Sonnenstrahlen, die ihr seitlich ins Gesicht schienen abgelenkt.
Sie blinzelte in die Sonne, warm und angenehm wurde ihr Gesicht gewärmt. Gleich würde die letzte Stunde vorbei sein und sie würde in den Park gehen und sich auf die große Wiese legen können. Endlich hätte sie genug Zeit über ihren Traum, oder Nichttraum nachzudenken. Ich versteh das nicht! Mein Kleid, der Riss... es war doch nur ein Traum! June schüttelte den Kopf und beendete den letzten Satz, kaum eine Minute später hörte sie das erleichternde Klingelzeichen. Eilig packte sie ihre Sachen zusammen und verließ das Klassenzimmer.
Draußen zeigte sich der Sommer von seiner besten Seite, kaum eine Wolke und purer Sonnenschein. Lächelnd blickte sie in den Himmel, ein leichter Wind wehte durch ihre langen braunen Haare und ihr dünnes Sommerkleid. Der Himmel, gab es etwas schöneres? Etwas, das noch freier, noch weiter, noch geheimnisvoller war, als der Himmel, egal ob bei Tag oder Nacht? Nicht für June. Sie liebte die Momente im Park, wenn sie einfach auf der Wiese lag und in den Himmel schauen konnte und genau das hatte sie jetzt vor. Sie beeilte sich und erwischte gerade noch den Bus zum Ende der Stadt.
Es geht weiter.
Tag der Veröffentlichung: 08.02.2010
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