Silent
Die Stille in dir
Any Cherubim
Achtung:
Dieses Buch kann triggernde Szenen beinhalten. Mehr Informationen dazu findest du auf der Website der Autorin: www.anycherubim.com
Prolog
Es ist schade, dass niemand erfahren wird, welches Potenzial in mir steckt. In Hollywood wäre ich ein begnadeter Schauspieler. Alle Regisseure würden sich die Finger nach mir lecken, denn ich spiele die Rolle meines Lebens. Nur Du wirst in den Genuss davon kommen, das verspreche ich Dir. Du glaubst mir nicht? Ich werde es Dir beweisen.
Zunächst musst Du wissen, dass ein Freund von mir ein Problem hat. Na ja, ›Freund‹ ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, aber ich habe zugesagt, ihm zu helfen. Schon lange quälen ihn Gewissensbisse, und seine Psyche leidet sehr darunter. Unweigerlich muss ich seine Launen ertragen, weshalb ich ihm ein Geschäft vorgeschlagen habe. Es ist ein Geben und Nehmen, das heißt, wir profitieren voneinander. Ich sorge dafür, dass er die Liebe und Vergebung seiner Mutter erhält, und bekomme im Gegenzug Spezialzeit, in der ich meine Dunkelheit ausleben kann.
Wenn Du wüsstest, wie finster es in mir ist, würdest Du vor Entsetzen nach Luft schnappen, schreien, verzweifelt nach einem Lichtschalter suchen, der Deine Angst ausknipst und Dir den Schrecken nimmt.
Verzeih, dass ich grinse, aber es gibt keinen Schalter.
Ja, ich bin ein Sünder und habe Schreckliches getan – und werde es auch weiter tun. So bin ich nun einmal und bereue nichts. Wenn Du jetzt glaubst, in dieser Geschichte suche ich Vergebung oder ein warmes Licht, das die Kälte in meinem Innern vertreibt, dann täuschst Du Dich. Das wird niemals geschehen. Ich bin zufrieden mit mir, so wie ich bin.
1
Teach
Es gibt Momente im Leben, da glaubst du, das Richtige zu tun, nur um dann festzustellen, dass deine Entscheidung falsch war und dich viel kosten wird. Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen, den Fehler nicht ungeschehen machen, egal wie sehr ich mir das wünsche. Der Schmerz ist mein ständiger Begleiter, und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann.
Ich hätte nicht auf meine Zwillingsschwester hören, sondern bei ihr bleiben sollen. Jetzt ist es zu spät, und ich werde sie nie wiedersehen. Kim ist tot und kommt nicht zurück. Es tut weh, und ich vermisse sie jeden einzelnen Tag. Es fühlt sich an, als hätte jemand unsere besondere Verbindung gekappt, die schon im Mutterleib bestand. Ich fühle mich unvollständig ohne sie. Mein Kopf versucht das immer noch zu begreifen, und mein Herz weigert sich ihren Tod zu akzeptieren. Manchmal sehe ich sie vor mir, mit ihrem frechen Lachen, ihren langen blonden Haaren, die stets einen Tick heller waren als meine. Nachts liege ich wach, denke an die letzten Sekunden, die wir gemeinsam verbracht haben, und male mir aus, was geschehen wäre, wenn ich mich anders entschieden hätte. Ich bereue es, bereue es zutiefst.
Emilys sanfte Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. »Bist du nervös wegen morgen?«
Sie kommt in mein Zimmer und legt die Post auf den Schreibtisch.
»Ein wenig«, gebe ich zu und wende mich vom Fenster ab.
»Du wirst sehen, mit der Zeit wird alles leichter, versprochen.« Sie tritt neben mich und schlingt ihren Arm um meine Schulter. »Ich bin mir sicher, dass die Kinder sich auf dich freuen. Sieh dir nur die tollen Grußkarten an.« Sie deutet zu der Schnur, die wir quer durch mein Zimmer gespannt haben. Daran sind die selbstgemalten Karten meiner Schüler befestigt. Die Aufmunterung meiner Klasse kam zum richtigen Zeitpunkt. Mit bunten Farben haben sie Blumen, Herzen und witzige Sachen gemalt, die mich auf andere Gedanken bringen sollen. Und das haben sie.
Ich schaue meine Cousine an. Sie sieht glücklich aus. Nach allem, was in den letzten Monaten geschehen ist, hat sie ein wenig Glück verdient.
Ich nehme ihre Hand. »Danke, Em. Danke, dass du das alles mit mir durchgestanden hast. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen würde.«
»Hey, ist doch klar, dass ich zu dir halte, egal was geschieht. Immer.«
Wir umarmen uns.
Em ist die Einzige, die weiß, wie es in mir aussieht. Sie war die ganze Zeit an meiner Seite, war meine Stütze, hat mich nicht mit meiner Trauer allein gelassen und sogar meinen Eltern die Stirn geboten. In den dunklen Tagen, die hinter mir liegen, war sie immer für mich da. Dafür bin ich ihr dankbar.
»Und? Hast du wieder einen neuen Zettel von dem Unbekannten bekommen?« Sie deutet auf das große Einmachglas auf meinem Schreibtisch. Darin befinden sich unzählige gefaltete Papierstücke, die ich seit Monaten überall finde. Irgendjemand hinterlässt sie an den verschiedensten Orten. Es sind wunderschöne handgeschriebene, Mut machende und Trost spendende kleine Nachrichten.
»Ja. Diesmal war einer auf der Gartenterrasse.« Ich gehe hinüber, öffne das Glas, suche das Stückchen Papier heraus und lese ihr vor.
62. Liebe Teach, lange habe ich darauf gewartet – du wagst dich in dein Leben zurück. Du wirst atmen, vertrauen lernen und irgendwann wieder lächeln können.
»Das ist wunderschön, Teach. Und du weißt nach wie vor nicht, von wem diese Zettelchen sind?«
»Nein.«
»Denkst du immer noch, sie könnten von Silent kommen?«
Ich zucke die Schultern. »Ich weiß es nicht … Ich hoffe es.«
Em kneift nachdenklich die Lippen zusammen, während sie einen der Papierstreifen aus dem Glas nimmt. »Irgendwie kann ich mir das nicht vorstellen. Silent ist zu verschlossen, zu ruhig. Obwohl …?«
Das stimmt, aber stille Wasser können tief sein. Jedenfalls gefällt mir die Idee, dass er dahintersteckt. »Wer auch immer es ist, ich fühle mich auf eine seltsame Art mit ihm verbunden.«
»Im Prinzip könnte es jeder sein«, meint Em achselzuckend. »Ganz Elisabethtown kennt dich, erst recht, nachdem die Presse unsere Geschichte ausgeschlachtet hat.«
»Auch das stimmt, aber ehrlich gesagt ist mir das inzwischen egal. Die Inhalte dieser Nachrichten sind so …« Ich suche nach den passenden Worten.
»Berührend und … irgendwie süß«, ergänzt sie grinsend.
Ich lächle. »Ja. In vielen Momenten haben die Zettelchen mich getröstet.«
»Und das ist das Wichtigste.« Emilys Blick gleitet zum Telefon. »Dein Anrufbeantworter blinkt.«
»Lass ihn blinken.« Ich winke genervt ab. »Das ist nur meine Mutter.«
»Sitzt sie dir wegen dem Verkauf des Hauses immer noch auf der Pelle?«
»Ja und nicht nur deshalb.«
Sie schüttelt verständnislos den Kopf. »Weiß sie, dass du entschieden hast, vorerst hierzubleiben?«
Seufzend, weil ich diese Hürde noch vor mir habe, setze ich mich aufs Bett. »Nein.«
Emily zieht die Brauen in die Höhe. »Oh, oh!«
Sie ahnt wie ich, dass die Auseinandersetzung in einer Katastrophe enden könnte.
Das Verhältnis zu meinen Eltern war vorher schon schlecht und alles andere als herzlich, aber seit der Sache an der Bluegrass-Mühle hat sich viel verändert. Sie wollen sämtliche Verbindungen zu Kim loswerden. So auch unser Haus, in dem meine Zwillingsschwester und ich aufgewachsen sind und bis zuletzt gelebt haben. Ich versuche mir einzureden, dass es eben ihre Art ist, mit unserem Verlust umzugehen, doch verstehen kann ich das nicht. Sie sind reich, besitzen mehrere Immobilien und sind darauf überhaupt nicht angewiesen. Ich will mich nicht davon trennen.
»Du solltest ihnen sagen, dass du erst mal hierbleibst, Elisabethtown nicht verlässt, weiter als Lehrerin arbeitest und ein Dach über dem Kopf brauchst. Sie können dich ja nicht zwingen, hier alles aufzugeben.«
Ich kenne meinen Vater. Er wird toben. »Ich krieg das schon irgendwie hin«, versichere ich zuversichtlich, weil ich nicht länger über dieses Thema sprechen will. »Wie laufen die Vorbereitungen für das Barbecue?«
»Gut. Conchita ist in ihrem Element. Du weißt ja, wie gern sie für Mads Partys kocht. Du kommst doch, oder?«
Ich presse die Lippen aufeinander. »Ich weiß nicht.«
Em macht ein bestürztes Gesicht.
»Teach! Du hast es mir versprochen«, jammert sie und schiebt schmollend ihre Unterlippe vor.
Erneut seufze ich und stehe vom Bett auf, um wieder ans Fenster zu treten. Denn draußen befindet sich der wahre Grund, warum ich Hemmungen habe, zu Emilys und Mads Barbecue zu kommen – Silent.
Sein schwarzer SUV parkt am Straßenrand. Natürlich nicht direkt vor unserem Haus, sondern mit etwas Abstand. Seit der schrecklichen Nacht an der Bluegrass-Mühle ist er ständig in meiner Nähe. Inzwischen habe ich so was wie einen sechsten Sinn für ihn entwickelt. Ich spüre seine Anwesenheit, merke es durch ein angenehmes Kribbeln im Bauch. Am liebsten würde ich die Geschehnisse der Galanacht ausradieren, um mit ihm zusammen zu sein. Das hat uns getrennt, dafür gesorgt, dass eine unsichtbare Mauer zwischen uns entstanden ist. Vor Kims Tod war ich ziemlich verliebt in ihn, war fasziniert von dem talentierten Bartender, dessen Loyalität uneingeschränkt seinem besten Freund Mad gehört. Abgesehen von der Beanie-Mütze und dem Vollbart, den er immer trägt, mag ich seine ruhige und stille Art. Ich mag es, wie er mich ansieht und meine Gegenwart ihn nervös macht. Obwohl er nie viel spricht, hat er mir das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein, ohne aufdringlich zu wirken. Silent ist ein ungewöhnlicher Mann. Bei ihm kann ich ich selbst sein.
Doch alles änderte sich in nur einer Nacht. Seit der Tragödie vor einem Jahr haben wir nicht mehr miteinander geredet, sind uns aus dem Weg gegangen, und wenn wir uns sahen, waren es nur stumme Blicke, die wir uns zuwarfen. Zwischen uns war kein Streit oder eine Meinungsverschiedenheit. Kims Tod hat uns einfach auseinandergerissen. Ich habe Angst, durch ihn noch mehr Details über Kims Tod zu erfahren, denn er und Emily waren unmittelbar dabei. Sie wissen, was Kim in den letzten Minuten gefühlt, gesagt und getan hat. Dieses Wissen könnte ich nicht ertragen, weshalb ich darüber niemals spreche, auch mit Emily nicht.
Trotz allem vermisse ich Silent und habe ein schlechtes Gewissen. Ich sollte diese lächerliche und hirnrissige Barriere zwischen uns abbauen. Emily meint, ich soll mir endlich einen Ruck geben, es tun und abwarten, wie es sich entwickelt. Eine gute Gelegenheit, uns wieder anzunähern, wäre das Barbecue, das sie und Mad veranstalten.
Ich bin lange nicht mehr ausgegangen, war bei keinem Fest und habe mich vollkommen zurückgezogen. Nur ab und an ging ich mit Em spazieren oder Besorgungen machen, aber es trieb mich jedes Mal schnell nach Hause, da das Interesse der Presse ungebrochen ist und ich die mitleidigen Blicke der Leute nicht ertragen kann.
»Du machst jetzt keinen Rückzieher, Pamela Westham«, sagt Em mit warnendem Unterton. »Ich rechne fest mit dir.« Sie schlüpft in ihre Jacke. »Außerdem habe ich eine Überraschung für dich.«
Ermüdet verziehe ich das Gesicht. »Nein, Em. Du weißt, dass ich kein Fan von Überraschungen bin.«
»Diese wirst du mögen.« Freudestrahlend kommt sie auf mich zu und drückt mir einen Kuss auf die Wange. »Ich werde dann mal losfahren. Mad und ich wollen uns mit einem Spirituosenhändler treffen. Also, bis morgen in Mads Villa. Und ich erwarte einen ausführlichen Bericht über deinen ersten Schultag nach deiner Auszeit.«
Lächelnd sehe ich ihr nach, wie sie über die Treppe zur Eingangshalle hinuntergeht, sich noch einmal zu mir umdreht und mir einen Handkuss zuwirft, bevor sie die Tür hinter sich zuzieht.
Wieder in meinem Zimmer trete ich an den Schreibtisch und schaue die Briefe durch, während ich das Blinken des Anrufbeantworters geflissentlich ignoriere. In der Post ist nichts Interessantes dabei. Ein Umschlag ist vom Immobilienbüro, das mein Vater mit dem Hausverkauf beauftragt hat, und Werbung. Die werfe ich gleich mit dem Briefumschlag in den Müll. Anschließend gehe ich hinunter in den Salon, drücke den Knopf des Anrufbeantworters, damit ich auch diesen lästigen Teil hinter mir habe, und lasse das Band laufen, solange ich mir in der Küche ein Sandwich mache.
Piep …
»Pamela? Hier spricht deine Mutter … Pam? Geh schon ran, ich weiß, dass du da bist …« Sie legt auf, aber beim nächsten Signalton ist sie es erneut.
»Pamela, der Makler hat uns kontaktiert. Er hat uns mitgeteilt, dass du alle Termine bis auf Weiteres abgesagt hast. Ich erwarte eine Erklärung. Ruf mich sofort an, ja?«
Piep …
»Junge Dame, du weißt, wie fuchsteufelswild dein Vater werden kann, wenn man ihn reizt. Willst du, dass er dir noch mehr Unterstützung streicht? Also, kümmere dich um den Hausverkauf. Wir brauchen den Kasten nicht, er verschlingt unnötig Geld, und da sich unser aller Situation geändert hat, hat er keinen Wert mehr für uns. Außerdem kommst du zu uns nach Santa Barbara und wirst keine Zeit für das Haus haben. Es ist nur eine Belastung – für uns alle.«
Wütend knalle ich das Messer, mit dem ich die Mayonnaise auf meinem Sandwich verteilt habe, auf die Arbeitsfläche, laufe hinüber zum Anrufbeantworter und drücke energisch den Knopf, um sie nicht mehr ertragen zu müssen.
Eine Belastung? … Keinen Wert? Wie können sie so herzlos sein? Kim und ich sind hier aufgewachsen, haben unsere Kindheit und Jugend in diesem wertlosen Kasten verbracht. Aber was rege ich mich auf. Das können sie nicht verstehen, sie waren nie da, hatten stets die Firma im Sinn und spielten nur die heile Familie, sobald sie sich einen geschäftlichen Vorteil davon versprachen. Tante Kendra, Ems Mom, war mehr eine Mutter für Kim und mich als meine eigene, verdammt noch mal!
Verärgert nehme ich mein Sandwich, stapfe hinauf ins Badezimmer und lasse mir ein Bad ein. Ich sollte mich nicht länger aufregen. Meine Eltern werden sich nie ändern. War es eine Illusion, zu glauben, dass Kims Tod uns einander näherbringen könnte? Definitiv. Ich habe es gehofft, aber das war Wunschdenken.
Seit Monaten hat sich unsere Beziehung weiter verkompliziert. Wochenlang hat mein Vater seine Anwälte auf die McKinleys gehetzt. Vor allem Maddox hatte deshalb Probleme. Am schlimmsten war für sie, dass ich mich auf Emilys und Mads Seite gestellt habe. Das war in den Augen meiner Eltern der größte Verrat, da unsere Familien seit Jahrzehnten verfeindet sind. Mein Vater strafte mich, indem er mir das Auto wegnahm, unsere Haushälterin feuerte und mir den Zugang zum Konto sperrte, auf das Kim und ich Zugriff hatten. Irgendwann brach ich ein und versprach, zu ihnen nach Santa Barbara zu ziehen. Sie erklärten sich sogar einverstanden, dass ich weiter als Lehrerin arbeiten könnte und nicht den Platz in der Geschäftsführung der Firma meines Vaters annehmen muss. Aber als ich erfuhr, dass sie unser Haus verkaufen wollen, geriet ich in Panik. Es abzustoßen und Elisabethtown den Rücken zu kehren, bedeutet für mich, alle Erinnerungen und Kim für immer loszulassen und ihren Tod zu akzeptieren. Nein. Das kann und werde ich nicht zulassen. Obwohl ich keine Ahnung habe, wie ich mit dem kleinen Lehrerinnengehalt die monatlichen Kosten aufbringen soll, konnte ich nicht anders und warf alle Pläne über den Haufen. Dafür muss ich erneut mit der Härte meines Vaters rechnen, sobald er erfährt, dass ich mich umentschieden habe.
Ich seufze tief, stopfe mir den letzten Krümel Sandwich in den Mund und steige in die Wanne. Als das warme Wasser meinen Körper umspült, verbanne ich Mutters Anrufe, die Geldsorgen und all den anderen Kram aus meinen Gedanken und lehne mich entspannt zurück. Mit geschlossenen Augen genieße ich das heiße Badewasser und den zarten Duft nach Vanilleblüten, der mir sanft in die Nase steigt.
Ich nehme ein typisches Knacken im Gebälk des Hauses wahr. Wassertropfen platschen hin und wieder in die Wanne, die ich mit dem großen Zeh in die Öffnung der Badewannenarmatur zurückzudrücken versuche. Es ist herrlich still.
Die friedliche Stimmung endet, als ich es unten poltern höre. Etwas schläfrig rede ich mir ein, dass das bestimmt Tilly ist. In dem Moment als mir klar wird, dass meine Eltern sie entlassen haben, reiße ich erschrocken die Augen auf. Scheiße! Jemand ist im Haus.
***
Abrupt setze ich mich auf. Das Wasser schwappt über den Rand, Angst kriecht in mir hoch. Emily hat zwar einen Schlüssel, aber sie kommt nie ohne Klingeln oder Anmeldung. Mit klopfendem Herzen steige ich aus der Wanne, schnappe mir einen Bademantel, schlüpfe eilig hinein und schleiche in den Flur. Draußen sind die Geräusche deutlicher zu hören, und ich spüre, wie kühle Herbstluft über meine nasse Haut streicht. Ich wage einen Blick ins Treppenauge. Schatten bewegen sich unten, und diesmal wird das Poltern von einem lauten Schnaufen begleitet.
Angst greift nach mir, und ich drücke mich an die Wand. Meine Kehle wird trocken, doch dann vernehme ich eine vertraute Stimme. »Danke, das wäre alles, Gustavo … PAMELA …?«
Vor Erleichterung entspannen sich meine Schultern. Mutter!
Nachdem ich mich von dem Schock erholt habe, laufe ich die Treppen hinunter. Das Klackern ihrer Schuhe hallt durch den Eingangsbereich, als sie gerade aus dem Salon kommt. Wie üblich ist sie schick gekleidet. Sie trägt einen eleganten Pelzmantel, der für diese Jahreszeit völlig übertrieben ist, für sie typisch hochhackige Pumps, ihre Prada-Handtasche in der einen und ihren Zigarillo in der anderen Hand.
»Mutter?« Verwundert bleibe ich auf der untersten Treppenstufe stehen.
»Ah, meine Tochter. Da bist du ja.«
»Was machst du denn hier?«
»Hast du meine Nachrichten nicht abgehört? Ich habe mehrmals angerufen, aber du scheinst kein Interesse zu haben, mit mir zu sprechen. Bei einem meiner letzten Anrufe habe ich dich über meinen Besuch informiert und gebeten, alles in die Wege zu leiten. Wo ist Tilly? Ist mein Schlafzimmer bereit? Ich würde mich gern nach der langen Reise etwas ausruhen.«
Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus und verschränke die Arme.
»Tilly? Ihr habt sie entlassen«, sage ich in vorwurfsvollem Ton und ein wenig triumphierend, da sie das offensichtlich vergessen hat und sich nun um alles selbst kümmern muss.
»Oh!«
Ich grinse böse und hebe die Brauen. »Was machst du hier, Mutter? Ich dachte, du bist mit irgendeiner Yacht auf dem Mittelmeer unterwegs.«
»Das war ich auch, aber manchen Angelegenheiten muss man sich eben persönlich widmen. Wieso bist du um diese Tageszeit nicht angezogen?« Ihre Augen wandern über meinen Bademantel.
»Ich lag gerade in der Wanne.«
»Schön, schön«, sagt sie mit einer wegwerfenden Handbewegung und stolziert zurück in den Salon.
Ich folge ihr. »Was meinst du mit ›Angelegenheiten‹?«
»Da du es nicht für nötig gehalten hast, mich zurückzurufen, werde ich mich um die Sache mit dem Haus selbst kümmern. Bis wann wirst du Elisabethtown verlassen?«
Fassungslos muss ich mich setzen. Ich hatte gehofft, noch etwas Zeit zu haben, um eine Lösung zu finden, wie ich den Verkauf verhindern kann. Nach der Anzahl von Mutters Koffern hat sie nicht vor, schnell wieder abzureisen. Gott! Das ist ein Albtraum! Wenn ich ihr jetzt auch noch sage, dass ich vorerst hierbleiben werde, wird sie ausrasten.
»Ich weiß es nicht«, weiche ich ihrer Frage aus und hoffe, dass sie sich damit zufriedengibt. Dabei kenne ich sie gut genug, um zu wissen, dass so eine Antwort alles andere als akzeptabel für sie ist.
Sie dreht sich zu mir um. »Was soll das heißen, Pamela?«
Ich hasse es, wenn sie mich beim Vornamen nennt. Sie klingt dann strenger, als sie sowieso schon ist.
»Das bedeutet, dass ich den Plan, nach Kalifornien zu gehen, nochmals aufgeschoben habe«, erwidere ich mit fester Stimme und wappne mich innerlich, dass sie gleich wie ein Vulkan ausbrechen wird. Und das tut sie.
»Bist du verrückt geworden? Steckt deine Cousine etwa dahinter?« Verständnislos schüttelt sie den Kopf. »Es wird höchste Zeit, dass ich ihr mal ein paar Takte sage.«
»Emily hat nichts damit zu tun«, verteidige ich sie. »Das ist allein meine Entscheidung.«
»Ich fasse es nicht. Und wie stellst du dir das vor? Willst du weiter als Lehrerin an dieser Schule arbeiten?«, schreit sie mich an, und in ihren Worten schwingt ein Hauch von Panik mit.
Mir entgeht nicht, wie abwertend sie über meinen Beruf spricht. Für meine Eltern war es damals ein ziemlicher Schock, dass ich den Studienplan, den mein Vater sich für mich ausgedacht hat, verworfen habe, um andere Wege zu gehen.
Mutig hebe ich den Kopf. »Ja, genau das werde ich tun. Deshalb dürft ihr das Haus nicht verkaufen.«
Mutter steht da, als wäre sie zur Salzsäule erstarrt. »Das kann unmöglich dein Ernst sein, Pamela Louise! Du kannst nicht hierbleiben. Das ist nicht dein Platz. Wie oft sollen dein Vater und ich dir noch sagen, dass du etwas Besseres aus dir machen solltest.«
Ich kneife mir an den Nasenrücken, weil mich die alte Leier so nervt. »Bitte, Mutter, ich habe mich entschieden Lehrerin zu werden, weil ich die Arbeit mit den Kindern liebe. Es ist das, was ich immer wollte. Findet euch endlich damit ab.«
»Das kannst du nicht wirklich wollen. Du könntest ein märchenhaftes Leben führen, an der Seite deines Vaters das Unternehmen leiten und es irgendwann ganz übernehmen. Das ist dein rechtmäßiger Platz. Männer würden Schlange stehen, reiche, attraktive Männer.«
Wütend erhebe ich mich und gehe im Salon umher.
»Und was dann? Ich heirate, bekomme Kinder, für die ich keine Zeit habe, und entdecke eines Tages, dass meine ach so gute Partie mich ständig betrügt? Dann mache ich es wie du, gondle durch die Welt und vernachlässige meine Kinder. Das ist das Leben, das du für mich aussuchen würdest? Schau dich doch an, Mutter! Du bist ein einsamer, verbitterter Snob! Ich will auf keinen Fall so werden wie du«, platzt es aus mir heraus.
Ich weiß, es ist nicht fair, ihr den Spiegel vorzuhalten, aber ich kann nicht anders. Seit Kims Tod streiten wir, aber ich habe es noch nie gewagt, ihr die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.
Ihre Reaktion folgt prompt. »Hüte deine Zunge, junge Dame.« Sie verzieht ihren Mund zu einem schmalen Schlitz. Daraufhin wendet sie sich vermeintlich verletzt von mir ab und schlendert zum Fenster. »Du hast keine Ahnung von meinem Leben. Habe ich nicht alles für dich und Kim getan? Ihr hattet alles, ihr konntet reisen, hattet ein schönes Haus, Autos, Geld. Was habe ich nur bei dir falsch gemacht?«
Ich versuche mich zu beruhigen und zähle leise bis zehn, so wie ich es den Kindern in der Schule beibringe, wenn sie wütend sind. Es funktioniert, und ich schlucke meinen Ärger hinunter. »Meine Entscheidung steht, Mutter. Entweder akzeptiert ihr das, oder ihr lasst es. Da ihr Tilly gefeuert habt, wirst du dein Schlafzimmer selbst herrichten müssen.«
Damit haste ich hinaus und lasse sie im Salon allein zurück.
Ich laufe die Stufen hinauf und höre, wie sie mir sauer nachkommt.
»Wir haben noch nicht das letzte Wort gesprochen. Hörst du?«, ruft sie, aber darauf antworte ich nicht, knalle meine Zimmertür zu und schließe von innen ab. Kurze Zeit später will ich wieder in die Wanne steigen, doch das Wasser ist genauso eisig geworden wie das Herz meiner Mutter. Ich erschauere und beschließe zu duschen. Danach schicke ich Emily eine Nachricht.
Teach 16.25 Uhr
Achtung! Achtung! Wichtige Meldung:
Der Mutterdrachen ist gelandet und hat schon Feuer gespuckt.
Em 16.26 Uhr
Ach herrje! Soll ich die Feuerwehr rufen oder ist der Brand inzwischen gelöscht?
Teach 16.27 Uhr
Alles gut. Hab mich im Zimmer verbarrikadiert, nachdem ich ihr gesagt habe, dass ich in Elisabethtown bleiben werde.
Em 16.27 Uhr
Wie hat sie es aufgenommen?
Teach 16.28 Uhr
So wie man es von einem Drachen erwartet: Sie hat Feuer gespuckt und hätte sich beinahe daran verschluckt. Ich erzähle es dir, sobald wir uns sehen. Kuss Teach
2
Teach
Es ist mein erster Schultag nach Monaten meiner Auszeit. Ich bin nervös und weiß nicht, wie ich den Alltag bewältigen werde. Noch einmal lese ich mir den kleinen Zettel durch, den ich auf dem Tisch im Garten gefunden habe.
Liebe Teach, lange habe ich darauf gewartet – du wagst dich in dein Leben zurück. Du wirst atmen, vertrauen und irgendwann wieder lächeln können.
Ich grinse, weil der Schreiber oder die Schreiberin recht hat. Als ich die Schule betrete, merke ich, wie sehr mir die Kinder gefehlt haben. Die Kids haben mir einen wirklich netten Empfang bereitet. Sie haben ein Lied vorgetragen, und jedes Kind hat mich mit einer Blume willkommen geheißen. Ich war gerührt, habe Vertrauen gefasst und konnte durchatmen, genau wie es auf dem Zettel geschrieben stand. Und weil ich nicht gleich am ersten Tag mit dem Lernstoff weitermachen wollte, beschloss ich, dass die Kinder malen oder basteln durften.
Es ist still im Klassenzimmer, während ich am Fenster stehe und den Herbst bewundere. Innerhalb kürzester Zeit haben sich die Blätter bunt gefärbt. Nach den vielen Regentagen vertreibt die Sonne endlich die dicken Wolken, und alles sieht freundlicher aus.
»Lauf, Teach! Lauf, so schnell du kannst!«, schreit Kim voller Inbrunst und windet sich in den Armen unseres Peinigers. Er versucht ein Tuch auf ihren Mund zu pressen, während sie sich nach Leibeskräften wehrt. Wie erstarrt stehe ich da, zittere am ganzen Körper und weiß nicht, was ich tun soll. Es ist stockdunkel, und ich habe keine Ahnung, wo wir uns befinden. Ich werfe einen kurzen Blick ins Wageninnere und erkenne den Schatten meiner Cousine Emily auf dem Beifahrersitz. Ihr Kopf ruht bewegungslos an der Fensterscheibe. Ich bete, dass er ihr nichts angetan hat.
»Lauf los, Teach! Jetzt!«, schreit Kim mich erneut an. In ihren Augen steht Angst, und in ihrer Stimme liegt ein Flehen, das mir durch Mark und Bein geht. Ich zögere. Ich kann sie doch nicht zurücklassen. Nicht bei diesem Scheißkerl. Mein Herz rast, meine Gedanken überschlagen sich, während das Adrenalin durch meine Venen rauscht und mir klar wird, dass ich Hilfe holen muss. Es fällt mir unsagbar schwer, meine Cousine und Kim zurückzulassen, aber ich habe keine andere Wahl. Als Kims flehender Blick mich ein letztes Mal trifft, setzen sich meine Beine in Bewegung, und ich haste orientierungslos in den Wald. Es ist so dunkel, dass ich nur die Baumstämme in meiner unmittelbaren Nähe ausmachen kann. Die Luft ist kühl, und es riecht nach Erde. Ich höre ihn. Er flucht und brüllt mir Drohungen hinterher. Keuchend renne ich durch die Finsternis. Der Waldboden ist vom Regen aufgeweicht, meine Füße versinken im Matsch, und der Rock meines Abendkleids verheddert sich zwischen meinen Beinen. Ich stolpere, falle.
»Teach! Teach!«, singt er gedehnt meinen Namen, als wollte er ein Kind anlocken. »Du kannst mir nicht entkommen.« Der Lichtstrahl einer Taschenlampe leuchtet auf, und seine Schritte nähern sich. In Panik verstecke ich mich hinter einem Baumstamm und versuche verzweifelt meinen Atem zu kontrollieren.
»Komm zurück, und ich werde deiner Schwester und Emily nichts tun.« Jedes Kind weiß, dass er lügt. Er würde alles sagen, um seinen Plan durchzuziehen. »Ich kann deine Angst riechen, Teach!« Er lacht gehässig, und mein Herzschlag donnert heftig gegen meine Brust. Ich schicke ein Stoßgebet gen Himmel, dass er mich nicht entdeckt. Panisch presse ich mich fester an den Baum.
Ich denke an Kim und Em und frage mich, was der Dreckskerl vorhat. Wie konnte er uns alle hintergehen? Angst pumpt durch meine Venen, und der Sauerstoff in meinen Lungen ist aufgebraucht. Vorsichtig spähe ich am Stamm vorbei. In einiger Entfernung sehe ich sein Taschenlampenlicht leuchten und will erleichtert aufstöhnen, weil er in eine andere Richtung läuft. Aber ich bin mucksmäuschenstill und behalte ihn im Auge, bis er mit der Dunkelheit verschmilzt. So leise wie möglich atme ich aus. Ich kann mich kaum auf den Beinen halten und ermahne mich, jetzt nicht hysterisch zu werden. Angestrengt lausche ich und fixiere den winzigen Lichtstrahl, der wieder näher kommt.
Er läuft zurück.
Zu mir.
Ich muss los.
Jetzt.
Sofort.
Ich raffe meinen Rock und renne.
Ich weiß, dass das Geräusch der knackenden Äste mich verrät, doch darauf achte ich nicht und hetze, so schnell ich kann. Ungeachtet dessen suche ich verzweifelt einen Weg aus dem Wald hinaus. Seitenstechen kündigt sich an. Plötzlich komme ich ins Schlingern, mein Fuß tritt ins Leere, und ich stürze eine Böschung hinunter. Das Laub federt meinen Körper ab, aber mit der nackten Schulter knalle ich gegen einen Felsen. Schmerz durchfährt mich, und ich bleibe einen Moment liegen. Auf allen Vieren schleppe ich mich mühsam vorwärts, stehe auf und renne weiter. Kurz darauf muss ich wieder pausieren und stütze mich mit den Händen auf den Knien ab, um zu Atem zu kommen. Ich bin müde, meine Beine fühlen sich wie Pudding an, nur der Gedanke an meine Schwester und Emily treibt mich voran.
Ist er noch hinter mir? Ich höre ihn nicht, schaue mich um und entdecke eine Lichtung. Dort muss ich hin. Gerade als ich loswill, packen mich plötzlich kräftige Arme. Ich schreie, doch sofort presst sich eine Hand auf meinen Mund. Wild schlage ich um mich, trete, aber ich habe keine Chance.
Er hat mich.
»Beruhige dich!«, höre ich eine tiefe, sanfte Männerstimme, die mir vertraut ist. Im selben Augenblick reißt der Nachthimmel auf, und das Mondlicht erleuchtet sein Gesicht. Ich blicke in Silents dunkle Augen, erkenne seinen Bart und nehme seinen Duft wahr. Die Anspannung fällt von mir ab, schluchzend lasse ich mich gegen seine Brust fallen. Er drückt mich an sich, und dann geben meine Beine endgültig nach. In Tränen aufgelöst sacke ich zusammen, aber Silent hält mich in seinen Armen.
»Er hat uns entführt. Er ist hinter mir her, hat Em und Kim in seiner Gewalt«, sage ich weinend.
»Sch …! Alles wird gut, Teach. Wo ist er?«
»Du musst die Polizei rufen«, wimmere ich außer Fassung. »Er sucht mich.« Zitternd deute ich in den Wald. »Er hat meine Familie. Er hat sie!«
»Sch … Ich bringe sie dir zurück. Versprochen.« Seine Worte sind wie Balsam und legen sich wie Honig auf meine Seele. »Ich bringe sie dir zurück, Teach. Versprochen.«
Versprochen … Versprochen … Versprochen …
»Iieh … Mia! Hör auf damit! Das ist eklig. Mrs. Teach …!«
Irritiert von der Kinderstimme schiebe ich die dunkle Erinnerung beiseite. Ich sollte nicht daran zurückdenken – nicht bei der Arbeit, nicht hier im Klassenzimmer bei den Kindern. Es wird Zeit, wieder am Leben teilzunehmen, die Vergangenheit hinter mir zu lassen und nach vorn zu schauen. Das zumindest sagen Emily und meine Psychologin. Heute ist mein erster Arbeitstag nach der Tragödie an der Bluegrass-Mühle, und obwohl ich mich auf die Kids und meine Kollegen gefreut habe, spüre ich deutlich, dass ich noch nicht bereit dazu bin. Ich will nicht loslassen, denn das würde bedeuten, Kims Tod zu akzeptieren.
Ich wende den Blick vom Fenster ab und sehe zu Sophia, die mit erbostem Gesicht die hinter ihr sitzende Mia anstiert.
»Hey! Was ist denn los?«, will ich wissen und gehe zu ihnen.
»Mrs. Teach, Mia ärgert mich.«
Es gefällt mir, dass die Kinder mich mit meinem Spitznamen ansprechen. Gleich in meiner ersten Schulstunde haben wir damals eine Fragerunde gemacht. Dabei habe ich ihnen verraten, dass meine Freunde mich Teach nennen. Das schien den Kids zu gefallen, und seither bin ich nicht Mrs. Westham, sondern Mrs. Teach für sie, was ich wirklich süß finde.
»Mia bewirft mich mit Nasenpopeln«, beschwert sie sich erneut und verzieht angewidert den Mund.
Die Klasse kichert.
»Stimmt gar nicht. Sie lügt«, verteidigt sich Mia.
»Tust du wohl. Da.« Sophia deutet auf etwas Gelbgrünes, das auf dem Boden verteilt liegt, und einiges davon klebt in ihren Haaren. Tatsächlich sieht es aus wie getrocknetes Nasensekret.
Ich seufze. »Mia?«, frage ich, warte auf eine Erklärung und sehe sie tadelnd an. Die Sechsjährige ist schon vor meiner Auszeit durch ihr Verhalten aufgefallen. Sie kam während des laufenden Schuljahrs in meine Klasse und tat sich bei der Eingewöhnung schwer. Offensichtlich hat sich daran nichts geändert, und sie hat noch immer keinen Anschluss gefunden. Erst jetzt bemerke ich, wie sie ihre Hände unter der Bank versteckt, als hätte sie etwas zu verbergen. »Zeig mir mal deine Finger.«
»Wieso? Ich hab nix.« Sie setzt eine Unschuldsmiene auf, aber ich durchschaue sie, hebe eine Braue und sehe sie abwartend an.
Als sie merkt, dass sie aus der Nummer nicht mehr herauskommt, rollt sie mit den Augen und holt sie hervor. Allerdings zeigt sie nur ihre Handrücken. Ich drehe ihre Hände um und entdecke auf ihren Handinnenflächen Kleberreste. Ich erinnere mich, dass Kim solche Spielereien früher auch gemacht hat. Man nehme einen flüssigen Kleber, gebe eine ordentliche Portion auf die Handfläche und lasse ihn trocknen. Sie hat es geliebt, die Kleberfetzen abzuziehen und zwischen den Fingern zu reiben. Die sahen dann aus wie Nasenpopel.
Nichtsdestotrotz muss ich reagieren und fordere stumm die Herausgabe der Klebstofftube. Mia schnauft und rückt, wenn auch etwas widerwillig, die Tube heraus.
Im Augenwinkel bemerke ich das triumphierende Grinsen von Sophia.
»Warum hast du das getan, Mia?«
Das kleine Mädchen mit den schulterlangen Haaren hält ihren Blick gesenkt und sagt kein Wort. Ich bin mir aber sicher, dass Sophia nicht so unschuldig ist, wie sie vorgibt.
Genau in dem Augenblick, als ich überlege, wie ich die Situation klären soll, nimmt mir die Schulglocke die Entscheidung ab und erinnert mich an das Gespräch mit Direktor Wellington. Sofort springt Mia auf und will aus dem Zimmer eilen.
»Halt, Mia! Bleib bitte einen Moment, ja?«
»Aber Mrs. Teach, es ist große Pause«, beschwert sie sich und schielt hinaus in den Schulflur.
»Ich weiß«, erwidere ich lächelnd.
Als wir allein sind, drücke ich ihr einen Besen in die Hand. Die Kleine lässt enttäuscht die Schultern hängen, schnaubt abfällig und beginnt den Boden zu fegen. Als sie fertig ist, klopft sie die Klebekrümel in den Mülleimer.
»Danke, dass du so schnell wieder sauber gemacht hast.« Ich schenke ihr ein freundliches Lächeln.
»Kann ich jetzt gehen?«
»Gleich.«
Mia zuckt teilnahmslos mit den Schultern.
»Sag mal, warum ist Sophia nicht deine Freundin?«
Sie schaut zu Boden. »Weil sie blöd ist.«
Um dem kleinen Mädchen mit den wunderschönen grünen Augen ein Gefühl von Sicherheit zu geben, setze ich mich auf den Stuhl vor sie und nehme ihre Hand. »Was hat Sophia getan?«
Ruhe erfüllt den Raum, bevor sie antwortet.
»Sie ist gemein zu mir und ärgert mich immer«, platzt es aus ihr heraus. »Alle tun das«, fügt sie leiser hinzu, und mit einem Mal wird mir bewusst, wie traurig sie sein muss. »Sie lachen über mich und sagen schlimme Dinge.«
Die Problematik ist größer, als ich angenommen habe.
»Was für Dinge?«, will ich vorsichtig wissen.
Eine dicke Träne rollt über Mias Wange, und ich spüre, wie das Mädchen mit sich ringt.
»Du kannst mir alles sagen, Mia. Ganz egal, was es ist. Ich höre dir zu.«
Sie wischt sich die Tränen weg, meidet aber meinen Blick. »Kann ich gehen, Mrs. Teach?«
Einige Sekunden verstreichen, während ich die Kleine nachdenklich mustere. Es macht keinen Sinn, sie unter Druck zu setzen. Fakt ist jedoch, dass ich das Gefühl habe, mich um das Problem kümmern zu müssen. »Ja, geh in deine Pause.«
Woher sie das Lächeln so schnell nimmt, ist mir ein Rätsel. Grübelnd packe ich meine Schultasche und die Blumen, die mir die Kinder heute Morgen geschenkt haben, und freue mich auf einen Kaffee, den ich dringend brauche.
***
Laut schnatternd höre ich die Schüler im Pausenhof herumtoben, während ich den Schulflur zum Lehrerzimmer entlanggehe. An den Wänden vor den Klassenräumen hängen überall bunte Herbstbilder, die sie gemalt haben. Es ist ein schönes Gefühl, wieder hier zu sein, und irgendwie habe ich die kleinen Racker vermisst. Ich liebe Kinder, vor allem ihre ehrliche und unbefangene Art. Ich mag es, ihnen das Lesen und Schreiben beizubringen, zu sehen, wie sie sich entwickeln, bevor sie auf die Middle School wechseln.
Grüßend betrete ich das Lehrerzimmer, und sofort verstummen die Gespräche. Alle Augenpaare sind auf mich gerichtet. Mir ist bewusst, dass meine Kollegen über mich tuscheln, was ich verstehen kann. Schließlich bin ich eine Überlebende der schrecklichen Nacht, die unsere Kleinstadt Elisabethtown in den bisher größten Skandal verwickelt hat.
Es ist, als erwarten die Leute eine Reaktion oder dass ich etwas sage. Das geht mir schon ziemlich auf die Nerven, aber ich lächle tapfer in die Runde, stelle meine Tasche auf einen Stuhl und schiebe die Vase auf den Gemeinschaftstisch.
»Hey Teach, Direktor Wellington erwartet dich in seinem Büro.« Ella ist die Erste, die die unangenehme Stille unterbricht und mir eine Tasse mit Kaffee entgegenstreckt. Sie gehört wie ich zu den jüngeren Lehrkräften.
Dankbar nehme ich ihr das heiße Gebräu ab und probiere einen Schluck. »Ich gehe gleich zu ihm.«
Sie unterrichtet Mathematik und Religion, und wir haben uns von Anfang an gut verstanden. Sie hat ein nettes, offenes Gesicht und trägt ihr Haar kürzer als vor ein paar Monaten.
»Wenn der Rektor Sie sprechen will, Mrs. Westham, sollten Sie ihn nicht warten lassen«, brummt es von einem anderen Tisch am Fenster. Mr. Thucker, unser Dienstältester, knickt eine Ecke seiner Zeitung um und schaut missbilligend zu mir herüber. Er sitzt in den Pausen meist allein, ist für seine bissigen Kommentare bekannt und war noch nie besonders nett. Er geht in wenigen Monaten in Rente, und ich kenne einige, die seinen Abschied kaum erwarten können.
»Jetzt gönnen Sie ihr doch mal eine kurze Verschnaufpause, Thucker. Ein Schluck Kaffee wird ja wohl drin sein«, mischt sich Edward McKee ein, worauf Mr. Thucker verdrießlich den Mund verzieht und sich wieder seiner Zeitung zuwendet.
»Schon gut, Edward«, melde ich mich, bevor es zu einer Diskussion kommt. Mr. Thucker stichelt mit Vorliebe und drückt seine stockkonservative Haltung gern anderen auf, was ihn nicht gerade zum Lehrer des Jahres macht.
Edward dagegen ist der Liebling der weiblichen Belegschaft. Jung und gutaussehend. Er unterrichtet Sport und scheint auch in seiner Freizeit sehr aktiv zu sein. Sein Charme und sein Lächeln haben selbst unsere argwöhnische Mrs. Meyers erobert.
»Außerdem … Was geht Sie das an, Thucker. Predigen Sie nicht immer, jeder solle sich um seinen eigenen Mist kümmern?«, erklärt Ella provozierend. Ich werfe ihr einen beschwichtigenden Blick zu.
»Es gibt gewisse Anstandsregeln, Mrs. Moore, an die sollte man sich halten«, versucht es Mr. Thucker erneut. Die Tür zum Kopierraum öffnet sich, und ein mir unbekannter Mann betritt das Lehrerzimmer.
»Da stimmen Sie mir doch zu, oder, Mr. Collins?«
Der Mann blättert hochkonzentriert in einem Stapel Papiere und blickt verwundert auf. »Wie?«
Es ist offensichtlich, dass er nicht mitbekommen hat, worum es geht. Irritiert schiebt er das dicke Gestell seiner Brille die Nase hoch, wird knallrot, während ein leises Kichern von den Kollegen zu hören ist.
»Nichts, Theo«, ruft Edward. »Thucker meckert mal wieder, aber nicht über dich.«
»Ach so«, murmelt er und durchquert das Lehrerzimmer.
»Das ist unser IT-Fachmann Theodor Collins. Er kümmert sich um das neue EDV-System und soll die Akten digitalisieren«, flüstert Ella mir ins Ohr. »Er ist erst einige Wochen bei uns, aber er hat jetzt schon den Ruf als Ober-Nerd. Er soll einen hohen Intelligenzquotienten haben.«
Sein Äußeres trifft perfekt auf die Beschreibung zu. Er ist groß, ziemlich dünn, hat längeres lockiges Haar, das er im Nacken zu einem lockeren Zopf zusammengebunden hat, trägt dazu Bundfaltenhosen und ein verknittertes Hemd. Sofort bin ich an die Fernsehserie Big Bang Theory erinnert. Er scheint extrem schüchtern zu sein und ist die Sorte Typ, die man gern übersieht und kaum wahrnimmt – introvertiert, wenig oder keine Sozialkontakte und wortkarg.
Mr. Thucker faltet grimmig seine Zeitung zusammen und wirft mir einen unwirschen Blick zu, als wartete er, dass ich endlich zum Chef gehe. Der Mann ist ein alter Griesgram. Ich mag ihn nicht besonders.
»Ich geh dann mal.« Ich nehme meine Tasche und mache mich auf den Weg ins Sekretariat.
Nach einmaligem Anklopfen trete ich ein. Wie erwartet unterbricht Mrs. Matthews ihr Getippe am Computer und lugt über ihre Brille, die an einer goldenen Kette befestigt ist, zu mir auf.
»Teach!« Die Sekretärin lächelt und erhebt sich. Herzlich werde ich von ihr umarmt. Sie ist die gute Seele der Schule, eine rundliche nette Frau, Anfang sechzig und mächtig stolz auf ihre sieben Enkel. Auf ihrem Schreibtisch befindet sich ein Foto ihrer Familie. »Willkommen zurück, meine Liebe.«
»Danke.«
Sie nimmt meine Hände und reibt über die Knöchel. »Ich freue mich, dass Sie wieder da sind. Wie geht es Ihnen?«
»Ganz okay, denke ich. Die Kinder haben mich heute Morgen mit Blumen empfangen.«
»Ja, sie haben Sie vermisst.«
Mrs. Matthews' nette Worte rühren mich, und ich versuche die Leere zu vertreiben, die mich schon so lange gefangen hält.
»Kann ich zu ihm?« Mit einem Kopfnicken deute ich zu einer Tür, die mit dunklem Leder bezogen ist.
Sie nickt. »Gehen Sie nur rein, meine Liebe.«
»Danke.«
Ich klopfe leise an und betrete das Büro unseres Rektors. Sofort fällt mein Blick auf seinen Schreibtisch, der überladen mit Ordnern und Papierstapeln ist. Er selbst steht an einem Buchregal und ist so in einen dicken Wälzer vertieft, dass ich glaube, er hat mich nicht bemerkt. Doch dann schaut er auf. »Mrs. Westham, wie schön, Sie endlich wieder bei uns zu haben.«
Er klappt das Buch zu und läuft mir freudig entgegen.
»Hallo Mr. Wellington. Ich freue mich auch wieder hier zu sein.« Ein wenig verlegen schiebe ich mir eine blonde Strähne, die sich aus meinem Zopf verirrt hat, hinters Ohr.
Er trägt immer einen Anzug. Heute sitzt seine Krawatte locker, und das Jackett hängt an seiner Stuhllehne. Sein graues Haar kommt mir deutlich weißer vor, aber das tut seiner Attraktivität keinen Abbruch. Für einen Mann in seinem Alter ist er gutaussehend, und seine freundliche Art ist ansteckend.
»Nehmen Sie Platz.« Er zeigt auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch. »Wie geht es Ihnen inzwischen?«
»Ich komme klar«, erwidere ich. »Es ist nicht leicht, aber ich denke, das wird schon.«
»Auch bei uns saß der Schock tief. Sie können sich vorstellen, dass die Kinder äußerst betroffen reagiert haben. Deshalb haben wir für die Eltern Ihrer Schüler einen Elternabend veranstaltet, um aufzuklären, wie man den Fragen der Kinder am besten entgegentritt. Ich glaube, das kam gut an und hat einigen geholfen.«
»Ich bin Ihnen für Ihre Unterstützung, die Sie mir in den letzten Monaten entgegengebracht haben, sehr dankbar, Sir.« Ich schlucke. »Ich wollte Sie um etwas bitten.«
»Immer heraus damit.«
»Während meiner Auszeit habe ich Ihnen meinen Versetzungsantrag zukommen lassen.«
Er nickt wissend.
»Damit würde ich gern noch warten.«
Augenblicklich verschwinden die Falten, und er lächelt breit. »Das sind ja hervorragende Neuigkeiten.« Doch dann erlischt sein Lächeln, und er überlegt. »Allerdings … Ich habe ihn schon an die zuständige Schulbehörde weitergeleitet.«
»Oh!«
»Aber das dürfte kein Problem sein. Ich rufe einfach dort an und erledige das. Es wäre wirklich schade, eine hochqualifizierte Lehrerin zu verlieren. Ich lasse Sie nicht gerne gehen. Es ist heutzutage schwer, gute Lehrkräfte zu bekommen.«
»Danke, das ist mehr, als ich erwartet habe, Sir.«
»Ich finde Ihre Entscheidung richtig. Natürlich nicht nur aus eigenem Interesse, sondern auch, weil ich denke, Sie sollten nichts überstürzen. Sie müssen sich Zeit geben, sich an die neue Situation zu gewöhnen.«
»Das mache ich. Haben Sie vielen Dank.«
Rektor Wellington und ich erheben uns und schütteln einander die Hände. Beim Hinausgehen fühle ich mich besser. Als ich das Sekretariat verlasse, lehnt Theodor Collins an der Wand gegenüber, tippt sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn und murmelt etwas vor sich hin. Ich grüße ihn, als ich an ihm vorbeilaufe, und spüre, wie sich sein Blick in meinen Rücken bohrt. Er ist wirklich ein seltsamer Vogel. Durch und durch ein Nerd eben.
3
Silent
Emily und Teach kommen aus einem Café, überqueren die Straße und steigen in Emilys Wagen. Ich parke drei Autos hinter ihnen, in sicherem Abstand, aber nahe genug, um sie beobachten zu können. Teach sieht wunderschön aus. Die Sonne reflektiert das Gold in ihrem langen Haar, ihre Haut glänzt seidig, und ich mag ihren legeren Kleidungsstil. Lockere Bluse, enge Jeans und flache Schuhe. Einzig ihr Lächeln scheint sie verloren zu haben, und ich wünschte, ich könnte es ihr wiedergeben. Sie kommt mir wie ein Engel vor, dessen Flügel gebrochen worden sind und der nicht mehr fliegen kann. Mein Herz krampft bei dem Gedanken, denn es ist meine Schuld.
Noch immer steht der Wagen auf dem Parkplatz, und ich frage mich, warum sie nicht losfahren. Durch die Scheiben der Autos vor mir versuche ich zu erkennen, weshalb sie den Motor nicht startet. Vielleicht unterhalten sie sich oder Mad ruft mal wieder Emily an. Letzteres kann gut möglich sein. Mad will zu jedem Zeitpunkt wissen, wo Em ist. Und da behauptet er, ich hätte ein Kontrollproblem, was absolut lächerlich ist.
Plötzlich öffnet Emily ihre Wagentür und kommt auf mich zu. Ich werde nervös, weiß nicht, wohin ich schauen soll, und tue so, als würde ich den gottverdammten Radiosender einstellen. Egal, welche Ausrede ich ihr gleich auftische, sie wird sie mir nicht abkaufen. Es gibt einfach keine logische Erklärung, warum ich mich schon wieder in Teachs Nähe aufhalte. Nach wie vor bin ich beim weiblichen Geschlecht gehemmt, traue mich kaum die Initiative zu ergreifen. Em ist die Einzige, die das irgendwie versteht, aber seit Monaten will sie mich dazu bringen, endlich über meinen Schatten zu springen. Sie kennt meine ernste und zurückhaltende Art inzwischen mehr als genug.
Bei mir angekommen, beugt sie sich zu mir und klopft gegen die Seitenscheibe. Ich brauche gar nicht den Überraschten zu spielen. Sie hat mich erwischt – schon wieder. Per Knopfdruck lasse ich das Fenster herunter.
»Hi Silent.« Sie lächelt breit.
»Hi.« Ich presse die Lippen aufeinander und starre geradeaus.
»Solltest du dich nicht um die Moonshiner-Lieferung für die neue Bar kümmern?«
»Hab ich«, versichere ich ihr.
»Okay, und hier bist du rein zufällig?«
Ich schweige.
»Bist du sicher, dass du kein Stalkingproblem hast, Silent?« Ich werfe ihr einen grimmigen Blick zu und fahre mir durch den Bart. »Hast du überhaupt über unsere letzten Gespräche nachgedacht?«
Monatelang. Pausenlos. Ich nicke.
Emilys vertrautes Parfum steigt mir in die Nase, als sie ihre Sonnenbrille ins Haar schiebt, sich mit ihren Armen am Fensterrahmen anlehnt und tiefer zu mir herunterbeugt. Sie seufzt. »Nervt es dich nicht, sie immer nur von Weitem anzuhimmeln?«
Und wie.
»Hast du denn gar nicht das Bedürfnis, endlich mit ihr zu sprechen? Das ist doch frustrierend, Silent.«
Wenn ich das könnte, hätte ich es schon längst getan.
»Sprich mit ihr.«
Ich nicke.
»Warum tust du es nicht einfach? Sie wird dich nicht zurückweisen.«
»Ich brauche noch Zeit«, murmle ich ausweichend.
»Also ehrlich, ich verstehe euch beide nicht. Ihr seid so perfekt füreinander, und Teach könnte eine Schulter zum Anlehnen wirklich gut gebrauchen. Versprich mir, dass du es wenigstens beim Barbecue versuchen wirst.« Unzufrieden, weil ich nichts darauf antworte, verzieht sie den Mund, tätschelt aber meinen Oberarm. »Wir sehen uns nachher in der Destillerie, okay?«
Ich nicke und starre ihr hinterher, wie sie zum Wagen zurückläuft und mit Teach auf dem Beifahrersitz davonfährt.
Wenn ich damals doch nur das Versprechen hätte halten können, dann …
Seit Kim gestorben ist, sind die beiden Frauen noch enger zusammengerückt. Ich bin froh, dass Em für Teach da ist. Trotzdem frustriert mich unsere Situation, weil ich genau weiß, dass ich der Mann an Teachs Seite sein könnte. Em will nur helfen, aber das ist nicht so einfach. Ich bin ein kaputter, schweigsamer Typ, der es wahrscheinlich nicht verdient hat, jemanden wie Teach auszuführen. Em versucht mir diesen Komplex schon länger auszureden, und einmal hätte sie es beinahe geschafft. Doch seit der Nacht, als Kim kaltblütig vor meinen Augen erschossen wurde, habe ich den Mumm nicht mehr aufgebracht, mit ihr zu sprechen. Manchmal wünschte ich, ich wäre nicht so verkorkst.
***
In der neuen Bar in Radcliff gab es Schwierigkeiten mit einer Lieferung, und Milow musste sich um den Papierkram kümmern. Er flucht oft, weil er Büroarbeit genauso sehr hasst wie ich. Wir liegen Mad schon länger in den Ohren, dass wir dringend jemanden einstellen müssen, der sich darum kümmert. Daher komme ich erst spät nach Hause und bin völlig erledigt. Ich schalte den Fernseher ein, hole aus dem Kühlschrank den Rest Spaghetti, wärme sie auf und genehmige mir ein Bier. Während ich mir die Nudeln auf der Couch einverleibe, verliest die Nachrichtensprecherin die Schlagzeilen des Tages.
Seit mehreren Wochen wird Jessica Amers vermisst. Noch immer fehlt von der jungen Mutter jede Spur. Laut Polizeiangaben wurde sie in einer Einkaufs-Mall in Louisville zuletzt gesehen, wo man auch ihr Fahrzeug sicherstellen konnte. Videoaufnahmen bestätigen das. Ein Sprecher der Polizei sagte, dass man inzwischen von einem Verbrechen ausgeht. Jessica Amers ist dreiundzwanzig Jahre alt und Mutter eines zweijährigen Jungen. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren. Die Polizei bittet die Bevölkerung um Mithilfe. Für sachdienliche Hinweise zur Aufklärung ist eine Belohnung von zehntausend Dollar ausgesetzt.
Und nun zum Wetter …
Das Bild der Vermissten ist die ganze Zeit eingeblendet, während die Sprecherin vorliest. Die junge Frau ist hübsch, und ich frage mich, in was für einen Mist sie geraten ist. Sie hat einen kleinen Sohn, der sie braucht und für den sie da sein sollte. Hoffentlich ist sie nicht abgehauen und lässt ihn im Stich. Ich weiß nur zu gut, welches Pech man haben kann, wenn man als Kind wie ein Wanderpokal von einer Familie zur anderen gereicht wird. Ich hasse es, wenn die Bilder und Gefühle von damals in mir aufsteigen. Sie erinnern mich an etwas, das das Monster in mir erschaffen hat, an die dunkle Seite, die ich gelernt habe zu verbergen.
***
Ich bin wie erstarrt, als der Bambusstock dröhnend durch die Luft saust und kurz darauf Joana aufschreit. Michael, Seth und ich wagen es nicht, von unseren Tellern aufzusehen, aber im Augenwinkel bemerke ich, wie Joana schützend ihre Arme über den Kopf hält und vor den Schlägen zurückweicht. Sie schreit schmerzerfüllt, fällt durch die Wucht zu Boden und spuckt Blut.
»Wer hat dir erlaubt, dich heimlich aus dem Haus zu schleichen? Hast du dich etwa mit dem Jungen Bundy getroffen?«
»Nein, habe ich nicht«, verteidigt sie sich weinend, aber Grace ist so in Rage, dass sie gleich noch einmal das Rohr auf sie herabschwingt. Wieder brüllt Joana auf.
»Lügnerin! Am Ende hast du einen Braten in der Röhre, und ich muss deinen Bastard auch noch durchfüttern. Aber nicht mit mir, junge Dame. Ich werde mir mein Ansehen von dir nicht kaputtmachen lassen.« Erneut fliegt der Stock durch die Luft und trifft sie ins Gesicht. Sie schreit, und alles in mir zieht sich vor Schmerz zusammen. Mein Herz flattert nervös, als ich den Kopf zu ihnen drehe. Ich suche nach etwas, was unsere Pflegemutter besänftigt, doch Michaels vor Schreck aufgerissene Augen und sein vehementes Kopfschütteln verbieten es mir.
»Du Hure! Du bist genauso dämlich wie deine Mutter«, brüllt Grace, während Jo versucht aufzustehen. Ihr Augen-Make-up läuft in schwarzen Schlieren über ihre geröteten Wangen. Blut rinnt von einer aufgeplatzten Wunde aus einer ihrer Brauen, und auch ihre Unterlippe hat was abbekommen. Sie weint, aber ich sehe in ihrem Blick, wie wütend Jo ist.
»Du weißt gar nichts von meiner Mutter«, presst Jo hervor. »Rede nicht so von ihr.«
Unheilvolles Schweigen herrscht im Esszimmer. Die Luft ist mit bedrohlicher Stille aufgeladen. Grace ist der Teufel mit Engelsgesicht, und wir sind ihre Opfer.
»Jungs, verlasst den Raum. Sofort«, sagt sie gefährlich ruhig, ohne Jo aus den Augen zu lassen. Seth und Michael tun, was sie verlangt, aber ich kann mich nicht rühren. Ich sitze wie festgenagelt auf dem Stuhl und spüre, wenn ich jetzt gehe, wird Grace etwas Schreckliches tun. Ich habe Angst.
»Tu ihr nichts. Bitte«, sage ich mutig und lenke damit ihre Aufmerksamkeit auf mich.
Grace kneift die Augen zu Schlitzen. »Ich sagte, RAUS hier!«
»Ben! Geh schon«, fleht Jo weinend.
Sie hat Angst und will mich beschützen. Sie sieht mich an und sagt: »Worte schlucken, nichts fühlen, das rettet dich.«
Seit Grace mir das erste Mal wehgetan hat, hat Joana versucht mir das beizubringen. Daher bemühe ich mich krampfhaft, meine Worte im Kopf einzusperren, sie nicht über meine Lippen zu lassen. Von Tag zu Tag gelingt es mir immer besser.
Ich will nicht gehen.
»Verschwinde endlich! Oder hast du nicht genug vom letzten Mal?«, faucht Grace mich böse grinsend an. Die Erinnerung daran treibt mir den Magensaft in die Kehle. Ich kann den pochenden Schmerz noch fühlen und höre ihr schauderhaftes Lachen. Mein Atem geht flach, und wie ein Echo wiederholen sich Jos Worte in meinem Kopf. Schließlich bewegen sich meine Beine wie von selbst, und ich gehe langsam am Tisch vorbei bis zur Küchenzeile, dort schaue ich zu Jo zurück.
»Es ist okay, Ben. Geh nur«, wimmert sie. »Halt dir die Ohren zu und denk an den Strand. Okay?« Sie ringt sich ein Lächeln ab und versucht mich zu trösten. »Worte schlucken, nichts fühlen, das rettet dich«, flüstert sie mir zu, bevor sie Grace hasserfüllt ansieht.
Ich wische mir die Tränen mit dem Ärmel meines Pullis ab und nicke, doch kaum habe ich einige Schritte Richtung Tür gemacht, schreit Grace und fällt brüllend über Jo her. Es poltert, der Bambusstock surrt durch die Luft und trifft auf weiches Fleisch. Es rumst und kracht. Jos Schreie gemischt mit Grace' Gebrüll sind schrecklich und fressen sich in meine Seele.
Grace schnauft schwer vor Anstrengung, aber Joana gibt keinen Laut mehr von sich. Ängstlich werfe ich einen Blick zu ihnen und erkenne, dass Grace' Hände um Joanas Hals liegen und sie würgen.
Panisch denke ich nach. Was soll ich nur tun? Niemand wird Jo helfen. Sie wird sie umbringen, sie töten. Panik wallt in mir auf, bis ich auf den Messerblock schiele, es plötzlich ganz still in mir wird und ich nur diesen Ausweg sehe. Ich greife nach dem scharfen Fleischermesser. Mit einem Mal ist meine Angst ausgeschaltet, mein Gerechtigkeitssinn stumm, und ich fühle nichts.
Als ich mich umdrehe, liegt Joana blutüberströmt am Boden und versucht verzweifelt sich von Grace' Griff zu befreien. Panisch irren ihre Pupillen umher, während das Weiße in ihren Augen blutunterlaufen ist.
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Any Cherubim
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Cover: Grit Bomhauer, www.grit-bomhauer.com
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 03.01.2022
ISBN: 978-3-96714-178-8
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