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Rosa frisst nicht



Viel war nicht mehr zu sehen von Don Chino. Der Felsbrocken hatte ihn tief in den weissen Sand gedrückt. Gerade noch die Beine, in Jeans gehüllt, und die Füsse, die ohne Socken in Gummi besohlten Leder Mokassins steckten, ragten bizarr in die Höhe. Nichts mehr zu machen. Ich zuckte die Schultern und drehte mich ab zu Sandy, die mit grossen, aufgerissenen Augen auf die Unglücksstelle starrte. Ihre halblangen braunen Haare waren etwas zerzaust vom Meerwind, der im Januar immer an der Costa de la Luz wehte. Sandy‘s Mann, Greg, nestelte nervös an seiner grauen Fliessjacke herum und schaute hinauf zur Felsklippe. Dort fehlte der grosse Felsbrocken, der so lange über dem Abgrund zu schweben schien, nur von einer kleinen Erdbrücke gehalten, die jetzt auch am Strand unten lag.

Ich hatte schon mein Handy gezückt und 112, die internationale Notrufnummer gewählt als Hannah und Peter im Laufschritt die Treppe von der Küstenstrasse hinunter zum Strand kamen. Peters helle Baumwollhose hatte braune Flecken an den Knien, wie wenn er in der Eile gestolpert und hingefallen wäre. Hannah war völlig ausser Atem und zog ihre leichte braune Windjacke eng um sich. Peter warf Hannah einen fragenden Blick zu. Dann schaute er zu mir und hielt fast unbemerkt den Daumen der rechten Hand in die Höhe.

Ich bemerkte den gelösten Ausdruck auf seinem Gesicht. Er wirkte entspannter als in den letzten vier Wochen. Damals hatte ihn das Schicksal tüchtig gebeutelt und uns allen ein schreckliches Erlebnis bereitet. Peter wandte sich Hannah zu und legte beschützend seinen Arm um ihre Schultern. Sie drückte sich, Schutz suchend, an seine Seite. Beide schauten mit zusammengekniffenen Augen zu Don Chino’s Überresten hinüber. Ironischerweise wurde der Blick von einer schon etwas angerosteten Warntafel verstellt, die vor dem drohenden Steinschlag warnte.

Die Flut hatte ihren Höhepunkt überschritten und das Meer zog sich langsam wieder zurück. Der schmale Sandstreifen, direkt unter den Klippen, verbreiterte sich wieder und die kleinen Atemlöcher der Strandkrabben und Würmer wurden wieder sichtbar. In sechs Stunden würde wieder die ganze breite Strandfläche freiliegen auf der die Kinder Sandburgen erstellten. Windbuggyfahrer würden wieder den 20 km langen Strand hinauf und hinunter flitzen und sonnenhungrige Überwinterer würden sich im Windschatten der grossen Felsbrocken sonnen.

Fischer würden Ihre Angeln in den Sand stecken, die langen Schnüre auswerfen und geduldig auf einem Campingstuhl mit einem Bier in der Hand, bis zum Sonnenuntergang auf einen glücklichen Fang warten. Wenn sie Glück hatten, lieferten sie die Fische jeweils an Don Chino’s Restaurant aus, dann gab es Sweet und Sauer Fischragout. Don Chino kaufte gerne von den Hobby Fischern, sie waren meist billiger, wie die Berufsfischer und Don Chino wusste wie man sparte. Nicht, dass sein chinesisches Restaurant schlecht ging, im Gegenteil. Man musste immer lange im Voraus einen Tisch reservieren, wenn man bei ihm essen wollte. Seine Preise waren moderat und die Auswahl immer gut. Deshalb war es Tradition für uns und unsere englischen Freunde vom Campingplatz mindestens einmal im Winter bei ihm ein grosses Menue zu essen.

Peter schaute um sich, wie wenn er aus einem bösen Traum erwacht wäre und blickte zur etwas entfernten Felsformation mit kleiner Plattform am Strand hin. Er gab sich Mühe an Don Chino’s grotesk in die Luft ragenden Füssen vorbei zu sehen. Auf dem vom Meer, Wind und Sand abgeschliffenen Fels sass Rosa und schaute erwartungsvoll zu uns hin. Die kleinen karamellfarbenen Hängeohren wurden vom Wind vor und zurück geweht, wie Kindersocken an der Wäscheleine. „Rosa komm her!“ rief Peter. Der kleine Hund bewegte seinen Hintern hin und her und schlug mit dem Schwanz den Takt dazu. „Komm her!“. Rosa begann zu hecheln und zeigte ihre rosa Zunge und die Zähne. Es sah aus, als ob sie Peter auslachen würde. „Ok: Rosa, bring den Ball!“. Da kannte Rosa kein Halten mehr. Sie nahm den alten Tennisball, der neben ihr gelegen hatte, ins Maul und kam in weitausholenden Galoppsprüngen auf Peter zu gerannt. Sie drehte noch eine Begeisterungsrunde um uns alle und setzte sich dann erwartungsvoll vor Peter in den Sand. Den Ball hatte sie schon neben sich gespuckt. Rosa war eine undefinierbare Mischung aus dem Besten was die Hundewelt Spaniens zu bieten hatte. Ganz sicher war eine struppige Terrierdame involviert. Der ganze Hund bebte und das noch etwas dürftige mittellange, lockige Fell zitterte im Takt. Peter liess sich nicht lange bitten und holte ein Hundebisquit aus seiner Hosentasche. Er hielt den Leckerbissen auf Hüfthöhe und Rosa starrte mit ihren braunen vertrauensvollen Augen unter den buschigen Augenbrauen gebannt auf das Gutzi. „Nimm“ und das Bisquit verschwand in einem orangen Blitz. Rosa leckte sich das Maul und sass nochmal brav hin. Wer weiss, vielleicht geschah ja ein Wunder und Peter würde ihre Folgsamkeit mit zwei Leckerli vergelten? Sie täuschte sich nicht. Peter strahlte erleichtert und streichelte Rosa, dann flüsterte er ihr etwas ins Ohr. Ein Versprechen.

Sandy und Greg hatten sich abgewendet und gingen langsam auf dem feuchten Sand um die nächste Felsnase zurück zu unseren hastig verlassenen Apéro Drinks in der Strandbar. Wir hatten unseren Tisch fluchtartig verlassen, als wir das grollende Donnern hörten, und dann die aufgewirbelte Sandwolke hin zum friedlichen Meer treiben sahen. Chino war wenige Minuten vorher, mit einem lauten „Buenas…“ an uns vorbei spaziert. Er liebte das Meer und ging jeden Tag um diese Zeit spazieren. Entweder nahm er den Weg hinauf zum nächsten Dorf, oder eben den Strand hinunter um die Felsnase entlang der Steilküste. Ebbe und Flut verschieben sich jeden Tag um etwa eine halbe Stunde. Manchmal war also der ganze Strand wasserfrei zu dieser Zeit, und manchmal musste man ganz nahe an der Klippe entlang gehen, wenn man keine nassen Füsse bekommen wollte.
Heute war ein solcher Tag.

Mittlerweile hatten sich auch Peter und Hannah einen der bequemen Korbstühle ergattert und sich zu uns gesetzt. Hannah bekam ihren Tinto Verano, ein Glas mit Citro gespritzem Rotwein mit einem kleinen Schuss Martini, Eisstücken und einer feinen Zitronenscheibe, eben einen Sommerwein. Peter hatte wie immer ein grosses Bier bestellt. Greg nahm auch noch ein Bier und Sandy bestellte sich ihren zweiten weissen Martini. Ich blieb bei meinem Gin Tonic und Mark bestellte ein Glas Weisswein aus der Gegend; eher herb, um nicht zu sagen sauer. Nichts für mich. Er bemerkte es nicht. Er war immer noch geschockt vom Anblick des Toten.

Juan zwei brachte einige Tappas, grosse Oliven, Mandeln, Tomatenschnitze mit Meersalz und trockene Salzteigringe. Juan Zwei war der Kellner in der Strandbar, die Juan Eins gehörte. Es gab noch Juan Drei, der Sohn von Juan Eins. Eine etwas verworrene Namenssituation. Juan Eins stand in der Türöffnung und schaute dem Polizeiauto nach, das langsam den Strand entlang fuhr. Das Blaulicht war nicht nötig, sie hatten keine Eile. Helfen konnten sie nicht mehr, nur noch aufräumen. Kurz darauf kam die Feuerwehr und dann der Leichenwagen.

Langsam füllte sich die Bar mit Leuten vom Campingplatz und vom Dorf. Wir profitierten alle von der warmen Nachmittagssonne. Aber nicht alle waren deswegen unterwegs. Einige Neugierige wagten sich bis zur Felsnase vor, wo sie von der Polizei zurück gehalten wurden. Sie berichteten von der Schwerarbeit der Feuerwehr, die den riesigen Felsbrocken mit schwerem Gerät zur Seite rückten.

„Peter, schau, da kommt die Isabell geradewegs auf uns zu.“ Wir versuchten möglichst abweisende Blicke auf zu setzen, aber es nützte nichts. Isabell kannte keine Gnade. Sie beehrte jeden mit ihrer Geschwätzigkeit ohne Rücksicht auf Verluste. Warum sollte es heute anders sein? „Hallo z’samm ist do no frei?“ fragte sie rhetorisch, einen freien Stuhl vom Nebentisch heranziehend. „Juan, bring mir an Prosecco!“ bestellte sie in reinstem Bayrisch. Ihr Englisch war rudimentär, das Spanisch beschränkte sich auf Cerveça und Prosecco. „Schau Peter, ich habe Dir die Leine von Rosa mitgebracht. Du hast sie auf den Klippen verloren vorhin, als ihr so schnell fortgerannt seid. Dein Spaten liegt auch noch oben, der war mir zu schwer zum herbringen“ schnaufte sie, noch etwas erschöpft von der Anstrengung ihren Stuhl zwischen die unseren zu zwängen. Peter schaute schnell zu Hannah und dann fragend zu mir. Ich gab ihm mit zugekniffenen Lippen und dem Hochziehen eines Augenlides zu verstehen, dass er sich genau überlegen sollte, was er jetzt antworten würde. Er nahm die Leine aus Isabell’s Hand, setzte ein zuversichtliches Lächeln auf und atmete tief durch. „Vielen Dank Isabell. Ja, wir wurden von dem Abbrechen des Felsens so erschreckt, dass wir nur noch ans Wegrennen dachten. Wir hätten ja mit der Erdbrücke in die Tiefe gerissen werden können. Mir schaudert jetzt noch bei dem Gedanken, dass wir auch erschlagen unten am Strand liegen könnten“ Isabell setzte ihr mitfühlendes Gesicht, oder was sie dafür hielt, auf. Es wirkte immer noch äusserst neugierig, wenn nicht sogar misstrauisch. „Rosa war ja gar nicht bei Euch und was hattet ihr mit dem Spaten vor?“ Peter lachte etwas gekünstelt „Du weisst ja, wie gerne Hannah Gewürze zieht. Wir wollten einen Thymian und einen Rosmarinstock auf der Klippe ausgraben und beim Wohnwagen eintopfen. Damit hätten wir frische Gewürze für das Grillfest von Samstag gehabt.“ Peter endete abrupt, aber es war schon zu spät. Jetzt würden wir natürlich nicht darum herum kommen und Isabell und ihren Seppi auch zu Grillen einladen zu müssen; und wir wollten doch unter uns bleiben bei der kleinen Feier. „Oh, Samstag haben wir uns schon für die Fahrt nach Sevilla eingeschrieben, da können wir leider nicht kommen. Könnt Ihr das nicht auf Sonntag verschieben?“ Ein Aufatmen war am Tisch spürbar. „Leider nein. Sandy und Greg reisen am Montag ab, und wollen am Sonntag ihr Vorzelt abbrechen, da ist keine Zeit mehr für ein Grillfest. Vielleicht das nächste Mal?“ sagten wir alle durcheinander. Isabell schien halbwegs befriedigt von der Erklärung. „Kann man denn im Winter Pflanzen versetzten? Na ja, Ihr werdet’s ja sehen“ mit diesen Worten trank Isabell den letzten Schluck ihres Proseccos aus, stand auf, verabschiedete sich und… vergass zu bezahlen! Das war ein kleines Opfer, das wir bringen mussten um das Tratschmaul los zu werden.

Peter kraulte Rosa zwischen den Ohren. Diese liess es sich wohlig gefallen und hielt ihm auch noch den Buckel hin. Danach legte sie sich auf den Rücken und liess sich das fein behaarte Bäuchlein massieren. Rosa schloss voller Wonne die Augen und lächelte zufrieden vor sich hin.

Dieses Glück war noch nicht alt.Vor knapp vier Wochen tauchte sie eines Morgens plötzlich auf dem Campingplatz auf. Wir haben nie herausgefunden, woher sie kam. Mark und ich entdeckten sie vor unserem Wohnwagen als wir vom morgendlichen Duschen in den geheizten Anlagen zurück kamen. Sie sass einfach da und schaute uns an. Ich ging schnell in den Wohnwagen um die Zähne zu putzen, während Mark den Kühlschrank nach etwas Hundewürdigem durchsuchte. Er fand noch ein Restchen Katzentrockenfutter, das wir vom letzten Campingplatz her hatten. Dort hatte er eine kleine graue Katzenmutter adoptiert und regelmässig mit Milch und Katzenfutter versorgt.

Rosa nahm die Brocken ganz manierlich aus der Hand. Sie liess sich streicheln und war überhaupt nicht scheu. Nachdem auch sie ein Schälchen Milch geläppelt hatte. Legte sie sich zum Verdauungsschlaf unter meinem Stuhl nieder. Sie lag genau auf einem warmen Sonnenfleck und schaute nur kurz auf, als Mark unser Frühstück heraus brachte. Er hatte wunderbar knusprige Brötchen im Campingladen gekauft. Seit kurzer Zeit gab es im Dorf eine deutsche Bäckerei, die Vollkornbrötchen, Semmeln, Baguettes und ein dunkles, schweres Bauernbrot produzierten. Jeden Morgen brachte ein Ausläufer eine Auswahl der Bäckerei in den Laden. Man musste sich sputen und schon vor der Türe warten, bevor der Bäcker kam, wenn man seine Lieblingsbrötchen haben wollte. Die meisten Engländer zogen weiterhin das lasche weisse Toastbrot vor. Aber die Holländer und die Deutschen auf dem Platz waren ganz wild auf die knusprigen Brötchen. Seppi war immer einer der Ersten. Unrasiert oder geduscht, im Trainingsanzug wurde er von Isabelle beauftragt ihre Lieblingsbrötchen zu bringen. Wehe, wenn sie aus waren... Ausschlafen war an Werktagen nicht drin, wenn man gut frühstücken wollte.

Wir liessen es uns schmecken. Rosa amtierte danach als Staubsauger und leckte alle Krümel von unserem Plastikteppich auf. Sie war ziemlich mager und ihr Fell war struppig mit kahlen Stellen dazwischen. Der Schwanz war fast kahl und sah aus wie ein etwas dicker und langer Rattenschwanz. Nicht unbedingt eine Schönheit. Aber ihre Augen machten den Unterschied. Sie waren gross und dunkelbraun und schauten selbstsicher in die Welt. Sie zeugten von einem guten und zutraulichen Charakter mit grossem Herz. Während etwa einer Stunde leistete sie uns noch Gesellschaft, danach suchte sie sich neue Futtergefilde.

Nach einigen Tagen war sie auf dem ganzen Platz bekannt und beliebt. Jemand hatte sie Rosa getauft. Sandy hatte ein Halsband und eine Leine für sie gekauft. Sie konnten das Hündchen zwar nicht mit nach Hause nehmen, in England herrschte ein strenger Impfzwang gegen Tolllwut. Sandy und Greg konnten keine 8 Wochen mehr warten, bis die geforderten Untersuchungen abgeschlossen sein würden. Sie wollten Anfangs Februar nach Hause fahren, weil ihre Tochter das erste Enkelkind zu Welt bringen würde. Wir hofften alle, dass Rosa bei jemandem vom Campingplatz eine neue Heimat finden würde. Die Alternative war zu schrecklich. Hundefänger waren überall unterwegs und sammelten herrenlose Hunde ein um sie grausam umzubringen. Schreckliche Geschichten machten den Umlauf, von an Bäumen aufgehängten Galgos, ehemaligen Rennhunden die nicht mehr schnell genug auf der Rennbahn waren, und andere Scheusslichkeiten.

Wir beschlossen eine Spendenaktion auf dem Campingplatz für Rosa durch zu führen, damit sie vom Veterinär untersucht, geimpft und gechipt werden könnte. Rosa war höchstens 6 Monate alt und hatte noch ein ganzes Hundeleben vor sich. Isabell und Seppi weigerten sich einem „Kläffer und Scheisser“, wie sie es nannten, auch noch gutes Geld hinter her zu schmeissen. Es wäre sowieso verloren, weil niemand ein so hässliches Tier bei sich aufnehmen würde. Trotzdem kam genug Geld zusammen, dass wir auch noch eine lokale Hunderettungsstation unterstützen konnten. Sandy, Hannah und ich fuhren mit Greg in seinem Auto zum Veterinär. Der stellte Rosa sogar noch einen internationalen Hundepass aus.

Bei der Rückkehr vom Veterinär fanden wir Peter völlig verzweifelt vor. Er war mit seiner Colliehündin Lady am Strand spazieren gegangen und hatte sich zu einem Kaffee in die Strandbar gesetzt. Lady liebte es, den grossen Möwen nach zu jagen, die den Strand mit ihren Hinterlassenschaften verzierten, bis die nächste Flut alles wieder sauber wusch. Peter liess sie gewähren. Er war in ein Gespräch mit Juan drei vertieft, der ein Praktikum in England plante. Peter versprach ihm bei der Suche nach einer Arbeitsstelle zu helfen und würde ihn die erste Zeit bei sich in seinem Haus in Südengland wohnen lassen. Als er einmal nach Lady schaute, sah er wie Chino bei seinem alltäglichen Spaziergang hinter der Felsnase verschwand. Währenddessen entfernte sich Lady unbemerkt immer weiter von der Strandbar weg und trabte zuerst langsam, dann immer schneller um die Felsnase herum. Ihr schien als ob es da weit vielversprechendere Objekte zu erjagen gäbe.

Nachdem Peter seinen Kaffee ausgetrunken hatte und Juan drei alles Wissenswerte erfahren hatte, pfiff Peter nach Lady. Sie kam nicht. Nun ja, weiter nicht verwunderlich. Wenn sie um die Felsnase verschwunden war, dann konnte sie ihn kaum hören. Das Kreischen der Möwen und das Rauschen der leichten Brandung vom Meer würden den lautesten Pfiff übertönen. Peter eilte um die Felsnase und pfiff wieder. Keine Lady… Er rannte den Strand entlang den Hundespuren nach. Diese führten schnurstraks zum Felsplateau, dort verloren sie sich. Peter kletterte über die Felsen und kam zum benachbarten Strand, Nichts. Mittlerweile rief er verzweifelt alle paar Sekunden nach Lady. Ohne Erfolg. Der Strand war menschenleer an diesem Nachmittag und er konnte niemanden nach seiner Colliehündin fragen.

Lady hatte ihn die letzten 8 Jahre seines Lebens begleitet. Sie war ein Geschenk seiner Frau Deborah kurz vor deren Tod nach einer heimtückischen Krankheit. Deborah wollte, dass Peter auch nach ihrem Ableben Gesellschaft hatte und jemanden für den er sorgen müsse. Peter konnte sich ein Alltag ohne Lady nicht mehr vorstellen. Vor zwei Jahren hatte er dann Hannah hier auf dem Campingplatz kennen gelernt. Hannah bewohnte damals einen Bungalow auf dem Platz. Es war für sie die erste Saison ohne ihren Mann, von dem sie sich das Jahr davor scheiden liess. Ihr Mann hatte das gemeinsame Wohnmobil in Deutschland verkauft. Hannah entschloss sich spontan an die Costa de la Luz zu fliegen und einen Bungalow zu mieten. Sie wollte den Winter in gewohnter Umgebung mit ihren englischen Freunden auf dem Campingplatz verbringen. Vor einem Jahr beschlossen Peter und Hannah in England zusammen zu leben. Sie schafften sich einen schönen, komfortablen LMC Wohnwagen an, mit dem sie nun zum ersten Mal zusammen den Winter hier in Spanien verbringen wollten…. Und nun war Lady verschwunden. Peter hängte überall im Dorf, im Camping bei den Supermärkten Mercadona und Eroski,Plakate mit einem Foto von Lady, mit seiner Handynummer und dem Versprechen für einen Finderlohn auf. Nichts…. Peter erfuhr auf seinen Runden nur, dass es nicht das erste Mal wäre, dass Hunde verschwinden würden. Meist wären es aber Streuner. Bis jetzt war es noch nie passiert, dass ein Hund aus dem Campingplatz nicht mehr zurückkehren würde. Die Hundefänger wüssten genau, dass sie in Schwierigkeiten kommen würden, wenn sie das Haustier eines Touristen fangen würden. Zudem waren diese Tiere mit einem Erkennungschip versehen und dürften nicht einfach so umgebracht werden. Dies war ein schwacher Trost, aber Peter gab die Hoffnung nicht auf, Lady wieder zu finden.

Das war zwischen Weihnachten und Neujahr passiert. Es wurden traurige Feiertage für Peter und Hannah, aber auch für die anderen Freunde der Clique: Greg, Sandy, Mark und mich, waren diese Tage getrübt. Trotzdem deutete nichts auf die folgenschwere Zeit hin, die uns bevorstand.

Für Sylvester hatten wir in freudiger Erwartung, schon vor langer Zeit einen Tisch im chinesischen Restaurant bei Don Chino reserviert. Er hatte ein spezielles Festmenue aufgestellt . Gebratene Garnelen, gekochte Rippchen, Süss/Saures Voressen, Rindfleisch mit Cashewnüssen und als Höhepunkt, unser Lieblingsgericht: Pekingente. Er machte diese immer vorzüglich. Ganz knusprig, fein geschnitten, mit dünnen Omelettchen, geschnittenen Frühlingszwiebelchen, in Streifchen geschnittenen Gurken und Pflaumenmus. Das Kunststück bestand jeweils darin, das mit dem Pflaumenmus bestrichene Omelettchen so mit Ente, Zwiebeln und Gurken zu belegen, dass man es noch rollen und, ohne viel zu kleckern, verspeisen konnte. Mark hatte immer seine liebe Mühe damit, weil er viel zu viel Ente in die Rolle zwängen wollte. Diese rächte sich regelmässig mit Kleckern auf dem T-shirt.

Peter und Hannah wollten zuerst nicht mitkommen. Wir mussten eine Überzeugungsarbeit leistn, aber dann kamen alle überein, dass wir, trotz allem, das neue Jahr nicht mit Trübsal anfangen wollten und entschieden uns, unsere Reservation zu behalten und Sylvester bei Chino zu feiern. Wenn wir gewusst hätten, wie dieser Abend unser Leben verändern sollte...!

Es war ein grossartiger Abend. Chino übertraf sich selbst. Er schob noch zwei Überraschungsgänge ein. Einen mit speziellen chinesischen Pilzen und einen mit Wildgans. Exquisit. Aber einfach zu viel…. Wir konnten nicht mehr, unsere Bäuche waren so voll, dass kaum mehr ein kleines, erfrischendes Dessert Platz fand. Ein selbstgemachtes Lycheesorbet mit Mandarinenschnitzen. Die Reisbiere hatten die Stimmung entschieden gelockert und wir machten uns zeitig auf den Heimweg, um das grosse Feuerwerk der Stadt nicht zu verpassen. Der Camping liegt etwas erhöht und von da hatten wir die beste Aussicht. Chino gab uns noch die Reste des Festmahls in einem Doggiebag mit. Es wäre auch zu schade gewesen, diese wegzuwerfen.

Rosa hatte sich mit untrüglichem Instinkt immer wieder bei Peter und Hannah zu Essenszeiten eingefunden. Nach und nach durfte sie aus dem Futternapf von Lady fressen und trinken. Es ging aber noch nicht so weit, dass sie das Körbchen von Lady geerbt hätte. Rosa bekam eine alte Decke im Küchenzelt. Dort verbrachte sie die Nächte, oder mindestens einen Teil davon. Rosa hatte einen ganz eigenen Ordnungssinn. Jede Nacht machte sie ihre Runde. Wenn Sie einzelne Socken vor einem Wohnwagen oder Pantoffeln vor einem Reisemobil entdeckte, nahm sie die mit in ihr Kochzelt. Isabell war regelmässig unter den Enteigneten. Rosa nahm mit Vorliebe ihr Küchentuch von der tiefen Wäscheleine und legte sich dann darauf zum Schlafen. Jeden Morgen versammelten sich die so erleichterten Camper vor dem Kochzelt und versuchten Rosa die eroberte Beute wieder abzunehmen. Das war nicht so einfach. Rosa, sonst so friedlich, anhänglich und anschmiegsam, verteidigte ihre Schätze mit Knurren und Zähne zeigen. Nur Peter konnte sie dazu bringen von ihrem Diebesgut abzulassen, indem er ihr beibrachte die Gegenstände aus dem Kochzelt heraus zu bringen und sie ihm zu Füssen zu legen. Peter hatte ihr beigebracht, nicht auf normale „Komm“ Rufe zu reagieren.

Rosa war immer hungrig. Umso mehr erstaunte es mich, als ich ihr die Reste unseres Sylvester-Festmahles in einem flachen Teller vorsetzte. Zuerst legte sie sich davor, den Kopf zwischen den Pfoten, die Nasenspitze genau am Teller Rand. Meine Aufforderung zum Fressen, beantwortete sie mit einem schwachen Schanzwedeln und Heben der buschigen Augenbrauen. Ich wurde etwas ungeduldig und versuchte ihr den Teller unter die Schnauze zu schieben. Rosa hob den Kopf und sah mich vorwurfsvoll an. Sie schnaubte durch die Nase und liess einen seltsamen, fast stöhnenden, hohen winselnden Laut vernehmen. Sie setzte sich auf und schob den Teller mit der Nase zwei, drei Mal von sich. Rosa ohne Appetit, das war noch nicht dagewesen. Ob sie wohl krank war? Mark und ich mussten sowieso Einkaufen gehen. Wir informierten Peter und Hannah und nahmen Rosa und das verschmähte Futter mit unserem Citroenbus zum Veterinär.

Normalerweise würden wir ja mit unseren Motorrädern einkaufen gehen, aber da Rosa noch keinen Helm besass…. Hier in Südspanien konnten wir den ganzen Winter über motorradfahren und die Sonne geniessen. Wir haben unser Zugfahrzeug, einen Citroenbus speziell ausgerüstet, damit wir die Motorräder über eine Rampe hinauffahren können. Das erlaubt uns, die Motorräder schnell zu versorgen, fast wie in einer Garage, und dann schnell wieder zur Verfügung zu haben, wenn wir ausfahren wollen. Camper, die uns nur oberflächlich kennen, und wissen, dass wir einen Wohnwagen haben, fragen uns jeweils, ob wir die schweren Motorräder im Wohnwagen mitführen würden. Denen sage ich jeweils, dass wir sie, wie zwei Pferde, vor den Wohnwagen spannen und so durch die Lande gondeln würden. Das ergibt jeweils Gesprächsstoff für eine Runde Bier, bis wir ihnen das Geheimnis des Citroen enthüllen.
Wir setzten Rosa zwischen uns auf den dritten Sitz in der Führerkabine und fuhren los. Sie schaute interessiert von oben herab auf das Geschehen auf den einzelnen Campingparzellen, als wir ganz langsam dem Ausgang zu rollten. Es waren die letzten unbeschwerten Momente für eine lange Zeit.

Sie machte eigentlich gar keinen kranken Eindruck, aber etwas musste ja los sein, wenn sie so schönes Futter verschmähte. Der Veterinär untersuchte sie gründlich und konnte nichts feststellen, ausser, dass sie schon viel besser aussähe, wie das letzte Mal als er sie gesehen hatte. Ich übergab ihm dann den Beutel mit den Essenresten, die Rosa nicht anrühren wollte. Er versuchte, ebenfalls vergeblich, sie ihr schmackhaft zu machen. Rosa stiess das Futter mit der Nase auf dem Papier hin und her, bis sich der Veterinär unvermittelt darüber beugte. Er holte eine Lupe und sah sich das Fressen genauer an. Rosa stand auf und spitzte gespannt ihre kleinen Hängeohren. Sie stand nur noch auf drei Beinen, das rechte Vorderbein hatte sie angewinkelt, den Schwanz gerade nach hinten gereckt, wie man es von Vorstehhunden auf Jagdbildern kennt. Sie stiess wieder dieses hohe, klagende Winseln aus.

Der Veterinär holte eine Pinzette und nahm ein kleines, reiskorngrosses Glasröhrchen aus dem Futter. Er legte es in eine Chromstalschale und wusch es ab. Danach nahm er ein Gerät, das fast so aussah wie ein Bierflaschenöffner und hielt das kleine Röhrchen in die runde Öffnung. Danach schaute er mich lange über seine Brille an. „Wissen Sie was das ist?“ Ich hatte keine Ahnung. „Das ist ein Anis-Chip, damit werden Hunde und Rassekatzen markiert.“ „Was!!?? Was macht das in diesen Essenresten?“ „Hmmh“ sagte der Veterinär „vielmehr, von wem stammt der Chip?“ Er loggte sich in seinen Computer ein und sah gleich, dass es ein englischer Chip war. Eine Anfrage beim Stammsitz von Anis in Grossbritannien brachte schnell Klarheit. Der Chip stammte von einer Hündin namens Lady und gehörte….. unserem Freund Peter!

Ich musste einen starken Würgereiz hinunterschlucken, ich wollte ja nicht die ganze Praxis vollkotzen. Wir bedankten uns und fuhren ohne Einkäufe zurück zum Camping. Mir war jede Lust auf Essen vergangen. Rosa drehte sich zweimal um sich selbst und legte sich zwischen uns, völlig unberührt von der schrecklichen Enthüllung, und schlief ein.

An diesem Abend hielten wir Kriegsrat. Peter mussten wir gewaltsam mit einigen Whiskeys beruhigen. Greg und Mark blieben die ganze Nacht im Vorzelt. Peter wollte sofort mit einem Beil zu Don Chino. Aber, Rache ist am besten, wenn sie kalt genossen wird.

So reifte unser Plan und wir arbeiteten mit Rosa daran, dass sie auch Gegenstände ausserhalb ihres Küchenzeltes so lange bewachen würde, bis Peter sie wieder zum Bringen der Gegenstände aufforderte. Rosa machte bereitwillig mit, wie wenn Sie gewusst hätte, dass sie damit ihr neues Herrchen Peter von einem Albtraum befreien würde. Peter und Hannah’s Klippenspaziergang war für den Tag geplant, wo die Flut dann am Höchsten ist, wenn Don Chino seinen täglichen Spaziergang um die Felsennase machen würde. Der Rest ist Geschichte.

Wir riefen Juan zwei um unsere Apéros zu bezahlen. Er wollte von Geld nichts wissen und schaute bedeutungsvoll zur Unglücksstelle hin.

Peter nahm Rosa an die Leine. „Peter, was hast Du vorher in Rosa’s Ohr geflüstert?“ wollte ich wissen. Er schmunzelte und schaute zu Rosa hinunter. „Ich habe ihr gesagt, dass sie ab heute alle Rechte und Pflichten von Lady einnehmen müsste und sie ab sofort in Lady’s Körbchen schlafen dürfe. Zudem habe ich ihr versprochen, sie niemals wieder als Köder zu benutzen.“ Er beugte sich zu Rosa hinunter und diese lachte zu Peter auf und flickte blitzschnell mit ihrer rosa Zunge über seine Nasenspitze.

Es bleibt noch zu sagen, dass wir alle uns im nächsten Winter an einem anderen Platz in Spanien treffen würden. Sicher ist sicher…..

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Tag der Veröffentlichung: 07.11.2009

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