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Kapitel 1

 

Heißer Wind schlug ihm entgegen, ließ seine Augen tränen und sein Haar wehen. All seine Muskeln spannten sich an, pures Adrenalin schoss durch seinen Körper, als er mit mit klopfendem Herzen sprang. Seine Füße verloren den Bodenkontakt, frei glitt er durch die Luft; der Flug schien länger als er tatsächlich war und angespannt sah er der Landung entgegen.

Der Boden näherte sich wieder und Liam atmete tief ein, entspannte nun seine Muskulatur, blieb jedoch weiterhin hochkonzentriert. Ein Ruck ging durch seinen Körper, er stolperte und schlitterte über den rauen Asphalt.

„Shit!“ Keuchend blieb er liegen und biss sich frustriert auf die Unterlippe. Es hatte schon wieder nicht geklappt! Egal wie oft er es auch versuchte, nie funktionierte es! Was machte er denn falsch?

Das verwaiste Skateboard rollte noch einige Meter weiter, bevor es von einem in Sneakern steckenden Fuß gestoppt wurde.

„Hey Liam, alles okay?“

Liam's bester Freund Niklas kam grinsend mit dem Skateboard unterm Arm auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Ächzend rappelte Liam sich auf und klopfte sich den Dreck von der Kleidung. Während er sich durch sein rotbraunes, schweißnasses Haar fuhr, brummte er:

„Ja, nichts passiert, bis auf meinen angeknacksten Stolz."

Seufzend nahm er das Skateboard entgegen, bevor er, gefolgt von Niklas, zum Rest ihrer Truppe zurückkehrte.

Die anderen hatten es sich an einer der Rampen bequem gemacht und genossen an diesem heißen Nachmittag die kalten Getränke. Als die beiden sich näherten, wurde Liam mit spöttischem Klatschen und Jubeln empfangen.

„Wow Li, das war ja echt beeindruckend! Bringst du mir auch bei, wie man so graziös vom Board fliegt?“, neckte Fabian breit grinsend, erntete dafür jedoch nur ein genervtes Augenrollen.

„Hier, du hast dir eine Erfrischung verdient."

Das einzige Mädchen unter vier Jungs, Tamara, reichte Liam eine Flasche mit Eistee und er nahm sie mit einem dankbaren Lächeln entgegen. Sie war diejenige unter ihnen, die ihn stets aufmunterte, wenn er mal wieder von den anderen wegen eines in den Sand gesetzten Tricks verspottet wurde und sie hielt sich auch jedes Mal aus den Spötteleien raus.

Matt ließ er sich neben sie sinken und trank durstig.

„Du kriegst das schon hin, du musst nur weiter dranbleiben", ermunterte die Blondine ihren Freund, klopfte ihm tröstend auf die Schulter und blickte sich nach Zustimmung heischend um. Niklas und zwei weitere nickten eifrig; sie wussten wie viel Zeit und Mühe man in einen Trick investieren musste, bis dieser endlich saß, doch Thomas und sein Bruder Kilian lachten nur unterdrückt und glaubten wohl nicht wirklich an den Erfolg ihres Kameraden. Tamara schien genug von den beiden zu haben; erbarmungslos rammte sie ihnen ihre Ellbogen in die Rippen, was das Lachen abrupt verstummen ließ. Laim schenkte ihr abermals ein dankbares Lächeln.

Die restlichen Stunden verbrachten die Freunde mit Gesprächen und Blödeleien, bis schließlich der Abend hereinbrach und die ersten sich auf den Weg nachhause machten.

Nur Liam, Niklas und Tamara saßen noch da und genossen erleichtert die abendliche Ruhe. Liam lehnte sich entspannt gegen die Rampe und ließ sein Board mit den Fingern darauf auf - und abfahren.

„Ich fand dich gerade eben richtig cool“, murmelte Tamara plötzlich mit geröteten Wangen und spielte verlegen mit einer langen Haarsträhne. Liam nickte nur; ihr Lob verunsicherte ihn ein wenig. Es war zwar kein Geheimnis, dass sie in ihn verschossen war, aber ihre offensichtliche Bewunderung und ihre Flirtversuche waren ihm äußerst unangenehm, denn er erwiderte ihre Gefühle nicht. Nur wusste sie nichts davon und er verfluchte sich jedes Mal dafür, wenn er diese Hoffnung in ihren Augen sah, die er ja irgendwann gnadenlos zerstören musste. Niklas, der die Szene beobachtet hatte, runzelte die Stirn; ihm bereitete das Ganze offensichtlich Sorgen, doch er wollte das Thema nicht vor Tamara ansprechen, also schwieg er. Stattdessen fragte er:

„Und, was habt ihr heute noch geplant, bevor die Folter morgen wieder beginnt?“ Mit Folter meinte er natürlich die Schule.

„Hör mir bloß damit auf!", stöhnte Tamara.

„Bei der Hitze grenzt es schon wirklich an Folter!“

Liam kicherte und nickte zustimmend.

„Ja und morgen kriegen wir die Mathearbeit raus. Mir graust es davor!"

Er zog eine Grimasse und seine beiden Freunde sahen ihn mitfühlend an. Beide waren ziemlich gut in Mathematik, nur bei Liam schienen sich die Zahlen, Zeichen und Wörter zu einem unverständlichen Wirrwarr zusammenzusetzen und ihn ein meist kärglich beschriebenes Blatt abgeben. Immerhin reicht es für eine Vier, dachte er resigniert und trank seinen Eistee in wenigen Zügen leer.

„Ich treffe mich nachher noch mit meinen Mädels in der Disco“, meldete sich da Tamara zu Wort und riss Liam aus seinen Gedanken.

„Hm, ich werde wohl ins Kino gehen, magst du mitkommen, Liam?"

Der Angesprochene zuckte mit den Schultern und meinte ausweichend:

„Heute nicht, ich habe noch etwas zu tun."

Niklas und Tamara sahen sich irritiert an und Liam konnte sie da auch verstehen, denn welcher Jugendliche verbrachte das Wochenende nicht lieber mit seinen Freunden im Kino oder in der Disco? Nun, er natürlich, aber es war ja nicht so, dass er den beiden ständig absagte, nur eben jeden Sonntag. Sie schienen zwar verwundert und auch neugierig zu sein, was denn seine Gründe waren, doch sie nahmen es ihm nicht übel und hakten auch nicht nach, wofür er ihnen wirklich dankbar war.

„Alles klar, ich mach mich mal auf die Socken“, verkündete da Tamara, streckte die Glieder und entsorgte die leeren Flaschen noch schnell im Müll. Liam erhob sich und wurde prompt von ihr in eine feste Umarmung gezogen, eine etwas „zu feste" seiner Meinung nach. Steif stand er da und wartete nervös, bis Tamara ihn losließ, doch die schien sich sehr wohl zu fühlen. Erst als Niklas sich räusperte und ein gespielt verletztes „Und was ist mit mir?" hören ließ, löste sie sich von ihrer Flamme und umarmte auch den Rothaarigen, nur weitaus kürzer als zuvor Liam. Über seine Schulter hinweg warf Niklas seinem Kumpel einen Blick zu der wohl soviel sagen sollte wie: 'Wir haben noch ein Wörtchen miteinander zu reden'.

Liam stöhnte innerlich und stellte sich auf eine Predigt bezüglich seines Verhaltens Tamara gegenüber ein. Und die kam auch prompt, kaum, dass die Blondine den Skatepark verlassen hatte.



„Du weißt, dass du es ihr längst mal sagen musst, oder?"

Liam setzte bereits zu einer Antwort an, als er unterbrochen wurde:

„Sag jetzt nicht 'Ich weiß' ich kann es schon nicht mehr hören! Wenn du es doch weißt, wieso sagst du ihr nicht endlich mal wie der Hase läuft?"

Liam wich dem anklagenden Blick aus und zögerte mit der Antwort. Er wusste schon lange, dass er nicht dasselbe für Tamara empfand wie sie für ihn, doch er fürchtete einfach ihre Reaktion. Bilder früherer Zeiten überfluteten seine Gedanken, Bilder einer zehnjährigen Tamara, die sich ängstlich an ihn klammerte, ihn freudig umarmte und unschuldige Küsse auf seine Wange hauchte. Sie war schon immer unsicher und daher sehr anhänglich gewesen und er hatte sich wie ein großer Bruder der sie beschützt, gefühlt. Ihre Schwärmerei war für ihn eher die einer jüngeren Schwester ihrem Bruder gegenüber gewesen und nicht mehr. Doch mit den Jahren war aus ihrer Zuneigung Liebe geworden. Die ganze Zeit über hatte Liam nichts weiter als tiefe Sympathie für Tamara empfunden, doch nun, nach fünf Jahren war es höchste Zeit reinen Wein einzuschenken, aber ihre Reaktion...

„Hallo, Erde an Liam!"

Liam zuckte erschrocken zusammen, als Niklas Stimme durch seine Gedanken drang.

„I-Ich kann nicht. Was, wenn sie mir die Freundschaft kündigt?“ Er vergrub verzweifelt das Gesicht in den Händen und fuhr gedämpft fort:

„Jedes Mal wenn ich diese Freude in ihren Augen sehe und gleichzeitig ihre Unsicherheit spüre, dann verlässt mich der Mut!"

Niklas lauschte, sein Gesicht voll Mitleid und seufzte. Er verstand Liam ja, er selbst kannte Tamara ja auch seit seiner Kindheit, sie beide hatten sich um das schüchterne, anhängliche Mädchen gekümmert, taten es immer noch. Doch ihr weiterhin falsche Hoffnungen zu machen war einfach unfair und tat beiden nur unnötig weh. Das sagte er seinem Freund dann auch und langsam drangen die eindringlich gesprochenen Worte durch die Verzweiflung und Liam hob den Kopf, lächelte seinem Freund schwach zu und nickte.

„Es stimmt ja was du sagst, alles. Ich sage es ihr morgen nach der Schule, versprochen."

Niklas nickte, noch nicht ganz überzeugt, fürs erste jedoch beließ er es dabei und klopfte dem Braunhaarigen aufmunternd auf die Schulter. Nach einem beiläufigen Blick auf seine Armbanduhr stellte Liam mit Schrecken fest, dass es bereits viertel nach Neun war! Hastig schnappte er sich sein Skateboard, verabschiedete sich eilig von Niklas, der dem zierlichen Jungen auf seinem Board perplex hinter hersah. Gut, sie hatten morgen Unterricht, aber deswegen gleich so eine Hektik zu veranstalten... ach ja, hatte er nicht etwas Wichtiges zu tun? Der Rothaarige zuckte mit den Schultern, na er auf jeden Fall. Er machte sich auf in Richtung Kino.



Liam's Herz raste, als er vor seinem Elternhaus hielt und vom Board sprang. Mit schnellen Schritten durchquerte er den weitläufigen Garten, gelangte zur Rückseite des Hauses, öffnete die Tür zur Garage und schlich an dem alarmgesicherten Wagen vorbei. Hinter einer weiteren Tür führte eine Treppe ins Innere des Hauses. Liam stieg so leise wie möglich hinauf und gelangte in eine große Eingangshalle.

Die marmornen Fliesen verursachten quietschende Laute unter seinen Schuhsohlen und er betete, dass niemand im Haus es hörte. Nur noch eine weitere Treppe trennte ihn von den eigenen sicheren vier Wänden, angespannt lauschte er, setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen. Gerade, als er die Hälfte hinter sich gebracht hatte, wurde die Halle abrupt in gleißendes Licht getaucht und Liam's Herz setzte kurz aus, um dann doppelt so schnell weiter zu schlagen. Als Schritte auf dem Marmor erklangen, zuckte er ertappt zusammen und schloss die Augen. Mist!

„Hast du einmal auf die Uhr gesehen?!" Scharf schnitten die zornigen Worte durch die Luft und ließen Liam hart schlucken. Langsam drehte er sich um und sah unten seinen Vater Frederick stehen, im Anzug, die Arme verschränkt, die Augen dunkel vor Zorn. Liam holte tief Luft und ballte die schwitzigen Hände zu Fäusten, bevor er antwortete:

„Nein, habe ich nicht, aber..."

„Verdammt, Liam! Wir hatten neunzehn Uhr ausgemacht, NEUNZEHN UHR!"

Mit hochgezogenen Schultern ließ er das Gebrüll über sich ergehen und starrte auf seine staubigen Schuhe.

„Jetzt sag schon etwas!", schrie sein Vater, Verzweiflung und Besorgnis in der Stimme. Liam's Finger krallten sich voller Wut in den Stoff seiner Shorts. Es war jedes Mal dasselbe! Er blieb etwas länger fort, amüsierte sich, vergaß darüber die Zeit und wenn er nachhause kam, regnete es Vorwürfe! Er blickte seinen Vater direkt an, als er ihm entgegen schrie:

„Ich hatte Spaß, okay? Ist das etwa verboten?"

Frederick's Gesicht verhärtete sich und leise aber mit scharfem Unterton grollte er:

„Ja, ist es, wenn du dabei in Gefahr geraten kannst!"

„ICH BIN KEIN KIND MEHR!"

Beide Männer starrten einander zornig an, keiner der beiden wollte den Standpunkt des anderen verstehen, keiner nachgeben. Schließlich wurden die Züge seines Vaters weicher und nun klang tiefe Traurigkeit aus seiner Stimme, als er leise sprach.

„Ich habe Angst um dich, Liam."

Wie ein heißer Pfeil drangen diese Worte in Liam's Herz und seine wütende Fassade fing zu bröckeln an, doch noch hielt sie.

„Ich weiß, Dad, aber du kannst nicht ständig über mein Leben bestimmen! Ich..."

Er brach ab, als er die Hilflosigkeit und Trauer im Gesicht seines Vaters sah und plötzlich konnte er dem nichts mehr entgegensetzen.

 

Ein Kloß schnürte ihm auf einmal die Kehle zu und rasch wandte er sich um und eilte die restlichen Stufen hinauf, durch den langen Flur auf sein Zimmer zu. Dabei kam er an der Haushälterin Linda vorbei, die gerade aus dem Schlafzimmer seines Vaters kam, die Arme beladen mit Bettzeug. Besorgt bemerkte sie die Tränen, die über das bleiche Gesicht des Jungen strömten und rief seinen Namen, doch er schien sie gar nicht wahrzunehmen, sondern ging hastig weiter. Sie seufzte mitleidig und als sie über die Brüstung der Treppe blickte, sah sie ihren Chef mit hängenden Schultern dastehen, die Fäuste hilflos geballt.

Sie schüttelte verständnislos den Kopf. Wieso sprachen sich die beiden nicht in aller Ruhe aus, anstatt immerzu zu streiten? Seit dem Unfall vor einem halben Jahr gab es zwischen ihnen nur Streit und viele Tränen waren geflossen, doch eine Versöhnung war nicht in Sicht. Auch die Schlichtungsversuche von Ehefrau und Mutter konnten die Streithähne nicht zur Vernunft bringen. Ratlos setzte Linda ihren Weg zur Waschkammer fort. Als sie anschließend zur Kontrolle noch einmal über die Brüstung sah, stand Liam's Vater immer noch unbewegt dort.

„Herr Dahlke, wollen Sie nicht langsam zu Bett gehen? Es war ein langer und harter Arbeitstag für Sie..."

Sie ließ den Satz ausklingen und wartete auf eine Reaktion. Frederick zuckte zusammen, als sei er aus einem tiefen Traum erwacht, einem sehr dunklen Traum, einem Traum voller Angst, Schmerz und Hilflosigkeit... Mit schleppenden Bewegungen erklomm er die Treppe und als er oben angekommen war, wurde er sanft, aber bestimmt von Linda in sein Schlafzimmer geschoben. Dort half sie dem abwesenden Mann beim Umziehen und als er endlich im Bett lag, schenkte Linda ihm ein aufmunterndes Lächeln, strich ihm, wie einem kleinen Jungen, durch das Haar und wünschte eine Gute Nacht.

Kaum wahrnehmbar erwiderte Frederick ihr Lächeln und schloss erschöpft die Augen. Leise verließ Linda den Raum und spielte mit dem Gedanken zu Liam zu gehen, ließ es dann aber bleiben. 'Er ist ein Teenager, die wollen mit ihren Problemen lieber allein sein.' Mit einem letzten besorgten Blick auf Liam's Zimmertür, betrat sie ihr eigenes Schlafzimmer. Lange fand sie keinen Schlaf...








Keuchende Atemzüge klangen durch die Finsternis des Raumes. Liam lag zusammen gekrümmt auf seinem Bett, um Atem ringend und von Schluchzern geschüttelt. Allmählich versiegte der Tränenstrom und erschöpft lag er da. Sein Vater sah einfach nicht, wie sehr er ihn mit seiner übertriebenen Sorge einengte. Er litt ja auch unter den Folgen des Unfalls, wie sie alle, er verstand daher die Sorge seines Vaters, aber das gab diesem noch lange nicht das Recht über sein Leben zu bestimmen! Frustriert zog Liam die Bettdecke über sich und rollte sich enger zusammen. Er dachte an seine schöne Mutter Ailis, an ihr glänzendes kupferrotes Haar, die dunkelblauen Augen, die sich in kleine Fältchen legten, wenn sie lächelte und die Sommersprossen über dem Nasenrücken. Auch nach dem Unfall hatte sie dieses strahlende Lächeln nicht verloren und Liam war stolz auf sie, darauf, dass sie nicht aufgab und das Leben weiterhin genoss, obwohl sie an den Rollstuhl gefesselt war. Diesen Charakterzug hatte er eindeutig von ihr.

Ein kleines Lächeln erschien auf seinem Gesicht und der Gedanke an seine Mutter spendete ihm Trost. Er wünschte sich so sehr sie wäre hier, bei ihnen, doch sein Vater hatte sie nach dem Unfall in eine spezielle Rehaklinik mehrere Kilometer von der Stadt entfernt einweisen lassen. Besuche waren natürlich möglich, ja, aber es wäre doch schöner wäre sie hier. Sicher würde ihre fröhliche Art sich positiv auf seinen Vater auswirken...oder doch nicht?

Liam biss sich zweifelnd auf die Unterlippe, als er an die geflüsterten Worte damals in der Notaufnahme dachte: „Es ist meine Schuld.“ Liam war entsetzt gewesen, als er diesen Satz aus dem Mund seines Vaters hörte. Der Unfall hatte sich auf einer Autobahn ereignet kurz nach Mitternacht. Seine Eltern waren nach einem Geschäftstermin auf dem Nachhauseweg gewesen, als ihnen bei einer Ausfahrt ein viel zu schnell fahrender Wagen entgegenkam und mit voller Wucht in die Beifahrerseite gekracht war, dort, wo Ailis gesessen hatte. Durch die Wucht des Zusammenpralls war ihre Wirbelsäule stark geschädigt worden, ansonsten erlitt sie keine lebensbedrohlichen Verletzungen. Sein Vater kam mit mehreren gebrochenen Rippen und einigen Prellungen davon. Es stellte sich heraus, dass die Fahrerin des anderen Wagens betrunken war und gegen sie wurde ein Verfahren wegen Alkohol am Steuer und schwerer Körperverletzung eingeleitet. Mittlerweile saß die Frau hinter Gittern.

Dennoch gab sein Vater sich die Schuld an dem Unfall, da er der Fahrer ihres Wagens gewesen war und keiner, nicht einmal seine Frau, die ja sogar die leidtragende des Unglücks war, konnte ihn von diesem absurden Gedanken abbringen. Liam ächzte gequält, diese Erinnerungen machten ihn ganz depressiv! Im Moment hatte er jedoch andere Probleme, als die Selbstbeschuldigung seines Vaters, Tamara zum Beispiel.

Mit einem schweren Seufzer kuschelte Liam sich in die Kissen und ließ die Müdigkeit über sich hereinbrechen, so merkte er nicht, dass sein Vater in der Tür stehend sein schlafendes Gesicht mit der sorgenvoll gerunzelten Stirn voll Liebe aber auch Sorge betrachtete. Er hoffte sein Sohn würde eines Tages Verständnis für sein Verhalten haben und sich ihm anvertrauen, ihn als vertrauenswürdig erachten! Langsam wandte er sich zum Gehen, schloss leise die Tür und kehrte in sein eigenes Bett zurück.



Kapitel 2

 

Gleißend schien die Sonne vom Himmel und ließ die Schwimmbadbesucher ordentlich schwitzen. Liam hatte nicht nur mit der Hitze zu kämpfen, sondern auch mit der Müdigkeit, die er einem beunruhigenden Traum zu verdanken hatte, nämlich einem, in dem Tamara sehr negativ auf sein Geständnis reagierte. Danach war es beinahe unmöglich gewesen wieder einzuschlafen, die Nervosität vor dem Gespräch mit Tamara hielt ihn wach.

Sein Blick glitt zum Schwimmbecken, wo seine Freunde sich lachend und vergnügt schreiend im Wasser tummelten, nur Tamara befand sich noch in der Umkleide. Er schluckte, als er das tieftraurige Gesicht aus seinem Traum vor sich sah, die grünen Augen, die ihn flehentlich, in Tränen schwimmend ansahen und er schloss gequält die Augen. Um sich abzulenken, fuhr er damit fort, die Decke auf dem Gras auszubreiten und ihre Mitbringsel darauf zu verteilen.

Danach setzte er sich in den Schatten eines nahen Baumes, lehnte sich an den Stamm und schloss die Augen. Sachte wurde er von Vogelgezwitscher, Bienengesumm und Blätterrauschen in einen leichten Schlaf gelullt. Liam erwachte mit einem kleinen Schreck als er sanft an der Schulter berührt wurde. Sein Blick wanderte verschlafen über lange, dünne Beine, sanft geschwungene Hüften, ein hellgrünes Bikinihöschen, einen flachen Bauch, hoch zu dem gerüschten ebenfalls hellgrünen Bikinioberteil, über dem zwei hellblonde Zöpfe lagen. Dann sah er Tamaras besorgtes Gesicht.

„Geht es dir gut?"

Auf ihre Frage hin richtete er sich hastig auf, fuhr sich peinlich berührt durch das Haar und brachte ein, wie er hoffte, beruhigendes Lächeln zustande.

„Ja, ich war nur etwas müde."

Sie nickte langsam und fragte fröhlich:

„Lust auf ein wenig Bewegung? Das Wasser ist herrlich!"

Er nickte sofort; etwas Bewegung würde seine Müdigkeit sicher vertreiben. Ohne, dass er auch nur reagieren konnte, wurde er von Tamara am Arm gepackt und euphorisch in die Höhe gezogen. Innerlich schmunzelnd ließ er sich von ihr zum Wasser führen und wurde lautstark von den Jungs begrüßt. Er stieg ins Wasser und half Tamara ebenfalls hinein.

Sie hatte recht; das Wasser war noch angenehm kühl und er spürte, wie er sich entspannte. Tamara begann mit langen Zügen zu schwimmen, während Liam noch am Beckenrand blieb. Niklas gesellte sich zu ihm und wollte beiläufig wissen:

„Na, alles klar?"

„Mhm, von der verhauten Mathearbeit mal abgesehen..."

Der zweifelnde Blick seines Freundes ließ ihn verstummen und er wich ihm aus.

„Du hast es nicht leicht, hab ich recht?"

Liam sah ihn entsetzt an, konnte nicht antworten. War er so leicht zu durchschauen? Diese Erkenntnis verursachte ein mulmiges Gefühl in seinem Bauch und unbewusst schlang er die Arme um sich. Niklas bemerkte die Reaktion und versuchte einzulenken.

„Ich will nur helfen und wenn du jemanden zum Reden brauchst..."

Liam war hin - und hergerissen zwischen dem Wunsch, sich wieder in sein Schneckenhaus zurückzuziehen und dem, sich jemandem anzuvertrauen. Jedoch wollte er vor den anderen nicht als Vatersöhnchen dastehen, das aus Angst vor Schimpfe nicht wagte zu spät nachhause zu kommen.

„Dein eiliger Abgang gestern hat es etwas mit deinen...Problemen zu tun?"

Liam zuckte zusammen und blickte Niklas lange und prüfend in die Augen, doch als er darin nur Verständnis, Sorge und tiefe Sympathie las, gab er schließlich nach und erzählte seinem besten Freund von dem Verhalten seines Vaters und wie es ihm dabei erging. Während des Erzählens achtete er darauf, dass die anderen nichts mitbekamen.

Als er geendet hatte, schwieg der Rothaarige zunächst, dann sagte er mit dringlicher Stimme:

„Du musst mit deinem Vater sprechen und ihm erklären, dass er dir vertrauen und dir deine Freiheiten lassen muss. Ihr müsst einen Kompromiss finden, der für euch beide von Vorteil ist."

Aber Liam schüttelte heftig den Kopf.

„Nein, er wird mir nicht zuhören, das tut er nie, wenn ich versuche ihm meine Standpunkte klarzumachen." Er hörte selbst wie verletzt und resigniert er klang und er ärgerte sich darüber. Niklas betrachtete ihn teils amüsiert, teils skeptisch.

„Meinst du nicht, dass du etwas zu empfindlich reagierst, wenn er dir doch nur auf seine Art und Weise zeigen möchte, wie sehr er sich um dich sorgt und wie wichtig du ihm bist?"

Liam duckte sich wie unter einem Schlag und fühlte sich unbehaglich, entblößt. Die Worte seines Vaters kamen ihm in den Sinn:

„Es ist meine Schuld."

„Ich habe Angst um dich, Liam."

Einem verzehrenden Feuer gleich brannten sich diese Worte in sein Herz und verursachten dort ein beklemmendes Gefühl. Von diesem Schmerz überwältigt, suchte Liam sein Heil in der Flucht. Hastig stieg er aus dem Wasser und eilte tropfnass über die Wiese, auf die unter dem Baum ausgebreitete Decke zu, die besorgten Rufe seines Freundes ignorierend.

Schwer ließ er sich auf die Decke fallen. Oh Gott, erst jetzt wurde ihm richtig bewusst, was er seinem Vater antat, wenn er rücksichtslos abgemachte Zeiten überschritt, sich an waghalsigen Skate -Tricks versuchte, oder ihm seine Sorge als krankhafte Kontrollsucht vorwarf. Er hatte immer nur an sich selbst gedacht, wie unfair er sich verhielt, wie unreif!

Beschämt und von Schuldgefühlen geplagt, vergrub er das Gesicht unter den Armen. Er lag dort erst wenige Minuten, als ein Schatten über ihn fiel. Liam nahm zögernd die Arme herunter und erblickte Tamara, die sich über ihn beugte und das Wasser, welches vom Körper und Haar tropfte, rann kitzelnd über sein Gesicht. Ohne um Erlaubnis zu fragen, setzte sie sich zu ihm. Wieso erwischt sie mich neuerdings immer in meinen schwächsten Momenten?, fragte sich Liam gequält und setzte sich auf.

„Was ist los?", wollte sie da prompt wissen und er verfluchte sich für sein kindisches Verhalten. Er wollte ihr auf keinen Fall Sorgen bereiten, doch genau das tat er und auch noch zum zweiten Mal an diesem Tag! Er haderte damit, ob er ihr wie Niklas zuvor, von seinen Problemen mit seinem Vater erzählen sollte, da wurde er plötzlich in eine sanfte Umarmung gezogen und völlig überrumpelt ließ er es geschehen.

Tamara's kühler Körper presste sich leicht gegen seinen, er spürte ihren raschen Herzschlag und plötzlich überkam ihn ein ungutes Gefühl. Liam löste sich sanft, aber bestimmt von ihr, sah in ihr hübsches Gesicht, das mit einem Mal immer näher zu kommen schien. Das Blut rauschte in seinen Ohren und sein Herz drohte stehenzubleiben.

Doch da ertönte ein Ruf und beide schreckten auseinander, als Fabian winkend auf sie zukam.

„Hey, ihr zwei wir wollen ein kleines Match im Wasser austragen, macht ihr mit?"

Peinlich berührt nickten die zwei.

„Danke, dass du mich getröstet hast", murmelte Liam und meinte es auch so. Auch wenn ihre Berührung ihn in Alarmbereitschaft versetzt hatte, tat es doch gut in den Arm genommen zu werden. Ihr glückliches Lächeln ließ ihn sich die alten Zeiten zurückwünschen, in denen sie zusammen Spaß hatten, ungezwungen, unbefangen, wie beste Freunde eben.

Entweder es wurde nach seinem Geständnis wie früher zwischen ihnen, oder aber ihre Freundschaft war für immer vorbei. Tamara erhob sich, um Fabians Einladung nachzukommen, doch Liam umschloss ihr Handgelenk und hielt sie fest. Jetzt oder nie! Er schluckte heftig, sah ihr in die Augen, las pure Liebe und Fürsorge darin und saß wie hypnotisiert da.

Sein Herz pochte schmerzhaft, als er in dieses vertraute Gesicht sah. Seine Lippen bebten leicht, als er den Mund öffnete um die Worte zu sprechen, die über seine Freundschaft mit Tamara entschieden.

„Tamara, du bist mir sehr wichtig, wir kennen uns schon so lange. Ich weiß, dass du viel für mich empfindest..."

Die Worte sprudelten regelrecht aus ihm heraus, die Panik ließ sein Herz bis zum Hals pochen. Stockend fuhr er fort, deutlich leiser als zuvor:

„Ich bin dir nun...eine Antwort schuldig. Äh, wie soll ich sagen?"

Seine Unruhe stieg nur noch mehr als er sah, wie ihre Augen sich weiteten, jedoch nicht vor Entsetzen, sondern vor ungläubiger Freude!

„N-Nein! Versteh das nicht falsch du bist mir unglaublich wichtig, deswegen muss ich dir auch sagen, dass..." Ein Ruf erklang und Liam fühlte sich, als hätte jemand einen Eimer eiskalten Wassers ausgeleert. Hilflos sah er zu, wie Tamara überglücklich lächelte und sich zu ihm hinabbeugte.

Ihre Lippen trafen seine Wange, dann tänzelte sie fröhlich Fabian entgegen und zu Liam's Entsetzen sah er Niklas auf sich zukommen, mit ziemlich wütendem Gesicht. Schnell sprang er auf die Beine und rannte Tamara so schnell er konnte hinterher, an Niklas vorbei, wobei er es nicht wagte, ihm ins Gesicht zu sehen.

 

Der Abstand zwischen ihm und der Blondine schmolz dahin und fast hatte er sie erreicht. Sein Arm streckte sich nach ihr aus, berührte beinahe ihre Schulter. Da waren sie am Schwimmbecken angekommen: Tamara sprang ins Wasser und Liam versuchte seinen Lauf zu bremsen, glitt dabei jedoch auf den nassen Fliesen aus, stürzte schwer auf seine rechte Schulter. Ein brennender Schmerz raste durch den Muskel und mit einem schmerzvollen Aufschrei presste er seine Hand darauf. Der Schmerz pochte wild durch seine Schulter und verursachte heftige Übelkeit. Er biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich darauf, sich nicht zu übergeben. Nur am Rande nahm er wahr, wie seine Freunde ihn besorgt umkreisten und wild durcheinander riefen. Nur Niklas kniete sich neben ihn, berührte ihn vorsichtig an der unversehrten Schulter und fragte ruhig, doch mit zittriger Stimme:

„Kannst du aufstehen? Soll ich einen Krankenwagen rufen?"

Auf beide Fragen hin schüttelte Liam schwach den Kopf, rang noch immer mit der Übelkeit. Verdammt er hatte die erst 2 Monate alte Verletzung ganz vergessen! Er hatte gedacht, sie sei bereits vollständig verheilt, was nicht der Fall war. Das hatte er nun davon.

Er stöhnte gequält auf, als Niklas ihm behutsam die Arme um den Bauch schlang, ihn so vorsichtig wie möglich anhob und sanft gegen seine Brust lehnte. Die Übelkeit klang langsam ab und der Schmerz wurde zu einem dumpfen Pochen.

Keuchend saß Liam da, die Augen geschlossen und fluchte innerlich. Ich Idiot! So kann ich erst recht nicht mit Tamara sprechen! Benebelt wie er war, bekam er kaum mit, wie jemand nach dem Bademeister rief, der kurze Zeit später mit einem Erste - Hilfe - Koffer herbeieilte und sich der Verletzung annahm.

Die Schulter wurde trocken getupft, mit kühlender Salbe bestrichen und verbunden. Anschließend wurde der Arm in eine Schlinge gelegt und ein Kühl - Pad daraufgelegt. Während der gesamten Prozedur hielt Niklas ihn fest und Tamara drückte tröstend seine Hand.

Er war den beiden unendlich dankbar und brachte ein schwaches „Danke ihr zwei" heraus, schaffte es sogar, sich etwas zu entspannen. Jedenfalls solange, bis er den Bademeister sagen hörte:

„Ich rufe einen Krankenwagen."

Eiskalt durchfuhr die Panik ihn und wie von der Tarantel gestochen fuhr er hoch und rief:

„Nein, bitte kein Krankenwagen!"

Er bereute die hastige Bewegung jedoch sofort, als der Schmerz wieder aufflammte und ihn stöhnen ließ. Der Bademeister warf ihm einen verwirrten Blick zu und Niklas schüttelte auf den fragenden Blick hin den Kopf. Noch immer zweifelnd betrachtete der Mann die drei Jugendlichen, bot dennoch an, den Verletzten wenigstens zu einem Arzt zu bringen.

Doch auch das lehnte Liam ab, als sich unerwartet Niklas einmischte. In einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, bestimmte er:

„Ich gehe mit ihm zum Arzt und bringe ihn im Anschluss nachhause."

Laim nickte nur mit blassem Gesicht; er wusste es war sinnlos dem Rothaarigen zu widersprechen.

So ließ er sich von ihm auf die Beine helfen und nach einigen tiefen Atemzügen wurde der Schmerz erträglicher.

„Sorry Leute, dass ich den Ausflug vermasselt habe."

„Quatsch Mann, Unfälle passieren eben, Hauptsache du bist schnell wieder fit."

„Genau Li, mach dir keinen Kopf", stimmte Fabian seinem Bruder Kilian zu. Tamara war zwar den Tränen nahe, brachte dennoch ein paar tröstende Worte heraus.

„Gute Besserung Liam, wir sehen uns dann in der Schule, falls du kommen kannst."

 

Liam war gerührt von der Fürsorglichkeit und dem Verständnis, das seine Freunde ihm entgegenbrachten.

„Danke Leute ihr seid super. Ihr habt war gut bei mir."

Er brachte sogar ein Grinsen zustande und Niklas drückte ihm aufmunternd die unverletzte Schulter. Dann winkte er mit seinem gesunden Arm, verabschiedete sich von seinen Freunden und machte sich dann auf den Weg zu den Schließfächern. Dort holte er seine Habseligkeiten und Niklas beobachtete ihn; der Schreck stand ihm noch immer ins Gesicht geschrieben, der Ärger von vorhin war verflogen.

Liam hingegen ärgerte sich enorm über die verpasste oder besser gesagt verpatzte Gelegenheit, um Tamara endlich seine wahren Gefühle zu gestehen. Er zweifelte daran, dass er noch einmal den Mut dazu aufbringen konnte.

„Hey, du hast es immerhin versucht."

Okay, jetzt war es amtlich; er war nicht einfach leicht zu durchschauen, er war ein offenes Buch!

„Ja, nur leider nützt mir das nichts", entgegnete Liam gereizt und schlug die Schließfachtür mit mehr Wucht zu, als notwendig war. Niklas fand, dass sein Freund viel zu streng mit sich selbst war, schwieg jedoch. Wenn Liam schlecht drauf war, ließ man ihn lieber in Ruhe.

Schweigend folgte er dem Braunhaarigen zu den Umkleiden, wo er ihm half, die Badehose auszuziehen. Liam's Wangen röteten sich leicht, nahmen einen tieferen Farbton an, als er nun nackt vor seinem besten Freund stand. Niklas störte sich nicht weiter daran sondern richtete den Blick auf die verbundene Schulter.

„Du wirst Hilfe beim Waschen brauchen."

Liam überkam bei diesem Satz ein komisches Gefühl, das er nicht einordnen konnte. Verwirrt nickte er, schnappte seine Waschutensilien und begab sich in den Duschraum. Niklas kam in seiner Badehose nach, zog diese dann ebenfalls aus. Liam's Blick wanderte unweigerlich über den wohlgeformten, leicht gebräunten Körper und er schluckte trocken.

Um sich abzulenken, nahm er die Shampoo - Flasche und begann sein Haar zu waschen, was sich mit einer Hand als schwierig erwies. Mit einem Lächeln und fragendem Blick trat Niklas näher. Auf ein zustimmendes Nicken hin, vergrub er seine Finger in dem rotbraunen Haar, verteilte den Schaum und knetete die Haarmasse sanft. Liam spürte einen Schauer über seinen Rücken rieseln und er zog leicht die Luft ein.

„Habe ich dir wehgetan?", erkundigte Niklas sich beunruhigt, doch ein hastiges Kopfschütteln zeigte ihm, dass seine Sorge unbegründet war.

 

Liam nahm den Schwamm zur Hand, tat etwas Duschgel darauf und ließ es unter dem Wasserstrahl schön schäumen. Er wusch sich soweit er konnte, war sich der Blicke bewusst, die auf ihm lagen und wollte so schnell wie möglich fertig werden. Beim Rücken hatte er so einige Probleme.

„Warte ich helfe dir!"

Schon schnappte der Rothaarige sich den Schwamm und ließ ihn über den bleichen Rücken wandern. Erstaunt hörte er ein Seufzen und kicherte.

„Du genießt das, hm?"

Liam lächelte nur; das Blut schoss ihm wieder in die Wangen. Mit geschlossenen Augen stand er da, stützte sich mit der Hand an der Wand ab. Er verlor sich völlig in seinem Genuss, da schreckte er leicht auf. Plötzlich war Niklas' warmer Atem dicht an seinem Ohr, eine sanfte Stimme fragte:

„Soll ich dir... hierbei auch helfen?"

Langsam glitt eine Hand vom Rücken, über die Hüfte, nach vorne in empfindlichere Regionen...

„Was? Nein, das...mache ich schon selbst!", rief Liam entrüstet und entriss dem grinsenden Rotschopf den Schwamm.

Hastig beendete er seine Körperpflege, wandte sich um, wobei er Niklas auch weiterhin nicht anblickte und trocknete sich ab. Danach tappte er zu einem der Waschbecken und spülte sich das Shampoo aus dem Haar.  

„Ach, schämst du dich etwa?", war Niklas' Stimme über das Rauschen des Wassers hinweg zu hören, gefolgt von einem Lachen.

Liam fuhr herum, um ihm ordentlich die Meinung zu sagen...kein Ton kam über seine Lippen. Er starrte nur auf Niklas' Körper, beobachtete fasziniert, wie die Bauchmuskeln bei jeder Bewegung tanzten, überhaupt bewegten sich alle Muskeln in einem eigenen, sanften Rhythmus. Die Augen seines Freundes waren geschlossen, er wusch sich gerade das Haar, daher bemerkte er die bewundernden Blicke nicht. Liam schaffte es, sich von dem Anblick loszureißen und starrte stattdessen sein bleiches Gesicht im Spiegel an.

Das Brausen der Dusche verstummte und Niklas begann sich abzutrocknen, dann kleidete er sich an. „Können wir gleich los?"

Liam begegnete dem fragenden Blick des Rothaarigen, sah das sanfte, dunkle Braun der Iriden und spürte wie sein Herz kurz stolperte.

„J..Ja ich muss mich noch an...ziehen", antwortete Liam mit gerunzelter Stirn und blickte auf die Shorts in seiner Hand hinab. Niklas verkniff sich ein Grinsen und war seinem Freund auch dieses Mal behilflich. Warum habe ich heute nur diese enge Jeans angezogen?, fragte Liam sich und auch, ob es noch peinlicher werden konnte.

Nachdem er noch seine Schuhe angezogen hatte, verließen sie endlich die Umkleide, dann das Schwimmbad. Zehn Minuten später saßen sie im Warteraum einer Arztpraxis und warteten auf ihren Aufruf. Während sie dasaßen, gingen Liam die Geschehnisse des Tages noch einmal durch den Kopf. Zu seinem Leidwesen hatte Tamara ihn völlig missverstanden, nun würde es noch schwieriger werden das Missverständnis zu beseitigen. Er hoffte nur, dass er das morgen in der Schule aufklären konnte. Und das in der Dusche, das hatte ihn ganz schön durcheinander gebracht. Er wollte es als Spaß abtun, als eine Neckerei unter Freunden, doch es fiel ihm unerwartet schwer. Warum, wusste er selbst nicht genau, nur, dass es für ihn eben kein Spaß gewesen war...

Seufzend lehnte er sich an die Wand und spürte ein leichtes Ziehen in der Schulter. Auf einmal erklang Niklas' Stimme:

„Ich könnte es ihr morgen in der Schule erklären, wenn du willst."

Erst schwieg Liam überrascht, dann erwiderte er:

„Danke, aber das muss ich schon selbst tun."

„Gut, wie du willst. Vermassle es bloß nicht wieder."

Liam verdrehte die Augen und war erleichtert, da sie in diesem Moment aufgerufen wurden. Sie betraten das Behandlungszimmer und warteten abermals. Liam starrte aus dem Fenster, als ihm ein höchst beunruhigender Gedanke kam, den er prompt laut aussprach.

„Mein Vater wird ausflippen!"

Seine Finger krallten sich in die Papierauflage der Liege und ein Zittern durchfuhr seinen Körper. Im wurde schwindelig und er schwankte. Niklas packte ihn am gesunden Arm; das Verhalten seines Freundes machte ihn nervös.

„Beruhige dich! Unfälle gibt es jeden Tag, das ist doch nicht der Weltuntergang!"

Der panische Blick, der ihn daraufhin traf, ließ sein Herz sich zusammen krampfen. Liam's Atem beschleunigte sich und er konnte nur mühsam sprechen.

„Du kennst ihn nicht..."

Er stöhnte und nur das Eintreten des Arztes in diesem Moment, lenkte ihn von seiner Panik ab. Die gesamte Untersuchung über ließ Niklas ihn nicht aus den Augen, bis er sich sicher war, dass die Panikattacke abgeklungen war.

Liam nahm die Worte des Arztes nur bruchstückhaft wahr.

„...gezerrt...2 Wochen...Schmerzmittel...“

Er kehrte erst ins Hier und Jetzt zurück, als sich eine ausgestreckte Hand in sein Blickfeld schob. Der Arzt wollte ihm die Hand schütteln und langsam kam er der Aufforderung nach und glitt etwas wackelig von der Liege.

Seine Schulter pochte von der Untersuchung und ihm war übel. Doch die Übelkeit rührte nicht etwa daher, sondern von der Angst vor der Reaktion seines Vaters, die ihm wie ein hungriges Raubtier im Nacken saß. Er konnte kaum klar denken und allein Niklas' Gegenwart war es zu verdanken, dass die Furcht nicht überhand nahm. Beim verlassen der Praxis wurde er fürsorglich von Niklas gestützt.

„Ich könnte heute bei dir übernachten."

Auf den Vorschlag hin durchströmte Liam große Erleichterung.

„Das wäre...nett."

Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück und die Nervosität nahm mit jedem Schritt zu. Sein Elternhaus kam in Sicht, sein Herz raste. Mit zitternder Hand betätigte er die Klingel. Niklas spürte das Beben, das den zierlichen Körper durchfuhr und presste den Braunhaarigen zum Trost fest an sich.

Die Tür wurde geöffnet, Liam hielt den Atem an...

„Oh Liam, du bist schon zurück? Warum trägst du nur Shorts? Was..."

Es war Linda, die vor ihnen in der Tür stand, sie verstummte und schlug entsetzt ihre Hand auf den Mund, als sie den Arm in der Schlinge und die bandagierte Schulter sah. Sie fand ihre Sprache wieder und rief zutiefst besorgt:

„Gott Liam, was ist geschehen? Du musst sofort in ein Krankenhaus!"

Liam lächelte nur und vor lauter Erleichterung gaben seine Beine nach. Niklas verstärkte seinen Griff und bewahrte seinen zittrigen Freund vor einem Sturz. Die Haushälterin eilte zu ihnen, tätschelte sanft Liam's Wangen und redete hastig auf ihn ein. Er starrte erschöpft in ihre sorgenvollen braunen Augen, die von zahlreichen Fältchen umgeben waren und lehnte sich schwer gegen Niklas.

Der führte ihn auf Lindas Anweisung hin in das geräumige Wohnzimmer und ließ ihn vorsichtig auf das Sofa sinken. Er schloss die Augen; er war schrecklich müde, die Anspannung, die er den ganzen Tag über gespürt hatte, löste sich nun mit einem Mal und ließ ihn ausgelaugt zurück.

Niklas saß neben ihm, ließ ihn nicht aus den Augen, während Linda Getränke aus der Küche holte. Sie kehrte mit einem Tablett beladen zurück und jammerte:

„Du musst in ein Krankenhaus! Oh was wird dein Vater sagen, wenn er dich so sieht..."

 

Der Rotschopf spürte, wie Liam bei ihren Worten heftig zusammenzuckte und um eine weitere Panikattacke zu verhindern, warf er rasch ein:

„Das ist nicht nötig. Wir waren bei einem Arzt, der hat eine Zerrung festgestellt und versichert, in zwei Wochen sei alles wieder verheilt."

Linda runzelte noch immer besorgt die Stirn, nickte dann, etwas beruhigter und reichte Liam ein Glas Eistee. Den Zucker konnte er gut gebrauchen und so leerte er das Glas in zwei kräftigen Zügen. Die Haushälterin setzte sich ihnen gegenüber und wollte wissen, wie es zu der Verletzung gekommen war. Während Niklas den Unfallhergang schilderte, döste Liam allmählich weg, hörte die Stimmen als beruhigendes Murmeln in seinem Kopf.

Er war bereits an der Schwelle zum Schlaf, da hörte er Niklas sagen:

„Wäre es in Ordnung wenn ich heute hier übernachte?"

Lindas Antwort bestand aus einem erfreuten „Gerne, du bist hier immer willkommen" und der Rothaarige lachte verlegen. Die zwei mögen sich, dachte Liam noch, bevor er endgültig einschlief.



Er lag auf dem Sofa, als er erwachte, liebevoll zugedeckt. Linda und Niklas hatten ihn in Ruhe schlafen lassen, ihre Stimmen drangen aus der Küche. Verschlafen setzte er sich auf und wartete, ob der Schmerz wiederkehrte, aber seine Schulter pochte nur leicht. Ein köstlicher Duft stieg ihm in die Nase und mit knurrendem Magen betrat er die Küche.

Die ausladende Kochinsel in der Mitte wurde von Linda in Beschlag genommen, der große Eichenholztisch von seinem besten Freund.

„Na Liam, gut geschlafen?"

Er lächelte sanft und Liam erwiderte es mit einem eigenen, etwas verlegenem. Kaum hatte er sich gesetzt, wurde das Essen aufgetragen: Ein deftiger Gulasch - Eintopf und beide Jugendliche langten ordentlich zu. 

Während des Essens erkundigte Liam sich vorsichtig nach dem Verbleib seines Vaters.

„Der ist für eine Woche auf Geschäftsreise. Er hat mich gebeten dir das zu geben."

Verwundert nahm er das Blatt Papier entgegen, auf dem wenige Zeilen geschrieben standen:

 

Mein geliebter Sohn, ich wollte dir vor meiner Abreise noch mitteilen, dass mir unser Streit gestern Abend sehr leid tut und ich hoffe, dich nicht allzu sehr verletzt zu haben. Du musst verstehen, dass ich mir Sorgen um dich mache und schreckliche Angst habe, dir könnte etwas zustoßen. Doch ich werde auf keinen Fall zulassen, dass meine Unachtsamkeit ein weiteres Mal zu einer Tragödie führt. Mach bitte keine Dummheiten während meiner Abwesenheit

In Liebe, dein Vater.



Mit gemischten Gefühlen saß er da, starrte die Nachricht verwirrt an. Einerseits freute ihn die Entschuldigung seines Vaters und die liebevollen Zeilen zu Beginn und am Ende des Briefes, andererseits beunruhigten ihn die letzten beiden Zeilen doch sehr. Die Tatsache, dass sein Vater seine panische Angst und seinen Kontrollzwang noch immer nicht ablegen konnte, bereitete ihm Bauchschmerzen.

Seufzend faltete er das Blatt zusammen und legte es auf den Tisch. Er erhob sich, ließ sich von Linda den Arm tätscheln und nickte ihr dankend zu.

„Ich gehe mich mal umziehen."

Auf Niklas' fragenden Blick hin setzte er hinzu: „Allein."

Damit verließ er die Küche und stieg so schnell er konnte die Stufen hinauf. In seinem Zimmer angekommen, holte er tief Atem, ließ seinen Blick umherschweifen. Bei seiner Violine stoppte er und verspürte den Wunsch darauf zu spielen, da es beruhigend auf ihn wirkte. Doch mit der Verletzung war dies nicht möglich, also ließ Liam sich auf sein Bett sinken. Gut, sein Vater war für eine Woche fort, aber diese Heimlichtuerei wurde langsam anstrengend. Aus Sicherheitsgründen hatte er Linda nichts von dem Besuch im Schwimmbad erzählt, trotzdem tat es ihm leid, sie anlügen zu müssen, schließlich kümmerte sie sich wie eine zweite Mutter um ihn. Vielleicht war eine Aussprache mit seinem Vater nach dessen Rückkehr wirklich keine schlechte Idee.

 

Über eine Sache ärgerte er sich schon: Jetzt wo sein Vater für eine Woche abwesend war, hatte er die Gelegenheit, seine Freiheit voll auszukosten, jedoch machte ihm seine Schulter einen Strich durch die Rechnung. Wie sollte er bloß die nächsten vierzehn Tage überstehen? Ohne Skateboard, ohne Violine... Stöhnend wälzte er sich auf die gesunde Seite, schnappte sich eine Zeitschrift vom Nachttisch und blätterte sie lustlos durch. Liam stemmte sich wieder hoch und ging zu seinem Kleiderschrank, aus dem er bequeme Shorts und ein T-Shirt entnahm. Unter einiger Anstrengung und Schmerzen, zog er sich um, fuhr sich müde durch das rotbraune Haar und überlegte dann, wo Niklas eigentlich schlafen sollte. Das Schlafzimmer seines Vaters war jetzt frei, also beschloss er den Rothaarigen für die Nacht dort unterzubringen.

Er dachte an die vielen Übernachtungen zurück, als sie noch jünger gewesen waren. Niklas hatte dann immer mit in seinem Zimmer geschlafen, auf einer Matratze. Jetzt kam ihm dieser Gedanke irgendwie seltsam vor. Natürlich, sie waren heute schließlich älter und da schlief man nicht mehr gemeinsam in einem Zimmer, oder?

Liam spürte dieselbe Verwirrung wie auch im Schwimmbad, dennoch wünschte er sich... Wie auf ein Stichwort betrat in diesem Moment Niklas das Zimmer und Liam war froh darüber, sich angezogen zu haben. Trotzdem machte sein Herz einen kleinen Hüpfer, als der Rothaarige so unvermittelt auftauchte.

„Wie ich sehe hast du das Anziehen auch ohne meine Hilfe geschafft."

Er kam näher, während Liam an Ort und Stelle stehenblieb und einfach nur nickte.

„Dein Glück, dass dein Vater nicht da ist."

Niklas schwieg kurz, blickte seinen Freund bei seinen nächsten Worten bekümmert an.

„Wäre es denn wirklich so schlimm geworden, wenn er es erfahren hätte?"

Liam schluckte, hielt dem Blick stand und nickte. „Ja, gestern bei meiner Heimkehr war er schon außer sich vor Sorge.."

„Hm“, seufzte Niklas nur und blickte sich wie Liam zuvor im Raum um, ließ seinen Blick über den großzügigen Kleiderschrank schweifen, das ausladende Bett und den danebenstehenden PC-Tisch. Unter dem großen Fenster befand sich eine Art gepolsterte Bank, auf der man bequem sitzen konnte und dort lag auch die Violine. Niklas ging an Liam vorbei, streifte dabei dessen Arm. Leichter Schwindel überkam Liam bei der Berührung und unsicher ließ er sich auf den Stuhl am PC-Tisch sinken, während sein Gast das Instrument behutsam in die Hände nahm und es bewundernd im Abendrot betrachtete.

„Du spielst immer noch?"

Er wandte sich um und sah seinen Freund mit abwesendem Gesichtsausdruck und einer Hand auf dem Arm, dasitzen.

„Liam?"

Als dieser nicht reagierte, ging er vor ihm in die Hocke und wedelte mit einer Hand vor dessen Gesicht herum. Die dunkelblauen Augen richteten sich erschrocken auf ihn.

„Was ist los?", wollte Niklas mit sanfter Stimme wissen. Liam antwortete nicht. Wie von einem Magneten angezogen wanderte sein Blick zu Niklas' Lippen, verharrte dort. Wie wäre es wohl... ein undefinierbarer Laut entkam seiner Kehle und abrupt stand er auf.

Niklas, vollkommen überrascht, fiel nach hinten, wobei die Violine seiner Hand entglitt und dumpf zu Boden ging. Fluchtartig verließ Liam sein Zimmer, steuerte auf das Badezimmer zu und verschloss die Tür hinter sich.

Seine raschen Atemzüge hallten von den gefliesten Wänden wieder und eine glühende Hitze kroch über seine Haut, pulsierte heiß in seinen Wangen. Er drehte den Wasserhahn auf und benetzte Gesicht und Arme mit dem kühlen Wasser.

Warum? Warum befielen ihn diese seltsamen Gedanken, diese beunruhigenden, neuen Gefühle? Wieso jetzt? Völlig durcheinander ließ er sich auf den Rand der Eckbadewanne sinken. Was dachte Niklas jetzt bloß von ihm? Unweigerlich kamen Liam die Ereignisse in der Umkleide wieder in den Sinn: Niklas warmer Atem auf seiner Haut, die angenehme Tiefe seiner Stimme, seine sanfte Berührung... die Hitze, die ihn zu verzehren schien, wanderte in tiefere Regionen und schockiert über diese Reaktion, schüttelte er den Kopf; die Bilder verschwanden.

Dennoch wich die Hitze nicht. Hätte Niklas nur nicht... Ja, was eigentlich? Ihn geneckt? Ihn berührt? Oder war es etwa ein Flirt gewesen? Ein ernst gemeinter oder ein scherzhafter? Er wusste einfach nicht was er glauben sollte und den Auslöser für sein Gefühlschaos konnte er schlecht fragen. Hilflos saß Liam da, versuchte sich zu beruhigen und zu entspannen, bis etwas seine Aufmerksamkeit erregte: Die Schachtel Schmerztabletten auf der Ablage des Waschbeckens, die der Arzt ihm verschrieben hatte; Linda musste sie dort hingelegt haben, während er geschlafen hatte.

Ihm kam ein Gedanke: Würden die Tabletten ihn soweit beruhigen können, um Niklas wieder unter die Augen treten zu können? Somit hätte er auch eine Erklärung für seine plötzliche Flucht. Etwas ruhiger stand er auf, nahm sich die Schachtel, drückte zwei Tabletten heraus und schluckte diese mit einigen Handvoll Wasser.

Danach setzte er sich auf den Boden, den Rücken gegen die kühle Wanne gelehnt und wartete, dass die Wirkung einsetzte. Was Niklas wohl gerade tat? Vielleicht hatte er ja das Haus verlassen... Dieser Gedanke versetzte Liam in leichte Panik und er bereute sein Verhalten zutiefst. Er würde sich auf jeden Fall entschuldigen und konnte nur hoffen, dass sein Freund ihm sein seltsames Verhalten nicht übel nahm.

Während er so dasaß, lauschte er auf Geräusche im Haus, doch außer dem Knarren einiger Türen, war nichts zu hören. Nach zehn Minuten wurde er müde, seine Gedanken rasten nicht mehr wild durch seinen Kopf, sondern verstummten langsam. Seine Muskulatur entspannte sich und er ließ sich von der Wirkung der Tabletten mitreißen.

 

Er konnte nur kurz geschlafen haben, denn er saß in genau derselben Position da, wie einige Minuten zuvor und benommen registrierte er, was ihn geweckt hatte: Ein Klopfen an der Tür, kurz darauf erklang Niklas' Stimme:

„Liam, alles in Ordnung? Mach bitte die Tür auf!"

Nur mühsam kam Liam auf die Beine und als er stand, wurde ihm schwindelig. Er lehnte sich schwer gegen die Tür, drehte den Schlüssel im Schloss. Mit einiger Anstrengung, öffnete er sie und stolperte dem überraschten Niklas prompt in die Arme.

„Hey, was ist los? Geht es dir nicht gut?"

In seiner Stimme klang echte Sorge mit und Liam wusste, dass er ihm nicht länger böse war, wenn er das überhaupt gewesen war. Erleichtert lehnte er sich gegen den Rotschopf und sog dessen Duft ein. Ein wenig überfordert stand der da und wusste nicht, was er von dem Verhalten seines besten Freundes halten sollte.

„Ich bringe dich ins Bett."

Liam nickte nur und ließ sich widerstandslos zurück in sein Zimmer bringen. Vollkommen entspannt setzte er sich auf das Bett, ließ sich nach hinten sinken und schloss die Augen. Sein Kopf schwirrte leicht, doch es war nicht unangenehm. Niklas stand mit in die Hüften gestemmten Händen da und schüttelte teils amüsiert, teils besorgt den Kopf. Was war nur mit Liam los? So war er doch sonst nicht? So unsicher und durcheinander und...anhänglich. So hatte er ihn selten erlebt. Aber verstehen konnte er es schon, wo seine Mutter doch im Rollstuhl saß, sein Vater ihn unter Druck setzte und Tamara gab es ja auch noch...

„Ich bin gleich nebenan, wenn etwas sein sollte.", ließ er den Braunhaarigen wissen, der jedoch nicht reagierte. Bei näherem Hinsehen wurde klar, warum: Liam schlief bereits tief und fest. Mit einem letzten nachdenklichen Blick auf den Schlafenden, verließ er das Zimmer und begab sich in das danebenliegende, das Liam's Vater gehörte. Niklas fragte sich, ob es Gründe für diese Anordnung gab und er vermutete, dass dem so war.

Er zog sich die bereitliegenden Schlafsachen an. Linda ist wirklich ein Schatz, dachte er lächelnd und schlüpfte unter die Bettdecke. Er fühlte sich etwas verloren in diesem großen, stillen Raum und dem ausladenden Bett. Mit Liam wäre es sicher angenehmer... Er schmunzelte, als er an dessen Reaktion in der Umkleide dachte. Er zierte sich aber auch, war das früher auch schon so gewesen? Wenn er so zurückdachte, nein. Warum jetzt also?

Niklas runzelte die Stirn, schrieb Liam's Verhalten dann einfach der Pubertät zu. Noch lange grübelte er über ihre Freundschaft und über ihre jetzige Situation nach, bis die Müdigkeit ihn schließlich einschlafen ließ.





Kapitel 3

 

Eine Woche später schlenderte Liam gut gelaunt neben Niklas her, ohne Armschlinge. Er konnte seinen Arm wieder wie gewohnt bewegen, auch wenn er ihn noch schonen musste. Die Zeit bis zur Genesung hatte er glücklicher denn je verbracht, zusammen mit Niklas. Ihm wurde warm ums Herz, als er daran dachte, wie sie sich in der Küche experimentell ausgetobt hatten, nur um anschließend von Linda aus der Küche gescheucht zu werden, wo sie dann das Chaos beseitigte. Auch die DVD-Abende waren schön gewesen und wenn Niklas ein ums andere Mal dabei einschlief, an Liam's Schulter gelehnt - der unverletzten natürlich - betrachtete Liam das schlafende Gesicht mit heftig klopfendem Herzen und... Zuneigung.

Seine Wangen röteten sich leicht, als er sich daran erinnerte, wie sehr er den Rothaarigen hatte berühren wollen, auch jetzt berühren wollte. Sein Blick richtete sich auf Niklas' leicht schwingende Hand und er verspürte den Drang, diese zu ergreifen, die warme Haut zu spüren. Liam schreckte abrupt aus seinen Gedanken auf, als er in Niklas hineinlief und diesen zum Stolpern brachte.

„Mensch, Liam, wo bist du mit deinen Gedanken?", fragte er überrascht und auch leicht verärgert. Liam schaute betreten zu Boden und murmelte eine Entschuldigung. Niklas' Blick wurde sanfter und zu Liam's Erstaunen, hakte der Rotschopf sich bei ihm unter und zog ihn mit den Worten „Jetzt aber schnell, sonst kommen wir noch zu spät“ in Richtung Schulgebäude.

Benommen stolperte Liam hinterher, nahm überdeutlich die Wärme der Haut dicht an seiner wahr und ihm war schwindelig vor Glück.

Im Klassenzimmer angekommen, verflog seine gute Laune jedoch schlagartig, sobald er Tamara erblickte, die ihnen fröhlich zuwinkte und sich zu ihnen gesellte.

„Geht es dir wieder besser, Liam?"

Sie lächelte zwar bei dieser Frage, doch die Besorgnis war ihr deutlich anzusehen und er begann, diesen Ausdruck zu hassen. Das schlechte Gewissen nagte an ihm, als er an die vielen SMS dachte, die sie ihm geschickt, die er aber nur flüchtig gelesen und halbherzig beantwortet hatte. Trotzdem zwang er sich zu einem Lächeln und erwiderte betont fröhlich:

„Ja, die Zerrung ist weitestgehend verheilt, die Schulter muss nur noch etwas geschont werden."

Sie nickte, sichtlich beruhigt und Wärme trat in ihre Augen. In der Schule war Tamara kaum von seiner Seite gewichen, suchte so oft es ging seine Nähe und Liam musste zugeben, dass es ihm ziemlich auf die Nerven ging. Das Missverständnis im Schwimmbad hatte alles nur verschlimmert und nun fiel es ihm noch schwerer, sie und ihre Fürsorge zurückzuweisen.

„Ich bin froh, dass es dir wieder besser geht. Ich würde mich riesig freuen, wenn du zu meiner Geburtstagsfeier kommen könntest. Du weißt schon, dieses Wochenende."

Eine leichte Panikwelle überkam Liam; er hatte noch gar kein Geschenk für sie besorgt. Er wusste natürlich, dass die Feier am Wochenende stattfand, schließlich waren sie befreundet, doch Niklas' Anwesenheit hatte ihn völlig abgelenkt und er hatte es vergessen. Er zwang sich ruhig zu bleiben und so lässig wie möglich zu antworten.

„Na klar, wir werden da sein, nicht wahr Niklas?"

Der Rothaarige zwinkerte Tamara zu, was ihr ein Kichern entlockte. Während die beiden sich über die Party unterhielten, packte Liam seine Unterrichtsutensilien aus, wobei ihm ein Schriftstück aus der Tasche fiel. Er stöhnte innerlich; den Elternabend der heute stattfand, hatte er vollkommen vergessen, oder besser gesagt verdrängt. Doch er wusste, dass sein Vater wie so oft keine Zeit haben würde, um zu erscheinen. Ein wenig verletzte es ihn schon, dass sein Vater sich nicht einmal die Zeit nahm, sich über seine schulischen Aktivitäten zu erkundigen.

Liam zerknüllte das Schriftstück in der Faust und entsorgte es im Müll. Beim Gedanken an seinen Vater rangen Sehnsucht und Enttäuschung in ihm, doch er musste zugeben, dass er ihn doch vermisste, wenn er wieder einmal für einige Tage nicht zuhause war. Der tragische Unfall hatte sie zu Beginn enger zusammengeschweißt, sie hatten sich gegenseitig Trost gespendet und aus der Gegenwart des anderen Kraft gezogen. Ein Herz und eine Seele waren sie dadurch aber trotzdem nicht und stritten zurzeit nur noch miteinander. Genervt schüttelte Liam diese Gedanken ab und widmete sich dem Unterricht, der gerade begonnen hatte.





Der junge Lehrer war gerade dabei die verbliebenen Überbleibsel des Elternabends zu beseitigen, als plötzlich an die Tür geklopft wurde. Überrascht warf er einen Blick auf die Uhr; es war bereits kurz vor acht, der Elternabend eigentlich so gut wie vorbei, dennoch bat er mit freundlicher Stimme:

„Herein!"

Ein etwas zerzaust wirkender und abgekämpfter Mann betrat den Klassenraum und lächelte entschuldigend.

„Ah, Herr Dahlke! Haben Sie es doch noch rechtzeitig geschafft!"

In den Worten lag echte Freude und erleichtert zog Frederick sich einen Stuhl heran. Kaum saß er, da sprudelte es aus ihm heraus.

„Verzeihen Sie die Verspätung, ich wäre ja früher erschienen, wenn mein Geschäftstermin nicht mehr Zeit in Anspruch genommen hätte als gedacht und dann noch der Stau..."

„Kein Problem, jetzt sind Sie ja hier. Ich bin Herr Leible, Liam's Sport - und Englischlehrer." Frederick nickte, räusperte sich und fragte nervös:

„Und, wie macht sich mein Junge?"

Herr Leible nahm deutlich den sorgenvollen Ton in den Worten wahr und er musste sich ein mitleidiges Lächeln verkneifen. Er war wirklich froh, dass Herr Dahlke sich diesmal dazu durchgerungen hatte zum Elternabend zu erscheinen. Im vergangenen halben Jahr hatte dieser nämlich keinen der Termine wahrgenommen und vor dem Unfall war stets Liam's Mutter diejenige gewesen, die zu den schulischen Veranstaltungen erschienen war.

„Er macht sich sehr gut, nur in letzter Zeit scheint er etwas abwesend zu sein."

Die Stirn seines Gegenübers runzelte sich.

„Und Sie wissen nicht, warum?"

Herr Leible schüttelte bedauernd den Kopf.

„Nun, noch sind Liam's Leistungen im grünen Bereich, auch wenn es bedauerlich ist, dass er momentan nicht am Sportunterricht teilnehmen kann. Sie wissen schon, die Verletzung."

„Welche Verletzung?"

Leichte Verwirrung befiel den Lehrer, als er pure Panik in Herrn Dahlke's Augen las. Auch bemerkte er das Zittern, das durch die Hände des Mannes ging.

„Herr Dahlke, fühlen Sie sich nicht wohl?"

„Was ist passiert? Was ist mit meinem Sohn geschehen?", rief Frederick außer sich vor Angst. Herr Leible hob beruhigend die Hände, auch wenn er innerlich zutiefst beunruhigt war und versicherte in beschwichtigendem Ton:

„Es handelt sich lediglich um eine Zerrung im Schulterbereich, er ist bereits auf dem Weg der Besserung..." Er zuckte erschrocken zusammen, als Liam's Vater von seinem Stuhl aufsprang und bereits aus dem Raum stürmte, bevor er ihn zurückhalten konnte. Perplex saß er da und schüttelte ungläubig den Kopf.



Liam fröstelte leicht, während er mit Niklas auf den Bus wartete. Die Abende wurden kühler und er trug nur ein T-Shirt und Shorts. Ihm wurde erst bewusst, dass er von einem Fuß auf den anderen trat, als Niklas ihn anstieß und neckte:

„Bist du ein Sensibelchen. Nimm meine Jacke, bevor du mir erfrierst."

Liam wollte protestieren, doch der Rothaarige legte ihm bereits das Kleidungsstück um und Liam schloss, von Niklas' Geruch und Wärme eingehüllt, die Augen. Er lächelte versonnen, als er an den Stadtbummel heute Nachmittag dachte, bei dem sie sogar ein hübsches Geschenk für Tamara ergattert hatten: Ein silbernes Armkettchen mit galoppierenden Pferden und Mondsicheln und dazu einen roten Seidenschal mit goldenen Stickereien. Anschließend waren sie noch beim Chinesen essen gewesen.

Zufrieden kuschelte Liam sich in die Wärme der Jacke und war doch erleichtert, als der Bus endlich vor ihnen zum Stehen kam. Während der Heimfahrt alberten sie herum und Liam fühlte wie seine Sorgen langsam schwanden und er sich entspannte. Sie stiegen an der nächsten Haltestelle aus und Niklas verabschiedete sich mit den Worten:

„Du kannst die Jacke bis morgen behalten. Gib sie mir einfach vor dem Unterricht wieder."

Sprachlos vor Freude nickte Liam nur und schlenderte mit einem glücklichen Grinsen im Gesicht nachhause. Überrascht stellte er fest, dass im Wohnzimmer Licht brannte und als er den Flur betrat, hörte er den Fernseher laufen. Langsam näherte er sich dem Wohnzimmer und prallte wie vor einer unsichtbaren Wand zurück, als er seinen Vater im Sessel sitzen und die Zeitung lesen sah. Der wandte sich just in diesem Moment um und der Blick aus seinen müden Augen ließ Liam den Atem stocken.

Anklagend und voller Enttäuschung blickte sein Vater ihn an und ließ ihn wie festgefroren dastehen, mit wild klopfendem Herzen. Durch das Rauschen in seinen Ohren hörte er den Fernseher kaum. Frederick erhob sich langsam und sprach mit brüchiger Stimme:

„Und, hattest du wieder Spaß, während ich fort war?"

Irritiert runzelte Liam die Stirn.

„Was meinst du...", setzte er an, wurde aber grob unterbrochen.

„Ich frage, ob du Spaß hattest, während du meine Abwesenheit schamlos ausgenutzt hast. Du hattest scheinbar SO VIEL SPAß, DASS DU DICH DABEI VERLETZEN MUSSTEST!"

Die letzten Worte brüllte er und Liam schreckte zusammen, auch wenn er es in letzter Zeit gewohnt war, angebrüllt zu werden. Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und hörte sich durch das Rauschen in seinen Ohren, sagen:

„Es ist eben passiert, wer konnte denn ahnen..."

Er brach erschrocken ab, als er seinen Vater voller Wut auf sich zukommen sah und schaffte es nicht mehr auszuweichen. Die Ohrfeige traf ihn mit voller Wucht und schleuderte ihn gegen die Wand. Glühender Schmerz schoss durch seine Schulter und die getroffene Wange und er musste einen Schmerzensschrei unterdrücken. 

Trotzdem bemerkte sein Vater, dass nicht nur seine Wange schmerzte und als er sich in seiner Sorge bestätigt sah, wurde die Wut zu rasendem Zorn.

„Siehst du nun, was du davon hast? Verstehst du jetzt, weswegen ich mir tagein, tagaus Sorgen um dich mache? Du trittst meine Furcht mit Füßen!"

Diese Flut an Vorwürfen weckte Liam aus seiner Schockstarre und er riss sich trotz Schmerzen aus dem harten Griff seines Vaters los. Tränen schimmerten in den tiefblauen Augen, doch auch Ärger funkelte darin.

„Spaß, nennst du das? Wie kann ich denn jemals richtig Spaß haben, wenn du mich ständig kontrollierst und mir ein schlechtes Gewissen machst! Ich will mein eigenes Leben leben und dieser verdammte Unfall..."

 

Er schnappte keuchend nach Luft, zitternd vor Erregung und nun spürte Frederick wie ihm seitens seines Sohnes blanker Vorwurf und Hilflosigkeit entgegenschlugen, wovon er sich jedoch nicht sonderlich beeindrucken ließ.

„Diese Sorgen hättest du nicht, wärst du nicht so leichtsinnig!"

Liam lachte ungläubig auf.

„Ich bin leichtsinnig? Was erwartest du von mir? Dass ich mich den ganzen Tag im Haus verkrieche und brav Violine spiele?"

Ein Anflug von Verbitterung verdunkelte seine Augen, als er mit leiser Stimme fortfuhr:

„Nicht der Unfall hat mir mein Leben genommen, sondern du."

Ein schmerzvolles Zischen entwich seinen Lippen, als Finger sich grob in sein Fleisch bohrten und er abermals gegen die Wand geschleudert wurde.

„Es reicht mir mit deiner Sturheit! Du wirst dieses Haus nicht mehr ohne meine Erlaubnis verlassen und zwar auf unbestimmte Zeit. Du hast Hausarrest!", knurrte sein Vater, dann ließ er ihn abrupt los und verließ stürmisch den Raum.

Liam's Beine gaben jäh nach und er sank zu Boden. Blind starrte er auf den Fernsehbildschirm, die Schmerzen spürte er kaum. Gerade lief eine alberne Werbung über Kaugummi und ein Lachen stieg in seiner Kehle auf, das rasch zu einem hilflosen Schluchzen wurde, das seinen ganzen Körper schüttelte.

Zuckend saß Liam da und kramte mit zitternden Fingern nach den Schmerztabletten. Nachdem er es geschafft hatte einige aus der Packung zu drücken, warf er sie in den Mund und trank einige Schlucke Wasser, doch er verschluckte sich und bekam einen Hustenanfall.

Er beruhigte sich wieder etwas und saß erschöpft da, bis ihm die Augen zufielen und der Schmerz immer schwächer wurde, genau wie seine Gedanken.



Ein Rütteln an der Schulter riss ihn aus einem unruhigen Schlaf und blinzelnd öffnete er die Augen. Linda stand über ihn gebeugt da und Erleichterung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, als sie sah, dass er wach war. Vom Schlaf noch ganz benommen, ließ Liam den Blick durch den Wohnraum schweifen, registrierte den noch immer laufenden Fernseher und nach einem Blick auf die Uhr, dass es weit nach Mitternacht war.

Vorsichtig streckte er die Glieder, die von der unbequemen Position auf dem Fußboden schmerzten und kam mit Lindas Hilfe auf die Beine.

„Ich muss noch Hausaufgaben machen", murmelte er ohne rechten Zusammenhang, doch zu seiner Verwunderung schüttelte die Haushälterin den Kopf.

„Du gehst morgen nicht zur Schule. Dein Vater hat dich krankgemeldet."

Liam runzelte die Stirn, sagte aber nichts weiter dazu.

„Hast du Hunger? Ich kann dir eine Portion vom Mittagessen aufwärmen..."

Er lächelte angestrengt und lehnte das Angebot mit einer Entschuldigung ab.

„Ich gehe jetzt schlafen", teilte er ihr mit. Sie lächelte traurig und streichelte liebevoll über seine Wange. Er zuckte bei ihrer Berührung zusammen und sie zog ihre Hand mit einem Seufzen zurück.

„Er hätte das nicht tun dürfen. Aber ich habe ihn noch nie so hilflos gesehen", murmelte die Haushälterin und Kummer zeichnete sich in ihren Augen ab.

Liam hörte ihre Worte zwar, doch ihren Sinn begriff er nicht. Blicklos starrte er auf den Fernsehbildschirm und wünschte sich fort aus diesem Raum, fort aus diesem Haus. Doch genau dieses Haus war nun sein Gefängnis auf unbestimmte Zeit, was wohl das Schlimmste an der ganzen Situation war. Wütend biss er die Zähne zusammen, nahm seine Sachen und schleppte sich, noch immer benommen, hoch in sein Zimmer.

Dort setzte er sich im Dunkeln ans Fenster und blickte in die mondbeschienene Nacht hinaus.

 

Von hier oben aus konnte er de Vorgarten und einen Teil der Straße überblicken. Ganz weit hinten im Osten waren schwach die Umrisse des Skateparks zu erkennen. Liam hätte nichts lieber getan, als sich auf seinem Board abzureagieren und sich bis zur Erschöpfung zu verausgaben. Er wollte den Wind spüren, der ihm das Gefühl gab zu fliegen, er wollte fühlen, wie seine Muskeln arbeiteten und ihn wenig durch die Anlage gleiten ließen. Er wollte in seiner Konzentration alles andere vergessen und nur noch seinen Körper wahrnehmen. Stattdessen war er dazu verdammt, hier tatenlos herumzusitzen, den Launen seines Vaters ausgesetzt. Obwohl, ganz tatenlos musste er ja nicht bleiben.

Mit einem schadenfrohen Grinsen nahm Liam seine Violine zur Hand und begann, ein wildes Stück zu spielen, mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, bis der Schweiß ihm auf die Stirn trat. Er ließ sich auch nicht beirren, als kurz darauf polternde Schritte die Treppe heraufkamen. Erst die entnervte Stimme seines Vaters und das Öffnen der Tür, ließen ihn innehalten.

Linda streckte ihren grauen Haarschopf ins Zimmer und bat mit leiser Stimme:

„Liam, dein Vater muss noch arbeiten, also stell bitte dein Spiel ein, sei so gut."

Dabei bemühte die Haushälterin sich um eine ernste Miene, was Liam hingegen nicht gelang. Breit grinsend erwiderte er:

„In Ordnung, ich höre ja schon auf."

Sie nickte, lächelte dann doch und wandte sich mit leiser Stimme an seinen Vater. Der brummte etwas Unverständliches und die Tür schloss sich.

Als Liam sich sicher sein konnte, dass die beiden fort waren, brach er in unterdrücktes Gelächter aus, bis ihm die Tränen kamen. Nach dem Lachanfall musste er plötzlich voller Sehnsucht an seine Mutter denken, die ihn mit ihrer Liebe zum Violinspiel angesteckt hatte. Sie war eine talentierte Spielerin und trat des öfteren auf Familien - oder Firmenfeiern auf, selbst nach dem Unfall. Auch Liam hatte regelmäßig daran teilgenommen und er erinnerte sich noch gut daran, wie nervös er vor jedem Auftritt gewesen war, doch sobald seine Mutter zu spielen begann, ließ er sich von den lieblichen Klängen mitreißen und die Nervosität schwand. In perfekter Harmonie verzauberten Mutter und Sohn ihre Zuhörer und ernteten nach jedem Auftritt donnernden Applaus.

Seit dem Unfall jedoch mied Liam solche Veranstaltungen, denn sie erinnerten ihn nur schmerzhaft daran, wie glücklich sie noch vor einem halben Jahr gewesen waren, eine harmonische, normale Familie eben. Ich könnte sie ja in den Sommerferien besuchen, überlegte Liam und die Aussicht, sie wiederzusehen, spendete ihm Trost.

Liebevoll strich er mit den Fingern über das glänzende Holz des Instruments, lehnte es behutsam gegen das Fenster und stieg in sein Bett. Er fragte sich, ob Niklas und Tamara sich Sorgen machen würde, wenn er morgen im Unterricht fehlte. Er sah bereits ihre fragenden und besorgten Mienen vor sich und mit schlechtem Gewissen vertrieb er das Bild aus seinen Gedanken. Wenigstens musste er durch sein Fehlen den leichten Bluterguss auf seiner Wange nicht erklären.

 

Liam merkte, dass er durstig war, also verließ er sein Zimmer, stieg die Treppe hinab und ging am Büro seines Vaters vorbei. Durch die halboffene Tür sah er Licht brennen, also schlich er leise hinüber und spähte hinein. Sein Vater saß am Schreibtisch, mit dem Rücken zu ihm, merkwürdig vornüber gebeugt. Als Liam den Raum betrat und sich ihm näherte, sah er, dass dieser eingeschlafen war. Er betrachtete das entspannte Gesicht und fragte sich plötzlich, wann sein Vater das letzte Mal gelacht hatte.

Mitgefühl regte sich in ihm und er verspürte das starke Bedürfnis, seinen Vater in den Arm zu nehmen, so wie in den Wochen nach dem Unfall, um ihn zu trösten. Doch etwas hielt ihn davon ab und weigerte sich nachzugeben, deshalb wandte er sich zum Gehen. Kaum hatte er den ersten Schritt getan, da wurde er am Handgelenk gepackt.

Überrascht drehte er sich um und sah seinen Vater aufrecht dasitzen, mit einem bittenden Gesichtsausdruck.

„Bleib."

Liam rang mit sich, gab aber schließlich nach. Frederick's Blick fiel auf den Bluterguss und echte Reue erschien in seinen Augen. Liam wich der Musterung seines Vaters aus und auf einmal war ihm seine vorherige Aktion fast peinlich.

„Sorry, dass ich dich bei der Arbeit gestört habe", murmelte er leicht errötend und Frederick erwiderte sanft lächelnd:

„Halb so wild. Deine Mutter spielt auch immer, wenn sie wütend oder traurig ist."

Er merkte, dass er noch immer das Handgelenk seines Sohnes umklammert hielt und das nicht gerade sanft. Nun war er es, der errötete und hastig ließ er los. Liam kämpfte mit den Gefühlen, die diese Worte in ihm ausgelöst hatten und ärgerlich drängte er die aufsteigenden Tränen zurück.

„Ich vermisse sie. Ich möchte sie besuchen, am besten in den Sommerferien."

Es gelang ihm nicht, die Trauer und Sehnsucht in seiner Stimme zu unterdrücken. Frederick nickte, die Stirn leicht gerunzelt. Die Überraschung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben und noch etwas anderes: Er zögerte. Liam stöhnte innerlich und setzte dazu an zu protestieren, als er ihn sagen hörte:

„Wir werden sehen."

Er seufzte und strich seinem Sohn beinah zärtlich durch das rotbraune Haar. Liam schluckte seine Enttäuschung herunter, erzitterte jedoch leicht bei der Berührung. Doch er gab sich mit der Antwort zufrieden und nickte nur.

„Gute Nacht."

Er wandte sich zum Gehen, an der Tür angekommen, hörte er die leise Stimme seines Vaters.

„Gute Nacht, mein Sohn."

Liam verließ mit hängenden Schultern das Büro und Frederick wandte sich seufzend wieder seiner Arbeit zu. Doch er konnte sich nicht recht darauf konzentrieren, denn die sehnsuchtsvollen Worte seines Sohnes hallten durch seine Gedanken: Ich möchte sie besuchen.

Mit einem schmerzhaften Stich im Herzen, nahm er eines der eingerahmten Bilder auf seinem Schreibtisch in die Hand und betrachtete es melancholisch. Er und seine Frau standen in einem mit Blumen geschmückten Festpavillon und Ailis strahlte förmlich in ihrem schneeweißen, mit zierlichen Perlen besetzten Brautkleid. In ihr offenes, kupfern glänzendes Haar waren blaue Kristallblumen eingearbeitet, an denen der Schleier befestigt war. Sie stand seitlich zum Fotografen, ihrem frischgebackenen Ehemann zugewandt, eine Hand an seine Wange gelegt. Er lächelte sie verliebt an und Frederick erinnerte sich noch deutlich daran, wie er während des gesamten Festes seine schöne Frau betrachtete hatte, voller Stolz und Unglauben darüber, dass sie sein war und nun endgültig mit ihm verbunden war.

Sein Finger berührte sanft ihr Gesicht hinter dem Glas und er quälte sich mit dem Gedanken, ihr Glück für immer zerstört zu haben. Tränen rannen über seine Wangen, benetzten das Bild und schluchzend presste er es an seine Brust.

 

Bis zum Abend vertrieb Liam sich irgendwie die Zeit, bis er sich vor Langeweile kopfüber auf die Couch setzte und so fernsah. Es wurmte ihn, dass sein Vater den Hausarrest nicht zeitlich begrenzt hatte, so wusste er nicht auf wie viele Tage oder gar Wochen Nichtstun er sich einstellen musste. Wenigstens würde die Schule für etwas Abwechslung sorgen und er konnte seinen Freunden sein Leid klagen.

Das Blut begann, ihm in den Kopf zu steigen und ächzend zog er sich wieder hoch. Aus der Küche drang der Duft von Lasagne und er merkte, wie hungrig er war.

Also ging er in die Küche, wo Linda gerade die Auflaufform auf der Arbeitsplatte abstellte und gleich darauf einen Kuchen in den Ofen schob.

„Tu dir ruhig schon auf, ich komme gleich nach", wies sie ihn an, richtete sich aus ihrer gebückten Haltung auf und stemmte stöhnend eine Hand ins Kreuz.

„Uff, ich bin auch nicht mehr die Jüngste."

Liam, der gerade Teller und Besteck holte, wandte sich um.

„Ich kann dir doch helfen."

Doch sie winkte ab und erwiderte nur:

„Es geht schon. Ich muss mich doch um meine beiden Männer kümmern."

Linda zwinkerte und Liam schüttelte lächelnd den Kopf.

 

Er trug das Geschirr zum Tisch, während die Haushälterin die Auflaufform nahm und ebenfalls abstellte. Beide setzten sich und taten sich auf. Liam begann sofort hungrig zu essen, was der älteren Frau ein Lachen entlockte.

„Meine Kochkünste scheinen im Gegensatz zu meinem Rücken zum Glück nicht in die Jahre gekommen zu sein", freute Linda sich und fing ebenfalls an zu essen. Sie unterhielten sich über dies und das und Liam genoss entspannt die lockere Atmosphäre, bis die Haushälterin sagte:

„Wie sieht es bei dir denn so mit der Liebe aus? Gibt es da schon jemanden?"

Liam verschluckte sich an dem letzten Bissen Lasagne und hustete erst mal wild drauflos. Linda sah ihn verblüfft an, musste dann aber kichern, da sie sich in ihrer Vermutung bestätigt sah und hastig stammelte er: 

„Nein, da gibt es niemanden..."

„Und was ist mit Tamara? Sie ein hübsches und kluges Mädchen. Und ihr kennt euch schon so lange, also ich könnte mir schon vorstellen...", schwärmte sie, wurde aber von Liam unterbrochen.

„Nein, sie kommt nicht infrage, wir sind einfach nur Freunde."

Die Haushälterin nickte, nicht ganz überzeugt. Mit der Gabel malte sie Muster in den Soßenrest auf ihrem Teller und fragte scheinbar unschuldig:

„Und Niklas? Hat er jemanden, den er mag?"

Er starrte sie ungläubig an und errötete heftig.

„So genau weiß ich das auch nicht...ich glaube nicht."

Sie zog eine Augenbraue hoch, sagte jedoch nichts weiter dazu, sondern erhob sich stattdessen und machte sich daran, das Geschirr abzuräumen.

Um den peinlichen Moment zu überspielen, half er ihr beim Aufräumen und wechselte das Thema.

„Ich freue mich schon, wenn ich mich morgen in der Schule bei meinen Freunden über meinen Hausarrest auslassen kann. Wahrscheinlich werden sie sich über mich lustig machen und mir vorschwärmen, was für tolle Pläne sie nach dem Unterricht haben..."

„Liam, ich fürchte daraus wird nichts", fiel Linda ihm ins Wort und er hielt mitten in der Bewegung inne.

„Wie meinst du das? Ich gehe morgen doch wieder zur Schule."

„Nein Liam, dein Vater verbietet es. Der Hausarrest bezieht auch die Schule mit ein."

Vor Fassungslosigkeit wäre ihm beinahe der Teller aus der Hand geglitten und sein Hirn brauchte einen Moment, um den Sinn der Worte zu verstehen.

„Das... das ist nicht sein Ernst! Ich muss doch zur Schule! Soll das ein Scherz sein?"

Seine Stimme bebte vor Wut und er musste sich zusammenreißen, um den Teller in seiner Hand nicht auf den Boden zu schmettern. Lindas Blick war traurig, als sie sagte:

„Er meint es todernst. Und er hat auch das Recht dazu, denn er ist dein Erziehungsberechtigter."

„Das ist Freiheitsberaubung!", protestierte Liam und warf den Teller achtlos ins Spülbecken.

Sie streckte beschwichtigend die Hände nach ihm aus, zuckte jedoch erschrocken zurück, als er ihr entgegen schrie:

„Wie lange?"

Sie schluckte und wich seinem Blick aus.

„Ich weiß es nicht, das hat er mir nicht gesagt."

Liam lachte bitter auf. „Er sagt er liebt mich, sperrt mich aber bei dem kleinsten Regelbruch ein, wie einen Verbrecher. Das ist doch nicht mehr normal!“ Er stapfte zur Tür, gefolgt von Linda, die versuchte, ihn zu beruhigen.

„Er kommt gleich von der Arbeit zurück, du könntest mit ihm reden.."

„Mit diesem Mann kann man offensichtlich nicht reden! Er ist einfach blind für die Sorgen und Wünsche anderer, immer muss alles nach seiner Pfeife tanzen, das kotzt mich an!"

Die Haushälterin schüttelte hilflos den Kopf und fragte zögernd:

„Soll ich mit ihm reden?"

Doch Liam war bereits auf dem Weg in sein Zimmer.

Sie eilte ihm hinterher und auf der Treppe rief sie ihm entgegen:

„Soll ich ihm etwas von dir ausrichten? Vielleicht kann ich ihn in deinem Namen überzeugen, den Hausarrest nur bei deiner Freizeitgestaltung zu berücksichtigen."

Er fuhr herum, das Gesicht so voller Hass und Enttäuschung, dass sie zurückwich.

„Sag ihm, er kann mich mal!"

 

Die Tage vergingen quälend langsam, das Wochenende stand vor der Tür und Liam's einziger Trost waren die Nachrichten und Anrufe seiner Freunde. Wie er von ihnen erfahren hatte, hatte sein Vater ihn für vier Wochen krank geschrieben und auf diese Offenbarung hin, war er erst mal baff gewesen. Wie sollte er den Schulstoff von vier Wochen nachholen? Vor allem in Mathematik würde das ein einziger Kampf werden, wo er doch so schon kaum etwas verstand.

Er musste wohl jemanden um Nachhilfe bitten, am besten Niklas... Der Gedanke ließ Liam verträumt lächeln und er nahm sich vor, den Rotschopf darauf anzusprechen. Besuch würde sein Vater doch wohl noch erlauben, hoffte er zumindest. Aber das tröstete ihn nur wenig über die Tatsache hinweg, dass er sich zu Tode langweilte, immer gereizter wurde und nachts nur noch unruhig schlief, wenn er es denn schaffte, seine Gedanken nicht ständig um Niklas und seinen gut gebauten Körper kreisen zu lassen.

Um überhaupt etwas Ruhe zu finden, nahm er regelmäßig die Schmerztabletten. Linda verfolgte das alles mit Besorgnis und berichtete Liam's Vater davon, doch dieser nahm, in seine Arbeit vertieft, ihre Sorgen nicht ernst und tat das Benehmen seines Sohnes als trotzige Pubertätsphase ab. Resigniert beobachtete Linda, wie die beiden seelisch und körperlich immer mehr Schaden nahmen und sie beschloss, sich Hilfe von außen zu holen...

 

Kapitel 4

 

Die Tüte raschelte bei jedem Schritt und Liam lauschte angestrengt auf Geräusche im Haus. Angespannt ließ er den Blick durch den mondbeschienenen Flur und zur Garagentür schweifen. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von der Freiheit und die würde er sich bestimmt nicht von dieser blöden Tüte nehmen lassen. Er klemmte sich den rosafarbenen Störenfried kurzerhand unter den Arm und huschte zur Tür, durchquerte die Garage und trat in die kühle Abendluft.

Erleichtert atmete er auf und ging los, zu Tamaras Haus, das nur zehn Minuten entfernt war.

Bereits von der Straße aus waren die mit bunten Lichtern geschmückte Einfahrt und den riesigen, leuchtenden Pfeil, der in den Garten hinter dem Haus wies. Der Geruch von Holzkohle und Grillgut, laute Musik und Stimmengewirr erfüllten die Luft.

Liam betrat den Garten und ließ den Blick über die farbenfrohen Lampions, das riesige Büfett, den Schwenkgrill und den Pool schweifen und staunte nicht schlecht. Da waren Tamaras Eltern aber großzügig gewesen! In der Nähe des Schwimmbeckens entdeckte er Fabian, der sich mit einem Mädchen unterhielt, am Büfett luden sich Kilian und sein Bruder Thomas die Teller voll.

 

Das Geburtstagskind stand mit einem Glas Sekt in der Hand am Grill, wendete das Grillgut, während sie sich aufgeregt mit ihren Freundinnen unterhielt. Liam bahnte sich seinen Weg zu ihr durch und wollte ihr gratulieren, doch bei ihrem Anblick verschlug es ihm die Sprache. Sie sah einfach bezaubernd aus. Das blonde Haar fiel goldglänzend in sanften Locken über ihre Schultern und wurde von einer großen roten Blüte auf der rechten Seite geschmückt. Ihr Gesicht wirkte frisch und rosig und die zart geröteten Wangen und die schwarz getuschten Wimpern ließen das Grün ihrer Augen wunderbar zur Geltung kommen. Das Kleid jedoch überstrahlte alles: Die tiefrote Seide glänzte im Lampenschein und wurde nur von den unzähligen kleinen Diamanten auf dem Oberteil überstrahlt. Tamara bemerkte seinen Blick und ließ stolz den knielangen Saum um ihre in Nylon gehüllten, langen Beine schwingen. Sie lächelte keck und er lobte mit echter Bewunderung in der Stimme:

„Wow, du siehst toll aus."

Sie lachte glücklich und er reichte ihr mit einem

„Alles Gute" die rosa Tüte. Neugierig nahm sie sie entgegen und spähte hinein.

Zuerst nahm sie den Schal heraus und ließ ihn bewundernd durch die Hände gleiten. „Der passt super zum Kleid!“, freute sie sich und legte ihn sich gleich um den Hals. Als nächstes kam die Schachtel. Ihre Augen funkelten, als sie das Armkettchen darin sah und eines der Mädchen rief:

„Wie süß! Sogar mit Pferden! Du reitest doch so gerne Tamara!"

Statt eine Antwort zu geben, fiel Tamara dem überraschten Liam begeistert um den Hals und umarmte ihn so fest, als wolle sie ihn mit ihrer Freude erdrücken. Er lachte und erwiderte die Umarmung zärtlich.

Als die Umklammerung sich nach einer Weile immer noch nicht löste und es allmählich peinlich zu werden begann, löste er sich mit einem räuspern so sanft wie möglich von ihr.

Sie blickte verlegen drein, dann bat sie ihn schüchtern:

„Legst du es mir um, bitte?"

„Gerne."

Kurz darauf funkelte das Kettchen an ihrem zierlichen Handgelenk und wurde ausgiebig von ihren Mädels bewundert. Liam freute sich, dass die Geschenke ihr gefielen. Tamara wandte sich ihm wieder zu und lächelte.

„Danke."

Liam grinste innerlich, als sie sich vorbeugte und ihm ein Küsschen auf die Wange gab. Während sie sich wieder dem Grill widmete, blickte er sich nach Niklas um und entdeckte den Rothaarigen schließlich auf der Terrasse. Gerade als er sich in Bewegung setzen wollte, schlossen sich kühle Finger um sein Handgelenk und fragend blickte er in Tamaras Gesicht.

Nervös wrang sie die Hände und wich seinem Blick aus.

„Würdest du vielleicht...mit mir tanzen? Ich meine, da ich ja Geburtstag habe..."

Er fand ihre Verlegenheit einfach nur süß, doch andererseits machte ihre Bitte ihm etwas Sorgen, zeigte sie doch deutlich, dass sie ihn für sich beanspruchte und eine Zusage erwartete.

Innerlich seufzend gab er nach und als er ihre Erleichterung und Freude sah, verspürte er einen Stich im Herzen. Zu seiner Überraschung zog sie ihn am Handgelenk zur Terrasse herüber, wo Niklas sie breit grinsend erwartete.

„Bin gleich wieder da."

Die beiden beobachteten, wie sie zu einem Mann an einem Mischpult - offensichtlich dem DJ - ging und mit ihm sprach.

„Gut, dass du da bist, obwohl du ja eigentlich krank im Bett liegen müsstest. Sie freut sich wirklich sehr, dass du da bist."

Liam schwieg zunächst, dann meinte er schulterzuckend:

„Ich kann sie doch an ihrem Geburtstag nicht enttäuschen."

Niklas hatte das Gefühl, das hinter diesen Worten mehr steckte, als es den Anschein hatte, doch er ging nicht näher darauf ein, stattdessen murmelte er, mehr zu sich selbst:

„Ob sie auch mit mir tanzen würde?"

Liam hob die Augenbrauen und entgegnete überzeugt:

„Klar, du bist schließlich auch ihr Freund."

Der Rotschopf nickte abwesend und wandte den Blick von Tamara ab, die gerade auf sie zukam.

„Magst du dir nicht auch eine Tanzpartnerin suchen?", erkundigte sie sich an Niklas gewandt, doch der schüttelte nur den Kopf.

„Aber vielleicht gewährt mir die Königin des Abends später einen Tanz?"

Er zwinkerte und sie kicherte geschmeichelt.

„Wenn du so nett fragst..."

Er verbeugte sich und sie schlug ihm spielerisch auf den Arm.

„Lass das!", lachte sie und wandte sich dann wieder an Liam.

„Wollen wir?"

Er tauschte einen Blick mit Niklas, der ihm unmerklich zunickte, holte tief Luft und ließ sich von ihr zur Terrassenmitte führen. Die Musik setzte ein und einige Gäste gesellten sich hinzu und verteilten sich auf der großzügigen Fläche. Schon bald ließen sie sich von der Musik mitreißen, genau wie Tamara und Liam.

Wie sich zeigte war Tamara eine talentierte Tänzerin, was wohl daran lag, dass sie ihre Freizeit mit Reitsport verbrachte und sich auch gerne in Discos aufhielt, im Gegensatz zu Liam, dem es dort einfach zu laut und voll war.

Er selbst hielt sich beim Tanzen zurück, amüsierte sich jedoch trotzdem. Mit fließenden Bewegungen gab Tamara sich der Musik hin, ließ ihr Kleid wirbeln und erntete den einen oder anderen bewundernden Blick. Sie nahm seine Hände, zog ihn mit sich und er wirbelte sie im Kreis.

Ihr helles Lachen ließ ihm warm ums Herz werden und in diesem Moment vergaß er das Schlamassel, in dem er steckte und genoss einfach den Augenblick.

 

Sie tanzten bis zur Erschöpfung und zu ihrer Erleichterung, wurde die Musik deutlich langsamer und sie konnten sich etwas erholen. Aufseufzend lehnte Tamara sich gegen seine Brust und sagte leicht außer Atem:

„Ich glaube länger hätte ich das nicht ausgehalten."

Er lachte leise und stimmte ihr zu.

„Ja, ich auch nicht."

Sie wiegten sich langsam im Takt der Musik.

„Das ist der schönste Geburtstag von allen", murmelte Tamara und schmiegte sich eng an Liam's Körper. Leichtes Unbehagen befiel ihn und mit einem Schlag erinnerte er sich wieder, wie sie wirklich füreinander empfanden und das schlechte Gewissen meldete sich wieder. Zwei Stimmen rangen in seinem Kopf miteinander: Die eine mahnte ihn zur Vernunft. Sag es ihr endlich! Das hat sie nicht verdient!“ , während die andere besänftigte: Aber es ist doch ihr Geburtstag! Das kann ich ihr nicht antun, nicht heute!

Der Schweiß brach ihm regelrecht aus und etwas zu hastig löste er sich von ihr, die wegen der jähen Bewegung strauchelte und ihr fragend ansah.

„Ich brauche etwas zu trinken, willst du auch etwas?"

Sie nickte und als er sie verließ, wirkte sie trotz der Menschen um sich herum etwas verloren.

Liam hatte es eilig zum Buffet zu kommen, wo er auf Fabian und Kilian traf, die ihre dritte Portion Bratwurst verputzten.

„Da ist ja unser Schwerenöter. Ihr zwei saht eben wie ein echtes Paar aus", kommentierte Kilian feixend, erntete von Liam jedoch nur ein säuerliches Gesicht.

„Ist alles okay, Li? Du siehst nicht so gut aus."

„Jetzt wo du es sagst. Er sieht wirklich etwas fertig aus", stimmte Kilian zu und musterte ihn mit gerunzelter Stirn.

„Ich bin nur müde vom Tanzen. Es geht gleich wieder", beeilte er sich zu versichern und lächelte dabei schwach. Seine Freunde nickten, wenn auch deutliche Skepsis in ihren Gesichtern stand.

„Wie du meinst. Wir sind hier, wenn du reden willst."

Liam's Augen weiteten sich überrascht und er erwiderte erstaunt:

„Danke."

Fabian drückte aufmunternd seine Schulter, Kilian nickte. Um einiges erleichtert kehrte Liam mit zwei Gläsern Bowle zu Tamara zurück, die ihm mit einem warmen Blick entgegensah.

„Dankeschön."

Sie nahm eines der Gläser und nippte daran.

„Ich denke ich plündere mal das Kuchenbuffet"

, teilte sie ihm plötzlich mit und bahnte sich ihren Weg zum Buffet durch, wo Kilian und Fabian sie in Empfang nahmen.

 

Liam holte tief Luft und ließ sich auf die Terrasse sinken. Es war, als würde man die Luft aus einem prall gefüllten Luftballon entweichen lassen und erst jetzt merkte er, wie angespannt er die ganze Zeit über gewesen war. Der Schweiß auf seiner Stirn, die schmerzenden Lachmuskeln und seine weichen Knie waren Zeugnisse seiner Anspannung und die Tatsache, dass seine Freunde seinen Zustand eher bemerkt hatten als er, schockierte ihn etwas.

Wollte er so dringend der Wirklichkeit entfliehen? War die Wahrheit einfach zu schmerzhaft, sodass er sie ausblendete, nur um sich halbwegs normal fühlen zu können? Er ließ den Kopf in den Nacken sinken und ließ sich die kühle Brise ins Gesicht wehen. Er verlor sich voll und ganz in diesem Moment der Ruhe und Entspannung, nahm die Musik, die Stimmen und Geräusche um sich herum nicht mehr wahr. Jedenfalls solange, bis eine Stimme neben ihm brummte:

„Wo ist eigentlich meine Jacke?"

Zu Tode erschrocken, sprang Liam auf die Beine und stolperte über die eigenen Füße und nur Niklas' Griff um seinen Arm verhinderte, dass er stürzte.

„Erschrecke mich doch nicht so!", krächzte Liam mit wild rasendem Herzen und entzog dem Rotschopf ärgerlich seinen Arm. Doch der grinste bloß und zuckte mit den Schultern.

„Du bist einfach zu süß, wenn du so schreckhaft bist."

Liam starrte ihn verdattert an und stammelte:

„Was?"

„Na du hast noch meine Jacke, die ich dir geliehen habe, weißt du noch?"

Erwartungsvoll ruhten Niklas' braune Augen auf ihm und Liam brauchte einen Moment, um auf den plötzlichen Themenwechsel des Rothaarigen zu reagieren. Panisch versuchte er sich aus der peinlichen Situation zu retten.

„A...aber ich dachte, ich kann sie dir am Montag in der Schule zurückgeben..."

Er wurde puterrot, als Niklas in lautes Gelächter ausbrach und fühlte sich wie der letzte Idiot. Wieso verhielt er sich in Niklas' Gegenwart immer so unsicher und befangen? Früher waren sie doch immer ganz offen und locker miteinander umgegangen, wieso hatte sich das jetzt plötzlich geändert? Was war los mit ihm?

„Quatsch, klar kannst du sie mir am Montag zurückgeben, du frierst ja so leicht", riss die Stimme des Rothaarigen ihn aus seinen Gedanken. Liam's Verlegenheit wurde noch größer als er dachte: Wenn du wüsstest, dass ich mit deiner Jacke im Bett schlafe... doch zugleich freute ihn der Umstand, dass er das Kleidungsstück noch länger behalten durfte und er lachte erleichtert.

„Okay. Danke."

Niklas nickte und ließ sich neben ihm nieder. Sie nippten an ihren Gläsern und Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.

„Sag mal“, fing der Rotschopf plötzlich an zu sprechen.

„Wie sieht es heute aus? Wirst du..."

Liam wusste sofort wovon er sprach und zog unbehaglich die Schultern hoch.

„Meinst du ich soll jetzt ernsthaft..."

Der traurige Blick seines Freundes ließ ihn verstummen und ärgerlich wandte er sich ab.

„Ich kann sie doch nicht an ihrem Geburtstag so vor den Kopf stoßen!"

 

Er musste an Tamaras Freude denken, als er ihr die Geschenke überreicht hatte, als sie zusammen getanzt hatten und ihre Worte: „Das ist der schönste Geburtstag von allen“ und das bestärkte ihn noch in seiner Überzeugung.

Aber Niklas ging nicht auf seinen Einwand ein, stattdessen bemerkte er:

„Weißt du, wie sie dich ansieht, seitdem du hier bist? Sie ist total fixiert auf dich und hungert förmlich nach deiner Aufmerksamkeit. Doch das tut sie nur, weil sie glaubt, dass ihre Gefühle erwidert werden. Und je länger du ihr diese Illusion lässt, desto schwerer machst du es ihr die Wahrheit zu akzeptieren."

Ein eindringlicher Blick aus braunen Augen traf ihn und schien bis in sein tiefstes Inneres zu dringen.

„Und damit tust du ihr am meisten weh."

Liam zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen und hatte keine Zeit, sich von seinem Schreck zu erholen, denn der Rothaarige fuhr unerbittlich fort.

„Es ist gar nicht sie, die du nicht verletzen willst. Du selbst bist es, der nicht verletzt werden will."

Die Worte lähmten ihn, ließen ihn entsetzt verharren und hämmerten unaufhörlich in seinem Kopf.

Sein Mund öffnete sich, doch es kam kein Ton heraus.

„Ich weiß es ist hart, doch es ist besser so."

 

Niklas erhob sich und blickte noch einmal auf Liam herab.

„Du hast noch eine Stunde, um das ein für allemal zu klären. Denk darüber nach."

Und damit wandte er sich ab und ging. Liam blieb wie gelähmt sitzen und schiere Hilflosigkeit brach über ihn herein. Er wusste nicht, wie er reagieren, was er tun sollte. Am liebsten wäre er Tamara aus dem Weg gegangen, doch er wusste, dass das nur unfair ihr gegenüber war und sein Problem nicht lösen würde. Er wusste nur, dass er Zeit brauchte, um sich zu beruhigen und wieder einen klaren Gedanken fassen zu können.

Da fielen ihm plötzlich Fabians Worte ein: Wir sind hier, wenn du reden willst. Schwindelig vor Erleichterung machte Liam sich auf den Weg zum Buffet und atmete auf, als er Tamara nirgends entdeckte. Dafür waren Fabian und Kilian wie versprochen noch da und blickten ihm aufmunternd entgegen.

„Hört mal, ihr müsst mir für eine Weile Tamara vom Leib halten."

Kilian wollte eine Frage stellen, wurde aber unterbrochen.

„Es ist wichtig. Würdet ihr das für mich tun?"

Die beiden wechselten einen kurzen Blick.

„Klar, Li. Wir verschaffen dir etwas Zeit."

Er wäre den Zweien am liebsten um den Hals gefallen vor Dankbarkeit, doch er ließ es bleiben, dankte den beiden stattdessen noch einmal überschwänglich und verkroch sich erst einmal im Innern des Hauses. Auch dort wurde kräftig gefeiert und Liam machte sich auf die Suche nach einem ruhigen Platz zum Nachdenken.

 

Im Gästezimmer war der Lärm nur noch gedämpft zu hören. Er ließ sich auf das Bett sinken und tat einige tiefe Atemzüge, um sich wieder zu fassen. Er fragte sich, wie viel Zeit er wohl haben würde, um eine Entscheidung zu fällen und er begann, sich das Hirn nach einer Antwort zu zermartern. Nach einer Stunde erhob Liam sich von seinem Sitzplatz. Er hatte eine Antwort gefunden und tiefe Ruhe erfüllte ihn. Die leere Plastikpackung der Tablette landete im Müll und er trat in die kühle Nachtluft hinaus.

Zuerst sah er sich nach Tamara um, konnte sie aber auf den ersten Blick nicht finden. Wie Fabian und Kilian sie wohl von ihm fernhielten? Er hoffte, dass sie keinen Verdacht schöpfte. Liam beschloss, sich durchzufragen und fand die drei schließlich in einem etwas abgelegenerem Teil des Gartens, wo sie sich scheinbar köstlich amüsierten, ihrem Kichern und Lachen nach zu urteilen.

Liam trat hinzu und die Jungs nickten ihm unmerklich zu, zum Zeichen, dass sie sich nun zurückziehen würden.

„Also wir mischen uns wieder unter die Feierwütigen. Bis dann!"

Und damit waren Tamara und Liam allein.

„Hi“, kicherte sie und schwenkte ihr Sektglas. Sie trat einen Schritt nach vorne, blieb mit dem Absatz ihrer Pumps hängen und strauchelte. Liam stützte sie und musste schmunzeln, als sie eine Entschuldigung murmelte und hickste. Sie hatte wohl schon mehr als ein Glas Sekt gehabt.

„Wollen wir ein Stück gehen?"

Sie nickte eifrig und hakte sich bei ihm unter. Er überlegte kurz, ob sie noch nüchtern genug war, für das, was er ihr sagen wollte, doch sie schien nur leicht angetrunken zu sein. Sie entfernten sich noch ein gutes Stück vom Partygetümmel und hielten neben dem Gartenschuppen.

Eine Weile beobachteten sie die Sterne am Himmel, bis Tamara fröstelnd die Arme um sich schlang.

„Dir ist kalt."

Sie zitterte heftig und nickte.

„Ich hole mir schnell eine Jacke. Soll ich noch etwas zu Trinken mitbringen?"

Ohne seine Antwort abzuwarten, ging Tamara auf etwas unsicheren Beinen in Richtung Haus. War sie nervös, oder bildete er es sich nur ein? Kurze Zeit später kehrte sie mit einer Lederjacke um die Schultern und zwei großen Gläsern Bowle zurück. Sie reichte ihm eines davon und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Holzwand. Er nahm einen Schluck, um seine plötzlich trockene Kehle zu befeuchten und setzte zu sprechen an, da erklang ihre sanfte Stimme.

„Der Tanz mit dir war schön. Ich habe mich wie eine Prinzessin gefühlt."

Ihre Hand, an dem das Armkettchen hing, schwenkte das Glas Bowle und nun war deutlich zu erkennen, dass sie nervös war. Sie blickte ihn direkt an und das grün ihrer Augen funkelte im schwachen Schein eines Lampions.

„Ich habe mich ganz besonders gefühlt, als gäbe es nur dich und mich."

Sie hob ihre Hand und ließ ihren Zeigefinger langsam auf seiner Brust kreisen.

„Ging es dir auch so?"

Sie warf ihm einen Blick unter dichten, schwarzen Wimpern hervor zu, erwartungsvoll und selbstsicher. Überrumpelt suchte Liam nach einer Antwort, doch scheinbar war ihr diese nicht so wichtig, denn sie lächelte nur und trat noch einen Schritt dichter an ihn heran, wobei sie jedoch strauchelte. Das Glas glitt aus ihrer Hand und Liam spürte, wie sein Hosenbein durchnässt wurde.

„Oh Gott! Entschuldige!“, rief Tamara erschrocken, doch er schüttelte nur den Kopf.

„Ist schon..."

Er verstummte irritiert, als ihre Hand, in der sie plötzlich ein Taschentuch hielt, sich an dem Fleck zu schaffen machte und das nicht gerade sanft.

„Ähm, Tamara, es ist okay, wirklich..."

Er sog leicht die Luft ein, als das Reiben aufhörte und stattdessen ihre Finger seinen Schenkel leicht massierten. Die Bewegungen bewegten sich über die Innenseite seines Beines nach oben und näherten sich seinem Schritt. Starr vor Schreck stand Liam da, doch als die Hand zudrückte, entfuhr ihm ein lautes „Tamara!“

Zwar zog sich die Hand zurück, doch da spürte er etwas ganz anderes: Heiße Lippen pressten sich gierig auf seine und raubten ihm den Atem. Sein Denken setzte aus, er kam sich vor wie in einem bizarren Traum und er konnte sich nicht bewegen. Tamara's Finger nestelten an seinem Hosenknopf und da wurde es ihm zu bunt. Liam riss seinen Kopf zur Seite und stieß die Blondine unsanft von sich.

 

Sie taumelte und hielt gerade noch ihr Gleichgewicht. Perplex starrte sie ihn an, voller Unverständnis. Er stand keuchend da , wischte sich über den Mund, was ihr einen Laut der Fassungslosigkeit entlockte.

„Was soll das? Wieso überfällst du mich aus heiterem Himmel?"

Es klang harscher als beabsichtigt und er sah, wie sie zusammenzuckte.

„Aber ich dachte du willst es auch! Wir sind doch ein Paar!"

Obwohl ihre Lippen zitterten, sprach sie voller Überzeugung, was Liam schier entsetzte. Er hatte ja gewusst, dass Tamara Gefühle für ihn hatte, doch dass sie soweit ging, zu glauben sie seien ein Paar...

„Tamara ich liebe dich, aber mehr wie eine Schwester. Ich habe..."

Er stockte, die Worte schienen in seiner Kehle festzustecken und ihn zu ersticken. Ihr verzweifelter Blick ruhte starr auf ihm, als wollte sie ihn keine Sekunde lang aus den Augen lassen, ganz so, als könne er sich jeden Moment in Luft auflösen. Tränen sammelten sich in ihren Augen, doch sie blinzelte nicht einmal.

Um sie nicht länger zu quälen, platzte Liam heraus.

„Ich habe dich nie geliebt!"

Ein Ruck ging durch ihren Körper, wie von einem Schlag.

„Was?"

Ihr Verstand weigerte sich, die Bedeutung dieser Worte zu begreifen. Vor ein paar Minuten noch war sie so glücklich gewesen, hatte die Wärme seines Körpers gespürt, das Schlagen seines Herzens gehört, von dem sie geglaubt hatte, es schlüge auch für sie. Und das alles sollte nur Schein gewesen sein? Nicht echt?

„Aber du hast nie etwas gesagt! Du warst immer so nett zu mir, hast mich beschützt und gesagt, ich sei dir wichtig!"

Ihre Stimme wurde mit jedem Wort lauter und verzweifelter und Schluchzen schüttelten sie. Es tat ihm in der Seele weh, sie so zu sehen, doch er musste es zu Ende bringen, jetzt.

„Ja und das stimmt auch alles. Nur habe ich das getan, weil wir Freunde sind und du mir ans Herz gewachsen bist."

Er konnte förmlich sehen, wie alle Hoffnung aus ihrem Blick verschwand und grausamer Erkenntnis Platz machte.

„Solche Gefühle habe ich nicht für dich. Es tut mir leid."

Liam's Stimme war kaum zu hören, doch Tamara schien sie verstanden zu haben, denn ihre Augen weiteten sich schockiert und das Schluchzen verstummte abrupt.

Auf einmal stürzte sie sich auf ihn, schlug wild mit den Fäusten auf ihn ein und schrie dabei vor Wut.

„Wie konntest du nur? All die Jahre hast du mit meinen Gefühlen gespielt, sie ohne Gegenleistung hingenommen als wären sie nichts!"

Ihre Nägel gruben sich in seine Wange und hinterließen brennende Spuren auf seiner Haut.

„Bitte, es tut mir leid! Beruhige dich!"

Hilflos ließ Liam die Schläge über sich ergehen, denn er hatte sie verdient. Es fiel ihm schwer, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Er zitterte, taumelte unter ihrer Raserei.

Ein Tritt gegen das Schienbein ließ ihn schmerzhaft auf keuchen, doch er wich nicht zurück.

Tamara's Haar peitschte wild umher und die rote Blüte löste sich und fiel ins Gras. Ihre Bewegungen verloren an Kraft, wurden langsamer und schließlich stand sie zitternd da, schwarze Mascara - Striemen und wirre Haarsträhnen im Gesicht.

„Weißt du wie das ist, jahrelang jemanden zu lieben und in dem Glauben gelassen zu werden, der andere empfinde genauso? Weißt du das?"

Ihre Stimme klang schrill in seinen Ohren und abermals traf ihn ein Tritt ans Schienbein. Er stolperte einige Schritte zurück, außerhalb ihrer Reichweite. Brüsk wandte sie ihm den Rücken zu und schlang die Arme um sich. Die Jacke hatte sie verloren und Liam ließ auf der Suche danach seine Blicke durch das Gras schweifen, nur um sich abzulenken.

Er fand das Kleidungsstück und wollte es ihr um die Schultern legen, doch sie wich seiner Berührung aus. 

„Fass mich nicht an! Ich bin doch bloß ein Witz für dich!"

 

 

Ihre Zurückweisung schmerzte, mehr, als er je für möglich gehalten hätte. Er hatte geglaubt, wenn er diese Konfrontation nur oft genug in seinen Gedanken abspielte, könne er sich gegen den Schmerz wappnen, doch er hatte sich geirrt. Es war weit schlimmer, als gedacht. Sie drohte ihm zu entgleiten und er konnte nur hilflos dabei zusehen.

„Ich will dich nicht verlieren!"

Wieder versuchte er sie zu berühren und schaffte es sogar, eine Hand auf ihre Schulter zu legen, doch sie schüttelte ihn ab mit den Worten:

„Es ist zu spät. Jetzt hast du mich verloren."

Liam konnte einfach nur dastehen, die Endgültigkeit ihrer Worte raubte ihm alle Kraft, doch er blieb wie durch ein Wunder aufrecht stehen, obwohl er sich fühlte wie eine leere Hülle. Regungslos stand er da und sah ihrer davon stolpernden Gestalt hinterher, obwohl alles in ihm danach schrie, ihr zu folgen und sie am Gehen zu hindern. Doch er rührte sich nicht, die Verzweiflung raubte ihm alle Energie.

Selbst als Tamara längst nicht mehr zu sehen war, blieb Liam an Ort und Stelle, bis sein schmerzendes Schienbein und die brennende Kratzspur auf seiner Wange ihn aus seiner Starre weckten. Und das erste was er tat, war, die rote Blüte, die aus Tamara's Haar gefallen war, aufzuheben und wie einen kostbaren Schatz an seine Brust zu drücken.

 

Mit schleppenden Schritten, als hingen schwere Ketten an seinen Knöcheln, kehrte Liam zur Party zurück, welche noch in vollem Gange war. Die dröhnende Musik und das Geplärre der Gäste zerrten an seinen Nerven und er brauchte dringend etwas zur Beruhigung. Er kramte in seinen Hosentaschen nach verbliebenen Schmerztabletten, doch er konnte keine finden. Frustriert raufte er sich die Haare, als sein Blick auf eine Flasche Sekt, die auf dem Buffet - Tisch stand, fiel.

Kurzerhand schnappte er sie sich und verkroch sich damit hinter einer hohen, blickdichten Hecke. Während er trank, schimpfte er sich einen hirnlosen, hundsgemeinen, rückgratlosen Idioten und bei jedem dieser Worte nahm er einen großen Schluck aus der Flasche.

Eine Stunde verging, der Sekt war schnell geleert. Es wurde merklich kühler, die ersten Feiernden zogen sich ins Hausinnere zurück, doch Liam war es gleichgültig. Benebelt vom Alkohol saß er da und versank in Selbstmitleid. Irgendwann überfiel ihn Müdigkeit, er legte sich ins kalte Gras und schloss die Augen. Nur nichts mehr sehen, nichts mehr hören. Er war nicht hier, er wollte gar nicht hier sein... Lautes Rufen riss ihn aus seinem unruhigen Schlaf.

„Liam! Wo steckst du? Es ist arschkalt hier draußen!"

Das war Thomas' Stimme. „Komm rein, sonst erfrierst du uns noch!"

Liam stellte fest, dass ihm gar nicht kalt war, der Alkohol wärmte ihn von innen heraus. Er setzte sich auf und haderte mit sich, ob er sich den anderen zeigen sollte oder nicht. Wieder erklang das Rufen und er merkte, welche Sorgen er seinen Freunden bereitete, also stemmte er sich unbeholfen auf die Füße und taumelte kichernd hinter der Hecke hervor.

„Hier bin ich!"

Liam winkte wild mit den Armen und grinste so breit, dass es schmerzte.

„Mann Li, jag uns doch nicht so einen Schrecken ein!"

Der amüsierte Ausdruck auf den Gesichtern erstarb, als sie ihren Freund näher betrachteten.

„Was ist denn mit dir passiert? Wurdest du überfallen, oder was?"

Liam kicherte abermals und gluckste:

„Ja ich wurde überfallen von Tamara und dann..."

Als hätte sich plötzlich ein Schalter umgelegt, strömten die Tränen seine Wangen hinab. Hilflos sahen die vier zu, wie der Schmerz ihn übermannte, bis schließlich Niklas zu ihm trat und den Arm um ihn legte. Er war erschüttert seinen besten Freund so zu sehen, zitternd, hilflos und voller Pein.

Doch seine Miene blieb unbewegt, als er sagte:

„Ich bringe ihn rein und kümmere mich um ihn. Es wäre nett, wenn ihr uns dabei nicht stören würdet." 

Thomas, Kilian und Fabian nickten bedrückt.

„Es wird alles wieder gut Li, du wirst sehen", versuchte Fabian Liam aufzumuntern, doch der schüttelte nur schniefend den Kopf und sank noch mehr in sich zusammen.

„Gott, Liam“, murmelte Kilian bestürzt und streckte eine Hand aus, als wolle er ihn berühren, ließ sie aber gleich wieder sinken, da er wusste, dass er hier nicht helfen konnte.

Stumm betraten die drei das Haus, Niklas folgte langsam, Liam neben sich stützend. Der Weinkrampf hatte nachgelassen nur noch erschöpft stolperte er vor sich her, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Niklas hatte alle Mühe, sich seine Erschrockenheit nicht anmerken zu lassen und selbst ebenfalls nicht die Fassung zu verlieren. Sie erreichten die Terrassentür und da ließen Liam's Kräfte endgültig nach und er sackte ächzend zusammen. Niklas fluchte unterdrückt und half seinem Freund, sich hinzusetzen.

„Ich hole eine Decke. Bin gleich wieder da."

So schnell er konnte ging er ins Haus und kehrte mit einer Decke zurück. Zu seiner Erleichterung saß Liam noch immer da und war nicht, wie er befürchtet hatte, aufgestanden und gegangen. Behutsam, um ihn nicht zu erschrecken, legte er ihm die Decke um und setzte sich neben ihn. Es herrschte eine zeit lang Schweigen, bis Liam mit krächzender Stimme sagte:

„Ich habe sie verloren."

Niklas blickte alarmiert auf.

„Tamara?"

„Sie hasst mich."

Tonlos klangen die Worte und doch wie ein Schrei.

„Wie hat sie reagiert?", hakte der Rotschopf behutsam nach.

Stockend erzählte Liam von den Ereignissen und in seiner Stimme klang deutlich die Fassungslosigkeit des Augenblicks mit.

„Sie hat selbst gesagt, dass ich sie verloren habe. Sie will mich bestimmt nie wieder sehen!"

Niklas wusste, dass er nichts versprechen konnte, doch er wollte seinen Freund irgendwie trösten, also sagte er:

„Ich werde mit ihr reden. Sie beruhigt sich wieder. Es wird dauern, aber sie kommt darüber hinweg..."

Ein gefühlter Felsbrocken fiel von seinem Herzen, als er Liam's zaghaftes Nicken sah.

„Möchtest du etwas essen? Du hast während der ganzen Party nichts gegessen", wechselte er das Thema.

Liam schüttelte den Kopf.

„Hast du heute überhaupt schon etwas gegessen?"

Wieder ein Kopfschütteln.

„Und da betrinkst du dich auf leeren Magen? Wenn das mal gut geht..."

Plötzlich erschien ein kleines Lächeln auf dem bleichen Gesicht und er wandte es dem Rothaarigen zu, als er sagte:

„Danke."

Ohne den Gedanken klar gedacht zu haben, beugte Liam sich vor und presste seine Lippen gegen die von Niklas. Halt suchend klammerte er sich an dessen Schultern fest, während ein wildes Chaos an Empfindungen ihn überrollte: Aufregung, Fassungslosigkeit, Glück, Benommenheit... doch die Stärkste unter ihnen war Erregung. Wie ein Feuer wütete sie durch seinen Körper, ließ sein Blut kochen und sammelte sich glühend in seinen Lenden. Bei Tamara's Kuss und Berührung hatte er nichts dergleichen empfunden. Es ließ sich in etwa mit einer Lava - Lampe und einem Vulkan vergleichen.

Mutig geworden, ließ Liam seine Zunge über die Lippen des Rothaarigen wandern und als dieser seinen Mund öffnete und sie einließ, gab es für ihn kein Halten mehr.

„Niklas!“, stöhnte er und legte all seine Sehnsucht in den Kuss hinein. Mit der Zunge kostete er Niklas' Geschmack und erforschte die heiße Mundhöhle genüsslich, als gäbe es nichts Schöneres, nichts Wichtigeres auf der Welt...

Irgendwann spürte er, wie er sanft zurückgedrängt wurde und ihre Lippen sich trennten. Keuchend kniete Liam da und spürte deutlich seine Erregung im Schritt. Die Decke war von seinen Schultern geglitten und lag in seinem Schoß, doch ihm war nicht kalt, nein, ihm war siedend heiß.

Er hatte die Augen geschlossen, er wagte es nicht seinem Gegenüber in die Augen zu sehen. Sein keuchender Atem verklang und angespannt saß er da, bis er es schließlich nicht mehr aushielt und die Lider hob.

Niklas blickte ihn direkt an und in seinem Blick lagen Reue und... Mitleid.

Liam wurde plötzlich eiskalt und das Zittern kehrte zurück.

„Ich wollte nicht... Es kam einfach so über mich..."

Er rang hilflos die Hände , Niklas aber schüttelte zu seiner Verblüffung den Kopf.

„Es ist okay. Ich nehme es dir nicht übel."

Doch der reuevolle, mitleidige Blick blieb. Nun war Liam vollkommen verwirrt.

„Okay? Es ist in Ordnung? Aber warum..."

Seine Gefühle schwankten zwischen Freude und Zweifel und der Blick seines Freundes verursachte ihm Übelkeit.

Niklas wandte den Blick ab und seufzte schwer. Die braunen Augen blickten zum Sternenhimmel empor, der Lichtschein der Lampions ließ das Haar wie Feuer glühen und die Gesichtszüge weicher erscheinen.

 

„Du magst mich, stimmt's?"

So wie er das sagte, klang es wie eine simple Feststellung ohne tiefere Bedeutung. Liam schluckte hart, die Worte wollten nicht so recht heraus.

„Ja... i-ich sehr sogar", stieß er schließlich hervor und hielt den Atem an. Noch immer hielt der Rothaarige sein Gesicht abgewandt.

„Du magst mich also sehr gern."

Plötzlich richtete sich sein Blick wieder auf Liam, der zitternd und blass dasaß und zu Boden sah.

„Wie lange?"

Sein Kopf fuhr hoch, er wollte antworten, doch etwas hielt ihn zurück. Er merkte plötzlich, dass er sich gar nicht so sicher war, seit wann er mehr für Niklas empfand als nur Freundschaft. Gut, diese starken Gefühle spürte er erst seit kurzem, aber wenn er genauer darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass er bereits seit ihrem Kennenlernen eine gewisse Zuneigung für Niklas empfunden hatte und zwar eine ganz andere, als die zu Tamara. Für ihn war Niklas kein großer Bruder, sondern ein Vorbild, sein Fels in der Brandung, sein Halt und ein Gefährte, der mit ihm Freud und Leid teilte.

„Ich weiß es nicht“, gab Liam schließlich unsicher zu, seine Finger rieben hektisch an dem Fleck auf seiner Hose herum, als könne er dadurch eine Antwort finden. Der Rothaarige wandte sich ihm wieder voll zu.

„Du hast nie etwas gesagt. Ich habe es auch erst jetzt an deinem Verhalten bemerkt."

 

 

Er schwieg ein Weile mit nachdenklicher Miene, dann fragte er leise:

„Du sagst, du weißt nicht genau, seit wann du...mehr für mich empfindest, aber dass du auf Männer stehst, das hast du doch wohl eher gewusst, oder?"

Liam's Gesicht wurde feuerrot und der pure Schock stand darin geschrieben. Niklas brach daraufhin in lautes Gelächter aus, was Liam's Nervosität und Scham nicht gerade minderte.

„Meine Güte Liam, du willst mir doch nicht im Ernst sagen, dass du bis jetzt gemerkt hast, dass du schwul bist?", japste er und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Diese Worte so harmlos sie auch klangen, trafen Liam mit einer Wucht, dass ihm schwindelig wurde und er musste sich mit den Händen am Boden abstützen, um nicht haltlos umzukippen.

 

Niklas' Lachen verstummte und besorgt streckte er die Hände aus, um ihn zu stützen, doch Liam umschloss sie mit seiner eigenen, schlang die Finger fest darum und drückte sie an seine Brust.

„I-Ist es so wichtig, seit wann ich so empfinde? Tatsache ist, du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf, deine Nähe bereitet mir Herzklopfen. Ich sehne mich danach...dich zu berühren."

Er neigte den Kopf und näherte sein Gesicht dem des Rotschopfs für einen weiteren Kuss. Niklas jedoch wandte den Kopf zur Seite und entzog Liam sanft, aber bestimmt seine Hände.

„Liam du vergisst bei dem Ganzen nur leider etwas Entscheidendes."

Liam's Blick wanderte verwirrt über Niklas' Gesicht, versuchte daraus die nächsten Worte zu deuten.

Sein Freund schloss die Augen und sein Gesichtsausdruck wirkte gequält. Seine Stimme zitterte leicht, als er sprach.

„Ich bin nicht schwul. Ich kann so nicht mit dir zusammen sein."

Ein schmerzhafter Stich fuhr durch Liam's Brust und er schnappte nach Luft, als wäre er am Ersticken. Das konnte doch nicht sein! Das durfte nicht sein! Endlich hatte er es zustande gebracht, seinem besten Freund seine Gefühle zu gestehen und dieser machte all seine Hoffnungen mit diesem einfachen Satz zunichte, wertlos, bedeutungslos.

Voller Entsetzen realisierte er, dass diese Worte und Situation seinem Gespräch mit Tamara erschreckend ähnlich waren. Es war zum Lachen und doch war ihm nach Weinen zumute. Nachdem der Schmerz etwas nachgelassen hatte, kam die Verzweiflung.

„Aber der Kuss eben... du hast es zugelassen!"

Zum gefühlten zehnten Mal an diesem Abend rannen ihm die Tränen über das Gesicht; er konnte einfach nichts dagegen tun.

„Es war so schön! So etwas habe ich noch nie gefühlt!"

Niklas' Schmerz war deutlich sichtbar, doch er sagte nichts, auch keine Worte des Trosts oder des Mitleids.

 

„Du hast immer solche Andeutungen gemacht und mich geneckt...", schniefte Liam und wischte sich ärgerlich über das Gesicht. Seine Stimme nahm einen ärgerlichen Unterton als er fragte:

„Hast du dich nur über mich lustig gemacht?"

Niklas' Antwort kam mit ernster und fester Stimme:

„Nein, ich wollte dir nur ein wenig auf die Sprünge helfen. Auch mit dem Kuss. Jetzt weißt du, wie es um dich steht."

Er lächelte entschuldigend, Liam starrte ihn ungläubig an.

„Soll mich das jetzt trösten?"

Der Rotschopf erhob sich von seinem Sitzplatz, griff hinter ihm nach der Decke und legte ihm diese wieder um. Liam klammerte sich halt suchend daran, blickte aus rotgeweinten Augen zu ihm auf, erschöpft und flehend.

„Wir könnten es ja miteinander versuchen. Ich habe ja auch nicht gleich gemerkt was los ist... also mit der Zeit könnte es doch klappen..."

Seine Worte überschlugen sich und er brach hilflos ab. Niklas hielt seinem Blick stand und holte tief Luft, für das, was er gleich sagen würde.

„Das wird nicht funktionieren. Ich bin nicht schwul und ich liebe dich nicht. Alles, was ich getan habe war völlig unverbindlich, so leid es mir auch tut."

Er drehte sich abrupt um, wandte ihm bewusst den Rücken zu.

„Es wäre besser, wenn wir vorübergehend den Kontakt zueinander abbrechen..."

Plötzlich spürte er, wie sich Liam's glühend heißer Körper an ihn presste und zitternde Arme ihn fest umschlangen.

„Liam bitte."

Niklas rang um Beherrschung.

„Auch wenn wir Abstand voneinander nehmen, heißt das nicht, dass ich dich nicht mag. Du bleibst immer noch mein bester Freund, okay?"

Sanft, aber bestimmt löste er den Griff um seine Taille.

„Wir sehen uns, wenn es vorbei ist."

In Liam's Ohren klang dieser Satz, als wäre seine Liebe nur eine Phase, ein Hindernis, das es zu überwinden galt. Die Kraft, die ihm die Verzweiflung eben noch verliehen hatte, zog ihn nun mit einem tonnenschweren Gewicht hinab.

Er sank vornüber und hatte plötzlich Mühe zu atmen. Die Dielen des Terrassenbodens verschwammen und schwankten vor seinen Augen. Eine eisige Kälte kroch in seine Glieder und sein Kopf fühlte sich an wie in dichten Nebel gehüllt. Niklas ging in die Knie und packte ihn besorgt an der Schulter.

„Soll ich dir rein helfen? Willst du dich hinlegen?"

Liam stöhnte nur und sank gegen den Rothaarigen. Keuchend holte er Atem und kalter Schweiß tränkte sein Hemd. Niklas rätselte, was plötzlich mit ihm los war und machte sich Vorwürfe. War er zu direkt, gewesen, zu grob? War er Schuld an Liam's Zustand?

„Soll ich dir etwas zu trinken holen?"

Er schaffte es nicht, die wachsende Panik in seiner Stimme zu verbergen und nur zögerlich, aus Angst, etwas falsch zu machen, strich er seinem Freund über den Rücken. Liam versuchte, sich etwas aufzurichten, doch da fuhr ein stechender Schmerz durch seinen Magen.

Ein Keuchen entfuhr ihm, seine Finger bohrten sich in Niklas' Schultern und der Rotschopf spürte, wie der Körper verkrampfte. Auf einmal beugte Liam sich nach vorn über seine Schulter und erbrach sich heftig. Niklas zuckte erschrocken zusammen, hielt ihn jedoch weiterhin fest und strich unaufhörlich über seinen Rücken.

Das Würgen und die Krämpfe schienen kein Ende zu nehmen und als es schließlich vorbei war, war nicht nur Liam in Schweiß gebadet.

Niklas lockerte seine verkrampften Arme, griff jedoch wieder fest zu, als Liam zusammen sackte. Seine Brust hob und senkte sich in raschen Stößen und seine Glieder wurden wild durchgeschüttelt.

„Du hättest besser die Finger vom Alkohol gelassen“, bemerkte Niklas zittrig, nur um etwas zu sagen, doch Liam stieß nur ein gequältes Stöhnen aus.

„Wir sollten einen Arzt holen oder noch besser gleich in ein Krankenhaus..."

„Nein!", krächzte Liam.

„Es geht gleich wieder."

Wie um seine Worte Lügen zu strafen, packte ihn abermals das Würgen, doch es kam nichts heraus. Niklas haderte mit sich, ob er dem Flehen seines Freundes nachgeben, oder ob er es ignorieren und doch einen Arzt holen sollte. Nach einigem Hin und Her entschied er sich doch dagegen einen Krankenwagen zu rufen, zumindest vorerst.

„Na gut, kein Krankenwagen, aber nur, wenn es nicht schlimmer wird."

Ein schwaches Nicken war die Erwiderung.

„Aber du musst trotzdem hinein. Es ist kühl hier draußen", entschied er und rief Kilian auf seinem Handy an. Kurze Zeit später erschienen er, sein Bruder und Fabian auf der Terrasse und erfassten die Situation mit einem Blick.

Fabian und Thomas machte sich daran, Liam ins Hausinnere zu bringen, während Kilian Niklas bat:

„Kümmere du dich um Tamara. Sie hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und heult sich die Augen aus dem Kopf. Wir haben ihren Geburtstag wohl gründlich vermiest."

Der Rotschopf warf einen letzten besorgten Blick zu Liam, der kaum aufrecht stehen konnte und von seinen beiden Freunden gestützt wurde, nickte und betrat das Haus.









Kapitel 5

Liam war unendlich erleichtert, als er, in eine warme Decke gewickelt, auf dem Sofa im Wohnraum des Hauses lag. Sein Kopf schmerzte, so wie sein noch immer unruhiger Magen. Seine Kehle brannte und ein bitterer Geschmack bedeckte seine Zunge. Mit geschlossenen Augen lag er da, spürte die Kratzspuren im Gesicht brennen und seine Glieder heftig zittern. Er zog die Knie eng an den Körper, umschlang sie mit den Armen, um sich so klein wie möglich zu machen und versuchte an nichts zu denken. Doch es fiel ihm schwer und sein Körper erinnerte ihn nur schmerzhaft an die vergangenen drei Stunden. Es brauchte all seine verbliebene Kraft, um nicht schon wieder in Tränen auszubrechen. Um sich abzulenken, lauschte er den Stimmen seiner Freunde, die sich leise im Nebenraum unterhielten. Sie glaubten, er schliefe und er wollte, dass das noch eine Weile so blieb.
 

  Also verharrte Liam still und kämpfte mit seinen Emotionen. Wie ein Sturm brausten Bilder von Tamara durch seinen Kopf, ihr fröhliches Lachen, die strahlenden Augen, das tränennasse Gesicht, der wütende und verletzte Blick... Es schnürte ihm die Kehle zu und er hatte Mühe, keinen Laut von sich zu geben. Vorwürfe und Zweifel plagten ihn, bis er sich selbst dazu drängte, an etwas anderes zu denken.
Doch dieses „andere“ das Liam in den Sinn kam, war ausgerechnet Niklas und der ließ sich einfach nicht aus seinen Gedanken vertreiben. Unwillkürlich dachte er an ihren Kuss, glaubte ihn wieder auf der Zunge zu spüren, die Hitze, das Spiel ihrer Zungen...

 

Liam's Unterleib begann zu pochen, sein Herz hämmerte wild und sein Atem beschleunigte sich. Mit glühenden Wangen lag er da und konnte nicht verhindern, dass seine Fantasie mit ihm durchging. In seiner Vorstellung beugte sich Niklas über ihn, küsste sich an seinem Hals entlang, während seine Hände unter sein T-Shirt glitten, die Haut sanft liebkosten. Liam keuchte leise auf und lauschte erschrocken, ob jemand im Nebenraum etwas gehört hatte, doch das Stimmengewirr war weiterhin zu hören und erleichtert gab er sich wieder seiner Fantasie hin. Nun war sein Oberkörper nackt und Niklas' heiße, etwas raue Lippen wanderten über seine Haut, knabberten daran. Liam wand sich unruhig unter der Decke, rieb seine Erregung am Sofapolster und bemühte sich, nicht zu laut zu atmen. Er lauschte, doch aus dem Nebenzimmer war nichts mehr zu hören. Er war allein.
 

  Ohne weiter darüber nachzudenken, öffnete er seine Hose, zog die Boxershorts ein Stück hinunter und umschloss sein pochendes Glied. Ein Seufzer entfuhr ihm und ein angenehmes Kribbeln durchlief seinen Unterleib. Mit langsamen Strichen stimulierte er sich weiter, verstärkte seinen Griff und stöhnte. In seiner Vorstellung küsste Niklas ihn leidenschaftlich, bis ihre Münder voll mit Speichel waren und packte gierig seinen Hintern, hob sein Becken an und rieb sich genüsslich an ihm.
Liam wimmerte und keuchte abwechselnd, ließ seine Bewegungen an Schnelligkeit und Intensität zunehmen.

 

Mit dem Daumen rieb er über seine Eichel, bis feuchte Tropfen hervorquollen und zuckte vor Erregung. Als er seinen nahenden Orgasmus spürte ließ er alle Hemmungen fallen. Ungeduldig strampelte er die Decke weg, kniete sich auf das Polster und pumpte mit heftigen Strichen sein Glied. Liam's Kopf fiel in den Nacken, als der Orgasmus ihn überrollte und er dämpfte seinen Schrei, indem er einen Arm auf den Mund presste. Heiß quoll das Sperma über seine Finger und sein Körper bebte. Keuchend starrte er die weiße Substanz an und fragte sich verwundert und beschämt zugleich, wie er sich nur so schamlos gehen lassen konnte, nachdem seine beste Freundin und sein bester Freund ihm heute eine Abfuhr erteilt und sich von ihm abgewandt hatten. Ihm war gleichzeitig nach Lachen und Weinen zumute und sein Körper entschied sich für Letzteres.
Hörte das Weinen denn nie auf?

 

Nachdem Liam sich wieder beruhigt hatte, machte er sich auf den Weg zum Badezimmer, auf halbem Weg jedoch wurde ihm plötzlich schwindelig und die Übelkeit kehrte schlagartig zurück. Sich an der Wand abstützend, eilte er ins Bad, schaffte es gerade noch rechtzeitig, bevor das Würgen ihn wieder packte. Doch es kam nichts. Ein schmerzhaftes Pochen zog durch seinen Magen und mit einer Grimasse presste er eine Hand darauf. Zu dem unangenehmen Pulsieren gesellte sich ein Gefühl der Leere und ihm fiel ein, dass er kaum etwas gegessen hatte. Doch bei der Übelkeit, die ihn plagte, glaubte er nicht, überhaupt einen Bissen hinunter zu bekommen. Im Moment war Essen unwichtig, eine Banalität. Das Gefühlschaos in ihm forderte all seine Aufmerksamkeit und zehrte an seinen Kräften. Liam's benebelte Gedanken drehten sich wie ein wildes Karussell und er wünschte sich, es abstellen, die Worte und Bilder in seinem Kopf einfach abschalten zu können.

 

 

Ihre Brust schmerzte, das Atmen war eine Qual und die Tränen hörten nicht auf zu fließen. Es tat so weh, als würde sie innerlich zerrissen und sie glaubte, nie wieder aufhören zu können. Es hatte so schön angefangen, die Freude Liam zu sehen, das Geschenk und der Tanz hatten ihr Herz zum Rasen gebracht und ihre Wangen vor Glück glühen lassen. Sie hatte sich besonders gefühlt, bewundert und wunderschön.
Sie hatte ihre Gefühle offenbart, ihre Seele freigelegt, die aber gnadenlos zerschmettert worden war. Von einem Moment auf den anderen war ihr Glück nicht mehr als eine Lüge, ein Jahre währendes Schauspiel, in dem sie die Närrin spielte, ohne es zu wissen. Oh ja, genauso kam sie sich nämlich vor, wie die größte Närrin auf Erden.

 

Wütend auf sich selbst schlug Tamara mit der Faust auf ihr durchnässtes Kopfkissen ein, bis ein Klopfen an der Tür sie inne halten ließ. Schniefend richtete sie sich auf und fragte mit krächzender Stimme:
   „Wer ist da? Was willst du?“
   „Niklas. Mach bitte die Tür auf.“
Sie zögerte kurz, erhob sich dann doch und öffnete die Tür.
   „Hey, ich hab mir Sorgen um dich gemacht und wollte nach dem Rechten sehen...“
Tamara schluchzte auf und warf sich dem Rotschopf in die Arme. Bebend klammerte sie sich an ihm fest und vergrub ihr gerötetes, mit schwarzen Striemen verschmiertes Gesicht an seiner Brust. Sanft schlang er seine Arme um sie und stützte sein Kinn auf ihrem blonden Haarschopf ab. „Ich bin ja da, weine nicht. Es ist schließlich dein Geburtstag."

 

Sie löste sich aus seinen Armen und entgegnete ärgerlich: „ Toller Geburtstag! Warum... warum heute? Wenn er es mir ein andermal...“ Niklas unterbrach sie mit einem Kopfschütteln. „Das hätte an der Situation nichts geändert. Deine Reaktion wäre dieselbe gewesen“, warf der Rotschopf ein und er sah in ihren Augen, dass sie ihm insgeheim Recht gab, nur es zuzugeben fiel ihr schwer.
   „Trotzdem... ich war so glücklich u-und ich hatte gehofft die Worte zu hören, nach denen ich mich schon so lange gesehnt habe...“
Tamara kämpfte gegen die Tränen an. Niklas zog sie sanft zum Bett und setzte sich neben sie. Er nahm ihre kalte Hand in seine und lächelte traurig.


   „Ich weiß ja, dass dich das schwer getroffen hat, doch Liam ist es alles andere als leicht gefallen.“
  „Jetzt verteidigst du ihn auch noch!“, beschwerte Tamara sich und zog ihre Hand beleidigt zurück. Er seufzte; er kannte diese trotzige Seite an ihr nur zu gut.
  „Ich versuche lediglich seinen Standpunkt klarzustellen. Also würdest du mir kurz zuhören?“
Sie sah die Bitte in seinem Blick und gab, wenn auch etwas widerwillig, nach.
   „Zuerst einmal bin ich schuld daran, dass er es dir heute gesagt hat. Ich habe ihn unter Druck gesetzt. Also müsstest du fairerweise auch auf mich sauer sein.“
Sie erwiderte nichts, zupfte stattdessen an ihrem Kleid herum. Er seufzte innerlich und nahm abermals ihre Hand.
  

„Ich kann dir versichern, dass dieses Geständnis an dich, ihn sehr viel Überwindung gekostet hat und eine der schwersten Entscheidungen seit langem für ihn war. Denn er wollte dich auf keinen Fall verletzen.“
Seine braunen Augen sahen sie ernst an, mit einer Intensität, die es ihr schwer machte, noch länger zu schweigen und ihrem Trotz nachzugeben. Trauer stand in ihren Augen, als sie leise sagte: „Das hat er aber.“
Niklas' Blick wurde weich und seine Finger streichelten sanft ihre Haut.
  „Ich weiß, aber er hat erkannt, dass er dir nur noch mehr wehtut, wenn er dich weiterhin in dem Glauben lässt, er würde dich ebenfalls lieben.“
 

Sie biss sich auf die Unterlippe und ein nachdenklicher Ausdruck trat auf ihr Gesicht.
Der Rothaarige streichelte weiterhin ihre Hand und während er auf ihre Erwiderung wartete, sah er sich in ihrem Zimmer um, das ihm so vertraut geworden war wie sein eigenes. Die Pferdeposter an den Wänden und die Fotografien des Reitstalls, von Turnieren und der Familie, wärmten immer noch sein Herz und erweckten lebhafte Erinnerungen. Dort stand der TV-Schrank, davor der Couchtisch. Der Schminktisch und der Kleiderschrank gegenüber nahmen den meisten Platz ein. Auf dem Regalbrett über dem Bett funkelten einige Pokale und Schleifen vergangener Reitturniere und voller Zuneigung dachte er an all die Male, in denen Tamara freudestrahlend ihre Siege mit ihnen geteilt und gefeiert, aber auch an die Niederlagen, die sie beweint hatte.

 

Er verlor sich in Erinnerungen, bis Tamara's leises Räuspern ihn in die Realität zurückholte.
   „Es tut aber trotzdem verdammt weh. Und ich weiß nicht ob...“
Ihre Stimme zitterte leicht und es fiel ihr sichtlich schwer, den Satz zu beenden. „Du weißt nicht, ob du ihm vergeben kannst“, fuhr Niklas fort und drückte mitfühlend ihre Hand. Sie nickte mit zusammen gepressten Lippen und er spürte deutlich wie sie mit sich kämpfte. „Du wirst sicher eine zeit lang brauchen bis der Schmerz soweit nachgelassen hat, dass du Liam wieder vertrauen kannst. Aber du hasst ihn nicht, stimmt's?“

Ihr Blick huschte irritiert zu ihm, bis Erkennen in ihre grünen Augen trat. Ihr Mund öffnete sich, doch es kam kein Ton heraus, stattdessen nickte sich einfach. Ihre Lippen verzogen sich plötzlich zu einem leichten Lächeln.
   „Nein, ich hasse ihn nicht.“

Auf einmal bebten ihre Schultern wieder und eine Träne perlte ihre Wange hinab.

 

Ihr Gesicht verzog sich schmerzvoll.
   „Aber ich will ihn einfach für eine Weile nicht sehen.“ Anstelle einer Erwiderung nahm Niklas sie wieder in die Arme, nur hielt er sie dieses Mal ganz fest, als wolle er all die schlechten Gefühle aus ihr herauspressen und seine eigenen auf sie übergehen lassen.
   „Weine nicht“, wisperte er in ihr Haar und streichelte ihren bebenden Rücken.

Liam schaffte es einigermaßen die Übelkeit nieder zu ringen und erleichtert sank er gegen die geflieste Wand. Er fühlte sich miserabel. Körperlich sowie seelisch und er wollte einfach nur weg von hier. Doch nachhause zu gehen erschien ihm noch schlimmer und verzweifelt fragte er sich, wo er die Nacht verbringen sollte.

 

Er seufzte schwer und wollte gerade das Badezimmer verlassen, als die Tür sich öffnete und er sich plötzlich Tamara gegenübersah, die stocksteif dastand und sich sichtlich unwohl fühlte. Sofort wendete sie den Blick ab, ihre Hand umklammerte fest den Türgriff und das Armkettchen schwang leicht hin und her. Liam starrte sie einfach nur an, ihr zierlicher Körper in dem funkelnden Kleid, das wirre Haar, der verhärtete Gesichtsausdruck ließen sein Herz schmerzen. Beide schwiegen, eine unangenehme Spannung baute sich auf und Liam meinte beinahe so etwas wie eine unsichtbare Wand zwischen sich zu spüren. Es drängte ihn, diese Stille, diese Mauer zu durchbrechen, doch er schwieg, hilflos und kraftlos. Schließlich hielt er es nicht mehr aus.
   „Es tut mir leid.“

 

Keine noch so kleine Regung zeigte sich auf ihrem Gesicht, überhaupt verharrte ihr ganzer Körper in einer steifen, abweisenden Haltung, als fürchte sie bei der kleinsten Bewegung zu zerbrechen. Die Hilflosigkeit drohte ihn zu ersticken und sein Kopf schwirrte vor lauter Worten, die er ihr sagen wollte, von denen er aber wusste, dass sie im Moment auf Taube Ohren stoßen würden.
   „Lass mich bitte durch“, erklang ihre raue Stimme und obwohl sie leise sprach, klang es überlaut in Liam's Ohren. Unbeholfen trat er beiseite und sein Blick verfolgte, wie sie ans Waschbecken trat und sich das Gesicht zu waschen begann.

 

Wieder herrschte drückendes Schweigen und Liam überlegte verzweifelt, wie er die Situation entschärfen sollte, bis Tamara das Gesicht hob und ihre Blicke sich im Spiegel trafen. Er versuchte, sich zu beherrschen, doch es brach einfach aus ihm heraus, auch wenn er wusste, dass er es nicht tun sollte. Er prustete los und brach dann in Gelächter aus. Durch seine tränenden Augen sah er Tamara's perplexes Gesicht, mit den schwarz verschmierten Augen und den Schlieren auf der Haut. Empört fuhr sie zu ihm herum und fauchte ihn an.
   „Hör auf dich über mich lustig zu machen!“
Liam wischte sich die Tränen aus den Augen und japste nach Luft.
   „Du hast dich in all den Jahren nicht verändert. Du bist immer noch dasselbe trotzige und aufbrausende Mädchen, das ich kenne.“
Er lachte abermals nur um einiges leiser, ein sanftes Lachen, in dem Zärtlichkeit mitschwang. Tamara presste verärgert die Lippen zusammen und verschränkte abweisend die Arme, ihr Blick war von ihm angewandt.
   „Pandabärchen“, murmelte Liam sanft und ihr Gesicht färbte sich rot, ob vor Wut oder aus Verlegenheit, konnte er nicht sagen. Ohne ein weiteres Wort eilte sie aus dem Badezimmer und Liam schalt sich einen hirnlosen Idioten. Heute ging aber auch alles schief...

 

Erschöpft schlurfte er hinaus, durch den Flur und auf die Haustür zu. Er wollte sie gerade öffnen, als Schritte hinter ihm erklangen. Thomas, Kilian und Fabian standen auf einmal da. Fabian, der sonst immer die Truppe mit seinen Späßen und Albernheiten bei guter Laune hielt, rieb sich verlegen den Hinterkopf und wusste nicht was er sagen sollte. Thomas hielt Liam's teilnahmslosen Blick stand und schaffte es sogar zu lächeln, auch wenn es etwas mitleidig ausfiel. Kilian's Blick zeigte Entschlossenheit. Er ergriff als Erster das Wort.
   „Was soll das bitte werden?“

 

Liam runzelte die Stirn, blickte verwirrt auf seine Hand, die die Türklinke noch immer umschlossen hielt und wieder zurück in Kilian's Gesicht.
   „Ich gehe. Ich kann hier nicht länger bleiben.“ Fabian zuckte leicht zusammen, als er den Schmerz und die Verbitterung in Liam's Stimme hörte.
   „Wo willst du denn ganz allein hin in deinem Zustand?“ Die anderen beiden nickten zustimmend und warteten auf eine Reaktion. Liam's herabhängende Schultern, die geballten Fäuste und der mutlose Blick zeigte deutlich wie unsicher und verloren er sich fühlte.
   „Ich weiß nicht“, gab er leise zu und lehnte sich schwer gegen die Tür, als hätten ihn sämtliche Kräfte verlassen. Plötzlich hellte Fabian's Miene sich wieder auf und er lächelte.
   „Du kannst doch mit zu einem von uns kommen, wenn du nicht nachhause willst! Stimmt's Leute?“
   „Klar, du bist immer willkommen“, nahm Thomas den Vorschlag seines Freundes eifrig auf und auch Kilian gab seine Zustimmung. Liam war für einige Sekunden baff, dann erschien ein zaghaftes Lächeln in seinem blassen Gesicht. 

„Ihr seid echt super Jungs, wisst ihr das?“

 

Seine Stimme schwankte verdächtig, doch es war ihm egal. Sollten seine Freunde ruhig merken, wie gerührt er über ihre Sorge um ihn und ihre Kameradschaftlichkeit war. Die drei grinsten erleichtert und gesellten sich zu ihm, um ihm aufmunternd auf die Schulter zu klopfen und durch sein Haar zu wuscheln. Tiefe Dankbarkeit erfüllte ihn und das Gefühl ganz allein zu sein, ließ etwas nach.
   „So jetzt musst du nur noch entscheiden zu wem du gehen willst. Zu mir“, Fabian deutete mit dem Daumen hinter sich, „oder zu den beiden Chaoten da.“
   „Wen nennst du hier Chaot?“, verteidigte Thomas sich lahm, denn ganz Unrecht hatte der Blondschopf ja nicht.
  

„Na euch, oder wie würdest du es sonst nennen, wenn die Zimmer aussehen, als sei eine wilde Horde Affen durchs Haus geturnt und man sich fast den Hals bricht, wenn man in ein anderes Zimmer gehen will?“, rieb er den Brüdern unter die Nase. Thomas suchte empört nach Worten, während sein Bruder gelassen erwiderte:       

„Das Genie beherrscht das Chaos.“
Liam brach bei Kilian's stoischer Miene in Kichern aus und froh über den Stimmungsumschwung ihres Freundes, setzten die drei ihr Spiel fort. Fabian legte vertraulich einen Arm um Liam's Schultern und wisperte verschwörerisch.
   „Also bei mir brichst du dir nicht den Hals und außerdem habe ich eine Playstation 4, nigelnagelneu, im Wohnzimmer stehen, die nur darauf wartet, eingeweiht zu werden.“

 

Er wackelte dazu lustig mit den Augenbrauen und Liam lachte laut auf. Seine Freunde fielen mit ein und nachdem der Lachanfall sich gelegt hatte, fühlten sie sich angenehm befreit. Liam rang nach Luft und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, wie schon zuvor bei Tamara. Erwartungsvolle Blicke lagen auf ihm und er überlegte nicht lange, bevor er grinsend mitteilte:
   „Es wird Fabian's Wohnung und wir gehen alle zusammen.“
Sein Vorschlag löste begeisterte Jubelrufe aus und sie machten sich zum Aufbruch bereit, als Thomas plötzlich etwas einfiel.
  

„Und was ist mit Tamara und Niklas? Sie sollten auch...“
Ein Rippenstoß von Kilian brachte ihn zum Schweigen und er murmelte hastig eine Entschuldigung, als er Liam's betrübte Miene bemerkte.
   „Aber sollten wir uns nicht zumindest verabschieden? Einfach so zu gehen wäre doch unhöflich“, wandte er vorsichtig ein und die anderen beiden nickten zustimmend.
   „Du kommst nicht mit, nehme ich an?“, erkundigte Kilian sich behutsam bei Liam und seufzte, als dieser den Kopf schüttelte.
   „Ich bleibe bei ihm.“

 

Überrascht blickten alle drei Fabian an, der die Blicke gelassen erwiderte und dann einen fragenden Blick zu Liam warf, der etwas überrumpelt nickte.
   „Okay“, erwiderte Kilian langsam, „Dann gehen nur ich und Thomas.“ Zusammen mit seinem Bruder stieg er die Treppe hinauf. Die Zurückgebliebenen schwiegen, beobachteten eine Weile die Partygäste, die nachhause aufbrachen, bis Liam nervös zu werden begann.
   „Äh, danke, aber warum...“
   „Du und Niklas, hattet ihr Streit?“, wurde er von Fabian unterbrochen und Liam spürte wie ihm vor Schreck das Blut aus dem Gesicht wich und sein Körper sich verkrampfte.
   „Okay, ich sehe es ist dir unangenehm darüber zu reden“, stellte Fabian enttäuscht fest, dennoch konnte er sich nicht zurückhalten. Es platzte regelrecht aus ihm heraus.
   „Ihr habt euch geküsst.“

 

Liam's Gesicht erstarrte vor Entsetzen und Fabian sah die Furcht in seinen Augen.
   „Es ist okay! Ich habe es zufällig gesehen...“
Die Miene seines Freundes entspannte sich wieder etwas, also fügte er lächelnd hinzu: „Ich fand das wirklich mutig von dir, so vor allen Leuten.“
Liam's Gesichtsfarbe wechselte schlagartig von weiß zu rot und Fabian lachte.
   „Keine Sorge, alle waren mit etwas Anderem beschäftigt“, beruhigte der Blondschopf, setzte aber flüsternd hinzu:
   „Und das obwohl der Kuss schon ziemlich heiß aussah. Ich wette das war er auch.“

 

Liam verspürte den übermächtigen Drang, die Tür aufzureißen und hinaus zu stürmen, weg von dieser ober peinlichen Situation. Fabian merkte auch das und sagte in sanftem Tonfall:
   „Hey, dafür musst du dich nicht schämen ist ja nichts Schlimmes.“ Er grinste.
   „Ich muss es ja wissen.“
Während Liam, vollkommen verwirrt, versuchte seine Worte zu begreifen, kam Fabian ihm zuvor.
   „Ich bin schwul, so wie du.“

 

Völlig ohne Scham oder Furcht sprach er diese Worte aus und Liam bewunderte ihn dafür, zusätzlich verspürte er Erleichterung darüber, nicht mehr allein in dieser für ihn neuartigen Situation zu sein.
   „Wieso habe ich nichts bemerkt?“, wollte er dann erstaunt wissen und nun war es Fabian, der errötete.
   „Na ja, ich wollte es nicht an die große Glocke hängen, bis ich einen festen Freund hätte. Ich wollte nicht, dass die anderen mit Verkuppeln und so Zeug anfangen.“
   „Das kann ich vollkommen verstehen.“
Liam traute ihren Freunden ohne jeden Zweifel solch eine Aktion und noch ganz andere zu.
   „Und hast du...einen Freund?“
Fabian nickte glücklich lächelnd.

 

   „Ja er heißt Luka und ist siebzehn. Wir sind seit fünf Monaten zusammen.“
Obwohl Liam einen leisen Stich der Eifersucht spürte, bemühte er sich um ehrliche Freude; es wäre unfair seine Enttäuschung und Verzweiflung über Nikla's Zurückweisung nun an Fabian auszulassen.
   „Ich freue mich für dich und ich hoffe, ihr bleibt lange glücklich zusammen.“
Fabian sah ihn voller Dankbarkeit an, ahnte er doch, dass es bei ihm mehr als unglücklich gelaufen sein musste.
   „Das ist wirklich nett, nach dem was du heute alles erlebt hast.“
Auf einmal fand Liam sich in einer festen Umarmung wieder.
   „Du bist ein echt guter Freund, weißt du das?“
Ein Gefühl von Wärme überkam Liam und von tiefer Dankbarkeit erfüllt, erwiderte er die Umarmung innig. Fabian nahm seine Arme wieder herunter und drückte seinem überrumpelten Freund einen Kuss auf die Wange.

 

Kichernd meinte er: „Zur Besiegelung unserer Übereinkunft, den Chaoten - Buddys nichts zu erzählen.“
Wie auf ein Stichwort kamen die beiden in diesem Moment die Treppe herunter.
Hastig flüsterte Fabian in Liam's Ohr: „Noch nicht“, bevor er sich zu den Brüdern gesellte. Liam fragte sich unbehaglich, worüber die beiden mit Niklas und Tamara gesprochen hatten, doch es schmerzte zu sehr, darüber nachzudenken, also ließ er es lieber bleiben. Doch die nagende Neugier blieb.
  Plötzlich wurde er von beiden Seiten unter den Armen gepackt und zur Tür hinaus bugsiert, wo Kilian's Wagen bereitstand. Sie stiegen ein. Während der Fahrt grölten die Brüder Songs aus den 80-gern mit, während Fabian und Liam ihre Kommentare dazu abgaben, die nicht allzu positiv ausfielen.

 

Danach drehte sich die Unterhaltung um die neusten Spiele, wobei Liam sich nur dürftig daran beteiligte, da er sich nicht besonders dafür interessierte und auch Fabian warf nur hier und da einen Kommentar ein, während er sich mit seinem Smartphone beschäftigte. Liam vermutete, dass er mit Luka schrieb und der liebevolle Ausdruck in Fabian's Gesicht, bestätigte seinen Verdacht. Sein Hals schnürte sich zu und zur Ablenkung begann er auf seinem eigenen Smartphone zu spielen.
Zwanzig Minuten später hielten sie vor Fabian's Wohnung und stiegen aus. Liam spürte eine bleierne Müdigkeit im ganzen Körper und wollte nur noch schlafen. Der heutige Abend war einfach nur furchtbar gewesen und er hätte ihn am liebsten auf der Stelle vergessen. Sie traten ein und machten es sich erst einmal auf dem Sofa bequem. Fabian holte Getränke aus dem Keller und nahm auf Drängen der Brüder die Konsole in Betrieb. Nach einer Weile fielen Liam, der sich in die Sofaecke gekuschelt hatte, die Augen zu und er driftete langsam in den Schlaf.
  

„Wäre es auf der Luftmatratze nicht bequemer?“, hörte er Thomas sagen und kurz darauf Fabian's Antwort.
   „Lassen wir ihn sich erst mal so ausruhen. Später können wir ihn immer noch auf die Matratze verfrachten.“
Das Stimmengewirr und das Plärren des Konsole verschmolzen zu einem immer undeutlicher werdenden Gewirr, bis er schließlich einschlief.

 

Kapitel 6

 

Lautes Lachen und Stimmengewirr weckten ihn. Liam räkelte sich verschlafen, registrierte benommen, dass er auf einer dicken Luftmatratze lag und fragte sich, wie er dort hingekommen war. Er wandte den Kopf zur Seite und öffnete die Augen. Sein Herz machte einen erschrockenen Sprung, als er Fabian's schlafendes Gesicht direkt vor sich sah. Und er bemerkte, dass der Blondschopf sich an ihn geschmiegt hatte, wie ein schmusender Koalabär. Im ersten Moment war Liam etwas beunruhigt, doch als er die Körperwärme seines Freundes spürte und ein verträumtes Lächeln auf dessen Lippen sah, ergriff ihn eine freundschaftliche Zuneigung und er verharrte still, um den Schlafenden nicht zu wecken.
Während er so dalag, machten sich heftige Kopfschmerzen bemerkbar und er biss die Zähne zusammen. Das laute Geplärr des Fernsehers und die angeregte Unterhaltung der Brüder ließ seinen Kopf regelrecht
dröhnen und er setzte bereits zu einem heftigen Protest an, als Fabian sich brummelnd regte und seine Umklammerung etwas löste.
  

Liam wollte bereits aufatmen, da glitt eine Hand unter sein T-Shirt und fuhr über seinen Bauch. Die feinen Härchen auf Liam's Haut richteten sich allesamt auf und er schauderte. Sein Atem stockte, als Fabian's Hand höher wanderte und plötzlich eine Brustwarze streifte. Liam zuckte leicht zusammen und spürte heiße Erregung in seinem Unterleib aufflammen .
Er schnappte nach Luft und sein Denken setzte kurzzeitig aus, bis er es mühsam schaffte, das Pochen im Schritt zu ignorieren und seine Stimme wiederzufinden.
   „Fabian!“

 

Der Blondschopf erwachte schlagartig, bemerkte,was er da gerade tat und nahm, puterrot im Gesicht, hastig seine Hand weg. Beschämt sprang Fabian auf.
   „Tut mir leid! Ich wollte dich nicht so anfassen...I-ich war im Halbschlaf...“, sprudelte es aus ihm heraus. Er senkte verlegen den Kopf und wartete auf Liam's Reaktion. Liam fiel plötzlich auf, dass nur noch der leise Fernseher zu hören war, die Brüder waren verstummt. Liam und Fabian wandten die Köpfe und blickten in die perplexen Gesichter ihrer beiden Freunde. Das Blut stieg Liam augenblicklich ins Gesicht und ließ es heiß glühen und auch Fabian sah aus, als wäre er am liebsten im Erdboden versunken.
Kurz darauf schien Kilian sich wieder etwas gefasst zu haben, denn er erwachte aus seiner Starre, nahm die Fernbedienung und stellte das Gerät endgültig stumm. Kaum hatte er dies getan, platzte es aus Thomas heraus. 

 

„Du hast was?“
Fabian's panikerfüllter Blick wanderte zwischen seinen Freunden hin und her und er schwieg hilflos. Kilian's Blick glitt über den Körper des Blonden und blieb dann auf Liam hängen, der sich unwohl zu fühlen begann. Er versuchte sich zu verteidigen.
   „Es war ein Versehen! Er hat mich nur kurz an einer ungewohnten Stelle berührt...“ Er brach abrupt ab, als er seine Wortwahl bemerkte und vergrub das Gesicht in den Händen. Innerlich stöhnte er. Er machte alles nur noch schlimmer!
   „Du warst Liam aber gerade ziemlich nahe“, meinte Thomas skeptisch und der Argwohn in seinen Augen verursachte beiden ein flaues Gefühl im Magen. Fabian schluckte hart.
   „Das...das war unbewusst. Es ist einfach passiert.“ Liam sah die Panik in den graugrünen Augen seines Freundes und ihm ging es nicht anders. Wegen eines kleinen Ausrutschers drohten sie nun aufzufliegen und mussten die Situation irgendwie entschärfen.
  

„Ist doch keine große Sache, ist doch nichts weiter dabei, nicht wahr?“
 Fabian nahm die Hilfe dankbar an und wandte sich, aufrecht stehend, der Blick nun frei von Panik und Furcht, an Thomas.
   „Genau es hat nichts zu bedeuten. Ein kleiner Fehlgriff eben. Das ist alles.“
Seine Stimme schwankte leicht, dennoch war deutlich zu hören, dass das Thema für ihn beendet war. Liam wartete angespannt auf die Reaktion der Brüder. Kilian schien kurz nachzudenken, dann lächelte er, wenn auch etwas zögerlich.
   „Na gut, es ist ja nichts weiter passiert. So was kann vorkommen“, meinte er, um einen lockeren Ton bemüht. Er erhob sich und streckte sich.
   „Dann können wir ja jetzt frühstücken.“ Er ging in die Küche und ließ seinen Bruder zurück, der ihm perplex hinter hersah. Er mied die Blicke seiner Freunde, murmelte hastig „Sorry“ und folgte dann Kilian.
Fabian ließ sich seufzend auf die Matratze sinken und holte zitternd Luft.
   „Ich dachte echt mir bleibt das Herz stehen“, gab er zu und lachte nervös.
   „Ging mir genauso.“
Kurz schwiegen sie und hingen ihren Gedanken nach, bis Fabian eine Frage stellte.
  

„Wie...hat es sich denn angefühlt?“
Sein Blick blieb fest auf Liam gerichtet und dieser merkte, wie ernst es seinem Freund mit dieser Frage war. Er erwartete eine ehrliche Antwort und in seinen Augen waren Neugier und eine Art aufmunternde Freundlichkeit zu erkennen, die Liam beruhigten und ihn ohne Zögern antworten ließen.
   „Es hat sich gut angefühlt. Sehr gut sogar.“
Er lächelte verlegen und fand dasselbe Lächeln auf Fabian's Gesicht wieder.
   „Das freut mich irgendwie...nicht falsch verstehen!“
Liam schüttelte den Kopf und lachte.
   „Ist schon klar.“ Er atmete tief durch und murmelte leise:
   „Das war ganz schön knapp.“ Fabian nickte beklommen.
   „Wir werden von jetzt an ganz schön aufpassen müssen. Aber du hast es bisher ja auch geschafft uns deine...“ Liam suchte verlegen nach dem richtigen Wort. „Orientierung zu verheimlichen.“

 

Der Blondschopf nickte ernst, schüttelte dann aber den Kopf.
   „Irgendwann müssen sie es erfahren. Spätestens dann, wenn du auch einen Freund hast und Zeit mit ihm verbringen willst.“
Liam musste zugeben, dass er Recht hatte und ihm graute vor dem Tag, an dem er seinen Freunden die Wahrheit über seine sexuelle Orientierung beichten musste. Das hieß, falls Niklas es nicht schon längst getan hatte... Beim Gedanken an den Rothaarigen spürte Liam einen dumpfen Schmerz in der Brust und Trauer legte sich wie ein schwarzes Tuch über seine Seele. Er fühlte sich regelrecht verraten und alleingelassen, doch Fabian's Geständnis und seine Unterstützung machten es erträglicher. Liam verscheuchte die Gedanken an Niklas und krabbelte von der Luftmatratze hinunter.

 

Fabian fuhr sich durch das zerwühlte Haar und ging ins Badezimmer. Ein Blick auf die Uhr besagte,dass es kurz nach zwölf war und Liam bemerkte erst jetzt den nagenden Hunger. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er die Küche betrat. Das Radio, das auf dem Tisch stand, lief und Thomas saß davor und las ein Magazin. Er hob nur kurz den Blick als Liam eintrat und widmete sich dann wieder seiner Lektüre. Kilian stand am Herd und machte Rührei mit Speck. Der Geruch ließ Liam das Wasser im Mund zusammenlaufen.
   „Ist gleich fertig. Du könntest schon mal den Tisch decken und Brötchen beim Bäcker um die Ecke holen.“
Liam nickte nur und verließ die Küche wieder, erleichtert, wie er zugeben musste. Als er seine Anziehsachen suchte, fiel ihm wieder der Fleck auf seiner Hose ein. Mist er hatte ja sonst nichts anderes dabei. Ob Fabian ihm eine leihen könnte? Zögernd ging er zu Fabian's Zimmer und fand die Tür nur angelehnt vor. Liam klopfte und wartete. Kurz darauf schwang die Zimmertür ganz auf und ließ den Blick auf den Blondschopf frei, der scheinbar
gerade dabei war, Kleidung zusammen zu suchen.
 

  „Oh das trifft sich gut. Ich will nämlich gleich zum Bäcker und hab dummerweise nicht wirklich was zum Anziehen...“
Fabian winkte ab, wühlte kurz im Schrank und holte schließlich eine schwarze Röhren - Jeans hervor.
   „Die dürfte dir passen. Brauchst du noch ein Hemd?“
   „Mhm, wenn es keine Umstände macht“, murmelte Liam verlegen; es war ihm unangenehm einen seiner Freunde um Kleidung zu bitten, auch wenn sie sich lange kannten und vertrauten und Peinlichkeiten eigentlich kein Thema sein sollten.
   „So mal sehen... das hier vielleicht? Nein...dieses? Ich hatte doch noch...“

 

Liam musste sich ein Grinsen verkneifen. Da kam Fabian's modebewusste Ader mal wieder zum Vorschein und Liam musste zugeben, dass er einen guten Geschmack diesbezüglich hatte. Er selbst machte sich nicht so viele Gedanken um sein Outfit, Hauptsache es war bequem und man sah nicht gleich, wenn es schmutzig war. Nach einigem Suchen hielt Fabian triumphierend ein rotes Hemd aus Polyester mit schwarzem Kragen und Ärmeln aus lederähnlichem Stoff in die Höhe. Liam prustete ungewollt los und auf Fabian's fragenden Blick gluckste er:
   „Ich gehe nur Brötchen holen und nicht in die Disco.“
Fabian rümpfte in gespielter Empörung die Nase und meinte in wichtigtuerischem Ton:
   „Selbst beim Brötchen holen kann man très chic aussehen.“
Liam brach in schallendes Gelächter aus und Fabian lachte herzlich mit.
   „Okay ich vertraue mal deinem sechsten Modesinn und ziehe es an“, seufzte Liam nachdem sie sich wieder beruhigt hatten. Fabian nickte eifrig und rieb sich erwartungsvoll die Hände.
   „Aber nicht hier!“, lachte Liam und verdrehte grinsend die Augen. Manchmal benahm der Blondschopf sich wie ein Kind.
  

„Na schön. Aber du verlässt nicht eher das Haus, bis ich dich begutachtet habe“, beharrte Fabian und war erst zufrieden, als Liam nickte.
   „Ich wollte eigentlich duschen...“
Er rieb sich ratlos den Hinterkopf.
   „Kein Problem dann ziehe ich mich einfach hier um. Ohne dich.“

 

Die letzten Worte betonte Liam besonders und Fabian stimmte schulterzuckend zu, auch wenn leise Enttäuschung in seinen Augen erschien.
Unsicher, wie ernst er diesen Ausdruck nehmen sollte, nahm Liam die Kleidungsstücke rüber zum Bett, während Fabian das Zimmer verließ. Liam wartete, bis das Brausen der Dusche zu hören war, erst dann begann er sich auszuziehen. Mit etwas Mühe zwängte er sich in die Jeans, die wegen seiner strammen Schenkel etwas kniff, doch das Hemd passte ihm gut. Er suchte das Zimmer nach einem Spiegel ab, fand jedoch keinen. Na schön, dann musste er sich eben auf Fabian's Urteilsvermögen verlassen. Liam ließ sich auf die Matratze sinken und starrte an die Decke.
 

Unwillkürlich musste er an Tamara denken. Wie es ihr wohl ging? Ähnlich wie ihm, oder doch ganz anders? Er wusste nicht, was Mädchen bei Liebeskummer genau fühlten oder was sie taten. Doch was er wusste war, dass er Tamara genauso wichtig war wie Niklas ihm und den Schmerz, den sie deswegen fühlen musste, konnte er nur zu gut nachvollziehen. Die nächste Frage, die sich ihm aufdrängte war, ob Niklas ebenfalls von schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen innerlich zerrissen wurde. Tat ihm die Zurückweisung tatsächlich leid, oder war es nur Mitgefühl ihm gegenüber? Und konnte die Funkstille zwischen ihnen wirklich wieder die gewohnte Normalität schaffen, oder wäre ihre Freundschaft damit für immer vorbei? Konnte Niklas sein Liebesgeständnis vergessen und Tamara seine Abfuhr und ihm verzeihen?

 

Liam presste gequält einen Arm auf die Augen und versuchte den Kloß in seinem Hals loszuwerden. Er wollte ihnen so nahe sein und war doch meilenweit entfernt. Die Zeit würde die Kluft zwischen ihnen hoffentlich schließen oder für immer eine Grenze ziehen, die zu überschreiten nur noch mehr Schmerz bringen würde.

Die Tür knarrte und Liam sprang hastig hoch. Doch es war nur ein Windstoß gewesen. Er schüttelte den Kopf über seine Schreckhaftigkeit und verließ das Zimmer. Aus der Küche drangen die Stimmen der Brüder und das nicht gerade leise. Liam verharrte mitten im Flur und versuchte etwas zu verstehen.
  

„...kannst es nicht ändern. Akzeptiere es oder es wird nie funktionieren“, hörte er Kilian's eindringliche Stimme, dann das Scharren von Stuhlbeinen über den Fußboden.
   „Ich kann aber nicht! Ich dachte ich kenne ihn, aber ich habe mich getäuscht.“
Thomas' Stimme zitterte, ob vor Wut oder einer anderen Empfindung wusste Liam nicht. Doch er hörte deutlich den bitteren Unterton heraus und in seinem Magen zog es unangenehm.
    „Es ist eben geschehen, das hat keiner geahnt. Er hat uns etwas vorgespielt, all die Jahre...“
Kilian's Stimme verlor sich in einem mutlosen Murmeln.
   „Ich kann so etwas nicht hinnehmen. So ein Verhalten ist doch nicht normal! schämt er sich denn überhaupt nicht?“

 

Liam beschlich das unheimliche Gefühl, dass es in diesem Gespräch um ihn ging und ein eiskalter Schauer rann sein Rückgrat hinab.
Sie sprachen über ihn und die Sache mit Fabian! Plötzlich war er sich gar nicht so sicher, ob er Fabian's Aussage, keiner habe seinen Kuss mit Niklas gesehen, noch glauben konnte. Vielleicht hatten die beiden ihn ja gesehen... Siedende Hitze kroch in ihm hoch und das Atmen fiel ihm plötzlich schwer.
Was wenn die beiden ihm auch noch die Freundschaft kündigten? Nicht auch noch sie! Hätte er sich doch bloß nicht zu diesem Kuss hinreißen lassen! Hätte er doch bloß weiter im Stillen gelitten und seine Sehnsucht unterdrückt! Vielleicht war er ja gar nicht schwul, sondern hatte nur einer Laune nachgegeben. Genau, vielleicht...
   „Ich hasse ihn!“

 

In seinen Ohren dröhnte es, als wollten sie verhindern, weitere Worte zu hören, als würden sie sich dagegen wehren. Liam stand erstarrt da, sein Schädel pochte und er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Doch das musste er auch gar nicht, denn sein Körper handelte ganz von allein. Er wandte sich um und rannte los, riss achtlos die Tür auf und stürmte nach draußen. Dabei war es ihm egal, dass er nur Socken an den Füßen, trug er rannte nur noch schneller. Sein Kopf war leer, seine Muskeln bewegten sich automatisch, während die Welt an ihm vorbeiraste. Erst, als er über eine Kreuzung hastete und eine Autohupe die Leere in seinen Gedanken durchdrang, wurde er langsamer. Mit hastigen Schritten überquerte Liam die Straße und scherte sich nicht um den verärgerten Autofahrer, der schimpfend wieder anfuhr.
 

Keuchend lehnte er sich gegen eine Hauswand und starrte sein bleiches Gesicht im Schaufenster eines Geschäfts an. Er sah schrecklich aus. Dicke Ringe lagen unter seinen Augen, die erschöpft zurück starrten. Sein Haar stand wild in alle Richtungen ab und seine Lippen, die sich unter heftigen Atemstößen teilten waren blutleer und spröde.
  „Ich hasse ihn!“

 

Sein Innerstes zog sich krampfhaft zusammen und er befürchtete schon, sich übergeben zu müssen. Liam schlang die Arme um den Oberkörper und kauerte sich nieder. Die Geräusche und das Treiben um sich herum, nahm er kaum wahr, nur der Schmerz war gegenwärtig.
   „Bitte nicht! Nicht auch noch sie!“
Er merkte gar nicht, das er diese Worte wie ein Gebet immer wieder vor sich hinmurmelte, bis eine besorgte Passantin vor ihm stehen blieb und sich zu ihm herabbeugte.
   „Geht es dir nicht gut, Junge? Brauchst du einen Arzt?“
Blinzelnd sah er sie an und schüttelte dann heftig den Kopf. Ihre Freundlichkeit und Sorge waren beinahe zu viel für ihn.

 

Er wollte alleine sein, den Kontakt zur Außenwelt mit all ihren Problemen und Tragödien abbrechen und sich einfach nur verkriechen. Abrupt stand er auf und die Passantin prallte erschrocken zurück. Ohne sie weiter zu beachten ging er weiter, mit stolpernden Schritten. Wo sollte er hin? Bei seinen Freunden war er offenbar nicht erwünscht. Tolle Freunde waren das! Kehrten ihm einer nach dem anderen den Rücken zu und fragten nicht einmal nach seiner Sicht der Dinge. Es kotzte ihn einfach nur noch an! Ständig musste er sich für andere verbiegen und ihren Erwartungen entsprechen und tat er dies nicht, straften sie ihn mit Ignoranz und Verleumdung.

 

Rastlos irrte Liam durch die Straßen, bis er merkte, dass sein Handy vibrierte. Einen verwirrten Moment wunderte er sich, dass er es noch eingesteckt hatte, dann holte er es aus der Hosentasche und sah auf das Display. Es war Linda. Liam rang mit sich, ob er abheben sollte. Im Moment konnte die Welt ihn mal kreuzweise und da war Linda keine Ausnahme. Aber dann fiel ihm ein, dass er ja ohne ein Wort auf die Party geschlichen war und sich seitdem auch nicht mehr zuhause gemeldet hatte. Und sein Vater...Ihm wurde schwindelig und er stützte sich an einem Laternenmast ab, bevor er das Gespräch annahm. Sofort scholl ihm Linda's verärgerte Stimme entgegen.
  

„Liam, was soll das? Was denkst du dir dabei einfach zu verschwinden und kein Sterbenswörtchen zu sagen? Was glaubst du welche Sorgen ich mir gemacht habe und immer noch mache? Wo steckst du?“
Liam lauschte stumpf ihren Worten und die erste Frage, die ihm einfiel war:
   „Ist er da?“
Er konnte ihre Entrüstung förmlich fühlen, bevor sie sprach.
   „Nein, dem Himmel sei dank! Er hätte dich sonst windelweich geprügelt, glaube mir! Und ich hätte auch nicht übel Lust dazu bei deinem Verhalten. Normalerweise nehme ich dich vor ihm in Schutz, aber das...“
Er seufzte schwer und schwieg.
   „Hast du nichts dazu zu sagen?“, fuhr sie ihn genervt an.
   „Ich habe Hunger.“
Schweigen. Dann wieder ihre Stimme.

 

 

„Dann komm schnell nachhause du Bengel. Es gibt dein Lieblingsessen“, brummelte die Haushälterin etwas versöhnt.
   „Okay“, erwiderte er leise und legte auf, bevor sie noch weitere Fragen stellen konnte.
Nachhause, dachte er und ließ dieses einfache Wort in seinen Gedanken nachhallen. Er hob den Kopf und ein einzelner Regentropfen traf seine Wange, mischte sich mit einem wärmeren Tropfen und beide wurden zu einem Ganzen. Aus Kälte wurde Wärme, aus Freundschaft wurde Hass, aus Vertrauen wurde Furcht.

 

Aus dem einzelnen Regentropfen wurde rasch ein Schauer und auch wenn dieser angenehm warm war, legte Liam wenig Wert darauf, Fabian's geliehene Sachen zu durchnässen und sich mit dazu. Außerdem trug er nur Socken an den Füßen; so konnte er unmöglich nachhause gehen. Er sah sich suchend nach einem Geschäft um und entdeckte einen kleinen Laden eine Straße weiter.

 

Schnell eilte er hinüber, doch auf dem Weg dorthin fiel ihm ein, dass er ja kein Geld dabei hatte. Liam unterdrückte einen Fluch und dachte fieberhaft nach. Sollte er in Fabian's Wohnung zurück? Allein beim Gedanken daran, Thomas und Kilian zu sehen, nach dem was er mitangehört hatte, bereitete ihm Übelkeit. Nein, das war keine Option. Er könnte Fabian bitten, seine Schuhe nach draußen zu bringen, doch dann müsste er seine Flucht erklären und das konnte und wollte er nicht. Er wusste selbst noch nicht, wie er damit umgehen sollte, dass die Brüder mit seiner Homosexualität nicht klarkamen und brauchte Zeit für sich. Und die hatte er zuhause, in seinen vier Wänden. Also blieb nur eine viel unangenehmere Lösung: Sein Vater musste mit dem Wagen kommen und ihn abholen. Liam wurde augenblicklich nervös und Linda's Worte kamen ihm wieder in den Sinn:
  

„Er hätte dich sonst windelweich geprügelt, glaube mir!“
Er schluckte schwer. Ob sein Vater so etwas wirklich tun würde? Die Ohrfeige war ihm noch lebhaft in Erinnerung geblieben und erschreckte ihn immer noch. Es hatte Frederick zwar leidgetan, doch konnte Liam sich sicher sein, dass er nicht ein weiteres Mal zuschlug? Nun das Risiko musste er wohl eingehen.

 

Im Schutz einer überdachten Bushaltestelle, wählte er mit zitternden Fingern die Nummer seines Vaters und lauschte auf das Freizeichen. Doch es tutete nur einige Male und die Mailbox meldete sich. Genervt legte Liam wieder auf. Typisch, wenn man ihn mal brauchte, war auf seinen Vater kein Verlass. Also wählte er Linda's Nummer. Nach zweimal Tuten ging sie ran.
  

„Ähm, ich habe hier ein kleines Problem und mein Vater müsste mich abholen kommen, nur erreiche ich ihn nicht...“, meldete er sich, mehr als verlegen. Er hörte ihr Seufzen, das klang als wolle sie sagen:
Was hat er jetzt wieder angestellt?
Doch ihre Stimme klang zu Liam's Verwunderung amüsiert, als sie erwiderte:
   „Das liegt daran, dass er auf dem Weg zu dir ist.“
Liam schwieg verdattert, bis sein überfordertes Hirn wieder imstande war, eine Frage zu formulieren.
   „Aber woher weiß er, wo ich bin?“
   „Das erklärt er dir am besten selbst“, erwiderte die Haushälterin leicht säuerlich und es war deutlich zu hören, dass sie nicht näher auf das Thema eingehen wollte.
   „Okay“, murmelte er kleinlaut. Er musste sich räuspern, bevor er die nächste Frage herausbrachte.
   „Ist er sehr sauer?“

 

Sein Herz schlug heftig in seiner Brust und angespannt wartete er.
   „Das kann man wohl sagen. Aber er ist auch sehr besorgt um dich. Als ich ihm von deinem Verschwinden erzählte, ist er augenblicklich von der Arbeit nachhause gefahren und sobald er wusste wo du warst...“ Sie ließ den Satz unbeendet, da der Rest keiner weiteren Erläuterung bedurfte.
   „Dann sehen wir uns gleich.“
   „Ich warte mit dem Essen auf dich.“

 

Linda's Stimme war voller Wärme und diese Wärme minderte die Angst und Unsicherheit in Liam's Herzen und zauberte sogar ein Lächeln in sein Gesicht. Er verabschiedete sich und legte auf. Bald kam die Unruhe wieder und das Warten zog sich zäh wie Kaugummi in die Länge. Noch dazu war der Hunger beinahe unerträglich geworden; ihm war schon ganz schwindelig davon. Eine Dusche konnte er auch gebrauchen.
Augenblicklich kam ihm Fabian in den Sinn und das schlechte Gewissen packte ihn. Einfach so ohne ein Wort zu verschwinden war einfach feige und undankbar und schnell tippte er eine SMS in der er sich entschuldigte und versprach, die ausgeliehenen Sachen zurück zu bringen. Liam hatte die Nachricht gerade abgeschickt, als der schwarze BMW seines Vaters vor ihm zum Stehen kam.

 

Sein Herz machte einen Sprung und hat holperte dann hektisch weiter. Die Scheibe auf der Fahrerseite wurde heruntergelassen und enthüllte das müde Gesicht seines Vaters. Die Falten in der Haut schienen tiefer geworden zu sein und das schwarze Haar zeigte erste graue Strähnen. Um den Mund lag ein verbitterter Zug. Liam ließ sich Zeit mit der Betrachtung, die Augen kamen zum Schluss. Er hielt den Atem an, dann blinzelte er überrascht, als er statt Wut und Enttäuschung pure Erleichterung darin sah.
   „Steig ein.“

 

Mehr sagte er nicht, keine vorwurfsvollen Worte, keine Tirade darüber, wie verantwortungslos sein Sohn doch sei und dass er aufhören solle, so dickköpfig zu sein. Es war schon beinahe unheimlich und Liam wusste nicht so recht, ob er dem Braten wirklich trauen sollte. Zögernd stieg er auf der
Beifahrerseite ein und sank erleichtert in den Sitz. Sein Vater beobachtete ihn schweigend, dann fiel sein Blick auf die feuchten, schmutzigen Socken und fragend hob er die Augenbrauen.
   „Wo sind deine Schuhe?“
Liam hatte plötzlich das Bedürfnis laut loszulachen, doch er bezweifelte, dass das seinem Vater recht wäre, also riss er sich zusammen.

 

   „Und woher kommen die Kratzspuren? Und was sind das für Klamotten?“
Liam fragte sich unbehaglich was schlimmer war: Die Schimpftiraden oder dieses Verhör. Blitzschnell spann sein Hirn eine Geschichte zusammen, das Ergebnis monatelanger Übung und Gewohnheit.
   „Ich wurde überfallen. Von zwei Typen. Die haben mich einfach überwältigt und mir meine Schuhe abgenommen. Ich bin dann zu Fabian, um mich umzuziehen und dort habe ich dann auch geschlafen.“
Frederick runzelte zwar die Stirn, schien die Story jedoch zu schlucken.
   „Dieses Großstadtpack. Glaubt, es kann sich einfach nehmen was es braucht“, murmelte er aufgebracht vor sich hin, während er losfuhr.
   „Wir erstatten sofort Anzeige. Damit kommen sie nicht durch.“

 

Liam hatte selten erlebt, dass sein Vater wütend auf jemand anderen war, außer ihm und es weckte ein beklemmendes Gefühl in ihm.
   „Ist das nicht ein wenig übertrieben? Sie haben ja bloß die Schuhe mitgenommen und die paar Kratzer...“, versuchte er die Situation herunter zu spielen und hatte damit offensichtlich Erfolg, denn Frederick nickte, wenn auch grimmig.
   „Außerdem habe ich riesigen Hunger. Wären wir jetzt zum Präsidium gefahren, wäre ich wahrscheinlich umgefallen.“
Die Mundwinkel seines Vaters zuckten leicht und Liam wagte ein zaghaftes Lächeln. Frederick's Gesicht wurde weich und er seufzte tief.
   „Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert“, sagte er leise und wandte sich seinem Sohn zu. Langsam, als stünde ein scheues Waldtier vor ihm, streckte er die Hand aus und strich sanft durch das rotbraune Haar. Liam erstarrte und schloss unwillkürlich die Augen.

 

Zärtlich fuhren die langen Finger seines Vaters durch die verwuschelten Strähnen und die Berührung ließ seine Nackenhaare kribbeln.
Er begann die Liebkosung zu genießen und wollte sich gerade entspannt in dieses Wohlgefühl sinken lassen, als eine Autohupe ertönte und das durchdringende Quietschen von Reifen. Liam riss die Augen auf, starrte erschrocken zu seinem Vater, der hektisch das Lenkrad herumriss und wurde gleich darauf zur Seite geschleudert, als der Wagen einen heftigen Schlenker nach links machte.

 

Sein Kopf stieß gegen die Scheibe und er ächzte, als ein stechender Schmerz durch seinen Schädel schoss. Er hörte seinen Vater dumpf fluchen, dann das Kreischen der Bremsen und mit einem Ruck wurde er gegen das Armaturenbrett geschleudert. Liam war in diesem Moment froh nichts im Magen zu haben, denn nach dieser Schleudertour hätte er sich sicher übergeben. Das Herz hämmerte bis in seine Kehle und sein Kopf dröhnte. Langsam bewegte er Arme und Beine und stellte erleichtert fest, dass nichts gebrochen oder verstaucht war, höchstens geprellt. Es durchzuckte ihn heftig und hastig wandte er sich seinem Vater zu. Der saß totenbleich da, die Finger so fest um das Lenkrad gekrampft, dass die Knöchel unter der Haut weiß hervortraten. Sein Atem ging stoßweise und etwas Blut rann aus einer kleinen Platzwunde über die Stirn, doch er schien es gar nicht zu bemerken.

 

Plötzlich begann er zu zittern und gab ein gequältes Wimmern von sich. Liam saß hilflos da, gelähmt von dem Schock und dem Anblick, den sein Vater in diesem Moment bot. So hatte er ihn zuletzt vor einem halben Jahr, kurz nach dem Unfall gesehen. Er merkte, wie auch ihn ein panisches Zittern zu packen drohte und er biss die Zähne zusammen, versuchte es zu unterdrücken. Ein Klopfen an der Scheibe ließ Liam vor Schreck zusammen fahren und sein Herz hüpfen.

 

Mit zittrigen Fingern ließ er die Scheibe herunter und der Lärm traf ihn wie ein Hammerschlag. Autohupen, aufgeregte Rufe, entsetztes Murmeln. Ein offensichtlich sehr verärgerter Mann hatte an die Scheibe geklopft und kaum war sie unten, legte er auch schon los.
   „Könnt ihr denn nicht aufpassen, zum Teufel nochmal! Euer Wagen hat meinen nur knapp verfehlt!“
Benommen ließ Liam das Gezeter über sich ergehen, bis der Mann den Kopf durch das Fenster streckte und in Richtung seines Vaters brüllte:
   „Hey Sie, wissen Sie was sie beinahe angerichtet hätten? Haben Sie keine Augen im Kopf? Sie sind für diesen Tumult verantwortlich, also entschuldigen Sie sich gefälligst! Hey!“

 

  Als Frederick nicht reagierte, stapfte der Mann zur Fahrerseite, riss die Tür auf und setzte sein Gemecker fort. Noch immer reagierte sein Vater nicht, starrte nur entsetzt durch die Frontscheibe und es wirkte, als sei er in einer anderen Welt. Rasende Wut packte Liam, als der verärgerte Autofahrer seinen Vater am Arm packte und weiter auf ihn ein brüllte. Er riss die Autotür auf, stieg aus und stampfte durch den Regen auf den Mann zu, der ihm nur einen kurzen Blick zuwarf, bevor er weiter an seinem Vater herum rüttelte. Liam packte ihn an der Schulter und riss den schmächtigen Mann zu sich herum.
  

„Lassen Sie auf der Stelle meinen Vater in Ruhe! Sehen Sie nicht, dass er unter Schock steht!“, schrie er ihn an, dann warf er kurzerhand die Autotür zu und stellte sich davor.
   „Geh mir aus dem Weg du Bengel! Das ist eine Sache zwischen mir und deinem Vater!“, keifte der aufgebrachte Autofahrer ihn an, doch Liam ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern erwiderte ruhig:
   „Sonst was? Verprügeln Sie mich?“
Es war seinem Gegenüber deutlich anzusehen, dass er tatsächlich nicht wusste, wie er an Liam vorbeikommen sollte, ohne handgreiflich zu werden.
   „Lassen Sie es gut sein“, versuchte Liam ihn zu beschwichtigen.
   „Es ist ja nichts passiert. Lassen Sie meinen Vater in Frieden, er hat schon genug Probleme.“
Der Mann sah den Schmerz und das Flehen in den dunkelblauen Augen und nach einem weiteren Blick auf den noch immer erstarrten Mann hinter dem Lenkrad, gab er schließlich nach.
  

„Na schön, ich werde keine Anzeige erstatten. Aber du musst deinem Vater klarmachen, dass er besser Achtgeben muss, auch um deinetwegen“, brummte der Mann und stieg dann wieder in seinen quer auf der Straße stehenden Wagen. Liam bekam plötzlich weiche Knie und taumelte gegen den Wagen. In seinem Kopf schien sich alles zu drehen und die Geräusche um ihn herum klangen seltsam verzerrt. Er hoffte nur, dass er nicht plötzlich vor all diesen Leuten ohnmächtig wurde.
Er hörte eine Autotür, dann stand auf einmal sein Vater vor ihm, die Augen vor Entsetzen aufgerissen. Stürmisch nahm er ihn in die Arme, vergrub das Gesicht an seiner Schulter und fing heftig zu schluchzen an.
   „Es tut mir leid! Es tut mir so leid!“

 

Liam's Herz krampfte sich bei dem herzzerreißendem Weinen zusammen und er merkte, dass auch er den Tränen nahe war, doch er beherrschte sich und strich seinem Vater tröstend über den Rücken. Ein Gefühl von Nostalgie ergriff ihn, hatten sie sich nach dem Unfall doch genauso Trost gespendet und Liam konnte nur ahnen welche schrecklichen Bilder und Empfindungen gerade in seinem Vater tobten.
Erschöpft ließ er sich gegen die breite Schulter sinken und schloss die Augen. Nach einer Weile spürte er, wie jemand ihm auf die Schulter tippte. Überrascht wandte er sich um und erkannte die Dame, die ihn zuvor schon angesprochen hatte.
 

  „Ich habe einen Krankenwagen gerufen. Ist soweit alles okay?“
Liam nickte, schüttelte dann aber gleichzeitig den Kopf und biss sich auf die Unterlippe. Sie nickte voller Mitgefühl und Verständnis.
   „Ich habe hier ein kleines Geschäft und darüber habe ich eine Wohnung. Ihr könnt gerne mit mir dort auf den Rettungswagen warten, anstatt hier im Regen zu stehen", bot sie freundlich an und Liam nickte ohne zu zögern. Er wollte nichts lieber, als aus diesem lästigen Regen heraus kommen und sich irgendwo hinsetzen und wenn es auf dem Boden wäre.
Sein Vater hatte sich etwas beruhigt und löste sich von ihm. Das Blut auf seiner Stirn war verschmiert und begann bereits zu trocknen.
   „Mein Name ist übrigens Dorothea Steger“, stellte die blondgelockte Dame sich vor. Sie war etwa Anfang vierzig, dezent geschminkt und in ein einfaches T-Shirt, mit einem Jäckchen darüber und Jeans gekleidet. Dazu trug sie hochhackige Damensandaletten. Ihre graublauen Augen leuchteten freundlich und sie lächelte beide Männer offen an.

 

Liam's Vater rang sich ein Lächeln ab und reichte Dorothea die Hand.
   „Frederick Dahlke. Und das ist Liam, mein Sohn.“
Sie nickte langsam.
   „So so, Liam heißt du also“, murmelte sie und ein verschmitztes Blitzen trat in ihre Augen. Er grinste verlegen und reichte ihr ebenfalls die Hand.
   „Also dann, folgt mir“, sagte sie und marschierte los. Liam und sein Vater folgten ihr eine Allee entlang, bis zu einem schnuckeligen Kruschladen, in dem alles vollgestopft schien mit Figuren und kleinen Skulpturen aus verschiedenstem Material und in den unterschiedlichsten Formen, alten Büchern, Kleidung, Strick-und Häkelwaren und vielem mehr. Dorothea hielt vor dem Laden, holte einen Schlüssel hervor und öffnete die Ladentür. Im Laden roch es nach altem Papier und Staub, aber es war auch ein Hauch Lavendel darunter. Liam sah sich fasziniert um und musste zugeben, dass der Laden einen gewissen Charme hatte, es herrschte eine Atmosphäre voller Gemütlichkeit und Ruhe und als er einen großen Ledersessel entdeckte, hätte sich am liebsten hinein sinken lassen, um zu schlafen.

 

Eine Treppe führte nach oben zur kleinen, aber gemütlichen Wohnung. Diese war ähnlich chaotisch wie die untere Etage, jedoch hatte alles seinen Platz und sah ordentlich und gepflegt aus. Das Mobiliar war eine Zusammenstellung verschiedener Stücke, meist aus Holz, die sich jedoch gut ergänzten und dem Raum Leben einhauchten. Unmengen von Büchern und Zeitschriften füllten eine große Regalwand, sowie schillernde Steine, Figuren und Kerzen. An den Wänden hingen Bilder von Wäldern, Landschaften und der Familie und sah man sich näher um, kam man sich vor, wie in einem kleinen Urwald; wo man auch hinblickte, entdeckte man etwas Grünes und sogar ein Terrarium mit einer Eidechse.

 

Dorothea bat sie Platz zu nehmen und verschwand dann in der Küche. Liam und sein Vater machten es sich in den weichen Polstersesseln gemütlich. Es war still, bis auf das Ticken einer Uhr und den Geräuschen aus der Küche, in der ihre Gastgeberin Snacks und Getränke vorbereitete, dabei summte sie leise vor sich hin. Liam ließ seinen Blick unauffällig zu seinem Vater wandern, der geistesabwesend den Krimskrams in den Regalen betrachtete und dabei unruhig seine Handflächen über die Oberschenkel rieb. Nach einer Weile schien er die Blicke zu bemerken, denn er wandte sich Liam zu und sah ihn direkt an.
   „Du hast die Situation vorhin wirklich souverän gemeistert, im Gegensatz zu
mir“, sagte sein Vater mit Anerkennung, aber auch einer Spur Verlegenheit in der Stimme und Liam blinzelte überrascht.

 

War das etwa gerade ein Lob? Gab sein Vater gerade zu, einen Fehler gemacht zu haben?
   „Ich weiß, dass wir uns in letzter Zeit nicht so gut verstehen, aber du bedeutest mir sehr viel und dass du mich eben in Schutz genommen hast...danke.“
Die Zuneigung und Dankbarkeit in den Augen seines Vaters, ließen Liam's Herz vor Freude hüpfen und seine Wangen vor Glück glühen.
   „Das war doch nichts Besonderes. Ich konnte einfach nicht mit ansehen, wie dieser Typ in deinem Zustand mit dir umspringt. Und er ging mir auch ziemlich auf die Nerven“, murmelte er verlegen und starrte stur auf seine verschmutzten und durchweichten Socken. Frederick nickte und lächelte sanft. Plötzlich kam Liam eine Frage in den Sinn, die er vollkommen vergessen hatte, die ihn jedoch brennend interessierte.
„Woher wusstest du eigentlich wo ich bin?“

 

Frederick's Lächeln fiel regelrecht in sich zusammen und wich einem alarmierten Ausdruck. Vorsichtig, als müsse er jedes Wort abwägen, antwortete er:
   „Ich hatte mir schon gedacht, dass du dich aus dem Haus schleichst, also habe ich im Flur eine Kamera installiert...“
Liam glaubte, sich verhört zu haben und blieb erst einmal irritiert sitzen. Eine Kamera? Wann hatte sein Vater denn die Gelegenheit gehabt eine ohne sein Wissen anzubringen? Verwirrt schüttelte er den Kopf. Er horchte in sich hinein, fühlte sich verletzt und irgendwie hintergangen. Liam überlegte, was er erwidern sollte, als Dorothea mit einem Tablett den Raum betrat und es auf dem Tisch abstellte.
   „Entschuldigt, dass es so lange gedauert hat. Bedient euch.“
Sie setzte sich ebenfalls und blickte ihre Gäste abwartend an. Liam nahm sich eine Apfelspalte und kaute missmutig darauf herum, während Frederick reichlich Zucker in seinen Kaffee schüttete, wohl um seine Nerven zu beruhigen. Dorothea spürte die angespannte Atmosphäre und beschloss, die Stimmung etwas aufzulockern.
  

„Also Liam, wo hast du denn deine Schuhe gelassen?“
In ihren Augen blitzte es amüsiert auf und sie beugte sich interessiert vor.
   „Die wurden mir geklaut“, erwiderte er knapp und nahm sich noch ein Apfelstück, um weiteren Fragen zu entgehen.
  „Die Kleidung, die du da anhast ist wirklich interessant. Wolltest du damit vielleicht eine junge Dame beeindrucken?“
Unwillkürlich blickte Liam an sich herab und errötete leicht.
   „N-nein, das ist nur...geliehen“, stammelte er und begann sich in der
enganliegenden Kleidung unwohl zu fühlen. Sie lachte leise und trank einen Schluck Tee. Frederick verbarg sein Schmunzeln hinter seiner Tasse.
   „Keine Sorge, es sieht gut aus, nicht wahr?“
Und damit wandte Dorothea sich an ihren zweiten Gast, der sich plötzlich verschluckte und hustete.
   „Ähm, nun ja... ich denke schon...“

 

Er runzelte die Stirn und rieb dann unbewusst über das getrocknete Blut.
   „Sie scheinen sich wohl nicht für Mode zu interessieren“, stellte ihre Gastgeberin fest und nahm sich einen Keks. Unsicher, was er darauf erwidern sollte, rührte Frederick in seiner Tasse.
   „Nein, dafür hege ich keine Begeisterung“, gab er schließlich zu.
   „Wieso fragen Sie?“
   „Och, nur aus Interesse. Ich lerne meine Gäste gerne näher kennen.“
Ihre Augen wanderten zu Liam.
   „Bedrückt dich etwas, Junge? Du wirkst... niedergeschlagen.“

 

Liam fiel beinahe der Keks aus der Hand und beim Versuch, ihn aufzufangen, zerkrümelte dieser zwischen seinen Fingern. Er warf einen prüfenden Blick zu seinem Vater, der leicht zusammenzuckte und schuldbewusst dreinblickte. Wann hatte er zuletzt seinem Sohn diese Frage gestellt? Es schien ewig her zu sein und das schlechte Gewissen plagte ihn. Er merkte, wie wenig er doch an Liam's Leben teilnahm, oder war es sogar zu viel? Legte er zu viel Wert auf die unwichtigen Dinge, suchte er Probleme, wo gar keine waren? Und übersah er dabei die wirklichen Sorgen und Schwierigkeiten, mit denen Liam zu kämpfen hatte? Diese Erkenntnis legte sich schwer auf seine Seele und Trauer sank wie ein schwarzes Tuch auf ihn nieder.
   „Wenn du vor jemand Fremden nicht darüber reden willst, kann ich das verstehen. Aber mit mir kannst du darüber reden, wenn wir unter uns sind, jederzeit.“

 

Liam biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. Wie konnte er seinem Vater, der doch beinahe nichts über sein Leben wusste, von all den Dingen erzählen, die ihn so durcheinander brachten und in ein totales Gefühlschaos stürzten? Hatte sein Vater nicht genug eigene Sorgen?
Liam schluckte und wagte es nicht, aufzublicken. Sein Vater saß still da, wie vor den Kopf gestoßen von der Zurückweisung seines Sohnes. Dorothea seufzte leise.
   „Entschuldige falls ich da einen wunden Punkt getroffen habe. Ich habe einfach nur das Gefühl, das dich momentan etwas belastet und wollte noch einmal nachhaken“, entschuldigte sie sich, ehrlich bedrückt und reichte ihm als kleine Entschuldigung einen neuen Keks. Ohne Vorwarnung musste Liam plötzlich an seine Mutter denken, das letzte Mal als sie sich gesehen hatten. Sie saß auf der Kante des Krankenbettes und hielt seine Hand, ein trauriges Lächeln auf den Lippen.
  

„Du kannst immer zu mir kommen, wenn du Probleme hast, oder einfach reden willst. Immer, ja?“
Er erinnerte sich noch, wie er ihre zierliche Gestalt und dann den Rollstuhl neben dem Bett betrachtet hatte, mit wachsender Trauer und dem Gedanken, wie absurd diese Situation eigentlich war. Sie war doch diejenige, die Unterstützung brauchte, die ihr Leben neu ordnen musste, was kümmerte sie sich noch um ihn? Er kam doch zurecht, er konnte es ertragen, sie musste auf sich achten. Er hielt den Schmerz alleine aus, er kam zurecht.

 

Er... als würde er aus einem tiefen Traum erwachen, kehrte Liam in die Realität zurück und merkte, wie sein Vater und Dorothea ihn besorgt musterten.
   „Ich schau mal mach, ob der Krankenwagen schon da ist“, murmelte er schnell und verließ, bevor jemand etwas erwidern konnte, den Raum. Frederick stöhnte gequält und vergrub das Gesicht in den Händen.
   „Sie haben es wirklich nicht leicht“, seufzte Dorothea und blickte nachdenklich aus dem Fenster. Es hatte aufgehört zu regnen und die Sonne schickte ihre warmen Strahlen durch die Scheibe und erhellte den gesamten Raum.
   „Doch dort wo Schatten ist, gibt es auch Licht. Es kommen wieder bessere Zeiten“, bemerkte sie leise und lächelte.

Kapitel 7

 

Als Liam nach draußen trat, bemerkte er als erstes den Rettungswagen, der mit Blaulicht an der Allee stand und aus dem gerade zwei Sanitäter ausstiegen, ein Mann und eine Frau. Liam ging ihnen entgegen und schilderte die Situation. Er erklärte, wo sein Vater zu finden war und während die junge Frau sich auf den Weg machte, wies der Sanitäter ihn an, sich hinten in den Wagen zu setzen. Liam stieg in den hinteren Teil des Wagens und setzte sich auf eine Trage an der Wand. Kurz darauf, untersuchte der junge Mann ihn, tastete prüfend seine Gliedmaßen ab, maß seinen Puls und Herzschlag, leuchtete ihm in die Augen und testete seine Reflexe. Außer einer leichten Prellung in der Rippengegend und einer kleinen Beule auf der Stirn, schien alles in Ordnung zu sein.

 

 

„Tut dir etwas weh? Fühlst du dich benommen oder schwindelig?“, wollte der Sanitäter wissen, während er die Instrumente wieder verstaute. Liam wollte bereits verneinen, als sich plötzlich alles drehte und sein Magen rebellierte. Der junge Mann sah, wie sein Gesicht plötzlich weiß wurde und ahnte, was los war. Noch rechtzeitig hielt er ihm eine Spuckschale entgegen, in die sich Liam heftig erbrach. Nachdem das Würgen aufgehört hatte, wies der Sanitäter ihn an, sich auf die Trage zu legen und die Beine im rechten Winkel anzuheben. Dann schob er eine zusammengelegte Decke darunter. Noch einmal maß er Blutdruck und Puls.

„Scheint wohl eine leichte Gehirnerschütterung und Unterzuckerung zu sein. Hast du heute schon etwas gegessen?“

 

Liam lag mit geschlossenen Augen da und fühlte sich ähnlich, wie auf Tamara's Geburtstagsfeier, nur schlimmer. Damals war er angetrunken gewesen und hatte alles nur am Rande wahrgenommen, jetzt aber spürte er alles klar und deutlich, seinen dröhnenden Kopf zum Beispiel.

„Nur etwas Apfel“, murmelte er erschöpft und auf die Frage hin, ob er bereits etwas getrunken habe, schüttelte er vorsichtig den Kopf.

 

 

„Es könnte eine leichte Dehydrierung vorliegen. Ich werde dir eine Infusion geben, um deinen Kreislauf zu stabilisieren und deinen Wasserhaushalt wieder aufzufüllen.“

Liam ließ alles teilnahmslos über sich ergehen und zuckte nur heftig zusammen, als die Nadel in seinen Handrücken stach. Dann tröpfelte auch schon die Infusionslösung in seine Vene und er entspannte sich etwas. Liam wurde aus seinem leichten Dämmerzustand gerissen, als die Wagentüren sich öffneten und die Sanitäterin mit seinem Vater hereinkam. Der sah seinen Sohn am Tropf hängend auf der Trage liegen und eilte besorgt zu ihm. Er bestürmte den jungen Rettungssanitäter mit Fragen, der geduldig antwortete, während seine Kollegin sich hinters Steuer setzte und den Wagen startete. Liam kämpfte darum, wach zu bleiben und das, obwohl der Wagen heftig hin - und her schaukelte. Frederick hatte sich neben ihn auf die Trage gesetzt und hielt tröstend seine Hand.

 

Die restliche Fahrt über behielt er die Hand seines Sohnes in seiner und ließ ihn nicht aus den Augen. Liam kämpfte mit der Müdigkeit, doch er zwang sich wach zu bleiben. Er sah in die erschöpften Augen seines Vaters und fühlte sich elend.

„Tut mir leid“, murmelte er schwach und auf das darauffolgende traurige Lächeln, verkrampfte sich sein Herz vor Kummer.

„Ich mache nur Probleme...“ Sein Vater schüttelte entschieden den Kopf und die Trauer wich Zuneigung.

„Es war meine Schuld und ich bin nur heilfroh, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Und ich bin dankbar, dass du da bist. Du bist so kostbar für mich...“ Er kämpfte sichtbar um Fassung und steckte Liam damit an. Der lächelte unter Tränen und Frederick erwiderte das Lächeln erleichtert.

 

Wenige Minuten später erreichten sie das Klinikum. Liam wurde auf der Trage herein gebracht, sein Vater blieb die ganze Zeit an seiner Seite, selbst aus dem Untersuchungszimmer ließ er sich nicht vertreiben. Wenigstens ließ er hier das Händchenhalten bleiben, worüber Liam froh war, denn vor dem Krankenhauspersonal wäre es ihm mehr als peinlich gewesen. Nach der Erstuntersuchung wurden beide zum Röntgen gebracht, wo sich eine leichte Gehirnerschütterung bei Liam bestätigte. Er wurde in eines der Zimmer gebracht und der behandelnde Arzt riet ihm, zur Beobachtung bis morgen zu bleiben. Frederick betrat kurz darauf den Raum und setzte sich auf einen Stuhl nahe des Bettes. Die Platzwunde auf der Stirn war von einem Pflaster bedeckt, ansonsten schien er einfach nur erschöpft und niedergeschlagen.

 

„Der Arzt hat mir geraten, bis morgen zu bleiben, zur Sicherheit“, teilte Liam seinem Vater mit, der bloß nickte und dann aus dem Fenster blickte. Der Himmel strahlte nun in einem hellen blau und die Sonne schien heiß auf die Stadt herunter. Liam zupfte an dem Kittel herum, den er anstelle von Fabian's Kleidung trug und wusste nicht, was er sagen sollte. Sein Vater schien plötzlich meilenweit entfernt und er entschied, ihn lieber nicht zu stören. Stattdessen nahm er sein Smartphone, das auf dem Beistelltisch lag und schaltete es an. Sein Herz klopfte heftig, als er das Nachrichtensymbol sah und er zögerte kurz, bevor er die SMS öffnete.

Das mit den Klamotten ist schon okay. Weißt du was? Du darfst sie behalten; sie stehen dir viel besser als mir ;) Ich hab mich nur ganz schön gewundert, wohin du plötzlich verschwunden bist , ohne Schuhe XD Und die Brötchen musste ich dann holen. Wie geht es dir? Bist du zuhause?



Liam atmete erleichtert auf und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Fabian nahm sein Verschwinden einfach locker hin und machte ihm keine Vorwürfe. Er schien zu glauben, das Beinahe - Outing mache ihm noch zu schaffen und er sei deswegen aus der Wohnung geflüchtet. Doch etwas in Liam drängte darauf, ihm die Wahrheit zu sagen, auch wenn die Erinnerung an Thomas' und Kilian's Unterhaltung ihm Bauchschmerzen bereitete. Er spürte einfach, dass er offen mit Fabian darüber sprechen konnte und dieser ihn verstehen würde. Also schrieb er schnell eine Antwort.

Noch einmal Sorry, dass ich einfach abgehauen bin, aber ich habe zufällig mitbekommen, wie Thomas und Kilian sich über mich unterhalten haben und das nicht gerade freundlich. Thomas hat sogar gesagt...

Liam's Finger verharrte über dem Display und es kostete ihn einige Überwindung, den Satz zu beenden.

Er hat gesagt, dass er mich hasst. Da habe ich es nicht mehr ausgehalten, ich musste weg.



Er schickte die Nachricht ab. Plötzlich fiel ihm ein, dass ja Linda mit dem Essen auf sie wartete und er sprach seinen Vater darauf an.

„Ich rufe sie an und gebe ihr Bescheid, dass sie damit nicht auf uns warten soll...“

„Nein, warte! Sie könnte es doch einfach vorbeibringen!“, warf Liam hoffnungsvoll ein; es grauste ihm beim Gedanken an die Krankenhauskost. Sein Vater schmunzelte und stimmte schließlich zu. Während er Linda anrief, klingelte Liam's Handy und er hob ab.

„Hey, das klingt ja schlimm! Hat Thomas das echt gesagt?“, erklang Fabian's besorgte Stimme.

„Ja“, erwiderte Liam schlicht und so leise, dass er sich nicht sicher war, ob Fabian ihn überhaupt gehört hatte.

„Das hätte ich echt nicht erwartet...ganz schön mies oder?“

Liam schluckte und schwieg.

„Wo bist du eigentlich?“, wollte Fabian wissen. „Zuhause?“

„Nein, ich bin...im Krankenhaus“, erwiderte Liam vorsichtig und er hörte deutlich das entsetzte Luftholen am anderen Ende der Leitung.

„Was ist passiert?“

Liam schilderte ihm den Beinahe – Unfall und bemühte sich, ihn so gut es ging zu beruhigen.

„Gut, dass dir nichts passiert ist, von der Gehirnerschütterung mal abgesehen. Soll ich mit den beiden darüber reden?“

 

Liam brauchte nicht lange darüber nachzudenken.

„Ich weiß du meinst es nur gut, aber das muss ich selbst klären...“ Er blickte auf und sah den besorgten Blick seines Vaters. Er lächelte ihm zu, obwohl ihm gar nicht danach war und Frederick seufzte und verließ das Zimmer. Liam war ihm dankbar dafür, auch wenn es ihn schmerzte, seinen Vater im Unklaren zu lassen. Doch er konnte einfach nicht mit ihm darüber sprechen und was hätte das auch geändert? Er musste seine Probleme alleine lösen, so war das als Teenager nun einmal.

 

Schwer seufzend richtete Liam sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Nachdenklich blickte er aus dem Fenster, bis Fabian's Stimme ihn in die Realität zurückholte.

„Wenn du meinst... wie lange musst du bleiben?“

„Ich werde morgen wieder entlassen.“

Fabian räusperte sich, bevor er verlegen murmelte:

„Du kannst jederzeit gerne vorbeikommen und auch über Nacht bleiben...“

Liam lachte befreit auf und Fabian brach verblüfft ab. Als er sich wieder beruhigt hatte, erwiderte Liam mit warmer Stimme:

„Danke Fabian. Du bist eine echte Hilfe.“ Er konnte das Grinsen seines Freundes förmlich spüren und die Angespanntheit, die er bis jetzt nicht wahrgenommen hatte, fiel von ihm ab.

 

„Ich hoffe die beiden kriegen sich wieder ein, sonst erteile ich ihnen Playstation – Verbot“, teilte Fabian scherzhaft mit und abermals musste Liam lachen.

„Da werden sie es sich's zwei Mal überlegen, ob sie es sich mit uns verscherzen wollen.“

Liam gluckste amüsiert, schloss die Augen und streckte sein Gesicht den wärmenden Strahlen entgegen.

Doch dort wo Schatten ist, gibt es auch Licht. Es kommen wieder bessere Zeiten“

Dorotheas Worte gaben ihm Hoffnung, dass alles wieder gut werden würde. Langsam, Schritt für Schritt. Und selbst, wenn er fallen sollte, würde er wieder aufstehen und weitergehen, der Sonne entgegen.



Nach Linda's Besuch verlief die Nacht ohne besondere Vorkommnisse und am Morgen holte sein Vater ihn ab. Er sah deutlich frischer und wacher aus, als gestern und konzentrierte sich voll auf das Autofahren. Liam sank zufrieden in den Sitz und betrachtete träge die vorüberziehende Szenerie, als der Wagen auf einmal langsamer wurde. Überrascht stellte er fest, dass sie vor Dorotheas Laden hielten und auf seinen fragenden Blick hin, erklärte sein Vater:

„Ich möchte mich noch einmal bei ihr für ihre Hilfe bedanken. Linda hat gestern Kuchen vorbeigebracht und den möchte ich ihr als Dankeschön geben. Wenn du magst, kannst du dich im Geschäft umsehen.“ Liam nickte sofort und stieg aus.

 

Sie betraten den Laden und dort hinter der Theke stand Dorothea und holte neue Ware aus einem Karton, die sie dann in eine Vitrine stellte. Als sie die Besucher erblickte, erschien ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht., sie unterbrach ihre Arbeit und trat zu ihnen.

„Da sind ja der schuhlose Junge und sein modefauler Vater“, begrüßte sie die beiden. Liam grinste und Frederick räusperte sich ein wenig verlegen.

„Guten Morgen, Frau Steger. Ich habe hier diesen Kuchen als Dankeschön für Ihre Hilfe...“

„Dorothea, nicht Frau Steger!“, unterbrach sie ihn und brachte ihn zum Stammeln. Liam kicherte und betrachtete dann neugierig die ausgestellte Ware in der Vitrine. Es handelte sich um Feen Figuren in allen möglichen Ausführungen und Größen. Liegend, sitzend, stehend, groß, klein, glitzernd oder glänzend. Obwohl Liam sich nicht sonderlich für Fantasy begeisterte, gefiel ihm eine der Figuren besonders. Eine Fee mit kupferrotem Haar und elfenbeinfarbenen Kleid saß auf einer durchscheinenden Kugel und hielt einen kleinen Drachen auf dem Arm.

 

Gesicht und Haar waren fein herausgearbeitet, die Farben strahlend und die Oberfläche glänzte leicht. Die Flügel funkelten und Liam glaubte, dass sie bei der kleinsten Berührung zerbrechen müssten. Sein Vater trat zu ihm und Liam fühlte sich auf seltsame Art ertappt. Er setzte dazu an, sich zu verteidigen, falls sein Vater sich über seinen Geschmack lustig machen würde, doch zu seiner Überraschung sagte sein Vater nur:

„Sie ist wirklich schön. Nimm sie ruhig mit.“ Liam runzelte die Stirn. Meinte er das ernst? Frederick nickte ermunternd, holte einen Fünfziger aus dem Portmonee und gab ihn seinem Sohn. Der wandte sich, noch immer irritiert, an Dorothea, die wieder ihr verschmitztes Lächeln zeigte und die Figur zum Schutz einwickelte. Nach dem Abkassieren lud sie ihre Gäste noch auf Kaffee und Kuchen ein und danach ging es nachhause.

 

Kapitel 8

 

Linda erwartete sie bereits und begrüßte sie freudig und Liam glaubte, er müsse in ihrer Umarmung ersticken. Die Haushälterin scheuchte beide Männer in die Küche, wo ein ausladendes Frühstück bereitstand. Liam lief das Wasser im Mund zusammen und er setzte sich und begann bereits zu essen, kaum, dass sie eingetreten waren. Sein Vater und Linda lachten gutmütig und gesellten sich hinzu.

Im Nu hatte Liam eine riesige Portion Rührei, zwei belegte Brötchen und einen Apfel verputzt. Zufrieden seufzend streckte er sich.

 

„Das hat mir gefehlt. Jetzt fühle ich mich schon viel besser.“ Linda nahm das Kompliment mit einem liebevollen Lächeln entgegen. Frederick lachte leise und schenkte sich Kaffee nach. Das Brötchen auf seinem Teller war beinahe unberührt. Nervös beobachtete er, wie Liam seinen Stuhl zurückschob und aufstand.

„Ich gehe dann in mein Zimmer“, informierte Liam die beiden, er wandte sich zur Tür und bemerkte so die Blicke, die sein Vater und die Haushälterin sich zuwarfen nicht. Als ein Räuspern erklang, wandte Liam sich überrascht um.

„Was ist?“

 

Frederick lächelte beruhigend und erwiderte:

„Du kannst gleich in dein Zimmer, ich wollte dir nur sagen, dass du deine Sachen packen sollst.“

Bevor Liam weiter nachfragen konnte, was er damit meinte, kam Linda ihm zuvor.

„Du fährst zu deiner Mutter. Noch heute.“

Nur langsam drangen die Worte zu ihm durch und als er ihre Bedeutung endlich begriff, überkam ihn unbändige Freude. Ein ungläubiges Lachen kam über seine Lippen.

„Du meinst das ernst? Ich darf zu ihr?“

Sein Vater nickte, wenn auch etwas gequält.

„Sieh es als eine Art Wiedergutmachung“, meinte er und das schlechte Gewissen war ihm deutlich anzusehen.

 

Doch als er die Freude in den Augen seines Sohnes sah, wusste er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte, auch wenn sie ihm nicht leicht gefallen war und er sich noch immer sorgte.

„Danke Dad“, entgegnete Liam . Linda saß mit zufriedenem Gesicht da und blickte von einem zum anderen. Im Geiste klopfte sie sich insgeheim auf die Schulter, denn sie selbst hatte alles in die Wege geleitet, Liam's Vater hatte nur einen kleinen Anstoß gebraucht. Beruhigt machte sie sich daran, den Tisch abzuräumen, Frederick erhob sich und trat zu seinem Sohn. Er legte seine Hand auf dessen Schulter, mit ernstem Blick.

„Sie möchte dich wirklich gerne wiedersehen und ich weiß, wie sehr auch du sie vermisst und ich habe nicht das Recht, es euch zu verbieten.“

 

Frederick schluckte schwer und rang sichtlich mit sich, bevor er die nächsten Worte aussprach.

„Du kannst sie von jetzt an jederzeit besuchen, wann immer du magst.“

Liam konnte diesen Sinneswandel kaum fassen und nickte bloß erstaunt. Dann grinste er und meinte fröhlich:

„Ich nehme dich beim Wort.“ Und eilte in sein Zimmer.

 

Er trat ein und es schien ihm, als sei er ewig nicht mehr hier gewesen, obwohl es nur einen Tag und ein paar Stunden her war. Grübelnd durchquerte er den Raum, überlegte. was er mitnehmen wollte, da fiel sein Blick auf den Schreibtischstuhl, wo eine Lederjacke über der Lehne hing; Niklas' Jacke. Unvermittelt brannte sich die Sehnsucht in Liam's Herz und überwältigt von dem Gefühlsansturm, ließ er sich auf die Bettkante sinken. Der übermächtige Drang, dem Rotschopf eine Nachricht zu schreiben, überfiel ihn, wie so oft seit der Feier. Was Niklas wohl gerade machte? Wo war er in diesem Moment? Sehnte auch er sich nach den alten Zeiten zurück, als noch alles gut und unkompliziert zwischen ihnen gewesen war? Und Tamara? Konnte sie ihm jemals verzeihen, oder dachte sie voller Hass an ihn, wünschte sie sich vielleicht sogar ihn nie gekannt zu haben?

 

Nach einer Weile voller quälender Zweifel, schüttelte Liam die lästigen Fragen ab; die Antwort darauf würde mit der Zeit kommen, wenn es soweit war.

Langsam kehrte die Freude über den anstehenden Besuch zurück und energisch begann Liam seine Kleidung, einige Skateboard - Magazine, seinen MP3- Player und noch anderen Krims-Krams in seine Sporttasche zu packen. Bei der Violine hielt er kurz inne und strich andächtig über die glatte, glänzende Oberfläche.

Ich kann wieder mit ihr spielen.

 

Die Vorfreude, aber auch leise Furcht ließen sein Herz schneller schlagen. Konnte er ihrer Spielkunst nach all der Zeit noch gerecht werden? War er noch würdig genug, mit ihr im Duett zu spielen? Würde es ihm wieder möglich sein, voller Freude und ohne Zweifel an der Seite seiner im Rollstuhl sitzenden Mutter zu spielen? Er musste es versuchen und sein Bestes geben, schon allein, um ihr eine Freude zu machen.

Tief holte er Atem und verstaute die Violine im Instrumentenkoffer. Sein Skateboard und die benötigte Ausrüstung klemmte er sich unter den Arm. Mit einem letzten Blick auf die Lederjacke, verließ er das Zimmer und schloss die Tür.

Unten angekommen, sah er seinen Vater bereits an der Haustür stehen. Er hielt einen in Papier gewickelten Gegenstand in den Händen und da fiel Liam die Figur mit der Fee wieder ein. Frederick bemerkte seinen Blick und lächelte.

 

„Die ist für deine Mutter.“ Liam musste zugeben, dass es ihn wenig überraschte; irgendwie hatte er geahnt, dass die Figur als Geschenk gedacht war und die Fee wies tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner Mutter Ailis auf.

 

 

„Sie wird sich bestimmt darüber freuen, sie mag ja solche Sachen. Eine Irin halt.“

Sein Vater nickte, mit entrücktem Blick, bis Linda in den Flur trat. Wortlos nahm sie Liam in die Arme und murmelte dicht an seinem Ohr:

„Ich wünsche dir viel Spaß bei deiner Mutter. Und falle ihr nicht zur Last, hörst du?“

Er nickte und erwiderte ihre Umarmung kurz, wenn auch innig. Seinem Vater gab die Haushälterin einen kurzen Klaps auf die Schulter, bevor sie wieder in der Küche verschwand. Die beiden Männer gingen durch die Kellertür in die Garage. Liam verstaute Skateboard, Zubehör und Tasche im Kofferraum, umrundete den Wagen und ließ sich hinten in einen der Sitze sinken. Sein Vater schickte ihm ein entschuldigendes Lächeln und reichte ihm die eingepackte Fee. Liam setzte sie auf seinen Schoß und hielt sie fest; hoffentlich überstand sie die Fahrt unbeschadet.

 

Sie fuhren los und Liam konnte es kaum noch erwarten, endlich anzukommen. Drei Monate war es bereits her, dass er seine Mutter besucht hatte, doch ihr gesundheitlicher Zustand und die Schule hatten einen Besuch unmöglich gemacht, deswegen freute er sich umso mehr, sie bald wieder zu sehen.

„Wie lange bleibe ich denn?“, erkundigte er sich, während er eine Nachricht an Fabian schrieb.

„Deine Mutter und ich haben uns auf etwa zwei Wochen geeinigt. Wenn du willst, kannst du auch länger bleiben“

„Mhm, mal sehen. Wenn es mir nicht zu langweilig wird...“

„Oh, deine Mutter hat sich bestimmt etwas ausgedacht“, entgegnete sein Vater zuversichtlich und hielt vor einer roten Ampel.

„Wieso bleibst du nicht auch zu Besuch? Sie würde sich bestimmt freuen“, bemerkte Liam nebenbei und beobachtete das Gesicht seines Vaters im Rückspiegel. Frederick's Miene verzog sich vor Schmerz und seine Hände krampften sich um das Lenkrad. Die Ampel sprang auf Grün und er trat etwas zu heftig auf das Gaspedal, wodurch der Wagen einen Satz nach vorne machte. Liam spürte, wie sich die Kanten der Figur in die bloße Haut seiner Arme bohrten, doch er ignorierte den Schmerz, wartete stattdessen auf eine Erwiderung.

„Ich kann nicht. Es ist zu schmerzhaft“, murmelte sein Vater und ein zittriger Atemzug dehnte seine Brust.

 

 

Liam dachte kurz nach, bevor er behutsam fortfuhr:

„ Aber denkst du nicht, dass sie dir längst verziehen hat? Sie liebt dich schließlich im-...“

„Aber ich kann mir nicht verzeihen!“, schrie sein Vater. Fluchend drosselte er das Tempo und fuhr rechts ran. Liam saß, erschrocken von dem Ausbruch da und wagte es nicht, sich zu rühren. Frederick fuhr sich erschöpft durch das schwarze Haar und gab ein resigniertes Seufzen von sich.

„Entschuldige, dass ich laut geworden bin. Es ist nur so schwer für mich...“

„Ist schon gut, ich hätte einfach die Klappe halten sollen.“

Die Entschuldigung seines Sohnes entlockte ihm ein kleines Lächeln. Sie schwiegen kurz, dann bat sein Vater mit ruhiger Stimme:

„Sagst du ihr bitte nichts von der Ohrfeige und dem Unfall, den ich fast verursacht habe? Sie soll nicht schlechter von mir denken, als sie es ohnehin schon tut.“

 

Die Verzweiflung in den letzten Worten weckte Mitleid in Liam und sanft erwiderte er:

„Ich werde nichts sagen. Ich hatte es sowieso nicht vor.“

Frederick nickte erleichtert und der Rest der Fahrt verlief in etwas gedrücktem Schweigen.

Sie fuhren in Richtung des nächsten Stadtbezirks und eine halbe Stunde später hatten sie ihr Ziel erreicht; einen großen Gebäudekomplex, umgeben von Bäumen und Büschen, sowie einem kleinen Spielplatz. Liam stieg aus, während sein Vater sitzen blieb. Sehnsüchtig blickte er die Eingangstür an, als könne seine Frau sie jeden Moment öffnen. Liam verdrehte die Augen und trat an die Beifahrerseite des Wagens.

„Du könntest zumindest Hallo sagen, meinst du nicht?“

 

Sein Vater schreckte aus seinen Gedanken auf und nickte, wenn auch widerwillig. Er stieg aus, holte Liam's Sachen aus dem Kofferraum und beide gingen zur Eingangstür. Auf einem der Klingelschilder stand ihr Familienname und Liam fühlte sich seltsam befremdet. Sollten sie nicht wie eine richtige Familie zusammen wohnen? Man könnte fast denken seine Eltern seien geschieden und er sei zum Routinebesuch hier.

 

Rasch schüttelte er diesen beunruhigenden Gedanken ab und drückte die Klingel. Panisch wollte Frederick die Flucht ergreifen, doch die Hand seines Sohnes, die sich unbarmherzig um seinen Arm schloss, hinderte ihn daran. Nervös ergab er sich in sein Schicksal und als das schrille Summen des Türöffners erklang, betraten beide mit rasenden Herzen das Gebäude. Sie durchquerten einen kleinen Flur, von dem mehrere Türen abgingen und hielten dann vor der letzten. Abermals betätigten sie die Klingel und es erklang freudiges Hundegebell.

 

Die Tür öffnete sich und Ailis' schwarze Labradorhündin Kayla sprang ihnen ungestüm entgegen. Begeistert schnüffelte sie an den Besuchern und wuselte aufgeregt um Liam's Beine herum, während Frederick sich unbehaglich im Hintergrund hielt.

Liam streichelte Kayla liebevoll und blickte auf, als die Hündin auf ein Pfeifen hin, kehrtmachte und zur Tür trottete, in der nun Ailis erschienen war.

Das glückliche Lächeln in ihrem Gesicht ließ sie strahlen und ihr Blick wanderte voller Wärme über beide Besucher. Sie legte den Kopf schräg und bemerkte schmunzelnd:

„Frederick Dahlke, wie lange willst du noch dort hinten herumstehen? Bekomme ich denn keine Begrüßung?“

 

Er lächelte verlegen und gesellte sich zu Frau und Sohn. Er beugte sich herab und legte sanft die Arme um sie, als könne sie zerbrechen. Ailis dagegen drückte ihren Mann fest an sich und strich ihm liebevoll durch das Haar.

„Ich habe dich vermisst“, murmelte sie zärtlich. Er entzog sich etwas zu hastig ihrer Umarmung und wischte sich verstohlen über die Augen. Mit einem wehmütigen Lächeln verfolgte sie, wie ihr Mann ihren Sohn kurz in die Arme schloss.

„Viel Spaß und mach keinen Ärger“, brummte Frederick mit belegter Stimme.

„Klar, Mum und ich machen es uns schön und passen aufeinander auf.“

Sein Vater nickte erleichtert, warf seiner Frau einen letzten, entschuldigenden Blick zu, bevor er Richtung Ausgang verschwand. Ailis streckte lächelnd die Arme aus und Liam stellte die Figur vorsichtig auf dem Boden ab, bevor er sich herabbeugte und seine Mutter in eine innige Umarmung zog. Ihr seidenweiches Haar und ihr Duft umgaben ihn wie ein warmer Kokon und er versank regelrecht in einem schwindelerregenden Rausch. Wärme füllte seine Brust und Freude machte sein Herz weit.

 

Ailis seufzte glücklich und als sie sich voneinander lösten, strich sie ihm, wie zuvor ihrem Mann, sanft durchs Haar.

„Endlich sehen wir uns wieder. Ich habe dich schrecklich vermisst.“

Liam hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Als seine Eltern sich eben begrüßt hatten, war er zutiefst gerührt gewesen, hatte aber auch Wehmut verspürt. Doch nun drohten ihn seine Emotionen zu überwältigen. Um sich abzulenken, nahm er die Figur und hielt sie seiner Mutter entgegen.

„Das ist für dich. Dad und ich haben es ausgesucht.“

 

Ihre Augen leuchteten auf.

 

„Vielen Dank, das ist wirklich lieb von euch. Aber komm doch herein, der Flur ist nicht gerade der gemütlichste Ort zum Reden.“

„Das stimmt“, gab Liam ihr Recht. Ailis fuhr voraus, Kayla neben sich und Liam folgte ihr in die Wohnung. Das Ein-Zimmer-Apartment kam ihm seltsam fremd vor, obwohl er schon einmal hier gewesen war. Doch selbst nach seiner langen Abwesenheit war es immer noch hell, ordentlich und gemütlich, trotz der wenigen Möbel. Es gab nur eine Tür und zwar die zum Badezimmer, ansonsten befanden sich Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer in einem Raum. Liam's Vater hatte alles Nötige für den Einzug veranlasst und auf alles Wichtige geachtet: Keine Treppen, ein ebenerdiges und behindertengerechtes Bad, eine speziell angefertigte Einbauküche und die Lage im Erdgeschoss.

 

 

„Ich fühle mich sehr wohl hier. Es fehlt mir an nichts, dank deines Vaters“, bemerkte seine Mutter fröhlich und stellte die Figur auf den Tisch vor dem Sofa. Als wäre sie ein kleines Mädchen, packte sie das Geschenk aus und klatschte entzückt in die Hände.

„Sie ist wunderschön. Und sie sieht mir ziemlich ähnlich“, rief Ailis begeistert aus und hielt die Fee grinsend an ihr Gesicht. Liam lachte und legte seine Sachen ab.

„Deswegen haben wir sie auch ausgesucht“, erklärte er und setzte sich auf das Sofa. Kayla kam schwanzwedelnd zu ihm und betrachtete ihn neugierig mit zur Seite geneigtem Kopf.

„Sie ist gewachsen seit dem letzten Mal“, stellte Liam fest und kraulte der Hündin die Ohren. Seine Mutter stellte die Fee auf das Board neben den Fernseher und wandte sich mitsamt ihrem Rollstuhl ihm zu.

„Möchtest du etwas trinken? Eistee vielleicht?“

Er nickte; seine Kehle war staubtrocken. Er folgte ihr in die Küche und konnte sich eine Bemerkung wegen der niedrigen Möbel nicht verkneifen.

„Wirkt wie im Haus der sieben Zwerge.“

Sie knuffte ihn in die Seite und schenkte zwei Gläser voll.

„Kayla!“

 

Sofort kam die Begleithündin herbei und blickte ihr Frauchen aufmerksam an.

Ailis deutete auf ein Tablett, das in einem der Regale lag. Kayla trottete hin, stemmte sich auf die Hinterbeine und nahm das Tablett zwischen die Zähne. Dann sank sie wieder auf den Boden zurück und ging zu ihrer Herrin, um ihr das Tablett auf den Schoß zu legen.

„Gutes Mädchen“, lobte Ailis sie und holte ein Leckerli aus der Rocktasche hervor. Liam schüttelte ungläubig den Kopf. Egal wie oft er dieses Phänomen beobachtete, das perfekte Zusammenspiel von Mensch und Tier faszinierte ihn immer wieder aufs Neue und machte die enge Verbundenheit zwischen Kayla und seiner Mutter mehr als deutlich. Es machte einfach Freude die beiden miteinander zu sehen.

 

Er stellte die Gläser auf das Tablett, gab noch einige Eiswürfel hinein und schob seine Mutter vorsichtig an den Tisch zurück. Sie nickte ihm dankend zu und er setzte sich. Der kühle Eistee war bei der schwülen Luft draußen wunderbar erfrischend und im Nu war das Glas leer. Ailis rührte mit dem Strohhalm in ihrem Glas herum und betrachtete dabei die Eiswürfel, die leise knackten und klirrten. Dann sah sie auf und betrachtete ihn prüfend.

„Wie läuft es so bei euch?“

 

Die Ereignisse der letzten Wochen spielten sich in Liam's Kopf ab, wie ein Film, der vor gespult wird; der Streit mit seinem Vater, sein Ausrutscher im Schwimmbad, die Ohrfeige, Tamara wie sie tobte und ihn verfluchte, Niklas' Abfuhr, Fabians Outing und das darauffolgende peinliche Gespräch, der Beinahe - Zusammenstoß mit einem anderen Wagen, der Krankenhausaufenthalt...

Es war eine ganze Menge geschehen und Liam runzelte die Stirn, als ihm auffiel, dass nichts davon irgendwie positiv war.

 

Seine Mutter schlürfte gerade den Rest von ihrem Getränk aus und stellte das leere Glas auf den Tisch. Während sie Kayla streichelte, sagte sie beiläufig:

„Sei absolut ehrlich. Wenn du Sorgen oder Kummer hast, sag es einfach. Ich bin hier und höre zu.“

Verflucht, war er wirklich so leicht zu durchschauen? Erst Niklas, der ihn jedes Mal damit aufzog, dann Dorothea, die es bemerkt hatte, obwohl sie ihn doch gar nicht kannte und jetzt auch seine Mutter! Mit einem bitteren Lachen rieb er sich die Stirn und fuhr sich nervös durchs Haar.

 

 

„Tja, wo fange ich am besten an? Ich weiß nicht...“

Er merkte, dass seine Stimme zitterte und biss sich verärgert auf die Unterlippe. Er konnte doch jetzt nicht vor seiner Mutter heulen! Er war keine sechs mehr verdammt! Als kühle Finger ihn berührten, zuckte er zusammen und blickte mit tränen verschleiertem Blick zu ihr auf, in diese gütigen, fröhlichen, grünen Augen. Sie nickte ihm ermunternd zu und mit wackliger Stimme vertraute er ihr all sein Leid an, ließ dabei, wie er es seinem Vater versprochen hatte, die Ohrfeige und den beinahe verursachten Unfall aus. Doch der Rest sprudelte nur so aus ihm heraus und er fühlte, wie die Anspannung mehr und mehr von ihm abfiel und als er fertig war, wurde es bereits Abend und er war nur noch erschöpft, aber auch erleichtert.

 

Ailis hatte aufmerksam zugehört, hier und dort tröstende oder tadelnde Worte eingeworfen und saß nun mit ernster Miene da.

„Ich bin eine Memme“, brach Liam das Schweigen schließlich, wobei er dem Blick seiner Mutter auswich. Oh Gott, jetzt wusste sie alles, was musste sie jetzt von ihm denken!

„ Ja das bist du“, gab sie schlicht zurück, noch immer blieb ihr Gesicht unbewegt. Liam sah sie ungläubig an, bis ein Lächeln sich auf ihren Lippen ausbreitete und sie hinzufügte:

„Aber auf eine gute Art und Weise.“

Er warf ihr einen bösen Blick zu, doch sie lachte nur.

„Ach Schatz, so ist das Leben nun einmal! Das Wichtigste ist jetzt, dass du den Kopf nicht hängen lässt und dein Leben weiterlebst. Auf schlechte Zeiten kommen wieder gute Zeiten.“

Liam war vom Optimismus seiner Mutter einfach nur platt. Woher nahm sie nur diese Zuversicht? Lag es daran, dass sie mehr Lebenserfahrung hatte als er? Oder daran, weil das Schicksal sie so hart getroffen hatte? Doch müsste sie gerade deswegen nicht am Boden zerstört sein?

 

„Ich lebe im Hier und Jetzt. Es ist mir egal, was war oder hätte sein können, ich tue einfach das, was mir Freude macht, mit den Menschen, die mir wichtig sind. Ich gestalte meine Zukunft selbst und stehe immer wieder aufs Neue auf, weil ich weiß, dass ich die Dinge ändern, oder ihnen freien Lauf lassen kann.“

Ailis wandte den Kopf und sah durchs Fenster in die hereinbrechende Dunkelheit hinaus.

„Jede Entscheidung und Tat hat Konsequenzen und man muss lernen mit ihnen umzugehen, nicht wahr?“

 

Liam starrte seine Mutter an, als hätte sie sich soeben in die Fee, die auf dem Board stand, verwandelt. Ihr helles Lachen ließ ihn aus seiner Starre erwachen. Müde fuhr er sich durch das Gesicht.

„Ein kleiner Imbiss wäre jetzt nicht schlecht, was meinst du? Um die Ecke gibt es einen richtig guten Döner.“

Er musste plötzlich kichern; manchmal benahm sie sich wie ein Teenager, doch gerade das machte es ihm so leicht, sich mit ihr auf einer Ebene zu fühlen und offen mit ihr zu reden, ganz anders als mit seinem Vater...

 

Sie genossen die kühle Abendluft und aßen, während sie durch die Straßen zogen ihre Döner, die einfach göttlich schmeckten. Liam fragte seine Mutter nach ihrer Arbeit und ihrem Alltag und sie erzählte von ihrem toleranten Chef, dem einen oder anderen Kollegen, oder von dem Unfug, den Kayla manchmal trieb.

„Gestern beim Wäscheaufhängen ist ein Laken heruntergefallen und wurde von einem Windstoß mitgerissen. Kayla ist sofort hinterher und hat versucht, es mit den Zähnen zu fangen. Dann...“

Ailis lachte auf und kicherte.

 

 

„Dann ist ihr das Laken plötzlich auf den Kopf gefallen und sie ist panisch herumgelaufen, hat sich im Kreis gedreht... Es sah aus wie ein schlechtes Halloweenkostüm!“, prustete sie los und klopfte der Hündin liebevoll den Rücken. Kayla's Schwanz wedelte heftig hin und her; der Heiterkeitsausbruch ihrer Herrin schien sie zu freuen. Auch Liam lachte und verträumt blickte er in den Sternenhimmel hinauf. Ein Straßenmusiker begann eine fröhliche Melodie auf der Flöte zu spielen und die Musik vibrierte durch seinen Körper, bis tief in sein Herz.

Es wird alles wieder gut, flüsterte eine leise Stimme ihm zu und er glaubte plötzlich fest an diese Worte. Zum ersten Mal seit Wochen verspürte er wieder Zuversicht und aus einem Überschwang an Glück heraus, gab er seiner Mutter einen Kuss auf die Wange und es scherte ihn nicht, wer ihn dabei sah oder was die Leute von ihm dachten. Dann packte er Kayla bei den Vorderpfoten, zog sie auf die Hinterbeine hoch und tanzte mit der Hündin im Kreis.

 

 

„Liam, was machst du da?“, rief Ailis überrascht, dann brach sie wieder in lautes Lachen aus und klatschte begeistert zum Takt der Musik. Einige Passanten blieben stehen, lachten oder klatschten mit, ein paar schüttelten die Köpfe, doch die Kinder waren nicht mehr zu halten, sie tanzten begeistert mit und johlten vor Freude.

Liam blickte abermals zu den Sternen empor, während er weiter im Kreis wirbelte, bis ihm schwindelig wurde. Kayla entwand sich seinem Griff und setzte sich hechelnd neben ihre Herrin, die applaudierte, was ihr einige Passanten gleichtaten, besonders die Kinder. Liam, der einen regelrechten Drehwurm hatte, taumelte gegen einen kräftigen, älteren Mann, der ihn prompt stützte und gutmütig brummte:

„Na, na, fall uns hier nicht um. Hast wohl einen schönen Tag gehabt?“

Liam nickte einfach nur atemlos. Ja, das war der beste Tag seit langem gewesen. Und es würde bestimmt nicht der letzte sein.

Kapitel 9

Er war ihm ganz nah. Die Hitze seines Körpers drang durch die Kleidung hindurch und ein wohliges Kribbeln breitete sich in ihm aus. Berührungen, zart wie Blütenblätter streiften seine Haut und sandten kleine Schauer sein Rückgrat hinab. Heiße Lippen pressten sich auf seinen rasenden Puls und er spürte ein fremdes Herz an seiner Brust schlagen, genauso schnell wie seines. Ein leises Flüstern, dessen Worte er nicht verstand, dann ein drängender Kuss, gierige Hände. Haut auf Haut, Zunge an Zunge ließen ihn in Flammen stehen. Oh bitte! Wollte er, dass es aufhörte, oder niemals endete? All sein Fühlen konzentrierte sich plötzlich auf einen bestimmten Punkt, die Hitze staute sich dort, doch es war gut, es fühlte sich so gut an...

 

Nur am Rande nahm er die plötzliche Feuchtigkeit wahr. Feuchtigkeit? War da nicht eben eine alles verzehrende Hitze gewesen? Eine Zunge vielleicht? An seinem Arm...

 

Noch verwirrt von seinem Traum, erwachte Liam und brauchte eine Weile, bis er begriff, was hier so feucht war und warum. Na ja, das eine war Kayla, die ihm begeistert den Arm ab schleckte und das Zweite...Da bekam der Begriff „feuchter Traum“ doch eine ganz andere Bedeutung. Schnell kletterte Liam vom Sofa und huschte ins Badezimmer. Sein Gesicht im Spiegel war leicht gerötet und Schweiß klebte auf seiner Haut. Er verzog das Gesicht und nahm erst einmal eine heiße Dusche. Während er sich einseifte, grübelte er über den Traum nach. Wer wohl die Person im Traum gewesen war? Niklas auf jeden Fall nicht, überhaupt hatte er niemanden gesehen, mehr gefühlt. Erst waren es sanfte Berührungen gewesen, dann waren sie leidenschaftlicher geworden...

Liam stellte beschämt fest, dass er wieder hart wurde, also stellte er das Wasser rasch kalt, um sich und sein Gemüt abzukühlen.

Zitternd schlang er sich ein Handtuch um die Hüfte und tapste in die Küche. Seine Mutter schien bereits zur Arbeit gegangen zu sein. Ein Post-it am Kühlschrank teilte ihm mit, dass sie um vier zuhause sein würde und er sich gerne an den Vorräten bedienen könne. Mit einer Schale Cornflakes und einer Flasche Wasser setzte Liam sich aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein.

Kayla kam zu ihm getrottet und er streichelte ihr den Kopf.

„Na, hast du Lust auf ein wenig Bewegung?“, murmelte er zärtlich und die Hündin leckte ihm über die Finger. Liam lachte und erhob sich.

„Ich werte das mal als ein Ja.“

Rasch zog er sich an, befestigte die Leine an Kayla's Geschirr, schnappte sich noch sein Skateboard mitsamt Schutzausrüstung und verließ das Gebäude.

Es war ein lauer Morgen, trotz der wenigen Wolken am Himmel, doch Liam war es recht so. Bei tropischen Temperaturen zu skaten war einfach nur die Hölle.

Er schlenderte durch die Straßen, sah sich neugierig um und genoss die frische Luft. Kayla lief eifrig neben ihm her, blieb brav an seiner Seite und wenn ihnen Passanten mit anderen Hunden begegneten, verhielt sie sich ruhig und freundich.

 

Liam blickte sich suchend um; er konnte sich noch vage an einige Skaterampen erinnern, in der Nähe eines Spielplatzes, die er bei seinem letzten Besuch gesehen hatte.

Er beschloss kurzerhand einige Fußgänger zu fragen und machte sich dann auf den Weg in die gewiesene Richtung.

Und tatsächlich entdeckte er einige Straßen weiter den Spielplatz und daneben die Rampen. Überrascht stellte er fest, das sich einige junge Leute bereits dort versammelt hatten, fünf insgesamt im Alter von zwölf bis ungefähr siebzehn. Langsam näherte er sich und einige Augenpaare richteten sich sofort neugierig auf ihn.

Liam kümmerte sich nicht weiter darum, sondern band Kayla an einem Farradständer fest und zog Knie-,Armschützer und Helm auf. Einer der jüngeren Jugendlichen lachte, doch als Liam an einer der Rampen in Position ging, verstummte er und sah, so wie der Rest, gebannt zu. Besonders Einer unter ihnen, ein etwa Siebzehnjähriger, mit schwarzem Haar, der wohl der Anführer der Gruppe zu sein schien, betrachtete den Ankömmling mit prüfendem Blick.

 

Nun bekam Liam doch etwas Herzklopfen.

Er fuhr an, ging leicht in die Knie, steuerte auf eine der Rampen zu. Kurz bevor er sie erreichte, erhöhte er das Tempo und fuhr mit Schwung bis zu deren Ende hinauf.

Er erreichte die obere Kante, glitt darüber hinaus; mit einer Hand zog Liam die Spitze des Boards senkrecht in die Luft. Er spannte seinen Körper kurz an, hielt die Spitze weiterhin fest, während er die Ferse über den hinteren Teil des Boards schob und mit den Zehenspitzen Druck auf die rechte hintere Kante ausübte.

Liam spürte, wie das Deck zur Seite kippte. Jetzt! Er hob beide Füße an, ließ die Spitze los. Das Skateboard rotierte um die eigene Achse.

Liam konzentrierte sich, versuchte, den richtigen Augenblick abzupassen. Das Brett sank in die Waagerechte zurück; wie in Zeitlupe, sah Liam das Board unter sich Richtung Asphalt sinken und abermals spannte er jeden Muskel an. Er spürte eine Ader an der Schläfe pochen, sein Herzschlag verlangsamte sich, sein Atem stockte.

Er fiel und bereits während seines Falls erkannte Liam, dass er zu knapp auf der hinteren Kante des Decks aufkommen würde. Innerlich fluchend wartete er die Landung ab.

 

Wie vermutet, kam er zu weit hinten auf. Die Nase des Skateboards hob sich, das Tail wurde auf den Boden gedrückt. Ein Ruck und Liam stürzte rücklings vom Board. Sein Hinterteil machte unsanfte Bekannschafft mit dem Asphalt und seine Handflächen wurden aufgeschürft. Plötzlich fing Kayla zu bellen an und irritiert wandten sich die Blicke aller Anwesenden auf die Hündin, die an ihrer Leine zog und sich scheinbar losreißen wollte.

Liam rappelte sich hoch, erhitzt, leicht zitternd und innerlich sterbend vor Scham. Mit geröteten Wangen eilte er zu der Labradorhündin und strich ihr beruhigend über den Kopf.

„Ganz ruhig, mir ist nichts passiert“, murmelte er ihr zu und das schien sie zu beruhigend. Hechelnd setzte sie sich und sah ihn aus braunen Augen an, mit diesem typischen Hundeblick.

Einem wilden Kribbeln gleich fùhlte er die Blicke der Jugendlichen auf sich und wagte es kaum, sich umzudrehen.

Liam holte tief Luft, wandte sich dann doch um und machte sich auf Gelächter und Spott gefasst. Auf den Gesichtern konnte er Bewunderung, Überraschung, Heiterkeit oder Gleichgültigkeit erkennen, jedoch keinen Hohn. Der große, schwarzhaarige Anführer trat zu ihm, die graublauen Augen musterten ihn von oben bis unten, dann erschien ein breites Lächeln auf seinen Lippen.

 

 

„Gar nicht schlecht. Wie lange skatest du schon?“, sagte er mit Anerkennung in der Stimme. Liam betrachtete den Fremden mit leichtem Misstrauen, nicht ganz sicher, wie er den Typen einschätzen sollte.

„Seit knapp einem Jahr“, antwortete er dennoch und sah sich nach seinem Skateboard um. Er entdeckte es einige Meter entfernt an einem Klettergerüst.

Gerade wollte er los und es holen, als ein etwa elfjähriger Junge mit hoher Stimme fragte:

„Warum trägt der Hund so komische Gurte am Körper?“

Liam wandte sich ihm zu und lächelte freundlich.

„Man nennt es 'Geschirr' und es ist unterwegs bequemer für den Hund.“

Er hoffte, dass seine Erklärung halbwegs verständlich war. Der Junge nickte, den Blick weiterhin auf Kayla gerichtet.

„Darf ich ihn streicheln?“

„Klar. Es ist übrigens eine sie.“

Zaghaft strich die schmale Hand über das schwarze Fell auf Kayla's Kopf und der Junge lachte erfreut, als die Hündin sich in seine Hand schmiegte und mit dem Schwanz wedelte.

Liam riss sich von dem Anblick los und wandte sich wieder an den Anführer.

„Mein Name ist Robin und ich gebe den Knirpsen hier Unterricht im Skaten“, stellte dieser sich vor und ignorierte die Protestrufe der sogenannten „Knirpse“ einfach.

„Du bist nicht von hier, oder?“, stellte Robin auch schon die nächste Frage und setzte sich auf einen abgesägten Baumstumpf. Er holte eine Schachtel Zigaretten aus der Jeanstasche und steckte sich eine an.

 

 

Die restliche Gruppe zerstreute sich und jeder ging einer eigenen Beschäftigung nach, nur der blonde Junge, der Kayla gestreichelt hatte, rührte sich nicht, sondern verharrte bei der Hündin, die sich hingelegt hatte und neugierig dessen Schuhe beschnupperte.

„Kann sie Kunststücke?“, wollte der Elfjährige wissen, wobei er Kayla die Ohren kraulte. Liam wusste nicht recht, wem er zuerst antworten sollte.

„Tschuldige, mein Bruder stellt immer so viele Fragen“, warf Robin entschuldigend ein und zog an seiner Zigarette.

Liam zuckte mit den Schultern, erwiderte „Kein Ding“ und gesellte sich zu Robin's Bruder.

 

„Ich heiße Adrian und du?“

„Ich bin Liam. Ich zeig dir mal, was Kayla so kann.“

Adrian nickte begeistert und sah gespannt zu, wie Kayla losgebunden wurde. Auch Robin verfolgte die Prozedur interessiert.

Liam lenkte mit einem Zungenschnalzen die Aufmerksamkeit des Labradors auf sich, dann deutete er auf sein Skateboard.

„Hol's!“

Kayla schoss los, nahm die Nase des Boards zwischen die Zähne und zog es bis vor Liam's Füße. Adrian grinste.

„Cool!“

Liam gesellte sich wieder zu Robin, der gerade seinen Glimmstengel austrat.

„Ich komme aus einem anderen Stadtbezirk, eine knappe halbe Stunde von hier“, antwortete Liam verspätet und setzte sich auf sein Skateboard. Sanft ließ er sich darauf hin - und hergleiten.

Robin verfolgte schmunzelnd seine Bewegungen.

„Du hast viel Energie und deine Körpergröße macht dich auf dem Board wendiger. Doch dein Timing und die Koordination sind noch ausbaufähig“, erklärte der Schwarzhaarige in sachlichem Ton und Liam fühlte sich vom plötzlichen Themenwechsel ein wenig überrumpelt.

„Ach so? Und wie ändere ich das am besten?“

Robin kniff nachdenklich die Augen zusammen. Dann erklärte er ausführlich, wo genau seine Schwächen lagen und wie er diese verbessern konnte. Im Laufe des Gesprächs erfuhr Liam auch, dass Robin bereits seit fünf Jahren Skateboard fuhr und für seine Erfahrung von den jüngeren Skatern in der Gegend als Mentor besonders geschätzt wurde. Er nahm selbst an jedem stattfindenden Wettbewerb teil und bereitete seine Schützlinge ebenfalls intensiv darauf vor.

 

 

„Jeder von ihnen hat sein eigenes, besonderes Talent und es macht Spaß, es zu fördern und zu sehen, wie sie weiter wachsen und Spaß daran haben.“

Man hörte deutlich wie stolz Robin auf seine Aufgabe und seine Schüler war und Liam nickte zustimmend.

Auch ihm war es wichtig, sich immer weiter zu entwickeln und sich neuen Herausforderungen zu stellen und das Gefühl, wenn man einen Trick sauber ausgeführt hatte, war jedes Mal unglaublich berauschend.

Sie fachsimpelten noch ein wenig über verschiedene Techniken, bis Liam nach einem Blick auf sein Handy feststellte, dass seine Mutter bald von der Arbeit nachhause kommen würde. Mit echtem Bedauern verabschiedete er sich von den beiden, versprach, bald wieder zu kommen und fuhr kurzerhand auf dem Board zurück zum Wohnkomplex; Kayla rannte begeistert neben ihm her.

Belustigt stellte Liam sich einen Moment lang vor, er stünde auf einem Schlitten und Kayla sei ein Schlittenhund.

In der Wohnung zog Liam sich um, versorgte Kayla mit Wasser und Futter und durchstöberte die Küchenschränke nach Vorräten. Zwanzig Minuten später schob er einen Nudel - Gemüseauflauf in den Ofen, wobei er inständig hoffte, dass dieser essbar war.

 

 

 

 

 

 

 

„Ich sollte wirklich anderen das Kochen überlassen“, seufzte Liam niedergeschlagen und zappte lustlos durch das Fernsehprogramm.

Ailis lag in eine Decke gewickelt neben ihm und las ein Buch.

Bei den Worten ihres Sohnes, lachte sie und gluckste:

„Ein Koch ist an dir wirklich nicht verloren gegangen. Aber sei nicht traurig, ich kann es auch nicht unbedingt besser. Was glaubst du wohl, weshalb ich Linda eingestellt habe?“

Sie zwinkerte ihm zu, schloss ihr Buch und fuhr ihm kurz durch das Haar.

„Apropos Beruf, hast du dir über die Zeit nach der Schule schon Gedanken gemacht?“

Liam hielt im Zappen inne und legte die Fernbedienung zur Seite. Versonnen betrachtete er seine schmalen Hände, mit den langen Fingern und der leicht schwieligen, aufgeschürften Haut. Was wollte er später einmal tun? Was konnte und was wollte er in Zukunft sein?

 

 

„Es ist nur eine grobe Richtung, aber ich denke alles, was mit Sprache zu tun hat, interessiert mich und natürlich die Musik...“

Ailis nickte und meinte gelassen:

„Ich bin sicher, du findest deinen Weg und du hast all die Menschen um dich, die du liebst und die dich immer unterstützen werden.“

Liam nickte zustimmend und schenkte ihr ein dankbares Lächeln.

„Du hast ja noch ein wenig Zeit, bis zum Abschluss. Und dass du eine grobe Richtung hast, ist doch schonmal was“, fügte seine Mutter noch hinzu. Sie verfolgten eine Weile schweigend das Fernsehprogramm, bis Ailis schließlich unschuldig fragte:

„Und die Liebe? Wo hat sie Platz in deinem Leben?“

Liam versteifte sich und blickte stur aus dem Fenster. Obwohl er seine Meinung zu diesem Thema mehr als deutlich machte, ließ sie nicht locker.

 

 

„Ich weiß wie schmerzhaft es sein kann, jemandem zu lieben, doch die menschlichen Gefühle lassen sich nicht wegschließen oder leugnen. Früher oder später werden sie übermächtig und übernehmen unser Denken und Handeln und es gibt nichts, was wir dagegen tun könnten.“

Sie seufzte schwer.

„Du musst den Schmerz vergessen und offen für neue Beziehungen sein...“

„Und wenn ich das nicht will? Wenn ich den Schmerz nicht vergessen kann? Oder die Sehnsucht, oder die Scham...“

Liam ballte die Hände zu Fäusten und versuchte den heißen Knoten in seiner Brust zu ignorieren.

„In der Liebe geht es doch nur darum, jemandem zu gefallen und sich zu verstellen, nur damit man Anerkennung bekommt und sich beachtet fühlt. Und wie lange hält das schon? Im nächsten Moment kann alles wieder vorbei sein und es hat einem nur Kummer gemacht und Kraft gekostet. Wer garantiert mir denn, dass ich mit jemandem auch zusammen bleibe?“ Schockiert lauschte Aili's den Worten ihres Sohnes; sie konnte kaum fassen, was er da sagte, und noch dazu mit solcher Bitterkeit.

 

 

„Ich weiß du hast bis jetzt nur negative Erfahrungen gemacht, doch die sind keine Vorschau auf dein späteres Leben. Dieses eine Mal...“

„Das hat mir schon gereicht, danke. Können wir das Thema jetzt beenden? Ich würde gerne noch ein wenig auf der Violine spielen“, unterbrach Liam seine Mutter gereizt und rutschte vom ausgeklappten Sofa.

Ailis seufzte resigniert und verfolgte bekümmert, wie ihr Sohn das Instrument hervorholte und begann, die Saiten zu stimmen. Dabei hatte er die Stirn gerunzelt und kurz darauf brach er genervt ab und legte die Violine in den Koffer zurück.

„Mist, die Saiten müssen gewechselt werden“, stöhnte er und fuhr sich mit beiden Händen rastlos durch's Haar. Seine Mutter richtete sich auf, stützte sich mit den Armen ab und rutschte zur Sofakante. Vom Tisch nahm sie einen Zettel und einen Stift und schrieb etwas darauf. Dann hielt sie den Zetel ihrem Sohn hin.

„Hier steht die Adresse eines sehr guten Musikhändlers. Ich bin schon länger Kundin bei ihm und kann ihn nur empfehlen.“

Sie bemühte sich um einen neutralen Tonfall, doch die leise Besorgnis in ihrer Stimme konnte sie nicht verbergen.

Ein wenig grob nahm Liam ihr den Zettel ab und verließ ohne ein weiteres Wort das Haus.

 

Aufgewühlt eilte er durch die Straßen und ärgerte sich selbst über seine kindische Reaktion. Als ob seine Mutter etwas für seine Liebesangelegenheiten konnte! Sie hielt immer zu ihm, akzeptierte all seine Entscheidungen und vertraute ihm, im Gegensatz zu gewissen anderen Personen...

Ach, zum Teufel mit der Liebe und seinen Gefühlen! Es gab andere Dinge in seinem Leben, die wichtiger waren, zum Beispiel...

Liam stellte irritiert fest, dass ihm nichts einfiel, was ihm momentan mehr beschäftigte, als seine Gefühle für Niklas.

Scheiß Pubertät!, schimpfte er in Gedanken und kickte wütend eine Blechdose über den Asphalt.

Er atmete einige Male tief durch, bevor er den Laden betrat. Zehn Minuten später verließ er ihn wieder, mit einer neu gestimmten und aufpolierten Violine. Er konnte es kaum erwarten, darauf zu spielen und seine Laune hob sich ein kleines Stück.

 

 

An einem Stand kaufte er seiner Mutter ein paar süße Teilchen, als Entschuldigung für sein rüdes Verhalten und hoffte, sie damit zu versöhnen.

Gerade wartete Liam an einer der Ampeln, als er jemanden seinen Namen rufen hörte. Suchend ließ er den Blick über die Passanten schweifen und entdeckte auf der anderen Straßenseite Robin mit einigen Freunden. Die Ampel sprang auf Grün und Liam eilte der kleinen Gruppe entgegen.

„Mensch, was für ein Zufall!“, begrüßte der Schwarzhaarige ihn und stellte ihn seinen Freunden vor.

„Wir sind gerade auf dem Weg in einen der Pubs, wo jeden Abend junge Leute aus der Umgebung musikalisch auftreten. Gibt jedes Mal gute Stimmung und der Alk ist nicht schlecht“, erklärte Robin aufgedreht, dann fiel sein Blick auf den Violinekoffer auf Liam's Schulter.

 

 

„Hey, du spielst ja auch! Was denn?“

„Violine“, gab Liam zögerlich zurück, denn er ahnte bereits, worauf der Ältere hinauswollte.

„Komm doch mit uns. Du könntest auch auftreten und den Abend mit uns verbringen, das wird bestimmt lustig“, schlug Robin auch schon begeistert vor und seine Freunde schienen ebenfalls nichts dagegen zu haben.

Liam wunderte sich verblüfft, dass sie ihn, einen völlig Fremden dazu einluden den Abend mit ihnen zu verbringen.

 

„Wir beißen auch nicht, versprochen“, startete der Schwarzhaarige einen weiteren Überzeugungsversuch.

Liam haderte kurz mit sich, dann gab er nach.

„Also gut, warum nicht?“

Mit einem zufriedenen Grinsen, legte Robin ihm einen Arm um die Schultern und sie zogen los.

 

Sie hielten vor einem Irish Pub. Auf dem Holzschild stand in gällischer Schrift „The Riddle“ und heitere Flötenmusik drang zu ihnen nach draußen.

Während sie eintraten, schrieb Liam eine kurze SMS an seine Mutter, dann blickte er sich neugierig um.

Das Erste, das sofort ins Auge stach, war der Bartresen aus massivem Eichenholz, der den Großteil des Raumes einnahm. Runde Tische und Stühle standen drumherum und im hinteren Teil befand sich eine kleine Bühne, auf der gerade eine junge Frau ein schnelles Stück auf ihrer Querflöte spielte.

Der Raum war von Zigarettendunst, dem Geruch von Bier und dem Lärmen der Gäste erfüllt.

Das Licht war gedämpft und verbreitete einen geheimnisvollen, grünen Schimmer. Liam sog die Atmosphäre tief in sich auf und verspürte so etwas wie Verbundenheit und ein Gefühl von Heimweh. Er war zwar noch nie im Geburtsland seiner Mutter gewesen, doch er wollte unbedingt einmal nach Irland reisen, am liebsten mit Linda, seinem Vater und...

 

 

Liam beschlich das merkwürdige Gefühl, als würde etwas fehlen, ein Puzzlestück, das das Bild seines Lebens vervollständigen würde, nur wusste er nicht, wie es aussah oder was es war.

Robin führte sie durch das dichte Gewimmel und das sperrige Mobiliar zu einem freien Tisch. Sie setzten sich. Die junge Frau hatte ihr Flötenspiel inzwischen beendet und erntete jubelnden Applaus und anerkennende Rufe. Glücklich lächelnd, verließ sie die Bühne.

Der Ansager betrat die Bühne und meldete eine kurze Pause, anstelle der jungen Performer würde die standardmäßige Band auftreten, was die Gäste zu freuen schien.

 

Ein Schlagzeug, ein Keyboard und ein Mikrofonständer wurden aufgestellt und kurz darauf erschienen die Bandmitglieder, bestehend aus einer etwa dreißigjährigen Frau, einem schlacksigen Mann mit zu einem Zopf gebundenem Haar und einem zweiten, kahlköpfigen, breitschultrigen Mann, der hinter das Keyboard trat.

Die Frau steckte das Mikrofon in den Ständer, der langhaarige Kerl setzte sich hinters Schlagzeug, schlug den Takt und das Keyboard setzte ein. Mit klarer Stimme fing die Frau zu singen an und schwang ihren Körper im Rhytmus des Songs hin und her. Liam kannte den Song nicht, doch er gefiel ihm und er lauschte gebannt, bis Robin ihm auf die Schulter tippte.

 

 

„Was möchtest du trinken?“, wollte er wissen und reichte ihm die Karte.

Bei den alkoholhaltigen Getränken schauderte Liam; so ein Dilemma wie auf Tamara's Geburtstagsfeier wollte er auf keinen Fall ein weiteres Mal erleben, also blieb es bei einer Apfelschorle. Er blinzelte entgeistert, als Robin sich ein Glas Whisky bestellte, schwieg aber dazu. Was ging es ihn an?

Der Song endete und Applaus, Johlen und Rufe brandeten auf. Die drei verneigten sich und verließen die Bühne. Bis zum nächsten Act unterhielt man sich über politische Themen, klatschte und tratsche oder tauschte allgemeine Neuigkeiten aus. Es herrschte eine lockere, gemütliche Stimmung und Liam entspannte sich und genoss das Beisammensein.

 

Er war gerade in ein Gespräch mit Robin vertieft, als ein neuer Musiker die Bühne betrat. Es war ein hochgewachsener, junger Mann, etwa achtzehn Jahre alt, mit weißblondem zur Seite gekämmten Haar, das ihm ins Gesicht hing und an den Spitzen hellgrün eingefärbt war. An der rechten Augenbraue funkelte ein Piercing und am linken Ohr ein Ohrring. Hellgraue Augen schweiften kurz durch den Raum, dann ging er zur Bühnenseite und holte eine schwarze E - Gitarre hervor.

Vereinzeltes Murmeln erhob sich und einige Gäste beobachteten neugierig die Vorbereitungen. Liam nahm das alles nur am Rande wahr, da er sich gerade mit einem von Robin's Freunden unterhielt, doch als die ersten Töne erklangen, brach er verblüfft ab.

 

 

Kraftvoll hallten die Töne durch den Raum und nun wandte auch der letzte Besucher seine Aufmerksamkeit der Bühne zu, wo der junge Musiker in lockerer Haltung dastand, den Kopf konzentriert gesenkt. Plötzlich nahmen Tempo und Lautstärke zu, die langen Finger flogen nur so über die Saiten, der Körper wippte vor und zurück.

Liam spürte die Musik durch seinen gesamten Körper vibrieren, wie ein pulsierender Herzschlag und langsam wandte er sich der Bühne zu.

Angespannt lauschte er der Musik und plötzlich erkannte er den Song. Es war Shatter me von Lindsey Stirling. Sein absolutes Lieblingslied!

Ungläubig starrte er den jungen Musiker an und hielt unbewusst den Atem an. Diese neue Interpretation war einfach... unglaublich! Diese Kraft, diese Intensität!

Eine wachsende Unruhe ergriff Liam und er konnte nicht genau sagen, warum. Irgendetwas drängte ihn zur Bühne und wie in Trance, trat er darauf zu und kletterte hinauf. Einzelne Buhrufe wurden laut, verärgertes oder erstauntes Murmeln setzte ein.

 

„Was macht er da?“

„Der ist doch noch gar nicht dran!“

„Er versaut die ganze Performance!“

„Darf man das überhaupt?“

„Was er wohl gleich macht?“

 

Liam scherte sich nicht um das Gerede. Er holte seine Violine hervor und stimmte sie kurz, bevor er sie auf seiner rechten Schulter ablegte und das Kinn auf ihr abstützte. Der Bogen verharrte über den Saiten und Liam schloss die Augen. Der Gittarrist spielte lässig weiter, betrachtete den deutlich kleineren Jungen jedoch neugierig aus dem Augenwinkel. Noch immer verharrte dieser reglos und der Unmut der Gäste steigerte sich.

 

„Runter von der Bühne!“

„Weshalb spielt er nicht?“

„Spiel endlich!“

 

Auch der weißblonde Gittarist runzelte verwirrt die Stirn und Robin blickte besorgt zur Bühne hinüber. Hatte Liam vielleicht Lampenfieber?

Liam wurde nun doch nervös. Sein Herz raste und das Scheinwerferlicht brannte heiß auf ihn herab. Trotzdem bemühte er sich um eine lockere Körperhaltung und eine ruhige Atmung. Er lauschte konzentriert dem Song, bald war es soweit...

Jetzt! Bei der zweiten Strophe fing Liam zu spielen an und die E-Gitarre geriet kurz aus dem Takt, bis sie wieder dem Rhythmus folgte. Liam griff mühelos das Tempo auf, wurde sogar noch schneller. Er ließ sich von der Dynamik mitreißen, pure Euphorie durchströmte ihn und sein ganzer Körper bewegte sich zu den einer Raserei gleichenden Klängen.

Auch die Gitarre klang volltönend durch den Raum und verlieh der Violine eine eigentümliche Wildheit. Bald schon badeten die Gesichter beider Jungen in Schweiß, doch die Bewegungen verloren nichts von ihrer Kraft und

Wildheit.

Verblüfft saßen die Gäste da und einigen verwirrten Gesichtern nach, wussten manche nicht, was sie mit dieser Vorstellung anfangen sollten. Anderen hingegen war ihre Begeisterung deutlich anzusehen.

 

„Endlich kommt mal ein bisschen Leben in die Bude!“

„Ich fühle mich wie elektrisiert!“

„Weiter so!“

 

Liam spürte den Schweiß sein Rückgrat hinablaufen und seine Hände wurden feucht, doch er behielt das Tempo weiterhin bei. Durch schweißnasse Haarsträhnen hindurch warf er einen Blick auf den Gitarristen, dessen Haar feucht am Gesicht klebte und der seinen Körper rhythmisch zur Musik bewegte.

Als hätte er die Blicke gespürt, blickte er plötzlich auf und sah Liam direkt an. Das hellgrau seiner Augen funkelte wie klares Wasser und versetzte Liam's Seele in Schwingung und sein Herz zum Stolpern.

Ohne Worte, ohne irgendeine Absprache ergänzten sie sich perfekt und spornten sich gegenseitig an.

Die Musik schien sie zu verbinden und es war, als würden sie sich schon Jahre kennen. Violine und E - Gitarre verschmolzen zu einer exotischen, aber vollkommenen Einheit, versprühten Kraft und Unabhängigkeit.

 

 

Jetzt kam der letzte, entscheidende Teil. Liam gab sich noch einmal mit all seiner Seele seinem Spiel hin, bewegte den Bogen in kurzen, kraftvollen Strichen und auch sein Nebenmann ließ seine Finger flink über die Saiten huschen.

Der rasend schnelle Abgang ließ allen Anwesenden den Atem stocken und als der letzte Ton verklungen war, herrschte bleierne Stille.

Liam kam sein keuchender Atem überlaut vor. Er blickte zur Seite und sah den weißblonden Jungen sich gerade das feuchtes Haar aus dem Gesicht wischen.

Aufrecht stand er da und blickte dem Publikum unerschrocken entgegen. Liam tat es ihm nach und begann unruhig zu werden, als er die ungläubigen, ja fast schon entsetzten Gesichter sah.

 

 

Hatte er es vermasselt? War man nun sauer auf ihn, weil er sich unerlaubt eingemischt hatte? Doch den Gitarristen schien es nicht gestört zu haben, im Gegenteil, es wirkte beinahe so, als hätte er Spaß dabei gehabt.

Ein Gast löste sich aus seiner Starre und erhob sich. Seine Hand wanderte zum Mund, legte sich an die Lippen. Und dann erklangen durchdringende Pfiffe, unter dem mancher zusammen zuckte.

 

Auf einmal war der ganze Schankraum von tosendem Applaus und begeisterten Rufen erfüllt.

Liam unterdrückte den Impuls, sich die Ohren zu zuhalten und nahm den Beifall benommen entgegen. Die Menge tobte förmlich und der Wirt schaute verzweifelt drein, unentschlossen, ob er die Polizei rufen sollte, oder nicht.

Erst nach fünf Minuten hatten die Gäste sich soweit beruhigt, dass sie sich wieder setzten und der Betrieb wieder aufgenommen werden konnte.

 

Liam blieb gelähmt vor Fassungslosigkeit stehen und löste sich erst aus seiner Starre, als sich eine Hand leicht auf seine Schulter legte.

Es war der weißblonde Junge, der ihm freundlich zulächelte, noch immer dieses Funkeln in den Augen, als würde er von innen heraus leuchten. Sekundenlang starrte Liam ihn einfach nur an, dann riss er sich zusammen und reichte seinem Gegenüber die Hand.

„Du warst unglaublich! Dein Spiel hat mich regelrecht mitgerissen!“

Breit grinsend nahm der um einen Kopf größere Fremde die ausgestreckte Hand und nickte eifrig.

„Ich hoffe es stört dich nicht, dass ich mitten in deiner Performance einfach dazugestoßen bin, aber ich konnte nicht anders. Ich liebe Lindsey Stirling und ihre Musik, du auch?“

Während er so drauflos plapperte, wunderte er sich, weshalb der Fremde noch kein einziges Wort gesagt hatte. War er schüchtern?

„Du kannst ruhig mit mir reden, ich fresse dich nicht“, versuchte Liam ihm die Angst zu nehmen, doch wieder kam nur ein Nicken. Dann kramte der Junge in seiner Hosentasche, holte Stift und Papier heraus und mit zusammen gezogenen Augenbrauen verfolgte Liam, wie er etwas draufkritzelte. Dann hielt der Ältere ihm das Stück Papier entgegen und beschrieb gleich noch ein Zweites. Liam nahm das Erste in die Hand und las.

 

Ich heiße Finjas. Es hat echt Spaß gemacht, mit dir zu spielen. Du bist richtig gut.

 

Irritiert blickte Liam auf, doch der Fremde zuckte nur die Schultern und lächelte leicht. Das Strahlen war aus seinen Augen verschwunden und sein Blick war seltsam umwölkt.

Mit wummerndem Herzen, nahm Liam das Zweite Stück Papier entgegen.

Langsam ließ er seine Augen über das Geschriebene schweifen, Wort für Wort. Ihm wurde mulmig zumute.

Ich bin stumm.

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 10

 

Die Worte verschwammen vor seinen Augen, sein Herz schlug heftig in seiner Brust und ein leichtes Unbehagen verursachte einen harten Knoten in seiner Brust.

Liam's Gedanken rasten.

Stumm. Dieser Junge kann nicht sprechen.

Dieser Gedanke ließ sich nicht mehr vertreiben und erst, als sich eine Hand auf seine Schulter legte, schreckte er aus seiner Benommenheit hoch und blickte auf.

Finjas lächelte beruhigend und nickte aufmunternd.

Liam rang sich ein zittriges Lächeln ab und räusperte sich.

 

„Ich bin Liam.“

Noch immer verunsichert ließ er seinen Blick durch den Raum wandern, bis er Robin und die anderen entdeckte. Unschlüssig, ob er zu ihnen gehen oder noch bei Finjas bleiben sollte, stand er da.

Robin nahm ihm kurzerhand die Entscheidung ab, indem er ihnen zuwinkte und rief:

„Kommt schon her ihr Zwei!“

Beim Verlassen der Bühne merkte Liam, wie wacklig er auf den Beinen war. Als er etwas zur Seite wankte, nahm Finjas seinen Arm und stützte ihn den restlichen Weg die Stufen hinab. Liam lächelte dankbar und entspannte sich etwas.

Am Tisch angekommen, sprach Robin erst einmal einen Toast auf sie aus und bestellte noch eine Runde für alle.

 

Die beiden setzten sich, Finjas Liam gegenüber und neben den Schwarzhaarigen.

Während die anderen sich unterhielten, wandte Robin sich Liam zu.

„Das war ja echt abgefahren, hätte ich dir gar nicht zugetraut!“

Er grinste und klopfte Liam anerkennend auf die Schulter. .

„Du wirst aber auch von Mal zu Mal besser“, meinte er zu Finjas und sie klatschten sich grinsend ab.

Liam beobachtete das Ganze amüsiert aber auch mit leichter Verwirrung.

Robin bemerkte seinen Blick und fügte erklärend hinzu:

„Finjas tritt öfter hier auf. Aber der Auftritt heute war einfach geil!“

Ihre Bestellung wurde gebracht und er hob grölend seinen

Humpen Bier. Der Rest tat es ihm nach und auch Liam hob missmutig sein Glas Apfelschorle, da selbst Finjas sich ein Whiskey-Mixgetränk bestellt hatte. Was Liam dazu brachte, eine Frage zu stellen.

 

„Wie alt bist du?“

„Er ist...“, fing Robin an, doch Finjas unterbrach ihn mit einer bestimmten Geste, nahm Stift und Papier zur Hand und hatte im Nu eine Nachricht verfasst.

Ich bin neunzehn. Und ich mag es nicht wenn Mr. Ich-hab-das-Sagen-hier das Antworten für mich übernimmt.

Ein verstimmter Blick in Robins Richtung unterstrich seinen Ärger, der Schwarzhaarige zuckte jedoch nur mit den Schultern.

„Wenn du dir die Finger wund schreiben willst, bitte“, brummelte er vor sich hin und nahm einen Schluck Bier.

 

Liam war von der Antwort etwas überrascht.

Also drei Jahre älter als ich.

Finjas deutete mit fragendem Blick auf ihn.

„Wie alt ich bin? Sechzehn.“

Ein Strahlen erschien unvermutet in den grauen Augen und obwohl Liam nicht wusste wieso, freute es ihn.

 

Sein Blick wanderte über das helle, schmale Gesicht, mit der langen, geraden Nase, den markanten Wangenknochen und den schmalen Lippen.

Das weißblonde Haar war etwa schulterlang und die hellgrünen Spitzen sorgten für einen auffälligen Kontrast.

Vom Körperbau her war Finjas eher schlacksig gebaut, mit langen, schlanken Gliedmaßen.

Sein Outfit gefiel Liam am besten: Ein rotes, ärmelloses Shirt mit einem Totenkopf darauf, darüber eine schwarze Lederweste mit Nieten. Dazu trug Finjas eine rote, enganliegende Hose und schwarze Boots.

„Ähm, weißt du eigentlich, dass du ein wenig wie ein Punk oder wie man das nennt, aussiehst?“

Plötzlich wurde es still am Tisch und alle Blicke richteten sich auf ihn. Liam's Wangen glühten vor Scham und er starrte zur Ablenkung auf das silberne Piercing in Finjas rechtem Ohr.

Noch immer war es still, abgesehen von den Umgebungsgeräuschen.

„I-ch meine, bist du einer oder...“

Liam wandte hastig den Blick ab und wartete nervös auf eine Antwort. Kurz darauf schob sich ein Zettel in sein Blickfeld und langsam nahm er ihn in die Hand.

Nein, bin ich nicht. Aber ich mag den Stil. Ein wenig verwegen und rockig.

 

Als Liam aufblickte, hob Finjas die Hand und machte die typische Rockergeste, Zeigefinger und kleiner Finger nach oben gestreckt, die restlichen Finger anliegend. Er zwinkerte und Liam lachte erleichtert auf. Ein warmer Glanz trat in die Augen seines Gegenübers und abermals schob er ihm einen Zettel zu.

Du bist voll in Ordnung.

Liam's Herz machte einen kleinen Hüpfer und ein erleichtertes Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

Er nahm den Stift zur Hand und schrieb.

Du aber auch.

Er merkte beim Schreiben, wie ernst er diese Worte meinte.War er zuvor noch unsicher und beklommen gewesen, hatte Finjas lockere Art ihm schnell die Befangenheit genommen und er konnte sich fast normal mit ihm unterhalten, von seinen geistreichen Bemerkungen einmal abgesehen...

 

Er reichte den Zettel weiter und beobachtete nervös Finjas' Reaktion. Seine Augen wanderten über die Zeile, das Gesicht blieb ausdruckslos. Dann plötzlich stand er auf, das Papier noch immer in der Hand und verließ das Pub. Beim Vorbeigehen sah Liam, wie er sich über das Gesicht wischte und perplex blickte er ihm hinterher.

„Habe ich was falsch gemacht?“, wandte er sich beunruhigt an Robin, der bloß mit den Schultern zuckte und dem Vorfall keine weitere Beachtung zu schenken schien. Liam rang mit sich, ob er sitzen bleiben, oder dem Gitarristen folgen sollte, bis sein schlechtes Gewissen ihn doch nach draußen trieb.

Es war mittlerweile Nacht geworden und er wollte lieber nicht auf die Uhr schauen und erst recht nicht auf sein Handy, wo vermutlich dutzende verpasste Anrufe ihn erwarteten.

Suchend blickte er sich im Hof des Pubs um. Es gab einige Pflanzen und einen seperaten Raucherbereich, ansonsten noch den Parkplatz.

 

Liam ging hinüber und entdeckte Finjas hellen Haarschopf in der Dunkelheit. Im nahen Schein einer Straßenlaterne stand er an einen Baum gelehnt da, den Rücken Liam zugewandt. Der stand, zitternd vor Kälte, da und wagte es nicht, sich zu rühren, obwohl er einige Meter weit entfernt war und Finjas ihn nicht sehen konnte. Mit rasendem Herzschlag starrte er die reglose Gestalt an und wusste nicht, was er tun sollte.

Auch wenn er Finjas noch nicht lange kannte, verspürte er den Drang, ihn zu trösten und herauszufinden, was los war. Aber er wollte sich auch nicht aufdrängen und woher nahm er eigentlich das Recht sich einzumischen?

 

Sich innerlich einen Feigling schimpfend verharrte Liam an Ort und Stelle, bis Finjas sich langsam aufrichtete. Als er sich umwandte, war niemand zu sehen und mit gesenktem Kopf, ging er wieder hinein.

Liam stolperte durch die Tür der Herrentoilette und lehnte sich keuchend gegen die Wand. Das war ja gerade noch mal gut gegangen! Er wartete, bis sein Herz sich wieder beruhigt hatte und trat dann an eines der Waschbecken, um sich das trotz der draußen herrschenden Kälte, erhitzte Gesicht zu waschen.

Nachdenklich lehnte er sich gegen das Becken und überlegte, ob er Finjas darauf ansprechen sollte, als plötzlich die Tür aufgestoßen wurde und zwei eng umschlungene junge Männer hereinstolperten. Sie küssten sich leidenschaftlich und unter Lachen und Stöhnen, zogen sie sich in eine der Kabinen zurück.

Liam stand mit weit aufgerissenen Augen da, dann ergriff er panisch die Flucht. Er eilte nach draußen und lehnte sich, wie Finjas zuvor, ebenfalls gegen einen Baum und holte tief Luft. Konnte dieser Abend noch verrückter werden?

 

Seine Gedanken spielten verrückt und seufzend fuhr er sich durchs Haar. Aus heiterem Himmel musste er an Niklas denken und wie immer durchfuhr ihn ein Stich. Seit der Geburtstagsfeier hatte er nichts mehr von dem Rotschopf gehört und das schmerzte mehr, als er je gedacht hätte.

Man konnte eben nicht einfach Mal sechs Jahre tiefer Freundschaft vergessen oder ungeschehen machen. Niklas musste es doch genauso gehen. Vielleicht teilte er seinen Schmerz ja mit Tamara, die seinen Trost ebenso brauchte wie er den ihren.

Und wo blieb er dabei? Wer nahm ihm die Last, den Schmerz, ab? Wer spendete ihm Trost und half ihm die dunklen Tage zu überstehen, die langen Nächte, in denen er sich verfluchte und wünschte, all das wäre nie passiert, in denen er sich vor Sehnsucht in den Schlaf weinte und jeden Tag auf eine Nachricht hoffte?

Bilder der Party drängten sich in seinen Kopf, allem voran der Kuss von Tamara, dann jener mit Niklas. Mit einer Spur bitterem Sarkasmus fiel ihm auf, dass beide Küsse seine ersten gewesen waren.

 

Von plötzlicher Wut gepackt, trat er mit aller Kraft gegen den Baumstamm, immer wieder, bis sein Fuß schmerzhaft pochte.

Scheiß Liebe! Scheiß Gefühle! Scheiß Selbstmitleid!

Erst nach einigen Minuten hatte er sich soweit beruhigt, dass er wieder zu den Anderen zurück kehren konnte. Den Rest des Abends saß er abwesend da und bemerkte nicht, wie Finjas ihm immer wieder Blicke zuwarf. Auch Robin betrachtete den Jüngeren nachdenklich, bedrängte ihn jedoch nicht.

Eine weitere Stunde verging und erst, als die ersten Gäste sich erhoben, erwachte Liam aus seiner Lethargie.

„Langsam wird es spät und ich muss noch für eine Arbeit lernen!“, meinte Robin, während er sich ausgiebig streckte.

 

„Ich gehe noch eine rauchen, kommt jemand mit?“

Sein Blick ruhte auf Liam, doch der schüttelte den Kopf und legte erschöpft den Kopf auf die Arme.

Schulterzuckend wandte der Schwarzhaarige sich an Finjas. „Was ist mit dir Kalkstange?“

Daraufhin kam von Liam ein dumpfes Lachen, das gleich darauf in einem schweren Seufzer endete.

„Was ist denn mit dem los?“, murmelte einer von Robins Freunden und runzelte irritiert die Stirn.

„Lass ihn, er sieht echt fertig aus“, warf ein Anderer ein und legte seinen Teil der Rechnung auf den Tisch.   

 

Er und Robin traten nach draußen und nach kurzem Überlegen folgte Finjas ihnen.

Robin zündete sich eine Zigarette an und ohne sich umzudrehen, sagte er leise:

„Du willst über den Kleinen da drin reden, hab ich recht?“

Finjas nickte und brachte etwas umständlich seine Gedanken aufs Papier.

Woher kennt ihr euch?

Robin erzählte ihm von dem Treffen am Spielplatz und wie sie später hier her gekommen waren.

„Er hat echt Mumm, das muss ich zugeben. Dir einfach so in den Auftritt zu pfuschen... Nur gut, dass du so gutmütig bist“, grinste er und nahm einen tiefen Zug.

Finjas grinste zurück und wischte sich imaginären Schweiß von der Stirn.

Ich war ziemlich baff, als er auf die Bühne kam und bin fast aus dem Rhythmus gekommen. Aber ich war auch neugierig, wie gut er spielt und er konnte einfach so mühelos anknüpfen, das hat mir imponiert.

„Ihr solltet öfter auftreten, das heute war ziemlich gut.“

 

Finjas setzte sich auf einen der Stühle, lehnte sich zurück und blickte in den Sternenhimmel.

„Was war vorhin los?“

Auf die Frage hin verschränkte er die Arme vor der Brust und presste die Lippen zusammen.

„Es hatte doch irgendwas mit dem Knirps zu tun, oder?“

Finjas zuckte merklich zusammen und setzte sich auf. Seine Miene wirkte gequält.

Robin trat die Zigarette aus und schnalzte missbilligend mit der Zunge.

„So wie ich dich kenne, wirst du schweigen wie ein Grab.“

Finjas lächelte entschuldigend und hob dann die Schultern, als wolle er sagen So bin ich eben.

„Du musst es mir nicht sagen. Ich wollte nur helfen. Aber wenn es mit ihm zu tun hatte, dann wirst du es ihm irgendwann erklären müssen, frühestens bei eurem nächsten Treffen.“

Finjas runzelte unwillig die Stirn; ihm behagte der Gedanke nicht.

„Oder er fragt nicht weiter danach“, meldete

sich da Andrè, der bisher schweigend zugehört hatte, zu Wort. Finjas nickte nachdenklich und auch Robin brummte zustimmend.

 

 

Sie ließen das Thema ruhen und hingen ihren Gedanken nach, als ein Vibrieren die abendliche Stille durchbrach. Finjas holte sein Handy hervor und scrollte durch das Menü.

„Dein Schwesterherz?“, neckte Robin; Andrè, der sich gerade eine Zigarette drehte, lachte kurz auf.

Finjas verdrehte kurz die Augen und tippte rasch eine Nachricht.

„Wie lange bleibst du diesmal?“, wollte der Schwarzhaarige von ihm wissen, wobei er versuchte, ihm über die Schulter zu blicken und mitzulesen.

Finjas steckte kurzerhand sein Handy weg und wandte sich Robin zu. Er schüttelte den Kopf. Bis morgen noch.

 

„Dann sollten wir es heute noch richtig krachen lassen!“

Sie kehrten in den stickig warmen Schankraum zurück und kämpften sich zu ihrem Stammtisch durch. Liam hatte ihnen den Rücken zugewandt und telefonierte gerade. Sie setzten sich, bestellten noch eine Runde und dazu eine große Pizza. Liam hatte das Gespräch inzwischen beendet und wandte sich ihnen zu.

„Sorry, aber ich muss langsam los. Danke für den Abend, es war echt toll.“

Seine dunkelblauen Augen verharrten kurz auf Finjas, dann beugte er sich hinab, schulterte seinen Violinekoffer und hob zum Abschied die Hand. Dann war er auch schon weg. Mit Bedauern im Blick sah Finjas ihm hinterher.

 

Als Liam das Apartment betrat, war es bereits halb Zwei. Er biss sich vor schlechtem Gewissen auf die Unterlippe und schloss so leise wie möglich die Tür. Trotz der späten Stunde brannte noch ein kleines Nachtlicht und Ailis saß auf dem ausgeklappten Sofa, gegen die Wand gelehnt und blickte ihm verschlafen entgegen.

„Da bist du ja.“

Sie legte das Buch, welches sie gelesen hatte, zur Seite. Kayla lag eingerollt zu ihren Füßen da und schlief.

 

Liam lehnte den Violinekoffer gegen die Wand, um dann fùr einen kleinen Imbiss in die Küche zu gehen. Während er seine Butterbrote aß, ließ er den Tag noch einmal Revue passieren. Es war ein einziges Auf und Ab gewesen, ein Wechsel zwischen Euphorie und Frustration, Freude und Trauer.

Interessante Bekanntschaften macht man hier, fuhr es ihm durch den Kopf. Vor allem Finjas faszinierte ihn. Seine Art sich zu verständigen war interessant und auf seltsame Art erheiternd. Selbst mit seiner Körpersprache unterhielt er sich, wenn auch manchmal unbewusst, so wie bei sprachfähigen Menschen auch. Nur diese Signale richtig zu deuten, stellte er sich doch manches Mal schwierig vor. Liam streckte sich, ein Gähnen unterdrückend. Nach einem raschen Besuch des Badezimmers schlüpfte er zu seiner Mutter, die mittlerweile tief und fest schlief, unter die Decke und knipste das Nachtlicht aus. In der Dunkelheit und Stille durchlebte er noch einmal den heutigen Tag und bevor er einschlief, erschien ein Lächeln auf seinen Lippen.


„Wie war es? Hattet ihr Spaß“, erkundigte Frederick sich und lud das Gepäck seines Sohnes in den Kofferraum. Liam reichte ihm das Skateboard mitsamt Ausrüstung und fuhr sich durch das vom Duschen noch feuchte Haar.
„Ja es war klasse. Mom weiß echt wie man hier Spaß haben kann.“
Fredericks Miene wurde sanft, liebevoll fuhr er mit den Fingerspitzen über den Ehering an seiner rechten Hand.
„Das freut mich zu hören“, meinte er lächelnd, dann lachte er auf.
„Wie ich sie kenne hat sie dich in alle möglichen Läden und Cafè' s geschleppt und dir stundenlang von ihren Freunden und ihrem Job erzählt.“

 

Tröstend legte er ihm eine Hand auf die Schulter.
„Ja so sind die Frauen. Warte nur bis du eine Freundin hast, dann ergeht es dir genauso.“
Pfeifend stieg er ein; Liam blieb stocksteif stehen und zwang sich, nicht in Panik zu geraten. Wenn er sich jetzt etwas anmerken ließ, würde sein Vater wissen, dass etwas nicht stimmte und Fragen stellen. Also bemühte Liam sich um eine ausdruckslose Miene als er ihm folgte.
Sie unterhielten sich während der Fahrt über verschiedenes, bis sein Vater plötzlich meinte:
„Nächste Woche gehst du wieder in den Unterricht.“
Liam wusste nicht recht, wie er mit dieser Eröffnung umgehen sollte. Natürlich war er erleichtert, dass der Hausarrest nun aufgehoben war, auch wenn der durch den Besuch auf Tamara's Feier und dem bei seiner Mutter sowieso keine Bedeutung mehr gehabt hatte.

Er fürchtete sich jedoch vor der Konfrontation mit seinen Freunden. Allein beim Gedanken daran bekam er Bauchschmerzen.

Zuhause wurde er überschwänglich von Linda begrüßt und dazu genötigt, ein riesiges Stück Erdbeerkuchen zu essen. Während sie aßen, berichtete Liam von seinen Eindrücken und Erlebnissen. Den Besuch und Auftritt im Pub ließ er bewusst aus; das mussten die beiden nun wirklich nicht wissen.

Linda räumte das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine und fragte nebenbei:
„Und Ailis geht es gut, ja?“
„Und wie! Sie versprüht so eine Energie, dass sie jeden um sich herum mitreißt!“

Sie lachten und erzählten sich Geschichten aus früheren Zeiten. Liam merkte wie er dabei immer melancholischer wurde, doch er zwang sich, das bedrückende Gefühl beiseite zu schieben und nur an die schönen Zeiten zu denken.

Später an diesem Tag ließ er sich erschöpft auf sein Bett fallen. Oh Mann, wie ausgelaugt man sein konnte wenn man Spaß hatte!

 

Er schloss die Augen und döste langsam ein, als sein Handy auf einmal vibrierte und ihn aufschrecken ließ.

Es war Fabian und kaum war Liam dran gegangen, erklang auch schon dessen freudige Stimme.

„Hey, du bist wieder da! Wir haben dich hier schon vermisst!“

Daran zweifelte Liam zwar, doch er sagte nichts dazu.

„Übertreib mal nicht. Ich war doch nur in einem anderen Stadtbezirk, nicht auf einem anderen Kontinent.“

Er hätte schwören können, dass Fabian gerade schmollte und grinste bei der Vorstellung.

„Es ist trotzdem schön, dass du wieder da bist.“

Die Wärme, die in seinen Worten mitschwang ließ Liam's Herz vor Freude anschwellen.

„Ja. Danke.“

 

Er hatte plötzlich das dringende Bedürfnis den Blonschopf zu sehen, also bat er kurzerhand um ein Treffen.

„Na logo, du hast sicher viel zu erzählen, wir sind schon ganz neugierig!“

„Mit 'wir' meinst du Thomas und Kilian, oder?“

Er ärgerte sich über die Unsicherheit in seiner Stimme, doch er konnte nichts dagegen tun.

Fabian's Enthusiasmus ließ hörbar nach, als er sagte:

„Ja, die Beiden werden auch da sein.“

Doch gleich darauf klang er wieder fröhlicher.

„Keine Sorge, wenn sie dir irgendwie dumm kommen, dann verpasse ich den zwei Hohlköpfen Kopfnüsse bis sie um Gnade flehen.“

Liam lachte auf und hätte ihn am liebsten fest geknuddelt.

„Also um Eins im Skate - Park?“

Fabian sagte zu. Liam verabschiedete sich und legte auf.

Er holte tief Luft und versuchte seine Nerven zu beruhigen.

Jetzt wurde es ernst. Würden die Brüder ihn verstoßen oder so akzeptieren wie er war? Liam hoffte nur das Beste.

 

Kapitel 11

 

Seine Freunde warteten bereits auf ihn, als er zehn Minuten später am vereinbarten Treffpunkt ankam. Eine Kühlbox mit Bier stand neben einer der Rampen und Thomas, der eine Flasche in der Hand hielt, prostete ihm zu. Ansonsten konnte Liam nur schwer sagen, wie die Brüder zu ihm standen oder was sie gerade dachten.

Er zwang sich, seine Nervosität so gut es ging zu verbergen und begrüßte die drei mit einer Ghetto - Faust.

 

Liam setzte sich und ließ seinen Blick umher schweifen.

Außer einigen Teenagern war der Park menschenleer.

Fabian reichte ihm mit einem aufmunternden Nicken eine bereits geöffnete Flasche. Dankend nahm Liam das Getränk entgegen; das konnte er jetzt gut gebrauchen.

Während er trank, beobachtete er eine Gruppe Jugendlicher, die sich grölend unterhielten und dabei rauchten.

 

Er war erleichtert, dass er nicht gleich mit Fragen bestürmt wurde, sondern noch etwas Zeit hatte, um seine Gedanken zu ordnen und sich auf das unvermeidliche Gespräch vorzubereiten.

„Wie war's bei der Mutti? Langweilig oder?“, ergriff Kilian das Wort, während er seine Bierflasche öffnete.

„Nein, überhaupt nicht. Mit meiner Mom wird es nie langweilig.“

Schmunzelnd erzählte er von den Karaoke - Abenden, den nächtlichen Steufzügen, den ermüdenden Shopping- Touren mit anschließendem Restaurant - Besuch und den ausführlichen Gesprächen abends beim gemeinsamen Fernsehen.

 

„Wow und du bist einfach so auf die Bühne gesprungen?“

Thomas stieß einen anerkennenden Pfiff aus und Fabian schüttelte ungläubig den Kopf, pure Bewunderung im Blick.

„Ich weiß selbst wie verrückt diese Aktion war, aber Finjas hat mich einfach mitgerissen.“

„Finjas?“

Liam erzählte den Dreien von dem stummen Gitarristen, wobei die anschließenden Reaktionen unterschiedlich ausfielen.

Fabian war schlichtweg begeistert und machte aus seiner Bewunderung für den Musiker keinen Hehl.

„Trotz Behinderung so etwas zu leisten und sich ohne Furcht in die Gesellschaft zu integrieren ist echt toll von ihm.“

Merkwürdigerweise verspürte Liam fast so etwas wie Stolz, obwohl er Finjas kaum kannte und das Lob doch ihm galt.

Lächelnd nickte er und wandte sich an Thomas, der zweifelnd die Stirn runzelte.

„Ich weiß nicht... hat er es nicht mega schwer im Leben? Ich meine eine Freundin zu finden oder eine Arbeit...“

 

Das machte Liam nachdenklich und er fragte sich, ob er Finjas je wiedersehen würde, um ihn danach zu fragen. Er hoffte es sehr.

„Er hat ja immer noch sein Talent als Musiker und Mädchen stehen doch bekanntlich auf Rockstars“,warf Fabian optimistisch ein und Liam verbarg sein Grinsen, indem er einen Schluck nahm.

„Damit kommt er trotzdem nicht weit“

Kilian's trockener Kommentar ließ Fabian empört nach Luft schnappen.

„Mensch, Kilian jetzt lass uns dem armen Kerl trotzdem Erfolg im Leben wünschen und das Beste hoffen!“

 

Kilian ließ sich von Fabian's Zurechtweisung nicht beeindrucken; er zuckte einfach mit den Schultern und legte seine leere Flasche in die Kühlbox zurück.

Liam fand die beiden einfach nur göttlich und musste sich zusammen reißen, um nicht lauthals los zu lachen.

Er nahm gerade seinen letzten Schluck Bier, als Kilian plötzlich die gefürchtet Frage stellte.

„Du warst letztens auf einmal weg. Warum? Ist etwas passiert?“

 

Liam setzte die Flasche ab und blickte Kilian zögernd ins Gesicht, in dem er statt Verachtung und Hass nur ehrliche Sorge und Neugier erkennen konnte. Auch Thomas sah ihm alles andere als feindlich entgegen, sondern freundlich und sichtbar gespannt auf die Antwort wartend.

Die Furcht davor, das belauschte Gespräch anzusprechen und womöglich die bittere Bestätigung zu bekommen, dass die beiden nichts mit ihm zu tun haben wollten, wenn sie von seiner Sexualitat erfuhren, lähmte seine Zunge und machte es beinahe unmöglich zu antworten. Er würde es jedoch nie mit Sicherheit wissen, wenn er es nicht hier und jetzt klärte.

Egal wie das Ganze jetzt ausging, er würde es akzeptieren und damit leben müssen, auch wenn der Gedanke allein schon schmerzte.

Wenigstens hätte er noch Fabian, der zu ihm stand.

Der Blondschopf schien dasselbe zu denken, denn er lächelte ihm beruhigend zu und aus diesem Lächeln schöpfte Liam Kraft.

„Ich habe zufällig euer Gespräch in der Küche mit angehört...“

„Du meinst du hast gelauscht“, unterbrach Kilian ihn ruhig, ohne jeglichen Vorwurf. Es klang eher nach einer Feststellung.

Liam schwieg kurz, irritiert und verunsichert, doch er gab sich einen Ruck und fuhr fort.

 

„Ja du hast Recht. Tut mir leid.“

Nervös drehte er die Flasche in seinen Händen und blickte auf den Boden, während er sich seine nächsten Worte zurechtlegte.

„Ich habe gehört, wie ihr über mich gesprochen habt. Dass ich euch die ganze Zeit etwas vorgemacht habe und dass... ihr mich hasst.“

Liam stieß abgespannt den Atem aus und zog unbehaglich seine Schultern hoch, er wollte sich nur noch irgendwo verkriechen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und er glaubte das Schweigen nicht ertragen zu können.

 

Als sich eine Hand auf seine Schulter legte, sah er überrascht auf. Thomas lächelte ihn an, dann wurde sein Gesicht ernst.

„Li, das hatte überhaupt nichts mit dir zu tun. Wir haben über unseren Vater gesprochen.“

„Euren Vater?“, echote Liam verwirrt. Ein kurzer Blick zu Fabian zeigte, dass er ebenfalls den Zusammehang nicht ganz verstand.

„Der lebt doch nach der Trennung von eurer Mutter in Trier“, fasste der Blondschopf kurz zusammen.

„Genau, und das ist gar nicht lange her, 3 Monate wenn ich mich nicht irre...“

Thomas nickte.

„Bingo. So richtig eng war unser Verhältnis zu ihm ja nie, aber nach dem was er jetzt abgezogen hat, ist er bei uns unten durch“, schnaubte Thomas aufgebracht und verschränkte die Arme.

„Was hat er denn getan?“

Kilian schnaubte.

„Jahrelang hat er unsere Mutter betrogen und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, will er sich von ihr scheiden lassen. Er, der ihr das angetan hat!“

Thomas' Gesicht verzog sich jäh vor Hass und Abscheu.

„Und das für einen Mann!“, spie er voller Verachtung und Bitterkeit aus.

„M-Mann?“

Liam glaubte, sich verhört zu haben.

„Du meinst, er ist schwul?“, fragte Fabian zur Sicherheit nach; der Schock war ihm deutlich anzusehen.

 

Thomas nickte, die Lippen vor Wut zusammen gepresst.

„Dieses Arschloch hat uns drei Jahre lang die heile Familie vorgespielt und unsere Mutter nur als Tarnung vor der Gesellschaft benutzt, während er behauptet hat, Überstunden zu machen oder geschäftliche Termine zu haben.Dabei hat er wahrscheinlich mit diesem Kerl...“

 

Angewidert und zornig wandte er sich ab; offenbar musste er sich kurz sammeln. Kilian betrachtete seinen Bruder mitleidig.

„Er nimmt es schwerer als ich. Auch wenn er sagt, dass das Verhältnis zu ihm nicht besonders eng war, hat er doch immer zu unserem Vatef aufgesehen und die Ehe unserer Eltern bewundert.“

„Dabei sind ihm Treue und Familie doch so wichtig“, murmelte Fabian bedrückt.

Liam starrte betroffen Thomas' Rücken an und kämpfte mit seinen Gefühlen, gleichzeitig versuchte er einen klaren Gedanken zu fassen, wurde aber unterbrochen, als Thomas plötzlich herum wirbelte.

Purer Hass verzerrte seine Züge und Liam's Herschlag setzte einen Moment aus.

 

Eine eisige Kälte kroch in ihm hoch, noch bevor Thomas die nächsten Worte hervorstieß.

„Ich werde ihm nie verzeihen! Diese dreckige Schwuchtel! Soll er doch mit seinem Lover in der Hölle schmoren!“

Wütend und ohne ein weiteres Wort stapfte er davon.

Kilian verabschiedetete sich hastig, entschuldigte sich für das Verhalten seines Bruders und eilte ihm hinteher.

Wie vom Donner gerührt blieben Liam und Fabian zurück. Der Blondschopf stand mit vor Entsetzen offenem Mund da, schüttelte dann fassungslos den Kopf und fuhr sich aufgewühlt durch's Haar. Liam sprang abrupt auf, die Bierflasche entglitt seinen Fingern und zerbarst auf dem Asphalt. Das Atmen fiel ihm schwer, hilflos streckte er die Hand nach den sich immer weiter entfernenden Gestalten aus, bis sie nicht mehr zu sehen waren.

Erst da schnappte er keuchend nach Luft, immer wieder, doch es schien, als säße ein riesiger Felsbrocken auf seiner Brust. Heftige Atemzüge erschütterten seinen Körper, das Blut rauschte in seinen Ohren. Ihm entfuhr ein Wimnern, als er an den Schultern gepackt und herumgewirbelt wurde.

Benommen blickte er in Fabian's vor Entsetzen bleiches Gesicht.

 

„Mann beruhige dich!“, hörte Liam dessen Stimme undeutlich über sein Keuchen hinweg. Seine Brust schmerzte und ihm wurde schwindelig. Er verlor das Gleichgewicht, doch Fabian verhinderte rechtzeitig, dass er stürzte.

„Klapp mir hier bloß nicht zusammen, verstanden? Hey!“

Kühle Finger umschlossen auf einmal sein Gesicht und er blickte direkt in Fabian's grau- grüne Augen. Wie hypnotisiert starrte Liam zurück, ohne auch nur zu blinzeln und seine Atmung stockte kurz. Der Blick des Blondschopfs schien ihn förmlich zu bannen.

„Ganz ruhig. Langsam ein - und ausatmen.“

Nur stockend strömte die Luft in Liam's Lungen, sein Herz stolperte einige Male, bevor es wieder rhythmisch weiterschlug. Ein, aus. Ein, aus. Ein... aus...

Allmählich wurde er ruhiger, immer mehr Luft füllte seine Lungen und der Schwindel ließ nach. Zitternd klammerte er sich an Fabian's Schultern fest. Der Blondschopf atmete erleichtert auf, dann zog er ihn plötzlich in seine Arme.

 

Liam keuchte überrascht auf, überdeutlich spürte er Fabian's Körperwärme und dessen kräftige Arme, die ihn festhielten. Schüchtern erwiderte er die Umarmung und drückte den schlanken Körper sanft an sich. Erst jetzt wurden ihm die Blicke der Jugendlichen bewusst, die das ganze Drama neugierig vefolgt hatten. Liam starrte stur geradeaus, bemühte sich, gelassen und normal zu wirken und nicht wie ein hyperventilierender Kerl, der seinen Freund umarmte.

 

Fabian seufzte schwer; seine Stirn sank auf Liam's Schulter.

„So ein Mist!“

Liam biss sich auf die Unterlippe und kämpfte gegen den dicken Kloß an, der auf einmal in seiner Kehle saß. Nach einer Weile hielt er es nicht mehr aus. Er hustete mehrmals heftig und schaffte es schließlich, seine Stimme wieder zu finden.

„Wie soll es jetzt weitergehen? Wir können ihnen doch nicht sagen...“

Ihm wurde übel wenn er auch nur daran dachte.

Fabian hob seinen Kopf und löste sich sanft aus der Umarmung.

„Was sonst? Willst du ihnen etwas vorspielen? Eine Scheinfreundin haben? Dann sind wir auch nicht besser als ihr Vater.“

Da musste Liam ihm doch Recht geben. Es zu leugnen, würde nichts ändern, eher noch verschlimmern.

„Aber du hast es doch selbst gehört! Sie hassen Schwule! Wir können es ihnen nicht sagen! Sie werden uns genauso verachten wie ihren Vater...“

Er sah, wie Fabian heftig die Zähne zusammenbiss und die Fäuste ballte.

„Ich werde mich selbst und meine Sexualität bestimmt nicht verleugnen, wie eine widerliche Krankheit. Ich stehe zu mir und Luka und wer das nicht akzeptieren will, der kann mich mal.“

Obwohl der glühende Zorn in seinem Blick nicht ihm galt, schreckte Liam zurück und wandte unbehaglich den Blick ab.

 

Unweigerlich fragte er sich, wie es um ihn bei dieser Sache stand. Für was würde er sich entscheiden? Freundschaft oder Sexualität? Wäre er in derselben Situation wie Fabian, wäre die Entscheidung klar. Oder vielleicht doch nicht...

„Was ist mit dir? Was wählst du?“, wollte Fabian wissen und sein Blick durchbohrte ihn förmlich. Liam fühlte sich vollkommen überfordert, seine Gedanken fuhren Karrussel. Er hatte seine Homosexualität doch gerade erst entdeckt wie sollte er jetzt auf die Schnelle eine Antwort auf diese Frage finden?

Er wandte sich abrupt ab und durchforstete sein Hirn nach einer Antwort.

„Wenn du einen Partner hättest, wie würdest du...“

„Dann verliebe ich mich eben nicht! Ganz einfach! Keine Liebe, Kein Partner, keine Probleme!“, platzte es aus ihm heraus.

Nach einem tiefen Atemzug wandte er sich wieder zu Fabian um, der ihn mit traurigem Blick ansah.

 

Der Blondschopf lächelte schwach und nickte dann zu der Kühlbox, in der sich noch eine gute Menge Bier befand.

„Lust, dir einen ordentlich hinter die Ohren zu kippen?“

„Nichts lieber als das.“

 

 

Das leise Brummen des Fernsehers drang langsam in Liam's Bewusstsein. Als er sich verschlafen aufsetzte, wurde ihm schwindelig und sein Kopf schien platzen zu wollen. Fluchend sank er auf's Sofa zurück, wo Fabian neben ihm lag und fest schlief.

Träge ließ Liam den Blick über die leeren Bierflaschen auf dem Tisch und dem Boden, die dazwischen liegenden Chipstüten und zwei Pizzakartons schweifen.

Vorsichtig wandte er den Kopf und sah auf die Uhr an der Wand. Acht Uhr abends. Stöhnend rieb er sich über sein Gesicht und ging dann ins Badezimner.

 

Als er wieder ins Wohnzimner zurückkam, saß Fabian wach da und knabberte an einem Stück Pizza. Das blonde Haar stand ihm wirr vom Kopf ab und sein T-Shirt war zerknittert.

„Mann, mir brummt vielleicht der Schädel“, grummelte Liam und ließ sich neben den Blondschopf plumpsen.

„Lust zu zocken?“, fragte Fabian und nahm sich eine Flasche vom Tisch, öffnete sie und trank einen Schluck. Liam strich sich genervt einige Haarsträhnen aus der Stirn und streckte sich der Länge nach aus.

„Nicht wirklich.“

Er nahm sich ebenfalls eine Flasche und leerte die Hälfte in einigen Zügen.

„Hey, mach dich nicht so breit! Wo soll ich jetzt deine Stummelbeine hintun?“

Liam warf ihm einen bösen Blick zu, doch Fabian störte sich nicht daran, sondern streckte sich neben ihm aus.

„Etwas eng.“

Liam verdrehte sich fast den Arm bei dem Versuch, mehr Platz zwischen ihnen zu schaffen.

 

Der Blondschopf gab ein leises Knurren von sich, versuchte ebenfalls eine bequemere Lage zu finden, bis er schließlich halb über Liam zum Liegen kam.

„So besser?“, fragte Fabian leise, mit einem Unterton in der Stimme, den Liam nicht recht einordnen konnte.

Er verdrehte die Augen, verkniff sich aber einen Kommentar. Eine Weile lang lagen sie schweigend da. Liam spürte deutlich die Hitze, die Fabian's Körper ausströmte und mit einem wohligen Seufzen murmelte er:

„Mhmmm, du bist schön warm.“

Er spürte das Lachen des Blondschopfs mehr, als dass er es hörte und musste lächeln. Doch langsam merkte er, wie ihm warm wurde, eindeutig zu warm.

Ächzend setzte er sich auf und zog sich, ohne weiter darüber nachzudenken, das T-Shirt aus. Durch die Hitze hatte er Durst bekommen und er langte nach seiner Flasche, um noch die letzten Schlucke zu trinken.

Er hatte gerade einen ordentlichen Schluck genommen, als auf einmal warme Fingerspitzen sanft über seine Haut fuhren.

Liam zuckte zusammen, wandte hastig den Kopf und blickte direkt in Fabian's Augen.

 

Heiße Lippen pressten sich auf seine, eine vorwitzige Zungenspitze leckte darüber und bat um Einlass. Aus Reflex öffnete Liam seine Lippen, der Schluck Bier strömte über seinen Hals, die Brust hinab ubd versickerte im Bund der Jogginghose.

Er schnappte nach Luft, als Fabian's Zunge zärtlich seine Mundhöhle erforschte und heiße Schauer durch seinen Körper sandte. Ihr heißer Atem vermischte sich und Liam stöhnte leise in den Kuss hinein.

Keuchend unterbrach er den Kuss, wandte beschämt das Gesicht ab und versuchte, sein rasendes Herz zu beruhigen. In seinem Kopf herrschte gähnende Leere, ganz im Gegenteil zu seiner unteren Körperregion, die in Flammen zu stehen schien. Oh Gott, Oh Gott, Oh Gott!

 

Außer dem Brummen des Fernsehers war es still und Liam war sich plötzlich bewusst, dass er hier mit nacktem Oberkörper saß, Bier über seine Brust rann und er gerade seinen schwulen Freund geküsst hatte! Nein, falsch, Fabian hatte ihn geküsst!

 

Regungslos und benebelt saß er da und wagte es nicht, Fabian anzusehen. Die Situation wurde unerträglich und alles drängte ihn dazu, zu fliehen. Liam sprang auf und wollte ins Bad flüchten, doch Fabian's Griff um sein Handgelenk hinderte ihn daran. Ihm entfuhr ein überraschter Laut, als er züruck auf das Sofa gezogen wurde.

Er konzentrierte sich voll und ganz darauf, das Gleichgewicht auf den Knien nicht zu verlieren, da spürte er eine heiße, feuchte Zunge über seine Haut gleiten und das Bier auflecken.

 

„Fabian“, stöhnte Liam hilflos und vergrub seine Hände in dem blonden Haarschopf. Er glaubte zu schmelzen, die feuchten Spuren auf seiner erhitzten Haut schienen in Flammen zu stehen und ließen ihn schaudern.

Als Fabian ihn sanft in den Hals biss, zuckte sein gesamter Körper und er sog scharf die Luft ein.

Liam musste all seine Konzentration aufbringen, um einen halbwegs klaren Satz zu formulieren.

„Wa-ha...warum?“

Fabian hielt in seinen Liebkosungen inne und blickte neckisch zu ihm auf.

„Gefällt es dir denn nicht?“, fragte er mit schmeichelnder Stimme und ließ seine Finger sanft über seinen Oberkörper gleiten. Hilflos schüttelte Liam den Kopf, obwohl sein Körper eindeutig das Gegenteil bewies.

„Ich kann nicht...“

„Denk nicht so viel nach.“

 

Fabian's heißer Atem an seinem Ohr verursachte Liam eine Gänsehaut und machte es unmöglich zu widersprechen. Er gab dem sanften Druck von Fabian's Händen nach und ließ sich auf das Sofa sinken.

Ein Teil von ihm wartete nervös darauf, was weiter geschehen würde, der andere Teil konnte weitere Berührungen kaum erwarten. Kurz, er war verwirrt, so ganz wohl fühlte er sich immer noch nicht.

Fabian schien das zu spüren, denn er küsste ihn sanft auf die Wange und streichelte seinen flachen Bauch.

„Mach dir nicht so viele Gedanken,“

Seine Hand wanderte plötzlich tiefer und Liam hielt den Atem an.

„Genieße es einfach.“

Fabian's Lippen saugten sich an seinem Hals fest und Liam keuchte auf. Sein Herz klopfte wild und seine Ohren rauschten. Benommen verfolgte er wie die Hand des Blondschopfs unter den Bund der Jogginghose glitt und zog scharf die Luft ein, als warme Finger sich um sein Glied schlossen.

 

Ein Stöhnen entrang sich seiner Kehle und seine Finger krallten sich im Sofa-Bezug fest. Fabian bewegte seine Hand langsam auf und ab und Liam stöhnte auf. Dumpf hörte er so etwas wie ein zufriedenes Brummen. Er öffnete die Augen und sah den Blondschopf zufrieden lächeln. Fabian beugte sich vor und küsste ihn leidenschaftlich. Liam õffnete ohne zu zögern seine Lippen und erwiderte den Kuss mit wachsender Erregung. Kurz löste er den Kuss, um sich aufzusetzen, dann kostete er Fabian's Mund lasziv aus und entrang diesem ein leises Stöhnen. Wie ein Stromschlag zog die pulsierende Hitze durch seinen Unterleib. Er wollte mehr.

 

Gerade als er Fabian darum bitten wollte, wurde er plötzlich seitlich auf das Sofa geworfen. Er spürte wie sich Fabian's warmer Körper an ihn schmiegte und er fühlte deutlich, dass der Blondschopf diese Situation genauso genoss wie er selbst. Liam errötete leicht, fand es jedoch ziemlich heiß. Er freute sich über die offensichtliche Wirkung, die er auf den Anderen hatte.

Mit einem triumphierenden Lächeln rieb er sein Hinterteil an Fabian's Unterleib, was diesen aufkeuchen ließ. Er beugte sich über Liam's Schulter, senkte die Lippen an sein Ohr und flüsterte in rauem Ton:

„Mhm... Da wird ja jemand mutig. Dir gefällt das wohl.“

Seine Zunge fuhr an der empfindlichen Ohrmuschel entlang, bis zum Ohrläppchen, wo er sanft seine Zähne hineingrub.

Liam spürte einen Schauer durch seinen Körper rieseln als der Griff um sein Glied intensiver wurde und der heiße Atem seine Haut streifte. Es fühlte sich so gut an, er nahm nur noch diese unglaublichen Empfindungen wahr, die ihm beinahe den Verstand raubten. Er wollte sich darin verlieren, alles loslassen und sich von dieser Hitze verzehren lassen. Er konnte es kaum noch ertragen...

 

„Liam...ich würde gerne...wie soll ich sagen?“, fing Fabian mit vor Erregung heiserer Stimme an, presste sich fester gegen ihn und stöhnte. Liam's Gesicht glühte vor Erregung und Scham und er vergrub es in einem der Kissen.

„I-ch würde gerne...dürfte ich vielleicht auf dir...“

Liam dämmerte langsam worauf der Blondschopf hinauswollte und sein Glied antwortete mit einem heftigen Pochen.

„O-kay. Du...da-ha...darfst“, presste er zwischen keuchenden Atemzügen hervor. Kaum war er fertig mit Reden, da zog Fabian ihm auch schon die Hose mitsamt Unterwäsche aus. Liam blinzelte ein wenig erschrocken und hob den Kopf. Ihre Blicke trafen sich und Fabian lächelte beschämt.

„Bist du sicher?“, vergerwisserte er sich noch einmal, seine Hände am Hosenbund. Liam starrte auf die Beule darunter und fuhr sich unbewusst mit der Zunge über die Lippen. Er schluckte und nickte. Fabian schloss die Augen.

„Knie dich hin und streck deinen Hintern raus.“

Liam vergrub abermals sein Gesicht, kam der Aufforderung jedoch nach. Er spürte seinen Herzschlag bis in die Kehle hinauf und in seinem Kopf schwirrte es. Was tat er hier überhaupt? War das ganze vielleicht nur ein Traum? Würde er gleich aufwachen vor Scham lachend, den schlafenden Fabian neben sich?

Seine Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als warme Hände seine Hüften packten und er die heiße, feuchte Spitze am Schenkel spürte. Sein Atem beschleunigte sich, seine Finger gruben sich nervös in den Überzug.

 

Fabian nahm sein Glied fest in die Hand und pumpte kräftig auf und ab, während er sich selbst an Liam's Schenkel rieb. Liam gab eine Mischung aus Quieken und Wimmern von sich und keuchte in das Kissen hinein. Fabian stöhnte lustvoll auf und verstärkte die Reibung noch. Heiße Schauer rannen über Liam's Rùcken, zuckend kniete er da und verlor sich vollkommen in den erregenden Empfindungen.

Plötzluch rieb ein Finger über eine seiner Brustwarzen, kniff dann heftig hinein. Er hõrte sich selbst aufschreien und er wand sich vor Lust und Schmerz. Fabian's Keuchen wurde lauter, seine Bewegungen fahriger. Liam spürte wie er dem Höhepunkt immer näher kam und versuchte die seltsamen Geräusche aus seiner Kehle zu unterdrücken.

 

Doch Fabian's Hände machten dieses Vorhaben unmöglich, also gab er es auf und ließ seiner Lust freien Lauf. Keuchend und stõhnend drängte er sich Fabian's Berührungen entgegen, wollte mehr Reibung; er hätte nie gedacht, dass es sich so gut anfühlen konnte mit einem anderen Mann intim zu sein, oder überhaupt Zärtlichkeiten auszutauschen...

 

Heftig zuckend merkte er, dass er gleich kommen würde und ein Wimmern entfuhr ihm.

„Fabian...I-ich ka-h...ka-nn nicht mehr...ich...“

Liam stellte erschrocken fest wie weinerlich er klang, doch er konnte nichts dagegen tun.

„Ich weiß...gleich...“

Liam drückte den Rücken durch, kam dem Blondschopf so gut es ging entgegen und hörte dessen lustvolles Keuchen.

 

Das gab ihm den Rest; mit einem Aufschrei, der in seinen Ohren unfassbar laut klang, ergoss er sich in Fabian's Hand. Kurz darauf hörte er dessen lautes Stöhnen und spürte es feucht seine Schenkel hinabrinnen. Völlig K.O. ließ er sich auf das Polster sinken, versuchte seinen keuchenden Atem zu beruhigen. Fabian ließ sich neben ihn sinken, grinste breit und strich ihm eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn.

„Danke, dass du mitgemacht und mir vertraust hast.“

Das Grinsen wich einem glücklichen Lächeln und die grau-grünen Augen funkelten. Liam stemmte sich hoch und blickte stirnrunzelnd auf ihn hinab.

„Es hat mir gefallen... aber warum? Du bist doch mit Luka zusammen?“, wollte er wissen und zuckte zusammen, als der Blondschopf triumphierend auflachte.

„Hah! Du hast es zugegeben! Du bist sowas von schwul!“

Lachend drehte er sich auf den Rücken und hielt sich den Bauch. Liam konnte nur perplex dasitzen, bis das Lachen abebbte.

„Du meinst du hast das nur getan, um mir etwas zu beweisen?“

„Yep, heute hast du noch getönt, dass du dich nie verlieben und auch keinen Partner haben willst, doch nach dem eben, habe ich da meine Zweifel.“

„Hey, das beweist noch gar nichts!“, protestierte Liam, die Wangen rot vor Scham und Wut.

„Okay, raste doch nicht gleich aus! Ich habe es nur gut gemeint“, lenkte Fabian ein und setzte sich auf.

 

Liam hatte plötzlich den Drang sich zu verkriechen. Fabian's Worte verunsicherten ihn; er wollte allein sein. Hastig stand er auf, schnappte seine Sachen und eilte ins Bad. Dort spürte er wie Tränen heiß seine Wangen hinab strömten und er kauerte sich zusammen, weinte lautlos, bis seine Kehle schmerzte. Er verstand sich selbst nicht mehr. Es hatte ihm eindeutig gefallen, Fabian hatte ihn zu nichts gedrängt. Er hatte nicht näher darüber nachgedacht und es genossen, wieso heulte er jetzt wie ein Mädchen nach dem erstem Mal? Doch er kannte die Antwort bereits tief in seinem Innern, doch er wollte es nicht zugeben. Nun wusste er mit Sicherheit, dass seine eigenen Worte eine Lüge grwesen waren. Er wollte auf keinen Partner verzichten, nicht nach dem Erlebnis mit Fabian, das ihm die Augen geöffnet und gezeigt hatte, wie er wirklich fühlte. Schwul hin oder her; er brauchte und wollte einen Partner von dem er geliebt werden konnte und dem er ebenso seine Liebe schenken konnte, wie jeder andere auch.

 

Plötzlich kam ihm Niklas in den Sinn, dessen mitleidiges Gesicht, als er ihn abgewiesen hatte.

Ich bin nicht schwul. Ich kann nicht mit dir zusammen sein.

Verzweifelt fragte Liam sich ob er diesen Satz wohl noch öfter hören würde, diese Worte, die ihn leer und mit schmerzender Brust zurückließen.

Er wusste einfach nicht was er tun solte: Auf sein Herz hören oder seinem Verstand folgen? Musste das alles so schwer sein?

Er war gerade dabei sich anzuziehen, als sein Handy vibrierte.

Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht als er die Nachricht las.

 

Sorry. Ich warte mit Eiscreme und der Konsole auf dich.

Du darfst mich auch ordentlich vermöbeln, wenn du willst.

 

Schniefend wusch er sich das Gesicht und kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo Fabian ihn mit reuevollem Lächeln erwartete. Wie versprochen stand eine Jumbo-Packung Schokoladeneis auf dem Tisch und die Intro eines Kampfsportspiels dröhnte aus dem Fernseher.

„Na gut, ich vergebe dir“, ließ er den Blondschopf wissen, setzte sich neben ihn und fügte grinsend hinzu:

„Ich verschone dich trotzdem nicht.“

Das Lächeln auf Fabian's Gesicht wurde zu einer gequälten Miene und resigniert murmelte er:

„Argh, es wird sich trotzdem anfühlen, als würden die Fäuste mich treffen.“

Liam lachte, nahm einen der Controller und startete das Spiel. Zwei Stunden später stand das Ergebnis fest: Fabian hatte haushoch verloren und wand sich vor imaginären Schmerzen auf dem Sofa.

 

„Ich hab's vedient!“, rief er theatralisch und röchelte gespielt. Liam kratzte die letzten Reste aus dem Eisbecher und leckte den Löffel genüsslich ab. Da packte die Hand des Blondschopfs plötzlich seinen Arm und Fabian verdrehte die Augen, als täte er seinen letzten Atemzug. Das war jetzt etwas übertrieben fand Liam.

„Okay, okay! Vergessen wir's einfach.“

Er spürte Fabian's forschenden Blick auf sich, schwieg jedoch und wechselte das Thema.

„Ich würde Luka gerne mal kennen lernen. Ist er oft bei dir?“

Fabian setzte sich auf, ging zum Kühlschrank und holte eine Flasche Wasser heraus. Er nahm einen Schluck, kam zurück und setzte sich in einen der Weidenstühle.

„Wir sehen uns alle zwei Wochen. Luka's Ausbildung nimmt viel seiner Zeit in Anspruch, doch er bemüht sich immer Zeit zu finden, meistens dann, wenn er Berufsschule hat.“

 

Liam nickte.

„Und welchen Beruf lernt er?“, wollte er wissen und begann, den Müll und die leeren Bierflaschen zusammen zu räumen. Dann holte er einen Müllsack aus einer der Küchenschubladen und stopfte die leeren Verpackungen hinein. Die Flaschen stellte er ordentlich aufgereiht an die Wand neben der Haustür.

„Er will Maskenbildner werden. Er ist gerade viel mit den Vorbereitungen für eine Vorführung beschäftigt, aber wenn er Zeit hat, dann geb ich dir bescheid.“

„Vermisst du ihn?“, platzte Liam heraus und hätte sich dafür am liebsten auf die Zunge gebissen. Doch Fabian schien ihm die Frage nicht übel zu nehmen, sondern nickte nur.

„Manchmal schon, vor allem da er für die Aufführungen oft verreisen muss und dann einige Tage nicht da ist.“

„Oh das tut mir leid“, murmelte Liam, wurde aber vom Blondschopf unterbrochen.

„Ach was, muss es nicht. Wozu gibt es denn Telefonsex?“

Liam schnappte empört nach Luft, griff sich ein Kissen und warf es seinem Freund an den Kopf. Fabian knurrte spielerisch und sprang auf. Er eilte in die Küche und kam kurz darauf mit einem Sieb auf dem Kopf und einem runden Tablett in den Händen zurück.

„Ich bin gerüstet zum Kampf“, verkündete er und hob das Tablett als Schutzschild. Liam überwand seine Überraschung schnell wieder und ließ eine wahre Kaskade von Kissen auf den Blondschopf prasseln. Der schaffte es, einige geschickt mit dem „Schild“ abzuwehren, wurde aber auch von einigen getroffen.

„Jetzt kriege ich doch noch deine Rache am lebendigen Leib zu spüren!“, rief der Blondschopf schmunzelnd zu ihm rüber, hob eines der Kissen auf und erwiderte das Feuer.

 

Liam schaffte es in letzter Sekunde sich wegzuducken und das Kissen traf stattdessen einen der Blumentöpfe und warf diesen vom Fensterbrett. Der Topf zerbrach und die Scherben verteilten sich zusammen mit der Blumenerde auf dem Boden. Liam wandte sich schuldbewusst zurück zu Fabian, da traf ihn eines der Wurfgeschosse mitten im Gesicht. Prustend wischte er sich das wirre Haar aus dem Gesicht.

„Das bedeutet Krieg!“

Erbarmungslos warf er Fabian ohne innezuhalten mit den Sofa-polstern ab, hastete durch den Raum, um diese immer wieder aufzusammeln und damit abermals zu werfen. Im Lauf der Kissenschlacht wurden noch weitere Gegenstände von den Regalen oder Tischen geworfen, doch außer dem Blumentopf war kein Zerbrechlicher mehr dabei.

 

„Du hast angefangen, also musst du mir beim Aufräumen helfen“, keuchte Fabian und ließ sich erschöpft auf's Sofa fallen. Liam tat es ihm nach, schwitzend vor Anstrengung, ebenso außer Atem wie er.

„Diesmal würde ich sagen, ist es ein Unentschieden.“

„Damit kann ich leben“, murmelte Fabian und ließ seinen Kopf in Liam's Schoß sinken.

„Ich bin echt fertig. Ich könnte jetzt einfach einschlafen“, murmelte er, gähnte und rückte seinen Kopf bequem zurecht.

„Hey, schlafen kannst du später oder wenigstens nicht in meinem Schoß, ich würde gerne duschen.“

Mit enttäuschtem Brummen rutschte Fabian von Liam runter auf das Sofa, wo er mit entspanntem Gesicht liegen blieb, die Arme vor sich ausgestreckt und die Beine angezogen. Kurz darauf war er eingeschlafen. Liam betrachtete versonnen das vertraute Gesicht und fühlte die unterschiedlichsten Emotionen in sich aufsteigen. Zuneigung, Befreitheit, Ergriffenheit, Faszination, aber auch leise Beklommenheit, Furcht, Zweifel und Verwirrung. Und es überforderte ihn alles ein wenig.

 

Seufzend erhob er sich, vorsichtig, um den Blondschopf nicht zu wecken und ging ins Badezimmer. Eine heiße Dusche würde ihm bestimmt guttun. Summend zog er sich aus und ließ das Wasser laufen, als sein Blick in den großen Spiegel an der Wand fiel. Er konnte seinen ganzen Körper darin betrachten und er stellte sich, einem Impuls folgend, davor.

Prüfend ließ er den Blick von seinen schmalen Schultern, dem etwas breiteren Brustkorb, hinab zu dem flachen, leicht muskulösen Bauch wandern. Seine Hüften waren schmal, beinahe knochig, die Beine hingegen kräftiger mit ausgeprägteren Muskeln. Seine Füße fand er viel zu zierlich für einen Mann, was sich beim Schuhkauf immer wieder als großes Problem darstellte.

Kurz fragte er sich, ob sie womöglich der Grund waren, weswegen er manche Tricks mit dem Board nicht schaffte, doch er schüttelte diesen Gedanken rasch ab und drehte sich um. Sein Rücken war muskulös, besonders im Schulterbereich, was er dem Violine-Spielen zu verdanken hatte. Seinen Hintern fand Liam ganz okay, nicht zu prall und nicht zu flach.

 

Er wandte sich wieder um und richtete seinen Blick auf seinen Intimbereich. Mit einem Mal erschien sein bestes Stück ihm in einem ganz anderen Licht, was wohl am heutigen Erlebnis mit Fabian lag. Unwillkürlich fragte er sich, ob sein Körper schön war, attraktiv genug für andere Männer. Bei diesem Gedanken schlug sein Herz schneller und er begann automatisch nach Makeln zu suchen.

Da, seine Knie waren zu knubbelig, seine Hände zu klein, genau wie seine Füße. Ein dicker Hals, kleine Muttermale auf der Haut, Narben, unzählige Narben, groß und klein, rot oder weiß... Liam schloss hastig die Augen, verdrängte das Gefühl, nicht begehrenswert zu sein und stieg unter die Dusche. Unter dem heißen Wasserregen konnte Liam sich wieder entspannen und seine Sorgen fortspülen lassen und mit einem erleichterten Seufzen ließ er seine Hände über diesen eben noch verschmähten Körper wandern. Dabei rief er sich noch einmal Fabian's Berührungen und Zärtlichkeiten in Erinnerung, glaubte fast, sie noch einmal zu spüren und sein Körper reagierte sofort darauf. Die Häärchen an Armen und Beinen richteten sich auf, sein Herz schlug schneller und das Blut schoss in sein Glied.

 

Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die vom Wasser warmen Fliesen, lehnte den Kopf dagegen und ließ seine Finger sanft über eine Brustwarze gleiten, die sich daraufhin aufrichtete. Ein leises Seufzen entfuhr ihm, als er die Knospe zwischen Zeigefinger und Daumen nahm und fest zu reiben begann.

Die Erregung zog in einem heißen Strahl über den Rücken bis zu seinem Penis hinab, der mittlerweile steif war. Stöhnend nahm Liam ihn in die Hand und reizte sanft die Spitze, bis das Blut darin pulsierte. In Gedanken küsste er Fabian abermals, rief sich das Gefühl der feuchten, heißen Zunge ins Gedächtnis, deren erregenden Tanz, ließ seine Hand schnell auf - und abgleiten, was die Spannung rasch verstärkte. Er ging in die Knie, beugte sich nach vorne und legte seinen Kopf auf den anderen Arm.

 

Mit kräftigen Strichen trieb er sich immer mehr dem Höhepunkt entgegen, Empfindungen und Bilder rasten durch seine Gedanken und heizten seine Lust immer mehr an. Unvermittelt kam ihm eine Idee und aufgeregt änderte er seine Position so, dass er einen Arm nach hinten strecken und seine Hinterbacken erreichen konnte. Mit rasendem Puls ließ er einen Finger dazwischen gleiten und über die dort befindliche, sensible Stelle streichen. Nichts geschah.

Etwas enttäuscht hielt er inne. Aber das musste doch funktionieren! Wie konnten zwei Männer denn sonst Sex miteinander haben? Okay, es war wohl doch ein wenig mehr Einsatz nötig. Mit angehaltenem Atem umkreiste er die Stelle mit stärkerem Druck und da merkte er etwas, ein ungewohntes Ziehen. Er verlangsamte seine Bewegungen, schloss die Augen und versuchte, sich so gut es ging zu entspannen. Leise Lustlaute entkamen seiner Kehle und hallten leicht von den Wänden wieder, er lauschte ihnen nach und ließ sich davon noch mehr anheizen. Er merkte wie die Spitze seines Gliedes immer feuchter wurde, seine Hoden hart wurden. Okay, zweiter Versuch...vorsichtig ließ er die Fingerkuppe ein Stück eindringen und ein starkes Kribbeln kroch seinen Rücken bis zum Nacken hinauf.

 

Oh ja, genau so hatte er es sich vorgestellt! Millimeter für Millimeter drang er vor. Es fühlte sich seltsam an und schmerzte, doch er konnte auch nicht aufhören. Die Schauder fuhren bei jeder Bewegung durch seinen gesamten Körper und ließen ihn erbeben. Doch sie waren nichts im Vergleich zu dem Gefühl, als er sich mit kreisenden Bewegungen noch stärker stimulierte. Er bebte am ganzen Leib, das Kribbeln erfasste seinen gesamten Körper. Er stöhnte pausenlos, seine Hand pumpte fahrig sein zum bersten pralles Glied. Urplötzlich kam ihm ein Satz in den Sinn.

Das fühlt sich so gut an! Darf ich in dir kommen?

Liam's Muskeln zogen sich daraufhin zusammen, ebenso seine Hoden und er schnappte hilflos nach Luft. Das Sperma schoss regelrecht aus ihm heraus und er schrie laut auf, so laut, dass er selbst das Rauschen des Wassers übertönte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 12

 

Erschöpft und mit zittrigen Gliedern kniete Liam da und rang nach Luft. Nur am Rande bekam er mit, wie die Badezimmertür aufgerissen wurde und Fabian herein stürmte, das Gesicht bleich vor Schreck.

„Was ist passiert? Hast du dir wehgetan?“

Zuerst verstand Liam die Frage nicht, doch dann dämmerte ihm, was gemeint war: Sein lauter Schrei, der Fabian wohl geweckt hatte. Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, in welcher Pose er sich befand und das Blut schoss ihm heiß ins Gesicht. Hastig rappelte er sich hoch, bereute es jedoch zutiefst, als das Bad sich um ihn drehte und sein Kopf heftig zu pochen begann.

 

Fabian's Gesicht war so rot wie Liam's und er wandte peinlich berührt den Blick ab, als er sagte:

„Ich finde es ja schön, dass dir das heute so gut gefallen hat und dass du dich ausprobieren willst, aber könntest du das bitte etwas weniger wie einen Mord oder Unfall klingen lassen? Du warst übrigens ziemlich lange unter der Dusche.“

Liam stöhnte und vergrub kurz den Kopf in den Händen.

„Ja tut mir leid. Das kommt bestimnt nicht mehr vor.“

Fabian nickte, sichtlich erleichtert und streckte ihm eine Hand entgegen.

„Du wirst noch ganz schrumpelig.“

 

Ächzend zog Liam sich hoch und merkte, dass seine Beine taub waren. Er sog scharf die Luft ein, als der Blutfluss mit einem ekligen Kribbeln erwachte und biss die Zähne zusammen.

„Oh je, setz dich lieber hin, bevor du noch umfällst“, meinte Fabian besorgt und half ihm dabei sich auf den Wannenrand zu setzen. Er stellte das Wasser aus, nahm ein Handtuch und hüllte ihn darin ein.

Zittend vor Kälte saß Liam da und wünschte sich weit weg. Warum musste jeder Tag nur so oberpeinlich enden? Er zog peinliche Situationen an wie ein Magnet!

Mit einem leisen Seufzen begann er sich abzutrocknen. Als er sein T-Shirt über den Kopf streifte, fiel ihm ein, dass es morgen wieder zur Schule musste und er verzog das Gesicht. Er würde unweigerlich Thomas - und was noch schlimmer war - Niklas begegnen und der Gedanke versetzte ihn in Panik.

„Sollen wir morgen zusammen zur Schule gehen?“, meinte Fabian prompt, als hätte er seine Gedanken gelesen.

 

Liam nickte dankbar.

„Das wäre gut.“

Auch wenn Fabian nicht in seiner Klasse, sondern in der Parallel-Klasse war, wäre seine Anwesenheit während gemeinsamen Unterrichtsstunden und in den Pausen doch sehr beruhigend. Liam wusste zwar, dass er sich wie ein ängstliches Kind vor dem ersten Schultag benahm, doch er konnte nicht anders.

 

 

 

 

Liam's Kehle war wie ausgedörrt, als er am nächsten Morgen neben Fabian die Allee entlangging, die zur Schule führte und Schweißtropfen rannen über seine Stirn, obwohl es angenehm kühl war. Beim Frühstück hatte er kaum etwas runterbekommen und nun fühlte sein Magen sich wie ein dicker Knoten an. Er bemerkte Fabian's besorgte Seitenblicke und versuchte ein beruhigendes Lächeln, doch er scheiterte kläglich. Um sich von der Aufregung abzulenken, starrte auf den Weg vor sich. Zum wohl hundersten Mal ging er in Gedanken verschiedene Szenarien durch, was geschehen könnte, wenn er auf Niklas traf. Keine davon endete besonders positiv.

In Version A wurde er vollkommen ignoriert, als wäre er Luft.

In Version B verspottete Niklas ihn und stellte ihn vor seinen Klassenkameraden bloß und in der dritten Version...

 

Liam schüttelte die Vorstellung eines wütenden Niklas mit einem heftigen Kopfschütteln ab.

Mit einem schweren Seufzen holte er eine Wasserflasche aus der Umhängetasche und nahm einen kräftigen Schluck.

„Mach dir nicht so'n Kopf. Vielleicht ist er ja gar nicht da...“, versuchte Fabian ihn aufzumuntern und als sie an einer Bäckerei vorbeigingen, kaufte er kurzerhand ein dick belegtes Baguette - Brötchen.

„Hier. Essen hilft mir immer, wenn ich Sorgen habe.“

Liam musste gegen seinen Willen lächeln und nahm die Tüte dankend entgegen. Er verstaute sie in seiner Tasche und sie gingen weiter.

Kurz darauf hatten sie ihr Ziel erreicht.

„Bereit?“, fragte Fabian, als würden sie in die Schlacht ziehen und für Liam fühlte es sich fast so an. Er schluckte, nickte und zog die Eingangstür auf.

 

Wie sich herausstellte, lag der Blondschopf mit seiner Vermutung richtig; Niklas war nicht zu sehen. Entweder war er krank, oder er kam später. Liam musste trotz seiner Angst zugeben, dass er ein wenig enttäuscht war; er begann den Rotschopf wirklich zu vermissen und ein Teil von ihm sehnte sich danach, Niklas wieder zu sehen.

 

Eine Hand legte sich auf seine Schulter.

„Ich muss jetzt gehen, wir haben gleich Sport.“

Fabian wandte sich um, winkte und stieg die Treppe ins Erdgeschoss hinab. Liam blickte ihm so lange nach, bis er den Pausenhof überquert und in der Sporthalle verschwunden war. Dann machte er sich auf den Weg in seinen Unterricht, der in den ersten beiden Stunden aus Mathe bestand. Würg,

Als er im Flur ankam, um dessen Ecke sich der Klassensaal befand, schienen seine Füße am Boden fest gewachsen zu sein.

 

Leise drangen die Stimmen seiner Mitschüler zu ihm durch und plötzlich hörte er ein Lachen, das er nur zu gut kannte: Tamara.

Innerlich stöhnend schulterte er seine Tasche und zupfte nervös an seinem Shirt herum. Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass noch fünf Minuten bis zum Beginn des Unterrichts blieben. Entweder riss er sich jetzt zusammen und betrat sozusagen die Höhle des Löwen, oder er blieb hier stehen, wie ein verängstigter, kleiner Junge. Verdammt, er war in einem Pub voll mit fremden Menschen aufgetreten und jetzt hatte er Angst davor, seinen Freunden gegenüber zu treten? Wie lächerlich war das denn?

 

Nach einem tiefen Atemzug trat Liam um die Ecke und kam gerade in dem Moment an, als ihr Lehrer Herr Krobel die Tür aufschloss. Jungen und Mädchen strömten in den Raum und gingen lachend und plappernd zu ihren Plätzen. Liam betrat als Letzter das Klassenzimmer und schloss die Tür hinter sich. Seltsamerweise richteten sich alle Blicke auf ihn, nur Tamara blickte nicht auf, sondern wühlte scheinbar konzentriert in ihrer Tasche herum.

„Oh, schön, dass Sie uns wieder mit ihrer Anwesenheit beehren, Herr Dahlke.“

 

Liam zuckte bei der förmlichen Anrede unbehaglich zusammen und setzte sich hastig an seinen Platz. Herr Krobel schien ihm seine vier-wöchige Abwesenheit offensichtlich übel zu nehmen. Dem Getuschel seiner Mitschüler nach, war er wohl nicht der Einzige. Liam versuchte, dem Unterricht zu folgen, doch er verstand überhaupt nichts von dem, was der Lehrer da vor sich herleierte und als Herr Krobel ihn auch noch aufrief, um eine Aufgabe zu lösen, setzte sein Hirn vollkommen aus. Wie der letzte Trottel stand er vor der Tafel und ihm wollte einfach nichts einfallen. Die Stille um ihn herum wurde immer erdrückender, bis Herr Krobel schließlich seufzte und die erlösenden Worte sprach.

„Nun, Sie werden einiges nachholen müssen. Kommen Sie in der Pause zum Lehrerzimmer und holen sich das fehlende Material ab.“

Liam nickte und kehrte hastig zu seinem Platz zurück. Hinter ihm hörte er das Getuschel der Anderen, doch er konnte nicht heraushören, was genau gesagt wurde.

 

Als endlich das Schrillen zu Beginn der Pause erklang, packte Liam seine Sachen zusammen und wollte den Klassensaal verlassen, als sich ihm plötzlich ein Junge mit sandfarbenem Haar in den Weg stellte. Liam kannte ihn kaum und wusste nur, dass er Christian hieß.

„Ähm...Christian, lass mich bitte durch. Ich muss ins Lehrerzimner und...“

„Oh, habt ihr das gehört? Lehrers Liebling muss brav seine Unterlagen holen, um sich einzuschleimen!“

Seine Clique lachte hämisch und scharte sich langsam um ihn.

„Mann, hör auf mit dem Scheiß und lass mich durch“, knurrte Liam und versuchte sich an dem um zwei Kopf größeren Jungen vorbei zu drängen.

Doch Christian war nicht nur größer, sondern auch stärker als er und stieß ihn mühelos zurück.

„Führ dich mal nicht so auf! Glaubst wohl du kannst kommen wann du willst und danach den Lehrern in den Arsch kriechen! Hat dein Daddy dir wieder mal eine Auszeit spendiert? Wie viel war es das letzte Mal? Sechs Wochen?“

Christian's Gesicht verzog sich vor Verachtung und er begann, Liam zu umkreisen, wie ein Raubtier seine Beute.

 

Liam versuchte seine wachsende Furcht zu verbergen und erwiderte mit - wie er hoffte - gelassener Stimme:

„Was geht dich das überhaupt an? Und du weißt genau, dass damals der Unfall passiert ist...“

Christian's abruptes Lachen ließ ihn zusammen zucken.

„Und wenn schon, das interessiert mich einen Scheiß! Ich kann so verwöhnte Gören wie dich einfach nicht ausstehen!“

Plötzlich gab er einem der Jungen ein Zeichen und Liam schrie überrascht auf, als er gepackt wurde und Christian ihm die Tasche wegnahm. Ein triumphierendes Grinsen erschien auf seinem Gesicht und das wilde Funkeln in seinen Augen ließ Liam schaudern.

„Seht euch mal an was diese kleine Kröte für ein Smartphone hat!“

Grinsend hielt Christian das Smartphone in die Höhe und drehte sich einmal um die eigene Achse, bis er wieder mit dem Gesicht zu Liam stand.

Das Grinsen wich einer gelangweilten Miene, als er es auf den Boden fallen ließ und seelenruhig mit dem Fuß darauf herumtrampelte, um dann einmal mit beiden Füßen draufzuspringen. Ein Knirschen war zu hören, als das Display zersprang. Die anderen Jungen lachten und stritten darum, wer als nächster an der Reihe war. Danach lagen Plastick - und Metallteile über den ganzen Boden verstreut, als Resultat ihres hasserfüllten Neids.

 

Das gesplittete Display lag direkt vor Liam's Füßen. Er starrte darauf und wagte es nicht, aufzublicken. Seine Gedanken überschlugen sich in dem Versuch, einen Ausweg zu finden. Doch er wurde immer noch festgehalten und sie befanden sich auch noch im zweiten Obergeschoss, also war das Fenster auch tabu.

 

Unauffällig sah er zur offenen Tür, in der niemand mehr stand. Mit aller Kraft trat Liam dem Kerl, der ihn festhielt, auf den Fuß, was diesen wütend aufschreien ließ. Sein Griff lockerte sich und Liam nutzte die Chance, um

sich loszureißen. Er lief zur Tür, doch Christian war schneller. Er versuchte, nach ihm zu greifen, doch Liam ließ sich im Lauf fallen und schlitterte zwischen dessen Beinen hindurch. Auf den Knien versuchte er nach draußen zu kriechen, doch eine Hand krallte sich in sein T-Shirt und zerrte ihn grob zurück. Röchelnd saß Liam da und sah sich plötzlich von allen Fünf umzingelt.

Ohne Vorwarnung riss Christian seinen Kopf am den Haaren nach hinten und als Liam aufschrie, presste er ihm eine Hand auf den Mund.

„Was machen wir jetzt mit ihm?“, wollte ein pummeliger Junge mit Sommersprossen wissen und kratzte sich am Ohr.

Christian's kalter Blick ließ Liam's Herzschlag stocken und er bekam es mit der Angst zu tun. Mit aller Kraft versuchte er sich zu befreien, doch nun hielten ihn drei der Kerle fest.

 

Verdammt noch mal, irgendjemand musste hier doch vorbeikommen und das Ganze durch die offenstehende Tür bemerken! Fast schon beschwörend starrte er auf den Flur hinaus, doch das führte nur dazu, dass einer der Jungen seinem Blick folgte, die Tür schloss und seine letzte Hoffnung somit zunichte machte. Liam schloss die Augen. Oh Gott, ich bin erledigt.

Er verrenkte sich fast den Hals, in dem Versuch, mitzubekomnen, was Christian gerade tat. Der ging nachdenklich im Raum umher, bis er etwas an der Wand lehnen sah. Zufrieden lächelnd nahm er es in die Hand.

„Ich denke, ich weiß da was.“

Liam's Herz schien aus seiner Brust springen zu wollen, als dieser näherkam und den Zeigestock zischend in seine Handfläche klatschen ließ.

Liam glaubte sich übergeben zu müssen und schaffte es gerade noch, ein Würgen zu unterdrücken.

 

„Bring ihn zum Pult“, wies er seinen Kumpel an, der ihn grob zum Pult stieß; seine Knie schlugen gegen das Holz und er fluchte leise. Christian folgte ihnen und flüsterte seinem Freund etwas zu, was Liam jedoch nicht verstand. Plötzlich packte jemand seinen Kopf und drückte ihn vornüber auf die polierte Platte. Kalt lag das Holz an seiner Wange und die Vorderkante drückte sich schmerzhaft in seinen vor Angst verkrampften Magen. Liam merkte, wie Christian hinter ihn trat und das Blut gefror ihm in den Adern, als er seine Worte hörte.

„Ich finde das verzogene Gör sollte bestraft werden. Ein paar Schläge auf den Hintern sind da doch genau richtig!“

Die anderen stimmten in sein Lachen ein und versammelten sich um das Pult, als würden sie sich eine Show ansehen.

Die Panik wurde übermächtig und Liam wand sich mit aller Macht und versuchte irgendwie hochzukommen. Er schaffte es mit einiger Anstrengung seine Arme zu befreien und sich gegen den Griff an seinem Kopf zu stemmen. Ein paar Zentimeter kam er hoch, bevor er mit einem brutalen Stoß auf das Pult zurück geknallt wurde. Ein stechender Schmerz schoss durch seinen Kopf.

„Lasst mich los! Ihr wollt doch nicht im Ernst...“

Seine Arme wurden nach hinten gerissen und mit Klebeband umwickelt. Dann machte sich jemand an seiner Hose zu schaffen und voller Entsetzen spürte er, wie sie herunterzogen wurde. Sein Oberkörper wurde schmerzhaft nach unten gedrückt; er konnte sich kaum noch bewegen. Das Atmen fiel ihm schwer. Er konnte diese Bastarde noch nicht einmal beschimpfen.

 

Tränen stiegen ihm in die Augen und mit letzter Hoffnung blickte er zur Tür, die zu einem hellbraunen Fleck verschwamm. Bitte, bitte komm schon!

Irgendjemand...

„Jetzt mach schon!“, beschwerte sich einer der Kerle und Liam hätte ihn am liebsten gebissen, wenn er gekonnt hätte. Er überlegte, ob er um Hilfe schreien sollte, als auf einmal ganz vorsichtig und leise die Tür aufging. Liam blinzelte, um durch den Tränenschleier etwas zu erkennen. Jemand wollte gerade das Klassenzimmer betreten, soweit er es erkennen konnte, war es ein Mädchen. Als er wieder klar sehen konnte, sah er das schreckensbleiche Gesicht von Tamara, die stocksteif dastand, mit aufgerissenen Augen, ihre Tasche fest umkalmmernd.

 

Ihr Blick ruhte auf Liam und als er nickte, zog sie sich lautlos zurück. Niemand sonst hatte etwas mitbekommen. Liam atmete innerlich auf. Sie würde Hilfe holen. Er würde hier rechtzeitig rauskommen. Hoffnung keimte ihn ihm auf. Doch da erklang Christian's spöttisches Lachen.

„Der Spaß beginnt!“

Liam kniff die Augen zu und wartete auf den ersten Schlag.

 

Das nächste, was er wahrnahm, war, wie die Tür aufgerrissen wurde und als er die Augen öffnete, stürmte Herr Krobel in den Raum, gefolgt von Tamara, die sich sicherheitshalber im Hintergrund hielt.

Liam spürte, wie der Druck verschwand und kraftlos sank er zu Boden. Ein Zittern erfasste seinen Körper; er wollte die Arme um sich schlingen, doch er war noch immer mit dem Klebeband gefesselt. Benommen beobachtete er, wie Herr Krobel Christian den Zeigestock entriss und nur mit mühsam beherrschter Stimme fragte, was das hier sollte. Die Übeltäter schwiegen hartnäckig, aus Trotz oder weil sie glaubten, die Coolen spielen zu müssen.

Doch es nützte nichts, denn alle Fünf wurden zum Direktor zitiert. Christian schenkte Liam noch einen hasserfüllten Blick, dann ging er mit erhobenem Kopf voran. Der Rest folgte weit weniger selbstbewusst. Herr Krobel wandte sich an Tamara, die bleich neben der Tür stand.

„Kümmern Sie sich bitte um ihn.“

Sie nickte schwach und er verließ den Raum. Kaum hatte die Tür sich geschlossen, kämpfte Liam sich schwankend auf die Beine, taumelte zum Waschbecken und würgte, doch es kam nichts. Keuchend und zitternd stand er da, bis Tamara hinter ihn trat und behutsam das Klebeband entfernte.

 

Er wandte den schmerzenden Kopf und starrte Tamara an, der Tränen über das Gesicht strömten. Ihre Unterlippe bebte und er hörte sie kaum, als sie flüsterte:

„Oh Gott...“

Als sie schwankte, hielt Liam sie fest und gemeinsam fielen sie auf die Knie. Beinahe gleichzeitig fingen sie an zu weinen und schluchzend hielten sie einander fest. Liam war es egal, dass er hier in Boxershorts vor ihr saß, es war ihm egal, dass er vor ihr heulte wie ein kleiner Junge. Ihm war alles egal, alles was zählte war, dass sie hier war und ihn im Arm hielt. Nach einer Weile hatten sie sich beruhigt und sahen einander velegen an.

„Danke“, krächzte Liam schließlich und lächelte schwach.

Tamara wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht und lachte zittrig.

„Zum Glück bin ich noch einmal zurück gekommen, weil ich meine Sporttasche vergessen habe. Oh Gott

Liam, wenn ich nicht gekommen wäre...“

 

Sie begann wieder zu weinen und er hob eine zitternde Hand, um ihr tröstend über das Haar zu streicheln.

„Alles ist wieder okay. Mir geht es gut.“

Unter Tränen warf sie ihm einen zweifelnden Blick zu und er grinste schuldbewusst.

„Na gut, mehr oder weniger.“

Sie schwiegen, bis sie die Überreste seines Smartphones entdeckte.

„Diese Mistkerle haben auch noch dein Smartphone zerstört? Deine Mom hat es dir doch geschenkt!“, rief sie erbost und begann schniefend und mit wütend gerunzelter Stirn die verstreuten Einzelteile aufzusammeln.

„Lass es Tamara, ich kann es selber machen.“

Er erhob sich und stöhnte, als sein Kopf, die Knie und sein Brustkorb sich schmerzhaft meldeten.

„Ist es schlimm?“, erkundigte sie sich besorgt, während sie sich aus der Hocke erhob und mit bedauernder Miene die Überreste im Müll entsorgte.

„Ja, es geht schon.“

Er schloss kurz die Augen und wünschte, sie würde nicht weiter nachhaken. Was sie zu seiner grenzenlosen Erleichterung auch nicht tat.

 

„Ich hoffe sie fliegen von der Schule“, schimpfte die Blondine und setzte sich auf den Tisch an dem sie gewöhnlich saß. Sie wollte etwas sagen, schloss aber den Mund wieder und wandte den Blick ab. Erst da wurde Liam bewusst, dass er in Boxershorts vor seiner ehemals besten Freundin stand, der er das Herz gebrochen hatte. Mit glühenden Wangen zog er sich hinter dem Flipchart - Ständer seine Hose wieder an und ging dann zu seinem Platz, eine Reihe vor Tamara und ließ sich in den Stuhl plumpsen, was er sofort bereute. Er unterdrückte einen Fluch und lehnte sich erschöpft zurück. Während er an die Decke starrte, fragte er:

„Wieso redest du wieder mit mir? Müsstest du mich nicht eigentlich hassen?“

Als keine Antwort kam, drehte er sich zu ihr um.

 

Sie saß mit baumelnden Beinen da und hielt den Blick gesenkt. Ihre Finger spielten an ihrem Armband herum. Erstaunt erkannte er, dass es sich um ein silbernes mit kleinen Pferden und Sternen handelte. Sein Geburtstagsgeschenk.

 

„Das Armband“, hauchte er und streckte unbewusst die Hand danach aus. Tamara zog ihren Arm zurück, lächelte wehmütig. Ihm stockte der Atem und schmerzlich wünschte er sich die Zeiten zurück, in denen sie unbeschwert herum gealbert, sich Geheimnisse erzählt und einander getröstet hatten.

„Erinnerst du dich noch, als wir mit unseren Eltern an den See gefahren sind? Die Toiletten waren außerhalb der Hütten und du musstest einmal nachts dringend auf's Klo. Du hattest solche Angst alleine zu gehen, dass du mich aufgeweckt und fast schon angefleht hast, mit dir zu kommen.“

Er musste bei der Erinnerung lachen.

„Als wir wieder nach draußen gingen, waren da überall Glühwürmchen. Du hattest überhaupt keine Angst mehr und vor lauter Freude hast du angefangem zu tanzen...“

Als er ihr Schniefen hörte, blickte er auf und sah sie noch immer lächeln, während Tränen ihre Wangen hinab liefen.

Sie rutschte von der Tischplatte auf den Boden herunter und begann zu tanzen, genau wie damals. Ihr weißes Sommerkleid wirbelte um ihre Beine, das lose Haar schwang mit ihren Bewegungen mit. Mitten in einer Drehung fing sie zu lachen an, glockenhell und sorglos und Liam betrachtete sie einfach nur, wie verzaubert. Sie schlängelte sich elegant zwischen den Tischen hindurch, sprang, sobald sie genügend Platz hatte, wie eine Ballerina umher, und schien die Welt um sich herum zu vergessen.

Erst das Schrillen zum Pausenende, holte beide wieder in die Realität zurück. Blinzelnd sahen sie sich an und brachen dann in Gelächter aus.

 

 

Auch am nächsten Morgen konnte Liam Niklas nicht entdecken und er begann, sich Sorgen zu machen. Zu seiner Erleichterung waren Christian und seine Kumpane ebenfalls nicht da. Das konnte seiner Meinung nach ruhig eine Weile so bleiben.

Fabian hatte ihn zur Sicherheit wieder begleitet. Auch er hatte sich über die Abwesenheit des Rotschopfs gewundert, wo dieser doch eher selten fehlte. Auch sprach er das Fehlen ihrer fünf Klassenkameraden an, doch Liam zuckte nur die Schultern. Er hatte ihm nichts vom gestrigen Vorfall erzählt, einfach weil es nichts ungeschehen machen und seinem Freund nur Sorgen bereiten würde. Außerdem wusste er ja selbst nicht genau, was mit ihnen geschehen war...

 

Die Pause hatte gerade begonnen und sie setzten sich auf eine Bank im Schulhof.

„Du hast ganz schön was nach zu holen“, meinte Fabian seufzend und nahm einen Schluck Eistee. Liam verzog das Gesicht, packte die Matheunterlagen in seinen Rucksack und biss von seinem Brötchen ab.

Während er kaute ließ er den Blick über den Hof schweifen, als ihm ein Junge mit hellbraunem Haar, einem verblichenen T - Shirt, zu großen Shorts und abgewetzten Turnschuhen auffiel. Die Wangenknochen stachen in dem bleichen Gesicht deutlich hervor, Arme und Beine wirkten wie Streichhölzer.

„Was macht er da?“, wollte Fabian wissen und beschattete seine Augen mit der Hand.

Liam beobachtete den Jungen, der etwa neun oder zehn Jahre alt war, weiter; er sprach verschiedene Schüler an, egal ob in seinem Alter, oder aus der Oberstufe, mit bittendem Blick ging er von Einem zum Anderen, wurde jedoch scheinbar jedes Mal abgewiesen.

Bei einem jungen Mädchen aus der Fünften schien er Glück zu haben, denn sie gab ihm einen Apfel und er bedankte sich altmodisch mit einer Verbeugung. Als er sich wieder aufrichtete, schwankte er und musste sich an einem Baumstamm abstützen.

„Er bettelt um Essen“, stellte Liam bestürzt fest. Ohne lange zu überlegen, nahm er den Beutel mit den beiden restlichen Brötchen und schnappte Fabian den Schokoriegel unter der Nase weg.

„Hey!“, protestierte er, doch Liam ignorierte ihn und näherte such stattdessen vorsichtig dem Jungen.

Als er schließlich vor ihm stand, blickten zwei müde Augen zu ihm hoch. Ungläubig stellte er fest, dass der Knirps ihm knapp bis zur Schulter reichte, obwohl sechs Jahre Altersunterschied zwischen ihnen lagen.

 

Liam lächelte freundlich und versuchte, den misstrauischen Blick zu ignorieren.

„Hallo. Du siehst ganz schön hungrig aus.“

Der Junge nickte zögernd, während er gierig auf das Essen in seinen Händen starrte.

„Ich habe hier etwas für dich. Du kannst es haben, wenn du mir ein paar Fragen beantwortest.“

Der Kleine wandte enttäuscht den Blick von den Köstlichkeiten ab und betrachtete ihn ängstlich und mit leiser Skepsis.

„Keine Angst, ich fresse dich nicht, wohl eher du mich.“

Ein zaghaftes Lächeln erschien auf dem mageren Gesicht des Jungen und Liam atmete auf. Gut, er schien ihm etwas zu vertrauen.

„Wie heißt du denn?“

„Sander“, antwortete der Kleine leise und blickte sehnsüchtig auf den Schokoriegel in Liam's Hand, der allmählich zu schmelzen begann.

„Das ist ein schöner Name.“

Das fand Liam wirklich und der Junge hatte sein Interesse und Mitgefühl geweckt.

„Hast du denn kein eigenes Pausenbrot dabei?“, fragte Liam als nächstes und als er den traurigen Ausdruck in den grau-braunen Augen sah, tat es ihm fast schon leid, diese Frage gestellt zu haben.

„Wir haben keins. Kein Geld...“

 

Er schien den Tränen nahe und Liam gab ihm zum Trost den Schokoriegel. Ein Leuchten erschien in Sander's Augen und er wirkte um einiges munterer.

„Ist das öfter so?“

Sander nickte und Liam sah sich in seiner Sorge bestätigt.

„Weißt du Sander, du und deine Familie könnt Hilfe bekommen, wenn deine Mama zum Jugendamt geht...“

„Unsere Mama ist nicht zuhause“, unterbrach Sander ihn und seine kleinen Hände ballten sich zu Fäusten.

„Was...“

 

Doch da schnappte der Kleine sich blitzschnell die Tüte mit den Brötchen und rannte trotz seiner Schwäche eilig davon. Liam blieb perplex zurück und kehrte, nachdem er sich wieder gefasst hatte, zu Fabian zurück der ihn fragend ansah. Liam erzählte ihm was passiert war.

„Und dem kleinen Dieb hast du meinen Schokoriegel gegeben?“, beschwerte der Blondschopf sich und setzte einen Schmollmund auf.

„Er hat ihn nötiger als du“, erwiderte Liam nur und zwickte eine kleine Speckfalte an der Hüfte seines Freundes. Fabian quiekte überrascht und ließ fast seine Flasche fallen.

„Weißt du in welche Klasse er geht?“

Liam schüttelte den Kopf.

„Mist, das habe ich vergessen zu fragen.“

Fabian seufzte, dann bemerkte er plötzlich:

„Da kommt Thomas.“

Liam schreckte hoch und sah den Schwarzhaarigen auf sie zukommen. Nervös sah er ihm entgegen und wusste nicht, wie er reagieren sollte. Seit dem Ausbruch im Skate - Park hatte Thomas nicht mehr geschrieben oder mit ihnen gesprochen und das hatte sie zutiefst beunruhigt.

„Hi Li, hi Blondie“, begrüßte er sie und setzte sich zu ihnen.

„Hey“, erwiderte Liam den Gruß leise und wusste nicht, wo er hinschauen sollte. Fabian dagegen schien die Ruhe selbst, eher noch: er schien vor Entschlossenheit und Gelassenheit zu strotzen, was ungewõhnlich für ihn war.

 

„Was macht ihr heute nach der Schule?“, wollte Thomas wissen, als wäre nie etwas gewesen. So war er nunmal; er machte nie große Worte um Etwas und ließ Vergangenes ruhen, meistens zumindest.

„Ich treffe mich mit Luka“, kam es von Fabian wie aus der Pistole geschossen und gelassen nahm er einen Schluck aus seiner Flasche.

„Wer ist Luka?“, hakte Thomas verwirrt nach und fing an, sein Pausenbrot auszupacken.

Liam flehte den Blondschopf in Gedanken an, irgendetwas Harmloses zu sagen wie „Er ist nur ein Freund“ oder „Nur ein Cousin von mir“, oder... doch

seine Hoffnung wurde jäh zerschlagen, als Fabian antwortete.

 

„Mein Freund. Wir gehen miteinander.“

Thomas hielt mitten in der Bewegung inne und Liam spürte wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.

Da lachte der Schwarzhaarige auf und klopfte seinem Freund auf den Rücken.

„Fast hätte ich dir geglaubt. Echt, mach keine Scherze damit“, sagte er leicht nervös und fuhr mit dem Auspacken fort. Fabian runzelte verärgert die Stirn und Liam musste dem Drang widerstehen, den Blondschopf anzuspringen und ihm den Mund zuzukleben. Jetzt wäre das Klebeband von gestern gut, dachte er sarkastisch. Er warf Fabian einen beschwörenden Blick zu, doch der erwiderte ihn mit Trotz und Entschlossenheit in den Augen und da wusste Liam, dass er ihn nicht mehr aufhalten konnte.

 

„Das war kein Scherz, ich bin mit Luka zusammen. Ich bin schwul.“

Thomas fiel das Sandwich, in das er gerade hineinbeißen wollte, aus der Hand; er blinzelte irritiert, bevor er langsam den Kopf wandte. Seine Augen blitzten angriffslustig und eine Ader pochte auf seiner Stirn.

„Sag- das- noch- mal.“

Die Art, wie er jedes einzelne Wort betonte, machte deutlich wie wütend er war.

Fabian funkelte ihn aus zusammen gekniffenen Augen an.

„Ich - bin - schwul.“

Liam schluckte und fühlte ein nervöses Kribbeln über seine Haut kriechen. Ihm war speiübel.

„Hey ihr zwei, beruhigt euch mal. Die Leute gucken schon.“

Er hoffte, dass seine Worte die beiden zur Vernunft brachten, doch da hatte er sich gründlich getäuscht, denn Thomas schnellte hoch und baute sich mit geballten Fäusten vor Fabian auf.

Sein Mund war vor Wut verkniffen und er bebte am ganzen Körper. Liam stand ebenfalls auf, stellte sich vor ihn und fühlte sich wie die Maus vor der Katze.

„E-es stimmt, aber...“

„Aber was?!“, fuhr Thomas ihn an und die Wut in seinem Blick, machte tiefer Enttäuschung platz.

„Nichts 'aber'“, mischte Fabian sich wieder ein und reckte entschlossen das Kinn vor.

„Akzeptiere es wie es ist, oder lass es. Ich wollte das nur klarstellen.“

 

Er sah kurz zu Liam rüber, mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck, dann richtete er sich wieder Thomas zu. Liam hatte plõtzlich ein ungutes Gefühl; sein Herzschlag stolperte bis in seine Kehle hinauf.

„Liam hat dir übrigens auch etwas zu erzählen.“

Nein! Tu das nicht! , schrie es in Liam und panisch blickte er sich um, als könne jeden Moment jemand zur Rettung kommen. Doch es hatten sich bloß einige Schüler um sie herum versammelt, die das Ganze neugierig verfolgten. Getuschel wurde laut, ablehnende und mitleidige Blicke richteten sich auf Fabian.

 

Liam fühlte sich in die Ecke gedrängt und wollte seinem Fluchtinstinkt nachgeben, doch Thomas packte seinen Arm, den Kiefer zum Zereissen gespannt und mit vor Wut loderndem Blick.

„Was meint er? Sag es mir!“

Als Liam zögerte, wurde er grob am Kragen gepackt und heftig geschüttelt.

„Sag es endlich, verdammt!“

Aus dem Augenwinkel sah er, wie Fabian eine Hand ausgestreckte, als wolle er einen von ihnen aufhalten, nur konnte Liam nicht genau sagen, wen.

Er schloss die Augen und holte tief Atem.

Als er sie wieder öffnete, starrte er an Thomas vorbei in die Ferne und entdeckte Sander an der Feuerleiter der Aula, der gerade den Schokoriegel aß.

 

Er fixierte den Jungen, als könne ihm der Anblick irgendwie helfen, wie ein Leuchtturm auf dunkler, stürmischer See.

„Ich bin auch schwul.“

Er hörte sich selbst kaum, als er es schließlich aussprach; er wollte es gar nicht. Als er vorsichtig zurück in Thoma's Gesicht sah, traf ihn die Faust mitten ins Gesicht und eine Welle des Schmerzes schoss durch sein Nasenbein bis in die Stirn hinauf. Der Schlag schleuderte ihn zu Boden, wo er benommen liegen blieb.

 

Fabian schrie erschrocken auf, zusammen mit der versammelten Gruppe von Schülern.

Liam stemmte sich hoch und auf die Beine, versuchte das aus der Nase tropfende Blut und den Schmerz zu ignorieren und sah gerade noch wie Thomas den Blondschopf mit einem Fausthieb zu Boden riss. Das ging eindeutig zu weit! Fabian war ehrlich zu Thomas gewesen, hatte Stärke bewiesen und keinen Rückzieher gemacht und dafür wurde er geschlagen? Wütend packte er Thomas an der Schulter und zerrte ihn zu sich herum.

„Lass Fabian aus dem Spiel! Er...“

Die Luft wurde ihm abgeschnitten, als eine Faust ihn im Magen traf und ein Tritt ihm die Beine wegzog. Japsend lag er auf dem Rücken, Schmerz schoss durch seinen ganzen Körper und ließ ihn stõhnen. Thomas beugte sich zu ihm herab und zerrte seinen Kopf an den Haaren in den Nacken. Er wimmerte.

Nicht schon wieder.

 

„Warum? Warum ihr auch noch?“

Tränen tropften auf Liam's Wange und rannen kitzelnd seinen Hals hinab. Trotz des Luftmangels, versuchte er zu sprechen.

„Wir wol-lten dir nicht weh-tun, aber wir... wollten dich noch weniger an...lügen.“

Doch seine Worte schienen Thomas nicht zu erreichen. Stattdessen packte der seinen Kopf noch fester, zerrte ihn an den Haaren nach oben, und ramnte ihn mit aller Kraft auf den Boden. Liam schrie vor Wut und Schmerz auf.

„Spar dir die Ausreden! Ihr seid nicht besser als mein Arschloch von Vater! Ihr seid Abschaum, alle drei!“

Die letzten Worte brüllte er und ein Tritt traf Liam in die Seite. Weiße Punkte tanzten vor seinen Augen und er keuchte atemlos auf.

„Hör auf! Nur weil du die Wahrheit nicht akzeptieren kannst, musst du nicht gleich ausrasten!“, erklang laut Fabian's wütende Stimme. Mühsam wandte Liam den Kopf und riss erschrocken die Augen auf. Fabian's linkes Auge war angeschwollen und begann bereits sich blau-grün zu färben. Blut rann in dünnen Rinnsalen aus einer Wunde auf seiner Stirn und er hielt sich den rechten Arm, der der Länge nach aufgeschrammt und rot geschwollen war.

 

Thomas spuckte nur verächtlich dicht neben seinem Gesicht auf den Boden.

„Ihr seid diejenigen die falsch liegen. Ihr seid einfach nur abartig und solltet euch mit euren Neigungen am besten irgendwo ins dunkelste Loch verkriechen.“

Die Kälte in seiner Stimme ließ Liam schaudern und er sah pures Ensetzen in Fabian's Miene.

Einige zustimmende Rufe unter den Zuschauern wurden laut, gefolgt von Protestrufen.

 

Liam wagte es nicht, sich zu rühren, aus Angst den Zorn des Schwarzhaarigen auf sich zu ziehen. Fabian schien da anderer Meinung, denn er näherte sich Thomas unerschrocken und packte diesen nun seinerseits am Kragen.

„Mich kannst du ja beschimpfen soviel du willst; ich bin es gewohnt. Doch Liam weiß es erst seit kurzem und hat deine Verachtung nicht verdient!“

Thomas lachte nur auf und dieses Lachen verursachte Liam eine Gänsehaut. Er richtete sich auf und sah, wie Thomas sich losriss und die Hand zum Schlag erhob.

 

„Hör auf!“

Mit letzter Kraft preschte Liam vor und fing den Schlag mit seinem Gesicht ab. Sein Ohr brannte wie Feuer und in seinem Kopf klingelte es. Benommen sank er auf die Knie.

Mit einem wütenden Schrei stürzte Fabian sich auf den Schwarzhaarigen und warf ihn zu Boden. Sie rangen miteinander, bohrten sich ihre Finger in die Haut, schlugen mit ihren Fäusten aufeinander ein und scheuten sich auch nicht, Knie und Ellenbogen zu benutzen.

 

Thomas' flache Hand traf Fabian an der Kehle und ließ ihn würgen. Hustend war er für einen Moment abgelenkt und die zu einer Faust zusammen genommenen Hände, die auf ihn niedersausten, löschten sein Bewusstsein aus. Reglos blieb er liegen. Bevor Liam auch nur aufschreien konnte, spürte er Faustschläge auf sich niederprasseln; Thomas Gewicht drückte ihn hart auf den Boden und schnürte ihm die Luft ab. Pausenlos trafen ihn Tritte und Schläge, Nägel rissen seine Haut auf und hinterließen brennende Wunden. Aufgeregte und panische Rufe wurden laut und schrillten ihm in den Ohren. Irgendwann nahm er seinen Körper und die Umgebung kaum noch wahr und erschöpft schloss er die Augen.

 

Lautes Gemurmel und Rufe wurden laut und er zwang sich, ein Auge zu öffnen. Thomas hatte aufgehört auf ihn einzuschlagen, besser gesagt lag er neben Liam auf dem Boden, einen Arm auf den Rücken gedreht, das Gesicht in den Staub gepresst. Auf ihm saß eine Gestalt; doch alles was Liam sah, war ein undeutlicher Schemen und ein roter Fleck. Er schmeckte Blut und Galle auf der Zunge und spuckte aus. Keuchend blieb er liegen, versuchte aber den Kopf zu wenden. Einige Schüler waren zu Fabian geeilt und ergriffen Erste - Hilfe - Maßnahmen. Einige Mädchen kehrten mit dem Direktor zurück, der loswetterte und die Schüler zurück in den Unterricht scheuchte. Einige Mitschüler knieten sich vor ihn und redeten auf ihn ein, doch Liam achtete nicht darauf, sondern bemühte sich, die Person, die Thomas ein Knie in den Rücken drückte, zu erkennen. Seine Sicht klärte sich und aus dem roten Fleck wurde ein roter Haarschopf.

„Niklas“, flüsterte er, bevor auch er das Bewusstsein verlor.

Kapitel 13

 

Liam zuckte zusammen als der in Desinfektionsmittel getränkte Tupfer die Schramme auf seiner Wange berührte. Sein Kopf pochte schmerzhaft und er spürte jeden einzelnen Kratzer und jede einzelne Prellung am Körper. Unruhig rutschte er auf der Krankentrage herum und die Schulkrankenschwester Hannah ermahnte ihn, stillzuhalten.

„Ich bin ja gleich fertig, dann können deine Freunde zu dir.“

Liam zwang sich ruhig sitzen zu bleiben, bis auch der letzte Kratzer verarztet war.

„Kann ich sie jetzt sehen?“, fragte er ungeduldig und beobachtete Hannah, die ihre Utensilien wegpackte und zur Tür ging.

„Ich gebe ihnen bescheid, dass du wach bist. Aber haltet den Besuch kurz; du brauchst Ruhe und solltest nach Hause gehen.“

Liam nickte und wartete bis sie den Raum verlasssen hatte. Nachdem die Tür sich geschlossen hatte, sprang er auf den Boden, bereute es jedoch sofort, als ein stechender Schmerz durch seinen Schädel fuhr. Vielen Dank auch Thomas und Fabian.

 

Es war erst wenige Minuten her, dass er aufgewacht war, hier im Krankenzimmer der Schule. Wie er hier hergekommen war, wusste er nicht, doch er erinnerte sich noch genau daran, Niklas gesehen zu haben, bevor er das Bewusstsein verlor. Nervös an seiner Unterlippe kauend, fragte er sich, ob der Rotschopf gleich hier auftauchen und was er dann sagen würde. Plötzlich erklang Hannah's Stimme vor der Tür und er glaubte so etwas wie „Macht aber nicht zu lange, er braucht Ruhe. Höchstens zehn Minuten“ zu hören.

Dann öffnete sich die Tür und sein Herz machte einen Sprung. Er sah Tamara, mit rotgeweinten Augen, Fabian, mit bleichem Gesicht und einem Verband um den Kopf und dort neben ihm stand tatsächlich Niklas mit unergründlicher Miene.

Liam zwang sich zu einem Lächeln.

„Hey, Leute.“

Kaum hatte er seinen Satz beendet, stürmte Tamara auch schon zu ihm und umarmte ihn etwas zu fest für seinen Geschmack.

„Tamara, ich weiß deine Sorge um mich zu schätzen, aber könntest du dabei etwas behutsamer sein? Mir tut alles weh“, ächzte er und sofort ließ sie von ihm ab und lächelte entschuldigend.

„Sorry, ich bin nur so erleichtert, dass du wieder wach bist.“

Fabian und Niklas traten ebenfalls ein und der Rotschopf schloss die Tür. Sie setzten sich, Fabian und Niklas auf zwei bereitstehende Stühle und Tamara neben Liam auf die Liege.

„Wie geht es dir, Fabian?“, erkundigte Liam sich und ließ dabei den Blick über seinen Freund gleiten. Arm und Kopf waren bandagiert, das Auge leuchtete violett und angeschwollen.

„Ich fühle mich als wäre ich unter eine Dampfwalze gekommen.“

Er verzog das Gesicht und Liam musste grinsen. Tamara nickte nur mitfühlend und Niklas saß mit verschränkten Armen da, ebenfalls grinsend.

„Geht mir ähnlich.“

 

Danach schwiegen sie, scheinbar in Gedanken versunken, bis Liam das Schweigen schließlich brach. Sein Blick ruhte auf Niklas, als er sagte:

„Vielen Dank für deine Hilfe. Das war echt cool von dir.“

„Da hat sich das Karate doch gelohnt“, stimmteTamara zu und Fabian nickte, ebenfalls dankbar. Niklas winkte ab und stützte die Ellbogen auf die Knie.

„Ich mag Thomas, aber wenn er meine besten Freunde grundlos verprügelt, kann ich doch nicht tatenlos rumstehen.“

Dabei hing sein Blick an Liam, was diesen leicht erröten ließ und hastig sah er weg.

„Wir haben dich heute morgen gar nicht gesehen. Wo warst du?“

„Ich hatte noch etwas zu erledigen.“

Liam wechselte einen Blick mit Fabian, doch sie hakten nicht weiter nach.

„Wo ist Thomas eigentlich?“, wollte Tamara wissen und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Ich habe gar nicht mitbekommen, was mit ihm passiert ist.“

Niklas seufzte und fuhr sich durch das Haar.

„Er ist ins Büro des Rektors zitiert worden. Ich vermute mal er wird für einige Zeit suspendiert.“

 

Liam, Tamara und Fabian nickten betrübt.

„Schöne Scheiße“, brummte der Rotschopf und lehnte sich seufzend zurück.

Liam vermied es Fabian anzusehen, doch insgeheim gab er ihm die Schuld an der Prügelei, denn hätte dieser sich nicht vor Thomas geoutet, wäre das alles nicht passiert.

Es klopfte an der Tür und Hannah streckte ihren Lockenkopf herein.

„Die Besuchszeit ist vorbei. Los jetzt, ab zum Unterricht. Fabian, Liam, Abmarsch nach Hause“, befahl sie und öffnete die Tür ganz, damit sie den Raum verließen. Tamara und Fabian gehorchten, verabschiedeten sich und gingen. Niklas aber blieb und wandte sich an die Schwester.

„Ich würde Liam gerne nachhause begleiten, wenn das okay ist.“

Liam runzelte die Stirn und auch die Krankenschwester schien überrascht.

„Na gut, aber passt auf euch auf.“

Sie hob mahnend den Zeigefinger und sah den Rotschopf streng an.

„Und denk nicht mal dran zu schwänzen.“

Niklas grinste bloß, versprach aber sofort zurückzukommen, sobald er Liam nachhause gebracht hatte.

Hannah nickte und winkte sie hinaus, lächelte aber dabei.

„Teenager“, murmelte sie und schloss die Tür hinter ihnen.

 

Liam bemerkte erst jetzt seinen Rucksack, den Niklas in der Hand hielt und murmelte ein Danke. Nervös rieb er sich mit der Hand am Nacken und ließ den Blick durch den Flur schweifen. Eine deutlich spürbare Spannung hing in der Luft und Liam wusste nicht einmal genau warum. Sie hatten sich zwar eine Weile nicht gesehen und keinen Kontakt gehabt, doch da war noch etwas anderes, was er nicht benennen konnte und das beunruhigte ihn.

Langsam setzten sie sich in Bewegung und liefen durch die stillen, menschenleeren Flure. Nur ab und zu begegnete ihnen ein Lehrer oder der Hausmeister. Sie schwiegen, bis sie das Schulgebäude verlassen hatten.

„Sorry, dass ich dich jetzt mitschleppe, aber ich wollte mit dir allein sein“, ergriff Niklas das Wort und seine braunen Augen blickten ihn entschuldigend an. Liam schüttelte den Kopf und senkte den Blick.

„Das macht nichts. Ist mir allemal lieber, als von meinem Vater abgeholt und nachhause kutschiert zu werden, wo er bestimmt ausrasten würde.“

Niklas schnaufte belustigt.

„Dann ist ja gut.“

Liam fühlte Freude in sich aufsteigen; Niklas sprach wieder mit ihm und es schien so wie früher zwischen ihnen zu sein. Vor dem Vorfall auf Tamara's Party....

Die Erinnerung daran ließ Sehnsucht und längst begraben geglaubte Gefühle in ihm aufsteigen und er zwang sich sie zu unterdrücken. Reiß dich zusammen, du bist ja schlimmer als Tamara.

 

Liam holte tief Luft, bis sein Herz wieder ruhig weiterschlug.

„Ich schätze du weißt, warum Thomas so ausgeflippt ist?“, wagte er zaghaft zu fragen und starrte dabei auf seine schmutzigen Schuhe. Er glaubte getrocknetes Blut darauf zu erkennen. Hastig wandte er den Blick ab und sah direkt in Niklas haselnussbraune Augen. Ihm stockte der Atem. Er stolperte und fing sich gerade noch. Leise fluchend hielt er sich den pochenden Kopf. Niklas lachte auf und schüttelte belustigt den Kopf.

„Das hat sich nicht geändert, was?“

Liam schnaubte nur beleidigt.

„Thomas hat finde ich einen großen Fehler gemacht. Aber du und Fabian habt richtig gehandelt“, meinte er plötzlich wiede ernst.

Liam, der sich gerade wieder in Bewegung setzen wollte, blieb stehen und blickte den Rotschopf verwundert an.

„Echt? Du findest unser Outing vor allen anderen okay?“

Niklas nickte nachdrücklich.

„Es ist besser, die Wahrheit zu sagen, als jemanden anzulügen, auch wenn es manchmal wehtut.“

 

Liam schwieg unbehaglich; die Erinnerung an sein Liebesgeständnis kamen wieder hoch und ließ seinen Kopf schwirren. „Ich bin nicht schwul. Ich kann nicht mit dir zusammen sein.“ „Es wäre besser, wenn wir vorübergehend den Kontakt zueinander abbrechen...“

Schmerz fraß sich in sein Herz und er schaffte es kaum, Niklas in die Augen zu sehen. Seine Kehle wurde eng und jeder Herzschlag tat weh. „Hey, alles okay?“, hörte er Niklas Stimme sanft fragen und hastig nickte er. „Ja, ich bin nur...noch etwas angeschlagen.“

Sie gingen schweigend ein Stück, da packte Niklas plötzlich seinen Arm und zog ihn in den Schatten eines Bushäuschens.

„Au, das tut weh!“, protestierte Liam und rieb sich die schmerzende Stelle. „Tut mir leid, aber wir müssen reden“, entgegnete Niklas und Liam bemerkte den drägenden Unterton in seiner Stimme. „Na gut.“ Sie setzten sich auf die Holzbank und Liam wartet darauf, dass Niklas etwas sagte. Als dieser immer noch schwieg, hakte Liam behutsam nach. „Um was geht es?“ Niklas' Miene wirkte plötzlich gequält und Liam erschrak.

„Ist etwas passiert? Geht es deiner Familie gut?“ „Nein, ihr geht es gut. Darum geht es nicht“, erwiderte Niklas und stieß hörbar den Atem aus. „Es geht um etwas persönliches“, fing der Rotschopf an, doch dann schien er nicht mehr zu wissen, was er sagen sollte und Liam drängte ihn nicht. Stattdessen lehnte er sich vorsichtig gegen die Rückwand des Häuschens und schloss die Augen.

 

„Auch wenn wir den Kontakt zueinander abgebrochen haben, kannst du mir alles anvertrauen. Wir kennen uns schon seit wir Kinder waren und haben uns alle Geheimnisse anvertraut, weißt du noch?“ Er lachte leise. „Einmal hast du mir erzählt du müsstest zum Zahnarzt gehen und dass du totale Angst davor hättest. Du hast mir solange damit in den Ohren gelegen, bis ich mit zu dem Termin gekommen bin. Als du zurück ins Wartezimmer kamst, warst du ganz verheult und hattest eine dicke Backe.“

Er lachte wieder und öffnete die Augen. Sein Blick lag zärtlich auf Niklas' Hand, die neben ihm auf der Bank lag. Er unterdrückte den Drang, sie zu berühren. Stattdessen fuhr er fort.

„Du hast gesagt: Bwitte sag kheinem, d-dass isch geheuuuult habbe, und ich musste versprechen, es keinem zu erzählen, nicht einmal Tamara. Wir haben sogar in der Schule rumerzählt, du wärst ganz tapfer gewesen. Nur ich und du wussten, was wirklich passiert war. Das war irgendwie süß.“ Erschrocken riss er die Augen auf, als er seine letzten Worte bemerkte und sah schnell zu Niklas, der aber nur wehmütig lächelte.

 

„Ja, daran erinnere ich mich noch. Und wie du mich im Arm gehalten hast, als ich in der Nacht Schmerzen hatte.“ Niklas sah ihn voll Wärme an und schlang ihm plötzlich einen Arm um die Schultern. Dann zog er ihn sanft zu sich heran und lehnte seinen Kopf gegen seine Schulter. Liam binzelte verblüfft. Waaaaaaas?! „Was ist...“ „Ich will, dass du weißt, dass du mir sehr wichtig bist. Diese ganze Zeit, in der wir nicht miteinander gesprochen haben, war sehr schwer für mich und ich habe mich immer gefragt, wie es dir geht“, unterbrach Niklas ihn leise.

Liam schwieg, zu überwältigt, um etwas zu sagen. Passiert das gerade wirklich? Niklas berührt mich? Und das freiwillig? Er hat mich vermisst? „Egal was passiert, du bist und bleibst mein bester Freund.“ Alarmiert setzte Liam sich auf, auch wenn er die Berührung des Rotschopfs sehr genossen hatte. „Was meinst du mit Egal was passiert? Was ist los?“ Plötzliche Furcht krampfte sich um sein Herz und er hielt den Atem an. Angespannt wartete Liam auf Niklas' Antwort. Mehrere quälende Sekunden lang schwieg dieser, starrte nur zu Boden und schien um Worte zu ringen. Als er schließlich sprach, klang seine Stimme rau.

„Wie geht es Tamara?“ Verwirrt von der Frage antwortete Liam: „Ihr geht es etwas besser. Sie redet wieder mit mir, aber was tut das jetzt zur Sache?“ Niklas lächelte und erhob sich, um sich mit dem Rücken gegen die Wand zu lehnen. „Sie ist im Moment sehr verletzlich“, murmelte der Rotschopf vor sich hin und Liam verstand gar nichts mehr. „Natürlich ist sie das! Ich habe sie abgewiesen. Ich kann froh sein, dass sie mich nicht länger zum Teufel wünscht.“

 

Das schlechte Gewissen meldete sich wieder, doch er schüttelte es rasch ab. Niklas betrachtete ihn aus halbgesenkten Lidern, nachdenklich und... forschend. „Oh das hat sie oft getan, nach dem Streit. Ich habe ihr immer wieder gesagt, dass du es tun musstest und ihr nicht wehtun wolltest.“ Er lachte freudlos. „Nach einer Weile hat sie es akzeptiert und mir geglaubt. Obwohl ich derjenige war, der dir geraten hat ihr die Wahrheit zu sagen, hat es mich ehrlich gesagt... wütend gemacht.“

Liam starrte seinen Freund schockiert an. „Wütend? Aber... warum?“ Er hörte das Wanken in seiner Stimme, doch er konnte nichts dagegen tun. Er verstand überhaupt nichts mehr. „Muss ich es wirklich aussprechen, damit du es verstehst? Ich war eifersüchtig. In der ganzen Zeit, in der ich ihr Trost gespendet und sie im Arm gehalten habe, während sie weinte, hattte ich gehofft, sie würde dich nie mehr wiedersehen wollen. Ich habe sie davon überzeugt du hättest aus Rücksicht gehandelt und dass sie dir verzeihen solle. Doch ich hatte gleichzeitig gehofft, sie würde dich von sich stoßen und stattdessen... mich endlich richtig wahrnehmen, dass ich mehr für sie sein würde, als nur ein guter Freund.“´ Fassungslos saß Liam da, versuchte zu verstehen, was Niklas ihm damit sagen wollte.

 

„Du meinst... d-u hast mich absichtlich dazu gebracht ihr die Wahrheit zu sagen, damit sie weinend in deine Arme rennt und du sie für dich gewinnen kannst?“ Empört fuhr er hoch und sah Niklas' Lächeln. In dessen Augen jedoch erkannte er nur Schmerz und Bedauern. „Nein, das hast du falsch verstanden. Den Rat habe ich dir als Freund gegeben.“ Niklas schloss die Augen und Liam begann zu ahnen, was er gleich sagen würde. „Ich liebe sie. Dehalb wollte ich nicht, dass ihr euch vertragt. Doch ich kann es jetzt nicht mehr ändern.“ Er legte einen Arm über die Augen und Liam sah, wie er die Zähne zusammen biss. „A-aber sie mag dich doch!“ Liam fuhr erschrocken zusammen, als eine Faust in das Holz krachte und ließ sich auf die Bank sinken. Er weigerte sich, das alles zu begreifen.

 

Warum? Warum kann es nicht einfach so wie früher sein? Niklas' Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Ich habe dich überrascht, oder? Tut mir leid, ich tue dir immerzu weh...“ Liam schüttelte wild den Kopf, den Schmerz ignorierend. „Nein, ich bin derjenige der dir wehtut. All diese Jahre hast du Tamara geliebt und nichts gesagt und ich habe dich durch meine Selbstsucht leiden lassen.“ „Du hast allen Grund mich zu hassen. Und dann warst du noch derjenige, der mir geraten hat, ihr die Wahrheit zu sagen. Du hättest sie dazu bringen können, mich ewig zu hassen. Du hättest ihr Herz für dich gewinnen können, doch du hast es nicht getan.“ Er verzog gequält das Gesicht.

„Warum?“ Niklas nahm den Arm herunter und Liam sah ein feuchtes Glitzern in seinen Augen. „Weil du mein Freund bist.“

 

Er fuhr sich durch das Haar und Liam konnte nur erraten, was in ihm vorging. „Du riskierst dein Glück meinetwegen?“, wisperte er, doch Niklas schüttelte heftig den Kopf. „Nein! Sie liebt mich nicht und das wird sie auch nie tun!“ Liam schreckte bei dem Ausbruch zurück; so kannte er Niklas gar nicht. Der Rotschopf fluchte, löste sich von der Wand und blickte auf die Straße hinaus. Es hatte zu regnen begonnen; der Aspahlt glänzte bereits vor Pfützen und der Himmel war übersät von schwarzen Wolken. „Ich bin genau wie du: Ich kann ihr nicht die Wahrheit sagen...“ „Was redest du da? Es ist noch nicht zu spät, du kannst immer noch..“ Niklas fuhr herum und Liam verstummte sofort. „Ach und du denkst das ist so einfach, ja? Welchen Sinn hätte das überhaupt? Sie liebt dich noch immer.“ „Aber...“ „Sie wird dich immer lieben. Sie wird dir sagen, sie wäre darüber hinweg, doch sie wird es immer noch tun, heimlich. So wie ich sie liebe, ohne, dass sie es weiß.“

 

Die Worte seines Freundes taten ihm in der Seele weh, doch er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Niklas starrte weiter in den Regen hinaus. Liam sah zu Boden und ließ sich Niklas' Worte durch den Kopf gehen. Gerade, als er etwas sagen wollte, kam der Rotschopf ihm zuvor. „Ich will, dass sie glücklich ist, wenn ich fort bin.“ Bevor Liam fragen konnte, was er damit meinte, wandte Niklas sich um. Seine Schultern hingen kraftlos herab und sein Gesicht wirkte erschöpft. „Ich ziehe um. Weg von hier“

Liam fühlte sich, als hätte ihn ein Laster gerammt. „Was?“ Er brachte nicht mehr als ein schwaches Wispern heraus. „In zwei Wochen geht es los. Dann ziehe ich mit meiner Familie nach Trier.“ Liam öffnete den Mund, brachte jedoch kein Wort heraus. Eine Weile rang er mit seinen Gefühlen, dann überkam ihn die Wut. „Und das sagst du mir jetzt?!“ Verärgert sprang er auf und ging auf Niklas zu. „Ich dachte wir sind Freunde!“ Niklas rührte sich nicht, sondern blickte nur gequält zurück. „Ich konnte es dir nicht eher sagen. Ich wollte erst sichergehen, dass es dir und Tamara gut geht, bevor...“ „Spinnst du? Wie soll es uns denn gut gehen, wenn unser bester Freund wegzieht? Verarsch mich doch nicht!“ Er war lauter geworden, als beabsichtigt, doch es kümmerte ihn nicht.

 

Wütend funkelte er Niklas an und musste sich beherrschen, um ihn nicht am Kragen zu packen und wild zu schütteln. „Warum zieht ihr weg?“ Sein Gegenüber seufzte schwer und hakte die Daumen in die Schlaufen seiner Jeans. „Meine Mutter hat einen neuen Job in Aussicht und der Betrieb ist eben in Trier. Sie freut sich so sehr, weil sie endlich einen vielversprechende Stelle als Mediendesignerin gefunden hat. Und ich... ich habe überlegt dort zu studieren, verstehst du?“ Liam hörte kaum zu; immer wieder fragte er sich, warum das Schicksal so grausam zu ihm war. Der Unfall seiner Mutter, Niklas' Abfuhr, der Streit mit Tamara und Thomas und jetzt das... Er glaubte jeden Moment zu zerbrechen, wie gesprungenes Glas. „Du bist sauer“, seufzte Niklas und legte ihm eine Hand auf die Schulter, doch er schüttelte sie verärgert ab.

 

„Weißt du überhaupt wie sehr du allen damit wehtust? Tamara, Fabian, Thomas und Kilian... sie haben dich alle gern! Und ich...“ Ich liebe dich. „Es tut mir leid. Und es tut mir in der Seele weh, dich wieder zu verletzen.“ Niklas trat auf ihn zu und zog ihn, trotz seiner Gegenwehr, in seine Arme. Liam wehrte sich noch eine Weile, gab dann jedoch erschöpft auf. Er fühlte sich leer. Leer und kalt. „Wissen sie es schon?“, fragte er kraftlos und Tränen stiegen ihm in die Augen. Er spürte Niklas nicken und seine geflüsterten Worte verursachten ihm eine Gänsehaut. Warmer Atem streifte seinen Hals und ließ ihn schaudern. „Ich habe es ihnen schon gesagt.“ Liam schloss die Augen. Kraftlos stand er da und hörte nur noch das Prasseln des Regens und fühlte nichts als Niklas' Körperwärme. Gerade wollte er etwas sagen und öffnete die Augen, als Niklas ihn sanft von sich schob und dann sah er nur noch dessen Gesicht immer näher kommen.

 

Schockiert riss er die Augen auf, als er heiße Lippen auf seinen spürte und überwältigt stand er da. Sein Kopf war leergefegt, er war zu keinem anderen Gedanken mehr fähig, außer: Er küsst mich! Er küsst mich tatsächlich!!! Seine Lider schlossen sich und er schlang Niklas die Arme um den Nacken. In diesem Moment wünschte er sich die Welt mit all ihren Problemen weit weg. Nur Niklas war in diesem Moment wichtig. Verzweifelt vertiefte er den Kuss, umschlang Niklas fest und schmeckte salzige Tränen. Niklas ließ es zu, erwiderte die Umarmung sogar. Der Kuss schien eine Ewigkeit zu dauern und als Liam sich leicht außer Atem wieder von Niklas löste, fühlte er sich seltsam entrückt.

Vielleicht ist das alles nur ein Traum. Vielleicht bin ich ja immer noch bewusstlos und träume das alles nur. Doch er wusste bereits, dass es bittere Realität war. Weinend stand er da, wusste nicht, was er tun sollte, während er nach Worten suchte, die er dem Rotschopf sagen wollte; doch es waren einfach zu viele. Er kam auch gar nicht mehr dazu etwas zu sagen. Niklas murmelte ein „Tschüss, Liam“ und trat an ihm vorbei, in den strömenden Regen hinaus. Liam sank langsam auf die Knie, am ganzen Körper bebend. Er schlang die Arme um sich, schlug seine Fingernägel in die Haut, während immer neue Tränen heiß seine Wangen herabströmten. Warum?

Kapitel 14



„Pass auf!“ Zu spät; Liam schaffte es nicht mehr sein Tempo zu bremsen. Der Schwung riss ihn nach hinten und er landete hart auf dem Rücken. Die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst und er rang um Atem. Das Skateboard landete mit lautem Knall auf dem Boden. Benommen lag Liam da und wartete, bis der Schmerz nachließ, dann rappelte er sich hoch.

Hustend blickte er auf und sah Fabian mit besorgtem Gesicht auf die Halfpipe zurennen, auf der er saß. „Mensch, das ist schon das dritte Mal heute!“ Fabian kniete neben ihm nieder und legte eine Hand auf seine Schulter. „Ich weiß ja, dass die Sache mit Niklas sehr schwer für dich ist; das ist sie für uns alle. Aber das erlaubt dir noch lange nicht, so leichtsinnig zu fahren! Dein Körper braucht Ruhe!“

 

Liam biss die Zähne zusammen und kam wankend auf die Füße. „Es geht mir gut, also hör auf so ein Drama zu machen!“, knurrte er und humpelte zu seinem Skateboard. Als er sich bückte, um es aufzuheben, wurde ihm schwindelig und ächzend stützte er sich am Boden ab. „Nicht ich mache ein Drama, sondern du. Seit drei Wochen fährst du Skateboard wie ein Irrer, schreibst nur noch miese Noten und verkriechst dich in deinem Zimmer!“, gab Fabian entnervt zurück, eilte ihm aber trotzdem zu Hilfe. Doch Liam schlug dessen helfend ausgestreckte Hand weg und richtete sich auf. „Wenn dich das so sehr nervt, dann geh doch und lass mich in Ruhe!“, fauchte er. Aus dem Augenwinkel sah er den verletzten Ausdruck auf Fabian's Gesicht., doch er entschuldigte sich nicht, sondern humpelte an ihm vorbei und verließ den Skatepark.

 

Er war sauer. Sauer auf Niklas, sauer auf Fabian aber am sauersten war er auf sich selbst. Nur weil Nikals umziehen würde, konnte er sich nicht aufführen wie eine Katze, die jeden kratzte der ihr zu Nahe kam. Ich kann aber nicht anders. Ich brauche Ablenkung. Keiner seiner Freunde wusste von der Untehaltung und dem Kuss und er hatte auch nicht vor, es ihnen zu sagen. Er sah ihnen an, dass sie mit ihm litten. Sie versuchten ihn aufzumuntern, obwohl es für sie genauso schwer zu akzeptieren war wie für ihn und sie bemühten sich, den Schmerz mit ihm zu teilen. Doch er wollte keine Anteilnahme; er wollte einfach in Ruhe gelassen werden, um das Durcheinander seiner Gefühle zu ordnen und nachzudenken. Ein Gedanke ließ ihn dabei nicht los: Warum so plötzlich?

Mit gesenktem Blick schlenderte Liam durch die Straßen, als ihm plötzlich ein beunruhigender Gedanke kam. Was, wenn Niklas schon länger von dem Umzug wusste? Das würde zumindest sein Verhalten bei Tamara's Geburtstagsfeier erklären. Er will mich auf Abstand halten, damit ich ihn nicht vermisse und mich daran gewöhne, wenn er nicht da ist. Ein bitteres Lachen entkam ihm und wütend kickte er eine leere Cola-Dose aus dem Weg. Was sollte dann dieser Anschiedskuss? Als ob er Mitleid mit mir hätte. Seine Finger umklammerten das Skateboard so fest, dass es schmerzte. Soll er doch machen was er will, dieser Feigling. Er fühlte sich innerlich zerrissen; ein Teil von ihm wünschte Niklas sonstwo hin, der andere, stärkere Teil sehnte sich nach seiner Nähe, seiner Berührung, seinen Lippen...

 

Mit einem wehmütigen Lächeln, schloss Liam die Tür auf und betrat das Haus. Aus dem Wohnzimmer war der Fernseher zu hören und Linda rumorte hörbar in der Küche. Als die Tür ins Schloss fiel, kam sie aus der offenen Tür gelaufen, ein Geschirrtuch in der Hand. „Das Essen ist gleich fertig“, informierte sie ihn mit einem aufmunternden Lächeln. Er verzog leicht das Gesicht. „Ich habe keinen Hunger“, murmelte er. Das Lächeln erlosch und machte Besorgnis Platz. „Das ist schon das dritte Mal diese Woche. Zum Frühstück isst du auch kaum noch etwas. So geht das nicht, Liam!“ Ihre vorwurfsvolle Stimme ließ Liam's Geduldsfaden endgültig reißen. Wütend wirbelte er zu ihr herum. „Lass mich einfach in Ruhe! Das ist allein meine Sache!“

 

Ohne eine Erwiderung abzuwarten, eilte er die restlichen Stufen hinauf und in sein Zimmer. Er knallte die Tür heftiger als nötig zu, warf seine Skateboard-Ausrüstung und den Rucksack achtlos auf den Boden und ließ sich auf sein Bett fallen. Automatisch griff er nach der Lederjacke, die unter dem Kopfkissen lag und presste sie an seine Wange. Tief sog er den Geruch nach Leder und Niklas' Haut ein, so wie jeden Abend. Es beruhigte ihn immer, wenn er mal wieder die Nerven verlor. Nach einigen tiefen Atemzügen wurde er ruhiger. Träge ließ er den Blick durch den Raum schweifen. Als ihm die Augen zuzufallen drohten, setzte er sich auf und nahm sein Ersatzhandy – das alte seinesVaters – zur Hand. Hoffnungsvoll suchte er das Display nach einer Nachricht von Niklas ab, doch es war keine gekommen. Nervös überprüfte er, ob die unzähligen Nachrichten, die er dem Rotschopf geschickt hatte, auch wirklich angekommen waren. Ein kurzer Blick zeigte, dass jede SMS als gelesen markiert war. Er ignoriert mich.

 

Liam unterdrückte den Drang, das Ding gegen die Wand zu schleudern und ließ es enttäuscht sinken. Mutlos durchsuchte er das Zimmer nach etwas, das ihn ablenken konnte. Da entdeckte er seine Violine, die vergessen am Fenster lehnte. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er sie das letzte Mal gespielt hatte. Wie magisch angezogen trat er zum Fenster und nahm das leicht angestaubte Instrument in die Hände. Das glatte, schwarz glänzende Holz unter seinen Fingern ließ sein Herz schneller schlagen und als er die Violine behutsam auf seine linke Schulter legte, spürte er kribbelnde Vorfreude durch seinen Körper fließen.

Mit sanftem Schwung legte er den Bogen an die Seiten, schloss die Augen und begann zu spielen. Eine leise Melodie, welche direkt aus seiner Seele zu kommen schien, schwebte schwermütig durch den Raum. Liam ließ den ganzen Frust, die Unsicherheit und Angst von der Musik davontragen, fühlte sich mit jedem Bogenstreich freier und freier. Das Spielen gab ihm Kraft, trug ihn fort in eine schöne, schwerelose Welt, in die er hinabtauchte wie in einen kristallklaren See.

 

Er war so versunken in der Musik, dass er gar nicht bemerkte wie er schneller und wilder wurde, bis immer schriller werdende Töne die Luft zerrissen und abrupt brach er sein Spiel ab. Keuchend stand er da, während er das glatte Holz fest umklammerte und der Schweiß über sein Gesicht rann. Aufgewühlt stellte Liam die Violine an ihren Platz zurück und ließ sich auf das Fensterpodest sinken. Er lenhte sich gegen die Fensterscheibe und fühlte das kühle Glas im Rücken. Seufzend fuhr er sich durch's Haar und starrte missmutig an die Decke, bis diese vor seinen Augen verschwamm. Erst, als ihm eine Träne über die Wange lief, bemerkte er, dass er weinte. Mit einem zittrigen Atemzug legte er seinen Kopf auf die angewinkelten Knie und umschlang sie mit den Armen.

 

Er wusste nicht wie lange er schon so dasaß, doch ein Blick aus dem Fenster zeigte, dass der Abend bereits hereinbrach. Schniefend und mit schmerzendem Kopf stand Liam auf. Seine Beine kribbelten unangenehm, als das Blut wieder zu fließen begann und es dauerte ein paar Minuten, bis er gehen konnte. Sein Blick fiel auf das Handy, das neben dem Kopfkissen lag; es blinkte rot.

Liam's Herzschlag beschleunigte sich und Sekunden später hielt er es in der Hand, starrte gebannt auf den Bildschirm. Enttäuschung machte sich in ihm breit, als er sah, dass die Nachricht nicht von Niklas stammte, sondern von Fabian. Mutlos ließ er das Handy wieder sinken und warf es zurück auf das Bett. Warum? Warum lässt er mich links liegen? Ich dachte wir stünden uns nahe, dass wir mehr als nur gute Freunde seien... Der altvertraute Schmerz schnürte ihm die Kehle zu, doch er zwang sich, ihn abzuschütteln und beschloss, an die Frische Luft zu gehen, um in Ruhe nachzudenken und den Kopf frei zu bekommen. Gerade, als er sein Zimmer verlassen hatte, hörte er das Schrillen des Haustelefons. Hoffnugsvolle Freude überkam ihn und er rannte los, bevor er richtig nachdenken konnte. Niklas! Das muss er einfach sein! Endlich!

 

Liam raste förmlich zur Treppe, hastete die Stufen herunter und bemerkte in seiner Eile nicht, wie Linda ihm, schwer mit Büchern und Aktenordnern beladen, entgegenkam. Auch hörte er ihren warnenden Aufschrei nicht, als er die nächste Kurve der Wendeltreppe mit zuviel Schwung nahm. Ein schriller Schrei erfüllte plötzlich die Luft und das nächste was Liam wahrnahm, waren ein Poltern und das dumpfe Geräusch eines Körpers, der auf dem Boden aufschlug. Schlagartig blieb er stehen, Panik kroch von seinen Beinen bis in seinen Kopf hoch, in dem blanke Leere herrschte. Das Telefon war verstummt; es herrschte dückende Stille.

Seine Lippen bebten, doch kein Laut kam heraus, als er Linda am Fuß der Treppe liegen sah, bewusstlos, mit einer blutenden Kopfwunde an der Stirn, die ihr angegrautes Haar mit Blut durchtränkte. Ihr rechter Arm stand in einem merkwürdigen Winkel ab, genau wie ihr linkes Bein. Liam spürte, wie ihm übel wurde und kämpfte mit dem Brechreiz. Zittrig sog er die Luft in seine schmerzenden Lungen, die krampfhaft einen Schrei zurückhielten. Durch seinen von Tränen verschwommenen Blick sah er seinen Vater aus dem Wohnzimmer in die Halle stürmen.

„Was ist passiert? Oh Gott, Linda! WAS IST PASSIERT?!“ Sein Vater eilte zu dem reglos am Boden liegenden Körper und da erwachte auch Liam aus seiner Starre und stieg schwankend die restlichen Stufen hinab.

 

Von Nahem war der Anblick nicht zu ertragen und würgend wandte er sich ab. Er hörte schwach die Stimme seines Vaters, die einen Krankenwagen rief und dabei ziemlich aufgebracht und aufgelöst zugleich klang. Liam schwirrte der Kopf, seine Ohren dröhnten und er glaubte jeden Moment das Bewusstsein zu verlieren. Was habe ich getan? Oh Gott, habe ich sie umgebracht? Nein! Bitte nicht... Er glaubte den Verstand zu verlieren und musste all seine Kraft darauf verwenden, nicht loszuschreien, wie ein Wahnsinniger. Ein heftiges Zittern überkam ihn und ließ seine Zähne heftig aufeinander schlagen. „Das wollte ich nicht! ICH WOLLTE DAS NICHT! WAS HABE ICH GETAN??? ICH WOLLTE DAS DOCH NICHT...“

Alles schien so surreal, so FALSCH in diesem Moment, dass er glaubte in einem schrecklichen Albtraum fest zu stecken. Ein Albtraum, das muss ein Albtraum sein! Seine Lungen schienen bersten zu wollen und er quälte mit abgehackten Atemzügen Luft in sie hinein. Kurz, bevor er drohte zu hyperventilieren, wurde er an der Schulter gepackt und sein Vater blickte ihn bleich, aber mit festem Blick an. „Es war ein Unfall, hörst du? Der Krankenwagen ist gleich hier, alles wird gut, beruhige dich!“ Nur langsam sickerten die Worte in Liam's wirren Verstand, bis er ihren Sinn schließlich verstand. Er spürte wie die Panik langsam abklang und einer inneren Leere Platz machte.

 

Er nickte schwach, klammerte sich mit dem Blick an das Gesicht seines Vaters, wie an einen rettenden Anker und betete, dass es nicht zu spät war...

Alles schien sich wie in einem Traum abzuspielen, unwirklich, als wäre er gar nicht da. Er fühlte sich seltsam entrückt, wie eine leere Hülle, die sich stumpf bewegt, atmet, ihre Umgebung wahrnimmt, während der Geist nicht wirklich anwesend ist. Dieses Gefühl war ihm vertraut; zu vertraut. Er war schon einmal hier gewesen, hatte auf diesem Stuhl gesessen, starr vor Furcht und Ensetzen, mit der Frage, ob sie es schaffen, ob sie überleben würde. Nur mit dem Unterschied, dass nicht seine Mutter, sondern Linda jetzt im OP-Raum lag und vielleicht um ihr Leben kämpfte. Nervös knetete Liam seine Hände, bis die Haut brannte und schluckte immer wieder, um den bitteren und salzigen Geschmack aus dem Mund zu bekommen.

Sein Blick war starr auf den Boden gerichtet, während sich der Unfall immer wieder vor seinem geistigen Auge abspielte, ihr Schrei in seinem Kopf wiederhallte und das Bild ihres verrenkten, schlaffen Körpers sich in sein Hirn einbrannte wie ein Schandmal.

 

Sein Vater saß neben ihm, nach außen hin gelassen, doch in seinen Augen konnte man deutlich die Furcht und Sorge erkennen, die offensichtlich auch ihn plagten. Liam war unendlich dankbar, dass er bei ihm war und ihm keine Vorwürfe machte, obwohl er sie verdient hatte. Seit Wochen benahm er sich einfach schrecklich, seiner Familie und seinen Freunden gegenüber, fuhr sie an, oder ignorierte sie, wo sie es doch am wenigsten verdient hatten. Ich bin so ein jämmerlicher Idiot. Liam umklammerte seine Knie so fest mit den Händen, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Er erschrak heftig, als die Tür des OP's plötzlich aufschwang und zwei Sanitäter eine Trage herausrollten, auf der Linda lag.

Er und sein Vater sprangen auf und eilten dem Oberarzt, Dr. Singer entgegen, der gerade aus der Tür getreten war. „Wie ist die Operation verlaufen? Wie geht es ihr?“, hörte er seinen Vater fragen, während er benommen der Trage hinterhersah, auf der Linda lag.

 

 

Sie lebt, oder? Sie hat die Operation überstanden und wird gerade auf ihr Zimmer gebracht... Bitte sie muss wieder gesund werden... Das Räuspern des Oberarztes riss ihn aus seinen Gedanken und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder zu dem Gespräch zurück. „Ihr Zustand ist soweit stabil. Der Oberarm-und Schenkelknochen konnten gerichtet werden, sind allerdings beide gebrochen. Glücklicherweise hat Frau Kielmann keinerlei inneren Verletzungen erlitten und nur einige Prellungen davongetragen“, berichtete Dr. Singer mit tiefer, beruhigender Stimme und Liam fühlte, wie ihm vor Erleichterung die Knie weich wurden. Mit einem schwachen Lächeln sah er zu seinem Vater, der ihm zunickte und Liam konnte deutlich sehen, wie die Anspannung aus dessen Gesicht wich und es sich sichtbar entspannte.

„Dürfen wir zu ihr?“, wollte sein Vater als nächstes wissen und Liam, von plötzlicher Unruhe erfüllt, wartete gespannt auf die Antwort des Arztes. „Gehören sie denn zur Familie?“, hakte Dr. Singer nach und sah von einem zum anderen.

 

Liam spürte Äger in sich aufsteigen und trat einen Schritt nach vorne. Drägend sah er dem älterem Mann in die Augen. Seine Stimme war fest, als er sprach. „Bitte, sie steht uns beiden sehr nahe. Sie ist mehr als eine Haushälterin. Sie ist wie eine Freundin und zweite Mutter für uns. Und außerdem bin ich daran schuld, dass sie die Treppe herunter gefallen ist!“

Als Liam die Hand seines Vaters auf der Schulter spürte, wandte er sich um. Sein Vater blickte Dr. Singer entschlossen in die Augen, doch Liam merkte an dessen festem Griff , dass er genauso angespannt war wie er selbst. Dr. Singer runzelte nachdenklich die Stirn, dann nickte er langsam. „Also gut. Aber höchstens fünfzehn Minuten. Frau Kielmann hat gerade eine Operation hinter sich und wie sie wissen ist sie nicht mehr die Jüngste.“ Sie bedankten sich höflich, fragten nach der Zimmernummer und verabschiedeten sich. Dann machten sie sich auf den Weg und erreichten wenige Minuten später das Zimmer, in dem Linda lag.

 

Liam wurde nervös, als sie vor der Tür hielten und er warf seinem Vater einen beunruhigten Blick zu. Dieser lächelte leicht und nickte auffordernd, obwohl Liam die Angst in dessen Augen sah. Er lächelte zurück, dankbar, nicht allein mit seiner Angst zu sein. Er holte tief Luft und drückte die Klinke hinunter. Im Zimmer war es nahezu dunkel, nur ein Nachtlicht brannte und verbreitete ein kaltes, weißes Licht. In der linken Ecke des Raumes erkannte Liam einen Tisch mit zwei Stühlen, rechts an der Wand stand das Krankenbett, in dem Linda lag. Langsam und mit wild klopfendem Herzen trat Liam näher heran und blickte auf die unter den schneeweißen Laken liegende Gestalt herab. Ein dicker Verband lag um Linda's Kopf und ihr Arm steckte in einem Gips, genau wie ihr Bein. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht war so bleich wie das Laken unter dem sie lag. Ihr anderer Arm hing an einer Infusionsflasche, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Liam's Kehle wurde eng und er musste mehrmals schlucken, um den Kloß in seinem Hals loszuwerden.

 

„Sie sieht so schwach aus. So habe ich sie noch nie gesehen“, füsterte er bedrückt und wandte gequält den Blick ab. Sein Vater setzte sich behutsam auf die Bettkante und nahm vorsichtig ihre bleiche Hand in seine. „Sie ist stark, sie wird es schaffen. Bald wird sie wieder durch das Haus jagen und uns ausschimpfen.“ Liam blickte überrascht auf, als er das Schluchzen in der Stimme seines Vaters hörte.

„Ich fühle mich genau wie damals, als deine Muttter...“ Tränen liefen seinem Vater über das Gesicht und Liam musste all seine Kraft aufwenden, um nicht ebenfalls in Tränen auszubrechen. Als er wieder zum Bett sah, sah er dort nicht länger Linda, sondern seine Mutter daliegen, das kupferrote Haar das wie ein Fächer um ihr bleiches Gesicht ausgebreitet lag, die Schrammen auf der Haut, die vielen Pflaster und Verbände... Das ist Vergangenheit.

 

Linda liegt jetzt hier und braucht uns. Mit einiger Mühe gelang es ihm, die Tränen zurückzudrängen und er trat zu seinem Vater, um ihn tröstend eine Hand auf die Schulter zu legen, so wie dieser es so viele Male zuvor bei ihm getan hatte. „Es tut mir leid. Es ist meine...“ „Nein! Nein, Liam, du trägst keine Schuld. Es war ein dummer Unfall und wir können froh sein, dass er noch glimpflich ausgegangen ist.“ „Trotzdem ich hätte... ich hätte besser aufpassen sollen...“ Sein Vater drehte sich zu ihm um, Sorge und Trauer lagen in seinem Blick, wie so oft, in letzter Zeit. Seit damals.

 

„Was ist überhaupt los mit dir? In letzter Zeit bist du so gereizt und dann bist du wieder traurig. Was ist passiert?“ Liam wand sich innerlich vor dem forschenden Unterton in der Stimme seines Vaters und zögerte. Er konnte ihm unmöglich sagen, dass er in seinen besten Freund verliebt war, also entschied er sich dazu, nur die halbe Wahrheit zu sagen. „Niklas zieht weg.“ Sein Vater hob überrascht die Augenbrauen. „Warum? Gibt es einen bestimmten Grund?“, wollte er wissen und blickte ihm prüfend ins Gesicht. Liam schob beide Hände in die Hosentaschen und blickte aus dem Fenster, um seinen Vater nicht ansehen zu müssen. „Seine Mutter hat eine neue Stelle gefunden und er sagt, dass er dort studieren will“, murmelte er, während er die glimmenden Lichter der Stadt im Dunkel der Nacht betrachtete. Dabei zwang er sich, nicht an Niklas zu denken.

 

Alles, nur nicht das. Stattdessen versuchte er an die Zeit bei seiner Mutter zu denken, rief sich den Auftritt im Pub noch einmal ins Gedächtnis, dieses überwältigende Gefühl von Freiheit, Wildheit und Freude. Er sehnte sich danach, diesen Moment noch einmal zu erleben, oder noch besser, für immer darin gefangen zu sein, in dieser scheinbar schönen, sorglosen Welt... Doch die bittere Realität war grausamer und weit weniger schön, als dieser Wunschtraum. Für ihn war sie ein Albtraum.

 

„Das tut mir leid. Ihr seid so gute Freunde. Das ist wirklich schade.“ Sein Vater seufzte schwer und Liam tat es ihm unbewusst nach. Ein leises Ächzen ließ ihn und seinen Vater herumfahren. Linda öffnete flatternd die Lider und blinzelte verwirrt. Ihr Blick wanderte träge von einem zum anderen, dann erschien ein zartes Lächeln auf ihrem Gesicht. „Schön euch zu sehen, Jungs.“ Sein Vater lachte belustigt auf, während ihm gleichzeitig Tränen über die Wangen liefen. Liam konnte ein Grinsen nicht unterdrücken und ging zu dem Bett hinüber.

 

„Wie fühlst du dich?“, erkundigte er sich. Sie verzog das Gesicht und zuckte leicht zusammen.

„Als hätte mich eine Dampfwalze überrollt. Und warum ist es hier so dunkel? Macht doch das Licht an, wir sind hier doch nicht bei einer Totenbeschwörung!“ Liam konnte sich nicht mehr zurückhalten und lachte los, sein Vater stimmte mit ein und auf Linda's Gesicht erschien ein warmes Lächeln. „Was hat der Arzt gesagt?“, erkundigte sie sich und versuchte, sich aufzusetzen. Liam beeilte sich ihr zu helfen und rückte das Kissen in ihrem Rücken zurecht, damit sie es bequem hatte.

„Danke, mein Junge“, entgegnete sie und strich ihm liebevoll über die Wange. Liam ertrug die Berührung kaum; er hatte sie nicht verdient, wo doch er an ihrem Sturz schuld war. „Es tut mir so leid, ich hätte besser aufpassen sollen...“ „Unsinn Junge, es war ein dummer Unfall. Pass beim nächsten Mal aber besser auf. Dein Kopf steckt seit Wochen in den Wolken.“

Er nickte reumütig und rieb sich verlegen den Nacken.

„Ich passe jetzt besser auf, versprochen.“

 

Sie nickte zufrieden und wandte sich wieder seinem Vater zu. „Der Arzt hat uns versichert, dass du außer zwei Knochenbrüchen im Arm und Bein nur einige Prellungen erlitten hast“, antwortete sein Vater auf ihre vorherige Frage.

Er war gerade dabei weiter zu sprechen, als er vom Klingeln seines Handy's unterbrochen wurde. Mit einem gemurmelten „Bin gleich wieder da“, verließ er das Krankenzimmer, um zu telefonieren. Liam und Linda wechselten einen wissenden Blick, bis Linda sich seufzend in die Kissen zurücklehnte und besorgt die Stirn runzelte.

„Das bedeutet dann wohl, dass du und dein Vater eine ganze Weile ohne mich auskommen müsst. Werdet ihr das schaffen, ihr zwei allein?“

Liam atmete tief aus und rieb sich nachdenklich den Nacken. Wenn er ehrlich war, hatte er erhebliche Zweifel, ob das auf Dauer gutgehen würde und das sagte er Linda auch.

Diese lachte und tätschelte mütterlich seine Hand. Er wusste nicht was er peinlicher fand; zugeben zu müssen, dass er und sein Vater ohne sie ziemlich aufgeschmissen waren oder die Tatsache, dass sie ihn immer noch wie ein Kind behandelte.

 

Verlegen entzog er ihr seine Hand, was sie schmunzeln ließ.

„So wie ich deinen Vater kenne, wird er sich wie immer in seine Arbeit vertiefen und alles andere vernachlässigen.“

Linda lachte und ein belustigtes Funkeln trat in ihre Augen.

„Ich könnte wetten, dass das Haus in ein paar Tagen in Schmutz und Chaos versinken und dein Vater, überfordert wie er sein wird, alle Pflichten auf dich abwälzen wird.“ Liam musste ihr zum Teil recht geben, dennoch war sein Ehrgeiz geweckt. Sie wollte wetten? Das konnte sie haben!

„Klar schaffen wir das! Wollen wir wetten? Ich garantiere dir, wenn du wieder zurück bist, wird das Haus Tip Top aussehen.“

Doch noch während er dies sagte, fragte er sich fieberhaft, wie er das allein schaffen sollte, denn es war sicher, dass er von seinem Vater keine Hilfe erwarten konnte.

 

Er verzog das Gesicht, als er an schwarz verbrannte Toastscheiben, matschige Nudeln und gummiartiges, mit Eierschalen gespicktes Rührei dachte. Linda beobachtete ihn belustigt und amüsierte sich sichtlich über seine Misere. Mit einem siegessicheren Lächeln streckte sie die unverletzte Hand aus und erklärte feierlich:

„Ich würde Folgendes vorschlagen. Wenn ich Recht behalte, führst du mich zum Essen aus und unternimmst etwas mit mir.“

Liam starrte sie einen Moment perplex an, dann brach er in Gelächter aus. Nachdem er sich wieder beruhigt und sich die Lachtränen aus dem Gesicht gewischt hatte, räusperte er sich und grinste breit.

„Wenn ich gewinne, musst du im Ballerina-Kostüm mit Feenflügeln und Ballett-Schuhen im Garten umhertanzen und singen, während ich dich dabei filme.“

 

Linda zog verblüfft die Augenbrauen hoch, schürzte die Lippen und schien kurz nachzudenken, bevor sie mit einem Grinsen ihre unversehrte Hand ausstreckte. Liam zögerte kurz, dann schlug er ein.

„Also, die Wette gilt!“

Er nickte nur, da plötzlich ein Kloß in seinem Hals zu stecken schien.

„Wann...“ Er kam nicht mehr dazu, seine Frage zu stellen, denn die Tür wurde geöffnet und sein Vater erschien im Türrahmen, das Handy noch immer in der Hand. Mit nachdenklicher Miene schloss er die Tür hinter sich und trat zu ihnen.

„Lass mich raten, du musst arbeiten?“

Doch zu Liam's Überaschung schüttelte sein Vater den Kopf.

„Nicht ganz. Während wir vor dem Op-Raum gewartet haben, habe ich per Internet ein Inserat aufgegeben, um eine Vertretung für Linda zu finden. Ein potenzieller Bewerber hat gerade abgesagt. Hoffentlich kommt das nicht noch öfter vor und es findet sich jemand, der sich um Liam und den Haushalt kümmern kann.“

Liam hörte stirntrunzelnd zu und war alles andere als begeistert. An sich hatte er nichts gegen eine neue Haushaltshilfe, nur ärgerte es ihn, dass sein Vater über ihn hinweg bestimmte und ihn nicht einmal nach seiner Meinung fragte.

„Ich stimme dir zu, dass wir jemanden brauchen, der den Haushalt macht, aber einen Babysitter brauche ich ganz bestimmt nicht.“

 

Hilfesuchend wandte er sich an Linda.

„Der Meinung bist du doch auch, oder?“

Die Haushälterin lächelte nachsichtig, sagte jedoch nichts dazu. Panisch wandte er sich zu seinem Vater um, der ihn mit strengem Blick musterte.

„Liam, ich werde und kann es einfach nicht verantworten, wenn dir in meiner Abwesenheit etwas geschieht. Nach den ganzen Dingen, die du dir schon geleistet hast habe ich das Vertrauen in dich leider verloren. Die neue Haushaltshilfe wird ein Auge auf dich haben und mir von deinen Aktivitäten berichten, basta!“

Liam biss sich wütend auf die Unterlippe, bevor er seinem Vater einige wüste Dinge an den Kopf schmeißen konnte. Stattdessen funkelte er diesen vorwurfsvoll an.

„Ich gehe jetzt einkaufen, weil du das ja nicht hin bekommst.“

Linda's Blick wechselte traurig zwischen ihnen hin und her und er spürte einen kurzen Stich, bevor er seinem Vater das entgegen gestreckte Geld aus der Hand riss und mit eiligen Schritten erst das Zimmer und dann das Krankenhaus verließ.

Er würde seinem Vater schon zeigen, dass er auch ohne Aufpasser zurechtkam und wenn er selbst einen Ersatz für Linda finden musste! Ein zufruedenes Grinsen trat auf seine Lippen, als er sich vornahm genau das zu tun. Die Wette gilt.

Kapitel 15

Der Abend brach bereits herein, als Liam aus dem Supermarkt und in die Fußgängerzone trat. Ächzend schulterte er den Stoffbeutel, der eine Tonne zu wiegen schien, nahm die andere Einkaufstüte fester in die Hand und machte sich, innerlich fluchend, auf den Weg.

Wie hält Linda das nur aus?, fragte er sich verzweifelt.

Auch noch in ihrem Alter. Sein schlechtes Gewissen meldete sich und er nahm sich vor, in Zukunft mehr im Haushalt mit zu helfen, so gut es seine Verpflichtungen eben zuließen.

 

Liam betrachtete im Vorbeigehen versonnen die Schaufenster, während er gemächlich an den Geschäften vorbeiging, als die seichte Geräuschkulisse aus Stimmengewirr und plärrender Radiomusik plötzlich von den einsetzenden Tönen einer Gitarre durchbrochen wurde. Interessiert lauschte Liam der lauter werdenden Musik und wandte sich in die Richtung, aus der sie kam. Nach ein paar Metern bog er ab und entdeckte den jungen Musiker vor einer Boutique. Konzentriert beugte dieser sich über sein Instrument und ließ gekonnt die schlanken Finger über die Gitarren - Saiten gleiten.

Liam's Blick fiel auf das schulterlange, weißblonde Haar mit den hellgrünen Spitzen und seine Augen weiteten sich überrascht, als er den Musiker erkannte.

Er ist hier!

 

Ein verblüfftes und zugleich freudiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht und andächtig lauschte er den sanft schwingenden Tönen, die ganz anders klangen als bei ihrem gemeinsamen Auftritt. Einige Passanten verharrten kurz, warfen ein Centstück in den geöffneten Gitarrenkoffer am Boden und Finjas bedankte sich jedes Mal mit einem kurzen Lächeln. Liam beobachtete gerade wie ein kleines Mädchen eine Münze spendete, als Finjas plötzlich den Kopf hob. Ihre Blicke trafen sich und Liam zuckte leicht zusammen. Einige Sekunden sahen sie sich in die Augen, bevor Liam leicht verlegen eine Tüte abstellte und die Hand zum Gruß hob. Finjas erwiderte die Geste mit einem breiten Lächeln, was Liam etwas entspannen und zurück lächeln ließ. Sein Blick wanderte zu der Gitarre und verfolgte fasziniert jede Bewegung der langen Finger, deren Beweglichkeit und Schnelligkeit ihn verblüfften.

 

Sein Blick löste sich keine Sekunde von den feingliedrigen Händen des Musikers und erst, als der letzte Ton verklungen war und die Zuschauer sich langsam zerstreuten, wandte er den Blick ab und beobachtete, wie Finjas das Geld in einer abgenutzten Geldbörse verstaute, sein Instrument in den Koffer legte und sich diesen über die Schulter legte.

„Spielst du öfter hier?“, wollte Liam wissen, während er die Einkaufstasche wieder vom Boden hob. Finjas strich sich einige Haarsträhnen aus der Stirn, bevor er nickte. Fragend hob er die Augenbrauen und deutete auf die Tüten mit den Einkäufen.

„Ähm, ich bin heute zum ersten Mal einkaufen“, murmelte Liam verlegen, doch als Finjas den Kopf schüttelte, runzelte er verwirrt die Stirn. Hatte er die Geste falsch verstanden?

„Was...“

Erst als Finjas erneut auf die Tüten und dann auf sich selbst zeigte, verstand Liam, was er ihm damit sagen wollte.

„Du willst mir tragen helfen?“, fragte er nach und diesmal nickte Finjas lächelnd.

Liam überlegte kurz, ob er dessen Hilfe annehmen sollte, dann erhellte ein Lächeln sein Gesicht.

„Ich hab da einen Vorschlag. Du hilfst mir beim Tragen und dafür lade ich dich bei mir zuhause zum Essen ein.“

Dass er absolut nicht kochen konnte, erwähnte er lieber nicht. Da mussten wohl Pizza und Dosenravioli genügen.

Gespannt wartete er Finjas' Antwort ab, die zwar zörgerlich, dafür aber eindeutig ausfiel; der hochgestreckte Daumen entlockte Liam ein erleichtertes Seufzen.

„Alles klar. Bin ich froh, dass ich das Zeug nicht mehr allein schleppen muss“, sagte er gutgelaunt, innerlich jedoch empfand er leichtes Unbehagen. So stehe ich die Wette doch nie durch!

Zweifel überkamen ihn, ob die Wette mit Linda wirklich so eine gute Idee gewesen war. Doch er zwang sich ruhig zu bleiben. Keine Panik, ich habe nur versprochen, dass die Wohnung sauber sein wird, wenn sie wiederkommt, das kann doch nicht so schlimm sein!

Doch im selben Moment wurde ihm klar, dass mehr zum Führen eines Haushaltes gehörte, als nur aufzuräumen. Kochen, Wäsche, Einkaufen...

Eine Berührung an der Schulter holte ihn in die Realität zurück, wo Finjas ihn fragend ansah, eine der Tüten bereits in der Hand. Liam murmelte eine Entschuldigung und ging voraus. Den ganzen Weg zur Bushaltestelle über schwieg er und grübelte über die Wette nach und wie er diese am besten gewinnen konnte. Als der Bus schließlich vor ihnen hielt, kramte er abwesend in der Hosentasche nach einem Geldschein und bezahlte die Fahrt für sie beide.

Finjas saß ruhig neben ihm, blickte gedankenverloren aus dem Fenster und schien seine eigenen Probleme zu haben, über die er gerade nachdachte. Liam nutzte die Gelegenheit, um den jungen Musiker in aller Ruhe zu betrachten. Ihm fielen die langen, hellen Wimpern auf, die bei jedem Blinzeln Schatten auf die Wangen warfen. Auch die Augenringe darunter bemerkte er und er fragte sich, wie Finjas' Leben wohl aussah. Bis jetzt wusste er von ihm nur, dass er Gitarre spielte und stumm war. Mehr nicht. Neugier stieg in ihm auf und er nahm sich vor, mehr über diesen Jungen heraus zu finden.

 

„Endlich zuhause!“, rief Liam erfreut, als sie vor der Haustür standen. Ungeduldig kramte er den Hausschlüssel aus der Hosentasche und schloss die Tür auf.

„Alter vor Schöhnheit!“, sagte er grinsend und Finjas stieß ihn schmunzelnd mit dem Ellbogen an. Dann schüttelte er langsam den Kopf, pures Staunen auf dem Gesicht.

Liam ließ seinen Blick ebenfalls über den marmornen Boden zu der imposanten Wendeltreppe wandern. Ein Schauder ließ ihn erzittern und die schrecklichen Momente des Unfalls kehrten zurück. Hastig schüttelte er die Bilder ab und winkte Finjas, ihm in die Küche zu folgen. Dort sah es genauso aus wie immer; sauber und geordnet.

 

 

Traurig lag sein Blick auf dem Tisch, an dem er und Linda normalerweise zum Essen oder bei Gesprächen zusammen saßen und er vermisste sie jetzt schon mehr als er zugeben wollte. Finjas trat zu ihm und stellte die Tüte auf dem Tisch ab. Liam tat es ihm nach, danach setzte er sich auf einen der Stühle und bot seinem Gast ebenfalls mit einer Geste einen Sitzplatz an. Finjas setzte sich. Danach herrschte eine bedrückende Stille, die Liam Unbehagen bereitete. Doch er konnte sich nicht dazu überwinden etwas zu sagen. Die Stille im Haus schien ihn schier zu erdrücken und er begann unruhig zu werden. Finjas sah sich währenddessen neugierig um und schien seine Nervosität nicht zu bemerken. Ruhig saß er da, die Hände gefaltet auf dem Tisch, das Gesicht entspannt.

Liam sah Finjas weiter an, verharrte angespannt und fühlte sein Herz gegen die Rippen hämmern. Plötzlich durchbrach ein Geräusch die Stille, ein lautes Grummeln. Finjas zuckte sichtbar zusammen und der Bann brach. Liam konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und Finjas lächelte entschuldigend.

„Jetzt mache ich dir erstmal dein verdientes Essen.“

Er erhob sich, holte tief Luft und spürte, wie die Anspannung langsam wich.

„Aber ich sag es lieber gleich, ich bin ein mieser Koch“, warnte er und wartete auf Finjas' Reaktion.

Sein Gast riss erschrocken die Augen auf, griff sich an die Kehle und verdrehte die Augen. Liam lachte wieder und begann die Einkäufe auszupacken. Sofort musste er an Fabian denken, der einmal eine ähnliche Grimasse gezogen hatte, was ihn zum lächeln brachte.

 

Wenige Minuten später köchelte ein Topf mit Ravioli auf dem Herd. Liam stand davor, einen Kochlöffel in der Hand und wagte es kaum, die Ravioli aus den Augen zu lassen. Hinter sich hörte er wie Finjas seinen Gitarrenkoffer abstellte und neben ihn trat. Interessiert sah er in den Topf, bevor er einen Finger in die Tomatensoße tauchte, um zu probieren. Liam sah erschrocken zu und wunderte sich, dass der Ältere nicht einmal mit der Wimper zuckte, obwohl die Soße eindeutig kochte. Finjas bemerkte seinen perplexen Blick, streckte seine Hand aus und hielt sie dicht vor sein Gesicht. Liam kniff die Augen zusammen und erkannte Schwielen an den Fingerspitzen. Da verstand er.

„Du spürst die Hitze nicht?“

Finjas nickte, dann suchte er in seiner Jeanstasche nach Stift und Papier.

Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen! Deine Augäpfel sind dir fast aus dem Kopf gefallen!

Liam wurde rot und drückte Finjas hastig den Zettel in die Finger.

„Von wegen! Wenn du mich ärgerst, esse ich deine Portion gleich mit“, murmelte er und rührte hecktisch im Topf herum, was nur dazu führte, dass die Ravioli auseinanderfielen. Fluchend ließ er den Kochlöffel sinken und fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. Na super, ich mache mich total lächerlich. Er hält mich bestimmt für einen eingebildeten Besserwisser .

Zögernd nahm er die Hand herunter und sah gerade, wie Finjas eine Handvoll Gewürze in den Topf rieseln ließ.

„Hey! Was machst du da? Du verdirbst das Essen!“

Finjas ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Gelassen rührte er die Soße um, dann bat er um einen Löffel. Er probierte und schloss die Augen. So verharrte er einige Sekunden, bevor er sie wieder öffnete und den Stift zur Hand nahm.

Jetzt ist es essbar.

„Besserwisser“, brummte Liam.

 

Beim Essen musste er allerdings zugeben, dass die Ravioli überraschend gut schmeckten und im Nu hatte er seine Portion verputzt.

„Das war wirklich lecker, wie hast du das gemacht? Ich meine, woher weißt du wie das geht?“, wollte Liam nach dem Essen wissen und lehnte sich gemütlich zurück. Es war seltsam, denn obwohl Finjas kein Wort sagte, war die Stille im Haus weniger erdrückend und er konnte sich wieder entspannen, was, wie er vermutete, an Finjas' Gegenwart lag. Versonnen beobachtete Liam wie dieser mit schwungvollen Bewegungen schrieb und er fragte sich kurz, ob ihm nicht irgendwann die Hand schmerzen musste. Dann als Finjas fertig war, nahm er den Zettel entgegen und las.

 

Das meiste weiß ich aus Büchern und Zeitschriften. Und weil ich ab und zu daheim koche und gerne neue Rezepte ausprobiere, hab ich mir etwas Wissen angeeignet. Aber die Soße habe ich nur etwas auf gepeppt, mehr nicht.

Als Liam wieder in Finjas' Gesicht blickte, lag dort ein leichtes Grinsen und in den grauen Augen funkelte es amüsiert. Mit einer knappen Geste bat er um Stift und Papier.

 

Wobei meine Schwester meint, ich würde das Essen kontaminieren und es eher schlimmer machen.

 

„Wenn wir morgen grün leuchten, hatte sie wohl recht.“

Der Gitarrist grinste noch breiter, dann zuckte sein ganzer Körper vor lautlosem Lachen und Liam lachte mit, auch wenn er für einen kurzen Moment irritiert war.

 

„Ich hatte nichts an den Ravioli auszusetzen und das ist auch gut so, denn viel anderes wird es für eine Weile nicht geben.“

Er konnte sich ein Seufzen nicht verkneifen und kam sich schon jetzt erbärmlich vor.

Du wirst doch wohl ein paar Wochen ohne Linda's Essen auskommen können, schalt er sich, doch er musste zugeben, dass er sie und ihre Kochkünste, die ihm ein Gefühl von Vertrautheit und Zuhause gaben, doch sehr vermisste.

 

Um sich von seinen trübsinnigen Gedanken abzulenken, stand Liam auf und räumte den Tisch ab. Als er nach Finjas' Teller greifen wollte, schlossen sich kühle Finger um seinen Unterarm und ließen ihn schaudern. Der eindringliche Blick der grauen Augen des Weißhaarigen sandte einen Schauder über seinen Rücken und plötzlich fühlte er sich geistig völlig entblößt und elend.

 

Doch er zwang ein Lächeln auf sein Gesicht, löste sich sanft aber bestimmt aus Finjas' Griff und fuhr mit dem Aufräumen fort, als wäre es das Normalste der Welt, als würde er nicht gerade mit einem Fremden in der Küche sitzen und um Fassung ringen. Finjas hatte kein Wort gesagt und doch hatten seine Gestik und Mimik es geschafft, ein Gefühl in Liam zu wecken, welches er bewusst verdrängt hatte: Er fühlte sich einsam.

 

Jetzt war ihm wirklich elend. Er versuchte die plötzlich aufsteigende Übelkeit mit einigen tiefen Atemzügen zu verdrängen und scherzte:

„Okay, jetzt ist mir schlecht, da hatte deine Schwester wohl doch recht was deine Kochkünste angeht.“

Ein zittriger Atemzug entkam ihn und er musste sich an der Spüle fest halten, weil seine Knie plötzlich butterweich wurden. Wie eine Welle schlug die Übelkeit über ihm zusammen und er konnte bloß ein „Fuck“ hervorwürgen, bevor er sich in das Spülbecken erbrach. Als nur noch bittere Galle kam, richtete Liam sich zitternd auf. Frustriert biss er die Zähne zusammen, dass es knirschte.

Super, wird das jetzt zur Gewohnheit, dass ich vor anderen kotzen muss?

 

Wütend drehte er das Wasser auf, dass es nur so spritzte und schüttete sich einen ganzen Schwall ins Gesicht, dabei kümmerte es ihn nicht, dass sein T-Shirt nass wurde. Das kühle Wasser half ein wenig und langsam drehte er sich zu Finjas um, der aufgestanden war und ihn besorgt musterte.

„Tut mir leid wegen dem Essen...“, fing er mit rauer Stimme an, doch Finjas' Kopfschütteln ließ ihn abrupt schweigen.

 

Stumm und etwas verloren, beobachtete Liam, wie dieser seinen Gitarrenkoffer nahm und ihn sich über die Schulter warf. Und er ahnte, was Finjas vorhatte.

„Du kannst gerne noch bleiben...es geht mir schon besser also...“

Er merkte selbst wie verzweifelt er klang, doch er konnte nichts dagegen tun. Jetzt alleine zu sein war das Letzte was er wollte, doch war ihm die ganze Situation auch sehr unangenehm und peinlich und er hatte das dringende Bedürfnis in sein Zimmer zu flüchten, um sich unter der Bettdecke zu verkriechen. Er war hin und hergerrissen zwischen dem Wunsch, dass Finjas blieb und dem Wunsch, dass er ihn aus dieser dummen Situation erlöste, indem er einfach nachhause ging.

 

Angespannt beobachtete er Finjas, dessen Finger nervös am Schultergurt des Instrumentenkoffers spielten. Offenbar fühlte er sich genauso unwohl wie Liam und dieser bekam Gewissensbisse, weil er ihn eingeladen und jetzt in diese unangenehme Lage gebracht hatte.

„Es wäre echt schade, wenn du schon gehst. Ich würde mich gerne noch mit dir unterhalten und... weiß nicht, vielleicht zusammen einen Song spielen...“, versuchte Liam mit vor Nervosität zitternder Stimme einzulenken und er schaffte es sogar, aufmunternd zu lächeln.

Er erwartete dass Finjas ablehnen oder seine Bitte merkwürdig oder sogar aufdringlich finden würde, doch ein ganz anderer Ausdruck erschien auf dem fein geschnittenem Gesicht: Überraschung.

 

Finjas' Augen waren leicht geweitet und die linke Augenbraue mit dem Piercing hatte er hochgezogen. Einige Sekunden lang blickten sie einander an und jeder versuchte sein Gegenüber einzuschätzen und dessen Gedanken zu erraten. Finjas Brustkorb hob sich in einem weiten Atemzug und seine Gesichtszüge wurden weicher. Schließlich zuckte er mit den Schultern und ließ den Gitarrenkoffer wieder auf den Boden sinken.

 

Liam lächelte erleichtert und trat zu dem Gitarristen, um diesem eine Hand auf die Schulter zu legen.

„Ich bin der schlechteste Gastgeber der Welt, oder? Aber danke, dass du mich nicht für einen Spinner hälst und abhaust .“ Liam lachte befreit und fuhr sich einmal kräftig durch's Haar.

Finjas winkte ab und zwinkerte ihm zu. Dann griff er in die Tasche seiner Jeans und holte sein Handy hervor. Mit entschuldigendem Blick hielt er es hoch.

„Du willst zuhause bescheid geben, oder?“ Finjas nickte. „Klar, mach das ruhig. Wir können hoch in mein Zimmer gehen, wenn du magst.“

Wieder reagierte Finjas sichtbar überrascht und Liam vermutete, dass dieser nicht viele Freunde hatte. Das stimmte ihn nachdenklich und er fragte sich, was der Ältere von ihm dachte.

Was er wohl von mir hält? Ob ich ihm irgendwie auf die Nerven gehe? Er muss mich für einen totalen Grünschnabel halten.

 

Liam zwang sich nicht weiter darüber nach zu denken und wies Finjas stattdessen an, ihm zu folgen. Auf der Treppe überfiel ihn wieder die Übelkeit, von der er nicht sagen konnte, ob sie immer noch von den Ravioli kam, oder von der Erinnerung an Linda's Sturz herrührte, er zwang sie jedoch hinunter und schaffte es ohne ein Maleur bis zu seinem Zimmer. Finjas blickte von seinem Handydisplay hoch und sah sich ruhig im Flur um. Dann lächelte er Liam zu und steckte das Handy zurück in die Hosentasche.

 

Liam öffnete seine Zimmertür und prüfte mit einem schnellen Blick den Zustand seines Reiches, bevor er seinen Gast hineinwinkte. Finjas trat zögernd ein und schürzte anerkennend die Lippen, als sein Blick von der riesigen Fensterfront mitsamt der meterlangen Polsterbank eingenommen wurde. Hinter den Scheiben herrschte tiefschwarze Nacht, schwach beleuchtet von den Lichtern der Stadt.

Liam gesellte sich zu dem Gitarristen und genoss ebenfalls die Aussicht. Dann kletterte er auf das Podest, kniete sich auf die Bank und blickte in den Himmel hinauf. Die Sterne funkelten wie Diamanten auf schwarzem Samt und Liam betrachtete sie eine Weile versonnen, bis das Quietschen des Schreibtischstuhls ihn aufschreckte.

 

Finjas saß auf dem Stuhl und drehte sich einmal um die eigene Achse, bis sein Gesicht wieder in Liam's Richtung zeigte. Liam schmunzelte belustigt und setzte sich bequemer hin.

„Ich habe ganz vergessen zu fragen, ob du etwas trinken möchtest“, fiel ihm plötzlich ein. „Ich sag doch: Schlechter Gastgeber.“

Ein wenig holprig stieg er vom Podest und ging zur Tür.

„Wasser, Cola oder Saft?“

Finjas hob die Hand und hielt zwei Finger in die Höhe. Liam überlegte kurz, dann verstand er, was der Ältere meinte.

„Also Cola.“

Finjas nickte zufrieden und Liam glaubte so etwas wie Dankbarkeit in dessen Blick zu erkennen.

 

Wenige Minuten später nippten sie an ihren Getränken.

„Ah das tut gut. Mir ist plötzlich so schrecklich warm “, lachte Liam und zupfte an seinem T-Shirt, das ihm feucht auf der Haut klebte.

„Ich sollte das wohl besser ausziehen.“

Mit einer Grimasse zog er sich das T-Shirt über den Kopf und ließ es zu Boden fallen. Schnell schnappte er sich ein neues aus dem Schrank und entschuldigte sich kurz bei Finjas, bevor er ins Badezimmer ging.

 

Dort lehnte er sich ans Waschbecken, blickte in den Spiegel und erschrak. Seine Haut glänzte vor Schweiß und schien unnatürlich blass und auch seine Augen schimmerten feucht. Langsam ließ er seine Hand über sein Gesicht gleiten, den Hals hinab, bis zur Brust. Auch dort war er nass, viel zu nass. Stirnrunzelnd betrachtete er seine schweißbeckte Hand, Wieso ist mir so schrecklich warm?

Trotz der Hitze, die in Wellen durch seinen Körper kroch, schauderte er und eine Gänsehaut überzog seine Arme.

 

Er begann zu frieren und das Zittern ließ seine Zähne klappern.

Ein plötzlicher Krampf in der Magengegend ließ ihn nach Luft schnappen under schaffte es kaum den Deckel der Toilette hochzureißen, bevor sein Magen sich abermals in einem krampartigen Schwall entleerte. Keuchend stützte er sich mit den Armen an der Wand ab und versuchte die Benommenheit, die sich wie eine schwere Decke um seinen Verstand legte, abzuschütteln.

 

Verdammter Scheiß!

Erschöpft ließ er sich auf den Wannenrand sinken und hielt sich den brennenden Magen.Das Frösteln wurde von einer weiteren Hitzewelle abgelöst, die ihm erneut den Schweiß aus den Poren trieb.

Ich bin krank. Ich bin verdammt nochmal krank.

Ein Stöhnen entkam seiner Kehle. Mühsam stand er auf, wusch sich rasch mit einem Lappen den Schweiß vom Körper, zog das frische T-Shirt über und kehrte in sein Zimmer zurück.

 

Kurz erklärte er Finjas die Situation und war ehrlich verblüfft, als dieser seinen Vorschlag doch nachhause zu gehen, abwies.

Ich bleibe hier, falls du Hilfe brauchst. Meine Familie ist es gewohnt, dass ich mal über nacht wegbleibe, also mach dir keine Gedanken.

„Ist das dein Ernst? Du kennst mich kaum, was interessiert es dich, wie es mir geht oder ob sich jemand um mich kümmert?“, fragte Liam verständnislos.

„Ich bin dir wirklich nicht böse oder so wenn du nachhause gehst...“

Stirnrunzelnd sah er zu, wie der Ältere mit schwungvollen Bewegungen schrieb.

Sieh es einfach als Wiedergutmachung an und als Dank.

„Als Dank für was?“ Liam fragte sich, worauf Finjas eigentlich hinauswollte.

Er sah wie Finjas bei der Frage die Lippen zusammen presste und sich Schmerz in dessen Gesicht spiegelte, von solcher Intensität, dass es Liam einen Stich versetzte. Unruhig ließ er sich auf sein Bett sinken. Nun saß er Finjas direkt gegenüber, der ihn etwas hilflos ansah. Liam nickte ermutigend und reichte ihm seine Schreibutensilien.

 

Der Blick des Gitarristen senkte sich auf den Schreibblock und die Hand, die den Stift nahm, zitterte leicht. Als er fertig war, reichte er das Blatt an Liam weiter, wobei er es vermied, ihm in die Augen zu sehen.Mit wild pochendem Herzen nahm Liam das Blatt Papier entgegen.

Weil du mich nicht wie einen Freak behandelst.

 

Liam schwieg unbehaglich. Er konnte den Blick nicht von einem bestimmtem Wort lösen.

Freak

„Wer hat das zu dir gesagt?“, fragte er behutsam nach, während er Finjas das Papier zurück gab. Finjas nahm es langsam entgegen und starrte es eine Weile einfach nur an. Dann gab er sich einen sichtbaren Ruck und schrieb einige Zeilen, wenn auch nur zögerlich.

 

Mitschüler von mir. In der Schule wurde ich oft gehänselt und man hat viel über mich und meine Familie getuschelt. Es fällt den meisten schwer mit meiner Behinderung umzugehen, und das bekomme ich nur zu oft zu spüren. Die Hänseleien und Beleidigungen hielten bis zur achten Klasse an, dann habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin einfach nicht mehr zum Unterricht gegangen. Ich habe mich stattdessen sonstwo herumgetrieben. Ich war echt erleichtert als wir vor zwei Jahren umgezogen sind und ich die Vergangenheit ein Stück weit hinter mir lassen konnte.

Aber die Angst und Erinnerungen sind geblieben. Auch heute habe ich noch damit zu kämpfen, doch es ist besser geworden.

 

Liam richtete den Blick wieder auf Finjas, der ihn traurig anlächelte und dann mit den Schultern zuckte, als wolle er sagen So etwas passiert manchmal.

 

Liam war da anderer Meinung.

„Trotzdem hat keiner das Recht, so verletzende und menschenverachtende Dinge zu sagen, erst recht nicht zu jemandem, der es so schon nicht leicht im Leben hat.“

Eine unbestimmte Wut auf diese Menschen ergriff ihn und er musste plötzlich an den Vorfall im Klassenzimmer mit Christian denken. Er hatte am eigenen Leib erfahren, wie leicht man zum Opfer werden konnte und das wünschte er niemandem.

„Du bist alles andere als ein Freak. Du bist ein ganz normaler Kerl, der mit seiner Gitarre vor Publikum auftritt und die Bühne rockt, auch wenn er körperlich eingeschränkt ist. Und das hinterlässt Eindruck. Zumindest bei mir.“

 

Ein wenig verlegen blickte Liam an Finjas vorbei aus dem Fenster und knüllte das Blatt Papier in den Händen. Etwas Blöderes hätte ich wohl nicht sagen können. Und als wäre das noch nicht genug, entschied sein Magen sich in diesem Moment dazu Kapriolen zu schlagen und Karussell zu spielen. Hecktisch kroch er an Finjas vorbei unter den Schreibtisch, zerrte den Papierkorb aus der Ecke und übergab sich lautstark hinein.

Wenn hier einer ein Freak ist, dann ja wohl ich.



 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.07.2015

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