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Leseprobe

Whisper In A Bottle

Band 1 – Glühendes Leben

Any Cherubim

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben.«

 

 

 

Ernest Hemingway, Santiago in Der alte Mann und das Meer, 1940.

Prolog

 

Maddox

 

 

 

 

Das Katz-und-Maus-Spiel beginnt in dem Augenblick, als ich das Büro des CEO Aiden Westham betrete. Es liegt in einem alten Gebäudekomplex, der dringend renoviert werden sollte. Zufällig weiß ich, dass die Westhams mit dem Rücken zur Wand stehen und beinahe pleite sind. Das Allerbeste ist, ich habe den CEO in der Hand und könnte ihn zerquetschen wie eine Made. Das ist nicht gerade anständig von mir, aber alle Leute wissen, dass man sich mit mir am besten nicht anlegt. Wie schon erwähnt, bin ich kein netter Typ. Es reizt mich, ihm den Schweiß auf die Stirn zu treiben und es diesem dämlichen Idioten endlich mal heimzuzahlen.

»Pfeif deine Gorillas zurück, Mad. Können wir diese Angelegenheit nicht zivilisiert lösen«, ruft Westham mir zu, als ich sein Arbeitszimmer betrete. Meine Männer, Popcorn und Silent, haben sich an seinem Designerschreibtisch rechts und links postiert und hindern ihn daran, aufzustehen, während Milow dafür sorgt, dass wir nicht gestört werden.

Ungerührt steuere ich seine kleine Bar an, auf der edle Tropfen in Flaschen stehen. Westham will sich losreißen, doch Silent drückt ihn zurück auf seinen Platz.

»Verdammt! Mein Vater ist gerade gestorben. Hast du nicht einen Funken Respekt im Leib?«

Tatsächlich rührt mich der Tod seines Dads. Deshalb habe ich meinen Besuch auf heute verschoben. Ich weiß, wie sich Verlust anfühlt, aber damals hat Aiden Westham auch keine Rücksicht auf mich genommen, weshalb ich jetzt sein Gejammer ignoriere. Gleichgültig inspiziere ich die Whiskeyflaschen. Es sind unzählige Sorten, alle mit dem gleichen langweiligen Etikett, dem Westham-Firmenlogo und dem typischen Schriftzug ›Westham Distillery, Kentucky, since 1923‹. Ich greife nach einer Flasche, öffne sie und trinke einen großen Schluck. Ich bin einiges gewöhnt, und wenn ich ehrlich sein soll, schmeckt der Westham-Fusel gar nicht so übel, aber das werde ich ihm nicht auf die Nase binden. Das wäre so etwas wie Hochverrat an meiner eigenen Familie. Also spiele ich die Rolle, die mein Großvater von mir erwartet hätte. McKinley gegen Westham, verfeindete Whiskey-Brenner seit ewigen Zeiten.

Kaum spüre ich die Wärme im Hals und schmecke die ledrig herben Aromen, pruste ich das Zeug angewidert in hohem Bogen aus. »Wäh! Was ist das für ein Mist? Habt ihr Kamelscheiße hineingepanscht? Die Plörre ist ja ungenießbar.« Angeekelt wische ich mir über den Mund und spucke die Reste auf den Boden. »Kein Wunder, dass ihr pleitegeht.«

Zufrieden stelle ich fest, dass Aiden vor Entsetzen gleich der Helm brennt. Wut steht ihm ins Gesicht geschrieben. »Du hast wirklich keine Manieren, McKinley.«

»Sorry«, sage ich achselzuckend, »aber das Gesöff ist echt übel. Mein Großvater meint: ›Ein guter Destillateur darf seine Kehle niemals mit billigem Fusel verätzen.‹«

Aiden beißt die Zähne zusammen, während Silent und Popcorn lachen.

»Ist das etwa deine gesamte Whiskeyauswahl?« Ich deute auf die Flaschen an der Bar, und genau in dem Moment entdecke ich etwas in einer Vitrine, was sofort meine Neugier weckt. Ich schlendere hinüber und bleibe voller Respekt davor stehen. Ich pfeife anerkennend. »Wow! So viel Geschmack hätte ich dir gar nicht zugetraut. Wieso besitzt jemand wie du einen 1964 Bowmore?« Über so viel Stil muss ich lächeln und will mir das wertvolle Stück näher ansehen.

»Komm schon, Mad. Du weißt doch, wie das ist. Der Bowmore ist nicht verhandelbar. Er gehörte meinem Vater. Ich kann ihn dir nicht geben.« Westham fährt sich nervös durchs Haar.

Ich öffne die Vitrine und nehme die kostbare Flasche heraus. Der Whiskey ist tatsächlich ein echter Bowmore aus dem Jahre neunzehnhundertvierundsechzig. Ein alter, schottischer Single Malt, der ein Vermögen wert ist.

»Du bekommst dein Geld, ich verspreche es«, sagt Aiden nervös, deshalb beschließe ich, die Sache ein wenig auf die Spitze zu treiben. Ich werfe Silent und Popcorn einen Blick zu und grinse diabolisch. Man soll sich eben nie mit dem Teufel einlassen. Ich öffne das gute Stück, und Aiden steht kurz vor einem Anfall. »Fuck! Mad! Nein! Was tust du?«

»Ich bediene mich einfach. Ich finde, du bist ein schlechter Gastgeber.« Als der Korken sich mit einem dumpfen Plopp herauslöst, ist das wie Musik in meinen Ohren und für Aiden wahrscheinlich der schlimmste Tag seines Lebens. Er flucht laut, was ihm ein, zwei Schläge auf den Hinterkopf von Popcorn einbringt. Ich rieche am Flaschenkorken und warte einige Sekunden, damit der alte Tropfen atmen kann. Aiden zieht vor Schock hörbar die Luft ein. Er will sich erneut losreißen, wird aber von Silent und Popcorn wieder auf den Stuhl gepresst. Alle erwarten, dass ich den Whiskey schließe und zurückstelle, aber wer das glaubt, kennt mich schlecht. Ich setze die wertvolle Pulle an und entweihe die Flasche mit dem Mund. Geschmeidig wie Öl fließt der teure Bowmore in mich. Es ist mucksmäuschenstill, selbst meine Männer starren mich ungläubig an.

»Das wirst du bereuen, du mieses Stück Scheiße«, zischt Aiden, während ich die Aromen einsortiere. 40,5 Prozent Alkohol fluten meine Kehle, füllen meinen Magen und wärmen meine Brust. Es sind nicht die besten Aromen, die ich je genossen habe, aber ich schmecke deutlich den Geist und die Jahrzehnte heraus, während der bernsteinfarbene Whiskey in seinem Holzfass gereift hat.

»Die Leute haben recht. Du bist verrückt, McKinley. Du hast gerade einen Neunzigtausend-Dollar-Malt einfach so zerstört.«

Kurz nehme ich den Blick von der Buddel und schaue zu Aiden. Westham steht unter Schock. Innerlich grinse ich so breit wie die Grinsekatze aus dem beschissenen Wunderland.

»Fehlen noch sechshundertzehntausend Dollar«, sage ich kühl und reiche die Flasche an meine Jungs weiter. Sie sollen schließlich auch in den Genuss kommen.

Beinahe tut Westham mir sogar leid. Er muss mit ansehen, wie siebenhundert Milliliter wertvollster und edelster Stoff innerhalb kürzester Zeit von uns ausgesoffen werden, als wäre es irgendein billiger Fusel.

»Großer Gott, Mad! Hast du eine Ahnung, was du gerade getan hast?«

»Worauf du dich verlassen kannst«, sage ich zufrieden, während der Alkohol seine Wirkung entfaltet.

Westham versucht es noch mal auf die nette Tour. »Hör zu, Mad, wir finden eine Lösung. Du bekommst dein Geld, du musst mir nur etwas mehr Zeit lassen.«

»Du hattest genug Zeit, Aiden.«

»Aber … die Summe ist …«

»Ziemlich hoch, ich weiß«, ergänze ich, »ist nicht mein Problem.«

Aiden merkt, wie aussichtslos seine Lage ist, und flucht weiter. Es amüsiert mich. In aller Ruhe gehe ich zum Schreibtisch, ziehe das Jackett aus, öffne die Knöpfe meiner Hemdsärmel und kremple sie hoch.

Als ich schließlich vor dem Tisch stehen bleibe, schaut Westham mit hasserfüllten Augen zu mir auf.

»Du bist der letzte Dreck, McKinley. Abschaum, genau wie die Leute es sagen«, brüllt er, was ihm erneut einen Hieb von Popcorns Ellenbogen einbringt. Ich schaue auf den dämlichsten Hund, der mir je untergekommen ist. Er hat Schulden, hohe Schulden, und die soll der Mistkerl bezahlen. Das ist die Gelegenheit, meiner Rolle als Bad Boy gerecht zu werden.

Mit einem knappen Nicken gebe ich Silent ein Zeichen, dass er ihn loslassen kann. Aiden schnauft wie ein Walross, und Blut tropft aus seiner Nase auf die Papierunterlage. Mit schmerzverzerrtem Gesicht richtet er sich auf. Unterdrückte Wut lodert in seinen Augen, aber auch Wachsamkeit, mit der er jede meiner Bewegungen beobachtet. Mannomann! Der hat die Hosen wirklich voll. Er zittert beinahe. Ich bin eben durch und durch ein McKinley, abgebrüht, gerissen und ein Außenseiter. Okay, der Sonderling bin ich noch wegen ein paar anderer Dinge. Es gibt Gerüchte, Geschichten, die tatsächlich der Wahrheit entsprechen.

»Wieso tust du mir das an, McKinley? Du hast mir doch schon alles genommen.«

Neugierig hebe ich eine Braue. »Ich?«

»Verdammt! Du bist doch der Grund, warum mein Leben den Bach runtergeht. Ich bin so gut wie erledigt, und das weißt du genau. Die Westham-Destillerie steht kurz vor dem Aus, Judy hat mich deinetwegen verlassen, und ich schulde dir Geld. Wieso habe ich das Gefühl, dass du es auf mich abgesehen hast?« Er bricht ab, ballt die Fäuste und ringt um Fassung.

Schmunzelnd verschränke ich die Arme und setze mich auf die Schreibtischecke. Wir kennen uns seit der Schulzeit. Unsere Familien sind schon Jahrzehnte oder länger verfeindet, wir haben uns als Kinder nicht leiden können, und jetzt soll ich verantwortlich für sein verficktes Leben sein? Das ist mal wieder typisch. Die Westhams sind unfehlbar, nur andere machen Fehler, niemals sie selbst. »Red dir nichts ein, Aiden. Ich will nur, was mir zusteht.«

»Ich brauche aber mehr Zeit«, blafft er mich an.

Popcorn schlägt ihn daraufhin auf den Hinterkopf. »Für dich immer noch Mr. McKinley, Blödmann.«

»Du hattest genug Zeit, Aiden. Ich will mein Geld.«

Hektisch überlegt er. »Ich kann dir etwas anderes geben. Mein Auto oder meine Uhr.«

Schon macht er sich daran, seine protzige Armbanduhr abzuziehen.

Abwehrend hebe ich die Hände. »Es gibt nichts aus deinem privaten Besitz, das du mir geben …« Genau in dem Moment halte ich inne, ein Bild schiebt sich vor meine Augen, und ein Mädchengesicht lächelt mich honigsüß an. Für eine Sekunde gebe ich mich dem Tagtraum hin. Emily, Granate und Oberzicke, Westham – Aidens jüngere Schwester. Ein Engel auf zwei unendlich langen Beinen, mit dem Herzen eines Teufels und dem Aussehen eines unschuldigen Lämmchens. Ich erinnere mich an ihren süßen Duft und wie ihre Lippen sich angefühlt haben. Verdammt! Schon damals war sie für ein Mädchen recht tough gewesen. Sie hatte Streit mit einigen Jungen aus der Schule. Ich war ehrlich beeindruckt, wie schmutzig die Worte waren, die aus ihrem hübschen Mund kamen. Ob sie das heute noch kann? Emily Westham … Mein Lächeln wird breit, als eine Idee in meinem Hirn keimt, sich festsetzt und mir mindestens genauso gefällt wie die Tatsache, dass ich ihren Bruder in der Hand habe. Nachdenklich reibe ich mir den Nacken. »Okay, ich schätze, da gibt es doch etwas.«

»Gut. Und was?«

»Ich würde mir gewissermaßen was ausleihen, bis deine Schuld beglichen ist.«

Er runzelt die Stirn, scheint aber erfreut zu sein.

»Du willst dir etwas borgen? Was auch immer es ist, du kannst es haben«, sagt Aiden eifrig und lehnt sich erleichtert in seinem Bürostuhl zurück.

»Sehr gut. Dann richte deiner Schwester aus, ich erwarte sie gleich morgen gegen elf Uhr in meiner Villa. Oder sagen wir zwölf. Zurzeit schlafe ich etwas länger.«

»Meine Schwester?« Seine Stirn liegt in Falten. »Was zum Henker …?«

»Deine Schwester wird deine Schulden bei mir abarbeiten.«

Als Aiden die Gesichtszüge entgleisen, muss ich mich beherrschen nicht loszulachen. Er ist vollkommen bleich. »Bitte was?«

»Du hast richtig gehört. Ich will sie – Prinzessin Emily Westham höchstpersönlich.«

Unsicher lacht er, bis es ihm im Hals stecken bleibt, als er merkt, wie ernst es mir ist und was ich mit ihr anstellen könnte.

»Nein. Auf keinen Fall.« Jetzt wirkt er ein wenig ängstlich.

»Sie wird so lange mir gehören, bis jeder Penny bezahlt ist«, bestimme ich.

Aiden begreift, was das bedeuten könnte, und faucht, will sich losreißen, wird aber von meinen Männern in Schach gehalten. »Du lässt gefälligst deine Drecksgriffel von ihr.«

»Schick sie morgen in meine Villa. Dort werde ich die Details mit ihr besprechen.«

»Mad, das kannst du nicht machen.«

»Wieso nicht?«, frage ich unschuldig und freue mich schon auf ihr verdutztes Gesicht.

Aiden schnaubt wütend wie ein Walross. »Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, dann …«

Seine Drohung ist ehrlich, nützt ihm aber nichts. Ich habe mich entschieden. Und wenn ich etwas will, bekomme ich es. Das sieht er wohl ein.

»Und wenn sie sich weigert?«

»Kümmere dich darum, Aiden. Sonst könnte es unangenehm für dich werden.«

»Sie ist meine Schwester, verdammt!«

»Seit wann hast du solche Skrupel?«, gebe ich gelassen zurück und wende mich von ihm ab. »Ich erwarte sie morgen.«

»Und was soll ich ihr sagen?«, schreit Aiden mir hinterher, als ich schon beinahe an der Tür bin.

Ich drehe mich noch einmal zu ihm um. »Sag ihr, sie benötigt keine Unterwäsche. Und jetzt entschuldige mich, ich werde auf einer Party erwartet.«

Breit grinsend gehe ich hinaus und lasse den CEO der Westham-Destillerie mit seinen Problemen allein zurück.

 

 

1

 

Emily

 

 

Die Gäste in unserem Haus haben Glück, dass sie meine Gedanken nicht hören können. Nur Mom und Aiden zuliebe beiße ich mir auf die Zunge und unterdrücke die spitzen Kommentare, die ungeduldig über meine Lippen wollen. Ich hasse das scheinheilige Getue mancher Leute, dabei kann ich der trauernden Gemeinde nicht mal einen Vorwurf machen. Sie sind alle gekommen, um ihr Beileid zu bekunden, obwohl mein Vater nicht dafür bekannt war, nett und umgänglich zu sein. Er war ein schwieriger, eigensinniger und sturer Mann, ein Whiskey-Brenner und Destillateur, der seinem Unternehmen stets den Vortritt gegeben hat. Er war ein alter Griesgram, hart und verbissen.

Aber ich darf nicht ungerecht sein. Ich habe auch schöne Erinnerungen – damals als Mom mit Dad noch verheiratet und wir eine richtige Familie waren. Wenn ich daran zurückdenke, muss ich unwillkürlich schlucken. Sofort steigen die alten Schuldgefühle, gemischt mit dem bekannten Schmerz, in meiner Brust auf. Wie früher verdrängen die Bilder die Realität, dunkle Gedanken zerren an mir, und der schreckliche Bluegrass Forest taucht vor meinen Augen auf. Es ist nur ein kurzer Moment, in dem ich das Gefühl habe, im freien Fall zu sein. Geistesabwesend greife ich nach dem Gummiband um mein Handgelenk und zupfe unauffällig daran, bis ich das vertraute Brennen auf meiner Haut spüre. Sofort bin ich wieder im Hier und Jetzt. Die Angst, die eben noch in mir emporkriechen wollte, schleicht sich in den hintersten Winkel meiner Seele zurück, und ich beruhige mich.

Familienmitglieder, Freunde, Bekannte, enge Geschäftsfreunde und Angestellte geben sich seit drei Stunden die Klinke in die Hand, und ich bin froh, wenn der Spuk bald vorbei ist.

»Mein aufrichtiges Beileid, Emily. Ich hätte mir schönere Umstände für ein Wiedersehen mit dir gewünscht, aber ich freue mich, dass du zu Hause bist.«

Ich blicke in das Gesicht unseres Master Distillers, Barron Woodward, des Mannes, der maßgeblich dazu beigetragen hat, dass der Name Westham in Amerika für Qualität steht. Mitfühlend schaut er auf mich herab, eine Hand hat er auf meine Schulter gelegt, und ich sehe ihm an, dass seine Worte ehrlich sind.

»Danke, Barron.«

Wir umarmen uns. Seit ich ein kleines Mädchen war, brennt er den Whiskey für unser Unternehmen.

»Wenn ich etwas für dich tun kann, dann sag es mir.«

Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Danke, das mache ich.«

Er nickt freundlich und geht zu den anderen Führungskräften, die zusammenstehen und sich leise mit meinem Bruder unterhalten. Nur wenige Gesichter sind mir fremd, die meisten arbeiten schon seit vielen Jahren für uns.

»Mein Beileid, Emily.« Mrs. Winterbottom, die Ehefrau des Stadtrats, sieht mich mit falschem Mitleid an. Sie, die Vorsitzende des Veranstaltungskomitees, tätschelt mich tröstend, dabei weiß ich genau, dass nichts, was aus ihrem Mund kommt, ehrlich gemeint ist.

»Danke.«

Doch die gute Mrs. Winterbottom kann es nicht lassen und will ihr Gift sogar an solch einem Tag verspritzen. Verschwörerisch beugt sie sich zu mir. »Jetzt hat dein Bruder die alleinige Verantwortung für das Unternehmen. Dafür braucht es eine starke Hand und Disziplin, Kindchen. Ich hoffe sehr, dass er genug gelernt hat und den Druck aushält.«

Soweit ich mich erinnere, hatte Dad sich nie mit ihnen verstanden. Ich mag die Winterbottoms nicht, habe aber Anstand und werde sie ertragen. Mom schafft das schließlich auch.

»Mein Bruder ist ein großartiger CEO«, verteidige ich ihn. »Er hat frischen Wind in das Unternehmen gebracht.«

»Dein Optimismus in Ehren, junge Dame. Man könnte verstehen, wenn er die Firma verkauft. Nicht jeder kann guten Whiskey brennen.«

Meine innere Diva hebt missbilligend eine Braue. »Zerbrechen Sie sich bitte nicht unseren Kopf, liebe Mrs. Winterbottom.«

»Nun. Ich meine ja nur. Sein Vater hat ihm die Leitung nicht zugetraut, dazu kommen noch die derzeitige wirtschaftliche Lage, die vielen Gerüchte, und dann läuft ihm die Ehefrau davon. Man fragt sich, ob Aiden das Unternehmen wirklich führen kann. Er macht nicht gerade einen stabilen Eindruck.«

Ich muss mich zusammennehmen, um ihr nicht einige Frechheiten an den Kopf zu werfen. Sie alle kennen Aiden nicht, wissen nicht, wie er unter Dads herrschsüchtiger Art gelitten hat. Aiden hat viel getan für Dads Anerkennung. Trotzdem kann ich eines nicht abstreiten: Mein Bruder hat Probleme, um die er sich dringend kümmern sollte.

»Wir sind alle sehr gespannt, wie es bei euch weitergehen wird.«

»Es wird vorwärtsgehen«, versichere ich ihr.

»Schön. Und wie?«

Sie will die volle Breitseite? Dann soll sie sie auch bekommen. »Ach, liebe Mrs. Winterbottom, da Sie es sowieso bald erfahren werden, kann ich Ihnen heute schon unsere kleine Veränderung anvertrauen.«

Diesmal bin ich es, die sich zu ihr rüberbeugt.

Neugierig hebt sie die Brauen. »So? Ich bin ganz Ohr.«

»Na ja, Aiden und ich haben investiert«, flüstere ich, und sie bekommt große Augen.

»Ach? Ist das wahr?«

»Ja, in ein vielversprechendes Geschäft.«

Verwundert schaut sie mich an. »Wieso weiß ich nichts davon?«

Ich zucke die Schultern.

»Ich habe Ihren Mann gebeten, dieses kleine Geheimnis, wer die Investoren sind, vorerst für sich zu behalten«, lüge ich und freue mich, weil sie mir so einfach glaubt.

»Und um welches Objekt handelt es sich?«

»Um das Postgebäude.«

»Das wird doch gerade zu einem Hotel umgebaut.«

»Ja, richtig. Aiden und ich sind die Auftraggeber, wir werden schon bald unser Etablissement eröffnen. Elisabethtown wird sich vor Touristen nicht mehr retten können.«

Jetzt klappt ihr der Mund auf. »Ach? Das sind ja Neuigkeiten! Ihr seid die Investoren?«

»Ja, irgendwann müssen wir ja die Katze aus dem Sack lassen, nicht wahr?« Ich kichere verhalten.

»Und was genau plant ihr?«

»Na ja, mein Bruder und ich sind sozusagen Quereinsteiger in dieser Branche. Die Unterstützung, die wir von den Stadträten erhalten haben, war überwältigend. Vor allem Ihrem Mann verdanken wir viel. Er wird bei uns als Stammkunde immer die beste Suite zur Verfügung gestellt bekommen. Schließlich hat er sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt, damit das Projekt realisierbar wird.«

»Das sind ja tolle Neuigkeiten!« Stolz strahlt sie übers ganze Gesicht. »Gerade weil der Tourismus in den letzten Jahren nachgelassen hat. Und was genau plant ihr?«

»Wir gehen auf Tuchfühlung, Mrs. Winterbottom, und werden ein exklusives Bordell aufmachen mit richtig viel Schweinkram und allen Perversitäten, die Mann sich so wünscht. Zur Eröffnung erhalten die Bewohner von Elisabethtown freien Eintritt. Ich denke, etliche Ehemänner kommen dann endlich mal wieder auf ihre Kosten.«

Mrs. Winterbottom schnappt nach Luft und ist völlig bleich.

»Deshalb glauben Sie mir, Aiden und ich haben mit Ihrem Mann die beste Unterstützung. Es ist also völlig unnötig, sich Sorgen zu machen.« Diesmal tätschle ich ihren Arm und lasse die verdutzte und verwirrte Frau stehen.

Ein schlechtes Gewissen habe ich nicht, denn sie hat es verdient. Permanent steckt sie ihre Nase in Dinge, die sie nichts angehen. Das war damals bei der Trennung meiner Eltern schon so und hat sich bis heute nicht geändert. All die Leute mit ihren Vorurteilen haben keine Ahnung, wie es ist, eine Westham zu sein, ständig nur an das Familienunternehmen zu denken, und Whiskey, Whiskey, verdammten Whiskey zu brennen. Dad hatte immer genaue Vorstellungen, welche Rolle jedes Familienmitglied einzuhalten hat. Da war kein Platz für Träume oder Wünsche.

Ich zwinge den faden Geschmack hinunter, der mich jedes Mal befällt, wenn ich daran zurückdenke, und streiche seufzend eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

In der Eingangshalle steht die Haustür ein Stück offen, und die Sommerhitze strömt herein. Draußen entdecke ich meine Cousinen Kimberly und Pamela. Sie haben sich davongeschlichen, sitzen auf den Treppenstufen, teilen sich eine Zigarette und trinken Eistee. Die blonden Zwillinge drehen sich zu mir und machen mir Platz, als ich mich zwischen ihnen niederlasse.

»Eine Glut ist das heute«, jammert Kim und fächert sich mit einer Zeitschrift Luft zu. Ihre Stirn glänzt, und ihre Wangen haben einen entzückenden Farbton angenommen. Exakt wie bei ihrer Schwester.

»Wie in einem Ofen«, bestätige ich und öffne den obersten Knopf meiner Bluse.

Kim, die zehn Minuten jünger ist als Pam, streckt mir ihr Glas entgegen, das ich gierig austrinke. »Es ist erst Anfang Mai, wenn das so weitergeht, werden wir dieses Jahr einen Mega-Sommer haben. Das ist doch nicht mehr normal.«

Kim schüttelt den Kopf.

»Vielleicht sollte jemand Mr. Trump den Klimawandel noch mal erklären. Wenn Grundschüler das Prinzip verstehen, sollte es für den amerikanischen Präsidenten doch kein Problem sein«, meint Pam und verdreht die Augen. Sie ist angehende Grundschullehrerin, weshalb sie von uns den Spitznamen Teach bekommen hat.

Schweigend schauen wir zur Einfahrt. Überall parken Autos, sogar auf der Wiese neben dem Gästehaus. Dad hat es gehasst, wenn der Platz vor dem Haus mit luxuriösen Karren vollgestellt war. Deshalb mochte er es früher auch nie, wenn Mom Gartenpartys oder Ähnliches veranstaltete.

Teach stupst mich mit der Schulter an. »Wir sollten dir unbedingt ein paar Sommerklamotten besorgen, Em.«

»Seit du hier bist, hast du kaum eine ruhige Minute gehabt. Das kann nicht gesund sein«, mischt sich Kim ein, und beide sehen mich besorgt an.

Seit unserer gemeinsamen Zeit auf der Uni habe ich meine Cousinen nicht mehr gesehen. Wir haben zwar regelmäßig telefoniert, doch das war auch schon alles. Sie wollten mich im Sommer besuchen, aber dann kam Aidens Anruf, und ich flog nach Hause. Jetzt bin ich seit drei Tagen hier und versuche meinem Bruder so viel Arbeit wie möglich abzunehmen. Mom und ich haben die Beerdigung organisiert und uns um Millionen Dinge gekümmert. »Ihr habt ja recht. Ich brauche dringend etwas Luftigeres zum Anziehen.«

Gäste kommen vom Garten zum Vorplatz. Es sind Mrs. Winterbottom und Mrs. Bush, die so in ihr Gespräch vertieft sind, dass sie uns auf den Stufen nicht bemerken.

»Ein Bordell? Bist du dir sicher?«

»Ja, ich traue der Familie wirklich alles zu«, bestätigt Mrs. Winterbottom.

Zufrieden grinse ich in mich hinein.

»Na, wer weiß, schließlich hat die Ex-Mrs. Westham ihren Mann damals auch sitzen lassen und ist mit ihrem Lover durchgebrannt.«

Empört stehe ich auf, als ich höre, was sie über meine Mutter sagt. Sie hat kein Recht dazu, so einen Mist zu behaupten. Mom hat viel ertragen müssen und sich nie beschwert. Jetzt kann die werte Mrs. Winterbottom was erleben. Ich balle die Fäuste und will die Treppe zu ihnen hinunter, da greift jemand nach meiner Schulter und hält mich zurück. Es ist Mom. Sie schüttelt den Kopf und lächelt besänftigend. Sofort ist meine Wut verraucht, und ich wünsche mir etwas mehr von Moms Gelassenheit.

»Ist schon in Ordnung, Em. Das ist den Ärger nicht wert. Ich halte das aus, wirklich.«

Es ist einer dieser intimen Momente, die nur uns gehören – Mom und mir. Mein Herz brennt, weil ihr nur Falschheit von den Menschen hier entgegengebracht wird. Beinahe bin ich froh, dass sie morgen wieder zurückmuss. Einerseits würde sie gern noch einige Tage bei Aiden und mir verbringen, aber sie sollte zu ihrem Mann und ihrer Boutique. Sie wird mir schrecklich fehlen.

Mom geht die Treppen zu den Schnatterweibern hinunter und begleitet sie zu ihren Wagen. Bewundernd schaue ich zu ihr, wie sie Mrs. Winterbottom mit so viel Freundlichkeit und Selbstbewusstsein verabschiedet, als wäre sie noch die Dame des Hauses. Die Leute, vor allem die Lästermäuler von Elisabethtown, waren gespannt, ob die geschiedene Westham-Witwe zur Beerdigung ihres Ex-Mannes auftauchen und womöglich ihren Lover mitbringen würde. Aber Mom hat souverän und gelassen auf Blicke und Fragen reagiert, und es scheint ihr egal zu sein, dass die Menschen die alten Geschichten wieder aufwärmen.

Mom war schon lange von Dad getrennt, und erst vor zwei Jahren hat sie Owen, einen deutlich jüngeren Mann, geheiratet. Das hat für Zündstoff gesorgt, aber nach allem, was sie durchgemacht hat, hat sie ein wenig Glück verdient. Ich mag Owen. Er ist ein toller Typ, der meine Mutter zum Lachen bringt.

Egal, ob Gerüchte über uns verbreitet werden, die Wahrheit ist: Man sollte niemals über Menschen urteilen, in deren Herz man nicht gesehen hat.

 

***

 

Nach dem Frühstück bringt Aiden Moms Koffer zum Taxi, während ich mit ihr Arm in Arm aus dem Haus gehe.

»Em, du bist einfach unverbesserlich. Du kannst doch die arme Frau nicht so schocken«, sagt Mom tadelnd, aber ich höre heraus, dass sie schmunzelt.

»Arme Frau?« Ich komme mir tatsächlich wie ein Teenager vor, der etwas ausgefressen hat. »Sie hat es verdient, und manchmal kann ich eben nicht anders. Ich werde nie verstehen, warum solche Menschen auf Gefühlen herumtrampeln dürfen und ich nicht. Ich meine, wieso darf sie über alles und jeden herziehen?«

»Ach, Em. Lass die Leute doch reden. In ein paar Wochen haben sie es vergessen und stürzen sich auf etwas anderes.«

»Du meinst, auf jemand anderen«, verbessere ich sie.

Sie nickt. »Trotzdem hättest du ihr so eine verrückte Geschichte mit einem Bordell nicht auftischen sollen.«

»Also, ich fand die Story genial. Stell dir so eine Schlagzeile mal vor: ›Konservatives Elisabethtown geht Bordellwege.‹«

Wir lachen darüber und sehen zu Aiden, der sich mit dem Taxifahrer unterhält. Ich spüre deutlich, wie schwer es Mom fällt, uns jetzt zu verlassen. Sie macht sich Sorgen.

Als sie sich damals von Dad getrennt hat, nahm sie mich nach New Orleans mit, ihrem Geburtsort. Während ich versuchte, den Anschluss in der Schule zu schaffen, eröffnete Mom ganz spontan das Spirit, eine tolle Modeboutique. Nur ich konnte den Neustart in der fremden Stadt nicht nutzen. New Orleans ist wunderschön, aber es fiel mir schwer, mich darauf einzulassen. Es war die Vergangenheit, die mich ständig einholte. Bis heute.

Ich kam zurück nach Elisabethtown, zu Aiden, meinem Vater und meinen Cousinen. Wir Mädchen waren wieder ein Herz und eine Seele und beschlossen auf die gleiche Uni zu gehen. Hauptsache, wir drei waren wieder zusammen und weit fort von jeglicher elterlicher Kontrolle.

Nach dem Uniabschluss bekam ich ein vielversprechendes Jobangebot in einer Werbeagentur in New York, richtete mich in einer netten Wohnung ein, und Teach und Kim gingen zurück nach Hause. Teach bewarb sich um eine Stelle als Lehrerin, und Kim wollte sich noch ein Jahr Zeit mit der Berufswahl lassen. Als ich meinen Vater von meinen Plänen per Telefon in Kenntnis setzte, war er außer sich vor Wut. Er rechnete fest damit, dass ich in den Familienbetrieb einsteigen würde, obwohl ich ihm schon damals sagte, dass das Whiskey-Geschäft nicht das Richtige für mich sei. Er meinte, es sei meine Pflicht als Tochter … Blablabla. Ich weigerte mich, selbst als er mir drohte, mich zu enterben.

»Ich bin froh, dass du noch einige Tage bei Aiden bleibst. Ich glaube, er braucht jetzt seine kleine Schwester«, sagt Mom gedankenverloren, den Blick auf ihren Sohn gerichtet.

»Mach dir keine Sorgen, Mom. Aiden kriegt das hin. Er ist nicht erst seit gestern CEO.« Ich schaue ebenfalls zu ihm. Als sein Anruf mit der Nachricht vom Tod unseres Vaters kam, hörte ich in seiner Stimme, wie schlecht es ihm ging. Auch wenn das Verhältnis zwischen Dad und mir nie besonders warmherzig war, fällt es mir schwer, mir vorzustellen, wie es ohne ihn sein wird. Unsere Differenzen konnten wir nicht mehr aus der Welt schaffen, damit werde ich leben müssen – Aiden ebenso wie ich.

»Ich denke, es ist nicht nur der Tod eures Vaters, sondern auch die Trennung von Judy, unter der er leidet. Ich kann nicht begreifen, warum das Mädel ihn so sang- und klanglos verlassen hat. Was ist nur zwischen ihnen geschehen? Sie waren mal so verliebt ineinander.«

Judy und Aiden waren ein Traumpaar. Sie kannten sich seit der Jugend, und schnell war klar, dass die beiden heiraten würden.

»Er hat sich verändert, Em, er ist wortkarg und eigenbrötlerisch geworden. So kenne ich meinen Sohn nicht. Ich weiß, er liebt Judy immer noch, aber irgendetwas ist passiert, was er ihr nicht verzeihen kann. Vielleicht redest du mal mit ihm.«

Ich nicke und bin fest entschlossen, Aiden zum Sprechen zu bringen. »Ich werde es versuchen, Mom.«

Wir steigen die Stufen zu ihm hinunter.

»Das Taxi ist bereit, Mom«, sagt er. »Wenn du deinen Flug erwischen willst, dann solltest du jetzt los.«

»Danke.« Mom lächelt uns an. »Ach, kommt her.« Sie zieht uns in ihre Arme. »Ich werde euch vermissen.«

»Du wirst uns auch fehlen, Mom«, erwidern Aiden und ich gleichzeitig.

»Ich rechne an Thanksgiving fest mit euch.«

»Wir kommen, versprochen, und falls Aiden sich irgendwelche Ausreden einfallen lässt, schleife ich ihn höchstpersönlich an den Ohren nach New Orleans.«

Wie früher zieht Aiden mich an meinem Pferdeschwanz.

»Aua! Blödmann!«, zicke ich ihn gespielt beleidigt an.

Wir lachen, und Mom seufzt. »Kinder! Ich muss los. Vertragt euch, und falls etwas ist, könnt ihr mich jederzeit anrufen.«

»Machen wir, Mom.«

Sie umarmt uns noch einmal kurz und steigt dann ein. Wir winken ihr nach, bis das Taxi verschwunden ist. Arm in Arm betreten Aiden und ich das Haus. Mein Bruder und ich hatten bisher kaum Zeit füreinander, und ich spüre deutlich, dass es ihm nicht gutgeht. Er sieht müde aus, und mir ist aufgefallen, dass er abgenommen hat.

»Hast du Lust auf einen Drink? Wir könnten es uns im Garten gemütlich machen, und du kannst mir erzählen, was in den letzten Wochen und Monaten geschehen ist.«

Aiden antwortet nicht sofort, öffnet die Eingangstür und wartet, bis ich eingetreten bin. Er lächelt zwanghaft.

»Eigentlich total gern, aber gleich ruft der Notar an und will einige Papiere mit mir durchgehen, und ich muss heute Nachmittag noch ins Büro. Aber am Abend gehöre ich ganz dir«, meint er versöhnlich und sieht mich entschuldigend an.

»Okay, kein Problem. Kann ich dir bei irgendetwas behilflich sein?«

»Nein. Ich komm schon klar. Wir treffen uns später.« Schnell drückt er mir einen Kuss auf die Wange, geht an mir vorbei, bevor ich etwas erwidern kann, und verschwindet in Dads ehemaliges Arbeitszimmer.

Ein wenig verdutzt bleibe ich stehen. Hat er mich gerade abgewimmelt? Für einen Moment lag ein unsicherer Zug um seine Lippen. Den hatte er früher auch, wenn er vor Dad etwas verheimlicht hat. Wahrscheinlich habe ich mir das nur eingebildet.

Jetzt, da ich den Nachmittag freihabe, beschließe ich, mich mit Kim und Teach zu verabreden. Ich hasse zwar Shopping, aber ich habe es ihnen versprochen. Wie kann man sich das nur freiwillig antun? Kim und Teach lieben es und lassen regelmäßig Onkel Harrys Kreditkarten glühen. Warum sie so gern einkaufen gehen, ist mir unbegreiflich. Voller Eifer und Leidenschaft stürzen sie sich in teure Boutiquen, lassen sich irgendwelchen Designerkram und Special Editions andrehen, nur um das zwanzigste Christian-Louboutin-Paar zu ergattern, das sie ohnehin in einer anderen Farbe zu Hause im Schrank stehen haben. Es ist mir ein Rätsel, wie man in den Tretern laufen kann.

Ich hasse shoppen, habe ich das schon erwähnt?

Sosehr ich es vermeide, kann ich nicht abstreiten, dass ein Einkaufsnachmittag mit meinen Cousinen auch Vorteile hat, nämlich genau zwei. Erstens: Es lenkt mich von meiner Trauer und den Sorgen um meinen Bruder ab. Und zweitens: So kann ich mir endlich sommertaugliche Kleidung und bequeme Schuhe kaufen.

Als Aidens Anruf kam, habe ich in Windeseile nur das Nötigste gepackt und eilte mit dem nächsten Flieger nach Hause. Ich war so durcheinander, dass ich weder etwas Geeignetes für die Beerdigung noch für die Tage danach mitgenommen habe. Zum Glück konnten Kim und Teach mir aushelfen.

Froh, es hinter mir zu haben, sitze ich mit prall gefüllten Taschen neben meinen Cousinen in einem Straßencafé und bin erleichtert, dass die Shoppingtour vorbei ist. Gemächlich rühre ich in meinem Milchkaffee, während die Zwillinge munter über unsere Errungenschaften schwatzen.

»Das kleine Schwarze gehört definitiv in jeden Kleiderschrank, Em. Es wäre gestern luftiger gewesen als der Hosenanzug«, schnattert Teach und freut sich, dass sie mich zu dem Kauf überredet hat.

»Vielleicht sollte ich mir auch so ein Kleid zulegen. Hurley würde es bestimmt gefallen, oder?«, überlegt Kim laut.

»Wer ist Hurley?«, will ich wissen.

Teach rollt mit den Augen. »Ihr neustes Opfer.«

»Du hast schon wieder einen Neuen?« Fragend schaue ich meine Cousine an. »Was ist aus Frank geworden? Vor ein paar Tagen warst du noch unsterblich in ihn verliebt.«

Kim senkt verlegen den Blick, und Teach winkt ab. »Er war doch nicht der Richtige.«

Ich bin immer wieder verwundert, wie schnell Kim sich verlieben kann. Ihre Männergeschichten sind so vielseitig wie ein Telefonbuch. Amor scheint es besonders oft gut mit ihr zu meinen. Ihre Affären sind zwar sehr intensiv, aber leider nie von Dauer, obwohl sie stets glaubt, die Liebe ihres Lebens getroffen zu haben. Meistens enden die Beziehungen in einem See voller Herzschmerz und Tränen, tonnenweise Eiscreme und ausgiebigen Shoppingtouren, um ihr Selbstwertgefühl zu heben.

»Wartet nur, bis ihr euch Hals über Kopf verliebt, dann werdet ihr schon merken, wie das ist.«

»Dieses Drama jede Woche? Never, Süße.«

Teach senkt den Blick, und ich weiß, dass sie noch an ihrer letzten Beziehung zu knabbern hat. Sie war sehr verliebt in Oliver, aber der Idiot war nur auf ihr Geld aus, und als sie ihn auch noch in flagranti mit einer anderen erwischte, brach für sie eine Welt zusammen. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass Teach dieses Kapitel hinter sich hat, denn sie hat etwas Besseres verdient. Von Anfang an hatte ich bei Oliver kein gutes Gefühl.

Ich schaue mich um, weil ich mich plötzlich unbehaglich fühle. Ein Typ, der ein paar Tische von uns entfernt sitzt, starrt mich unentwegt an. Da Kim und Teach ihm den Rücken zukehren, können sie ihn nicht sehen. Ich versuche ihn zu ignorieren, aber mit seinem durchdringenden Blick und den Augen, die mich an einen Wolf erinnern, bringt er mich tatsächlich in Verlegenheit. Er raucht eine Zigarre, sein Haar ist kurz und streng nach hinten gegelt, nur eine Strähne fällt ihm in die hohe Stirn. Er trägt ein weißes Hemd und eine Anzugweste. Seine schlanke, sportliche Gestalt lässt ihn nicht unattraktiv wirken. Warum zum Teufel starrt er mich so an? Er zieht genüsslich an seinem Stumpen, da kann ich nicht anders und strecke ihm die Zunge heraus. Er hält inne und grinst.

»Em, alles okay?« Teach legt besorgt eine Hand auf meinen Unterarm.

»Ja, mir geht es gut, nur dem Kerl da drüben nicht. Dem steht der Mund offen, ich glaube, der wartet darauf, dass eine Fliege sich hineinverirrt.« Ich nicke in seine Richtung.

Sie folgen meinem Blick, und Kim ist die Erste, die reagiert. »Popcorn?«

Jetzt winkt sie dem Kerl auch noch. Er erhebt sich und kommt lächelnd auf uns zu.

»Na, das ist ja eine Überraschung. Die Westham-Zwillinge.« Er begrüßt meine Cousinen mit Küsschen links und rechts auf die Wange.

»Emily, darf ich dir Popcorn vorstellen.«

Breit grinst der Typ mich an. Popcorn? Was ist denn das für ein verrückter Name?

»Teach und ich kennen ihn aus dem Club Angels Share. Wenn du mal feiern willst, ist er der Mann, der die besten Locations leitet. Popcorn, das ist unsere Cousine Emily. Ihr Vater ist –«

»Ich weiß«, unterbricht er sie und greift nach meiner Hand. »Mein aufrichtiges Beileid.« Er deutet einen Kuss auf meinen Handrücken an. Dabei sieht er von unten zu mir hoch, als wollte er mich auffressen und mit meinen Fingern beginnen.

»Fliege oder Biene?«

Er runzelt die Stirn. »Bitte?«

»Fliege oder Biene. Du hast mich vorhin mit offenem Mund so angestarrt, als ob du auf ein vorbeifliegendes Insekt wartest. Kennen wir uns?«

Er lacht. »Nein, zumindest sind wir uns noch nie persönlich vorgestellt worden, aber ich habe schon einiges vom Westham-Clan gehört.«

Westham-Clan? Was glaubt er, was wir sind? Eine Sippe? In Popcorns Blick liegt etwas Forschendes und Wildes.

 

»Starrst du jede Frau so an?«, platzt es aus mir heraus.

Er grinst schief. »Nur wenn sie so schön ist wie du.«

Ich rolle mit den Augen, bin aber froh, dass Kim ihn in ein Gespräch verwickelt und von mir ablenkt. »Du kannst dich gern zu uns setzen und uns von dem neuen Club erzählen. Stimmt es, dass ihr ziemlich strenge Einlassregeln habt?«

Popcorn lacht laut auf, und während er irgendetwas faselt, wird meine Aufmerksamkeit auf etwas gelenkt, das ich schon eine Ewigkeit nicht mehr gehört habe. Es ist ein Geräusch, das mich innehalten lässt und in seinen Bann zieht. Ein Flummi. Er ist durchsichtig und leuchtet in schillernden Farben, sobald er auf den Boden aufprallt.

Mein Gott! Im Bruchteil einer Sekunde wird mein Mund trocken, und mein Herz rast. Dann sehe ich den Jungen, der den Gummiball einfangen will und beinahe mit einer Kellnerin zusammenstößt. Geistesabwesend taste ich mein Handgelenk nach meinem Notfallarmband ab, das mich vor einer Panikattacke bewahrt, aber es ist bereits zu spät. Stimmen in meinem Kopf flüstern seinen Namen, und vor meinen Augen taucht sein süßes Kindergesicht auf, während er verzweifelt seine Arme nach mir ausstreckt.

2

 

Emily

 

 

Mein Herzschlag stolpert, und die Panik, die ich lange unter Kontrolle geglaubt habe, steigt in mir empor. Meine Fingernägel bohren sich schmerzhaft in die Handinnenflächen. Angst und Schuld überschwemmen mein Inneres. Bevor ich darin versinke, suche ich verzweifelt nach einem Rettungsanker, an dem ich mich festhalten kann. Einen Moment bin ich machtlos und ertrinke in dem Pool aus Verzweiflung und Trauer. Atme, Emily! Atme! Zitternd ziehe ich nochmals am Gummiband um mein Handgelenk und lasse es gegen meine Haut schnippen. Der leichte Schmerz brennt auf, soll mich ins Hier und Jetzt zurückholen, doch die Erinnerung an damals ist zu präsent und verschlingt mich. Krampfhaft versuche ich die Realität festzuhalten und will das Geschehene zurück in das Verlies drängen, in das ich es mühevoll gezwängt habe. Ich schaffe es nicht, die Vergangenheit holt mich ein und läuft wie ein Film vor meinen Augen ab.

 

Die Sommerhitze flirrt, während ich missmutig durch das Kornfeld laufe und meinen kleinen Bruder verfluche. Dabei streicht meine Hand über die goldenen Ähren, hier und da reiße ich das Getreide ab, zermalme es und lasse schließlich die Körner zwischen meinen Fingern hindurchrieseln. Mit jedem meiner Schritte rascheln die trockenen Halme verräterisch, aber das ist mir egal. Tom soll ruhig wissen, dass ich keine Lust auf sein dämliches Versteckspiel habe. Gerade habe ich sein doofes Gekicher noch gehört. Wahrscheinlich weil er mal wieder seinem blöden Gummiball hinterherrennt – seinem Lieblingsspielzeug. Obwohl ich ihm gesagt habe, er soll ihn in seiner Hosentasche stecken lassen.

Ich bin sauer, weil ich den Nachmittag mit ihm verbringen muss, statt bei Calvin und meinen Freunden im Millennium Park. Immer kommt mir Tom dazwischen, wenn ich etwas Wichtiges vorhabe. Kim ist bestimmt auch da und trägt wieder dieses aufreizende Teil, das viel zu viel von ihrer Oberweite zeigt.

»Tom? Komm schon. Es ist zu heiß, um Verstecken zu spielen.« Ich trete aus dem Feld heraus und sehe das Rot seines T-Shirts, wie es im Dickicht des angrenzenden Waldes verschwindet. Abrupt bleibe ich stehen. Tom läuft in den Bluegrass Forest. Nein! Mein Herz rast, weil dieses Waldstück verflucht ist. Jedes Kind weiß, dass hier die verrücktesten Dinge geschehen. Niemand geht dort freiwillig hin. Schauer jagen über meinen Rücken, als ich daran denke, aber mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als ihm nachzulaufen. Ich wische die Angst beiseite, verbanne die schrecklichen Geschichten, die man sich im Ort erzählt, und überlasse meinem Ärger die Oberhand, damit ich mich besser fühle. »Wenn ich dich erwische, kannst du was erleben!«

Die Vögel zwitschern fröhlich, die Grillen zirpen, und ich bin so genervt, dass ich schwöre, nie wieder mit ihm zu spielen, wenn ich ihn zu fassen bekomme. Mit einer Hand schirme ich meine Augen ab, spähe in den Wald, wo dicht gedrängt die Bäume stehen und das üppige Laubwerk kaum Sonnenlicht hindurchlässt.

»Tom! Ich weiß, wo du dich versteckst. Komm raus.«

Nichts regt sich.

»Ich geh gleich allein nach Hause, wenn du nicht sofort kommst«, drohe ich und will im Unterholz nachsehen. Dort haben sich verräterisch einige Blätter bewegt. Ich grinse selbstgefällig und schleiche mich vorsichtig an. Dabei achte ich darauf, nicht auf die Zweige zu treten, die mich verraten könnten. Der Geruch von feuchter Erde und Laub steigt mir in die Nase, kühle Waldluft streicht um meine nackten Beine.

»Ich krieg dich schon, du kleine Kröte, und dann kannst du was erleben«, flüstere ich siegessicher. Mit einem Satz springe ich hinter das Gestrüpp und muss enttäuscht feststellen, dass er nicht da ist.

»Tom?« Ich richte mich auf und sehe mich um. »Tom?!«, rufe ich jetzt energischer und laufe in den Wald hinein. »Das ist nicht mehr witzig! Lass uns nach Hause gehen, Bertha hat bestimmt ein Eis für uns.« Tom liebt Eis, aber er ist für seine sechs Jahre wirklich schlau. Er weiß genau, dass er heute kein zweites Eis bekommen wird, und reagiert nicht. Hätte ich mir denken können.

Plötzlich ist es mucksmäuschenstill. Die Vögel haben aufgehört zu zwitschern, das Lied der Grillen ist verstummt. Nicht mal die Blätter in den Wipfeln rascheln. Es ist ungewöhnlich ruhig – viel zu ruhig – gespenstisch ruhig.

»Tom?!« Bin ich zu tief in den Wald gelaufen? Habe ich ihn übersehen? Oder hat er sich etwa verirrt? Er kann doch nicht weit sein. Er müsste meine Rufe hören. Sobald sich die Gelegenheit bietet, werde ich es dem kleinen Scheißer heimzahlen. Langsam drehe ich mich im Kreis, und Panik greift nach mir.

»Mir reichts, ich gehe jetzt ohne dich. Du kannst zusehen, wie du nach Hause kommst«, schreie ich, mache auf dem Absatz kehrt und will zurücklaufen. Abrupt halte ich inne. Da sind Geräusche, und plötzlich spüre ich jemanden direkt hinter mir. Ich drehe mich um, blicke in ein Gesicht. Ein scharfer Schmerz dröhnt durch meinen Kopf. Ich fasse an die pulsierende, brennende Stelle und fühle etwas Feuchtes und eine offene Wunde. Sie ist glitschig. Ist das Blut? Übelkeit kriecht in mir hoch, und meine Sicht verschwimmt. Mein Blickfeld schwankt, meine Beine geben nach, und bevor die Schwärze mich einhüllt, sehe ich etwas Gelbes. Gelbe Männerschuhe.

 

Atme, Emily, atme!

Verzweifelt zupfe ich stärker am Gummiband um mein Handgelenk, und das vertraute Brennen holt mich endlich in die Wirklichkeit zurück. Es sorgt dafür, dass der dunkle Rand meines Blickfelds zurückweicht und ich wieder klar sehen kann. Ich schnappe leise nach Luft und schaue mich um. Zum Glück haben meine Cousinen und auch der Typ nicht mitbekommen, was gerade geschehen ist.

Ich suche nach dem Jungen mit dem Gummiball. Er ist nicht mehr dort, wo ich ihn zuletzt gesehen habe, aber Sekunden später entdecke ich ihn auf seinem Platz. Atme, Emily, atme! Ich reiße mich zusammen.

»Heute Abend haben wir eine ganz besondere Verköstigung im Angels Share. Es wäre mir eine Ehre, wenn ihr meine Gäste seid«, höre ich Popcorn sagen. Er greift in seine Hemdtasche und verteilt Eintrittskarten.

»Popcorn ist der Manager der besten Flüsterbars und Clubs hier in der Gegend.« Kim hat sich begeistert zu mir rübergebeugt, aber sie hält inne, als sie bemerkt, dass ich über die gerötete Haut an meinem Arm streiche. »Alles in Ordnung, Em? Du bist ganz bleich.«

»Was?« Irritiert sehe ich auf. Alle Blicke liegen auf mir. »Mir geht es gut. Entschuldigt mich bitte.«

Ohne mich von Popcorn zu verabschieden, flüchte ich in die Damentoilette. Im Waschraum halte ich meine Hände unter den kalten Wasserstrahl und schließe für einen Moment die Lider. Zum Glück bin ich allein und habe einen Augenblick, um mich zu sammeln. Wann hatte ich das letzte Mal eine Panikattacke? Und warum ausgerechnet jetzt? Vielleicht sind es Dads Tod und die Erinnerungen an Tom, die mich so aufgewühlt haben. Stumm blicke ich in den Spiegel und atme tief durch. Tom – lange habe ich sein Bild verdrängt, weil der Schmerz so groß war und die Schuld noch immer an mir nagt.

Ich darf nicht zu viel darüber nachdenken. Wahrscheinlich bin ich einfach zu überdreht. In der Hoffnung, dass ich wieder etwas Farbe bekomme, kneife ich mir in die Wangen.

Die Tür schwingt auf, und Teach tritt ein. »Hey!« Sie lehnt sich ans Waschbecken und mustert mich eindringlich. »Alles okay?«

»Jap«, gebe ich lächelnd zurück und trockne mir die Hände ab.

»Emily«, sagt sie gedehnt, »du kannst mir alles anvertrauen.« Ihr Blick wandert zu meinem Handgelenk. Sie weiß von meinen Problemen, auch, dass ich in Behandlung war.

Ich zögere erst, aber dann beschließe ich es ihr einfach zu erklären. »Da war dieser Junge – er hat mich an Tom erinnert. Es ist ewig her, dass ich …«

»Och, Süße.« Sie umarmt mich, hält mich fest. »Es ist okay. Sieh mal, nach so langer Zeit kommst du nach Hause, noch dazu zu so einem traurigen Anlass. Kein Wunder, dass alles dich triggert. Willst du zu einem Arzt?«

»Nein, schon gut. Ich denke, es war einfach zu viel in den letzten Tagen.«

Sie nickt und löst sich von mir. »Okay, vielleicht musst du dich nur ablenken. Popcorn hat uns für heute Abend eingeladen. Die Flüsterbars sind wirklich legendär, genau wie der geheimnisvolle Whiskey, der dort ausgeschenkt wird.«

»Was für ein geheimnisvoller Whiskey?«, frage ich neugierig.

»Sag bloß, du hast davon noch nichts gehört?«

Ich zucke die Achseln. »Nein, bisher hat mich niemand aufgeklärt.«

Sie sieht sich um und beugt sich zu mir rüber, dabei sind wir auf der Damentoilette völlig allein. »Seit ein paar Monaten wird in den Bars, in denen Popcorn arbeitet, ein Moonshiner verkauft. Keiner weiß, wie er heißt oder wer der Destillateur ist. Die Leute sind total verrückt danach.«

Mein Interesse ist geweckt.

»Du meinst wirklich schwarzgebrannten Whiskey? Aber den gibt es doch heute nicht mehr.« Ich runzle die Stirn.

»Und ob. Er schmeckt fantastisch. Deshalb solltest du unbedingt mitkommen.«

»Das ist nett, aber ich will bei Aiden bleiben. Seit ich hier bin, hatten wir nicht eine ruhige Minute.«

Teach macht ein verständnisvolles Gesicht, obwohl ich weiß, dass sie es gern gehabt hätte, wenn ich mit ihnen ausgegangen wäre. »Schon gut, dann eben sobald du Zeit hast. Los, wir bringen dich nach Hause.«

 

***

 

Kim hat schmollend das Gesicht verzogen, als Teach ihr gesagt hat, dass ich heute Abend nicht mitkommen würde. Dennoch hat sie verständnisvoll reagiert. Kim ist, im Gegensatz zu ihrer Schwester, der Partytyp, der gern feiert. Jedes Wochenende haben wir die Studentenpartys und Clubs unsicher gemacht. Das vermisst sie, aber sie weiß, dass mir im Moment nicht nach Party zumute ist.

Mein Magen knurrt, als ich nach einem Nickerchen die Treppe hinunter in die Eingangshalle laufe. Vielleicht hat Aiden ebenfalls Hunger. Ich gehe direkt zu Dads Büro, klopfe zaghaft an und öffne die Tür einen Spalt. Ich strecke meinen Kopf hinein und erwarte, ihn am schweren Eichentisch meines Vaters vorzufinden, aber da sitzt er nicht. Stattdessen erfasse ich ein kleines Chaos auf dem Schreibtisch, leere Whiskeyflaschen, Unmengen Ordner und einen Stapel Papiere rechts auf dem Boden. Neugierig schiebe ich die Tür ganz auf und entdecke ihn auf dem Ledersofa. Er liegt völlig entspannt da, hält ein Glas an seinen Bauch gepresst und scheint tief zu schlummern. Er hat eine rote, geschwollene Nase. Hat er sich etwa geprügelt?

»Aiden«, rufe ich ihn sanft, aber er schnauft nur etwas lauter. Kurz denke ich darüber nach, ihn zu wecken, doch er sieht so friedlich aus, dass ich es nicht übers Herz bringe. Schlaf ist genau das, wovon er während der letzten Wochen zu wenig hatte und was ihm jetzt guttut. Vorsichtig, damit er nicht aufschrickt, ziehe ich das Whiskeyglas aus seinen Fingern und stelle es auf dem kleinen Tisch ab. Er schnarcht leise, wacht aber nicht auf. Ich lösche das Licht und gehe in die Küche. Dann esse ich eben allein.

Wie erhofft, finde ich die Reste des Mittagessens, das Bertha heute gekocht hat, im Kühlschrank. Ich schiebe das Hühnchen, die Kartoffeln und das Gemüse in die Mikrowelle und kann es nicht erwarten, bis es endlich heiß ist. Während ich zusehe, wie sich der Teller im Inneren dreht, denke ich an den Jungen mit dem Flummi von heute Nachmittag. Der Knirps hat Tom nicht einmal ähnlich gesehen, und doch hat das Spielzeug in seiner Hand ausgereicht, bei mir die alten Erinnerungen wachzurufen. Früher hatte ich täglich Panikattacken. Ich hasse das Gefühl, wenn meine Brust sich immer mehr zuschnürt, es eng in meiner Kehle wird, die Realität verschwimmt und ich den dreizehnten Juli ein weiteres Mal erlebe. Nur durch die intensiven Bemühungen und vielen Gespräche mit Mom und Dr. Candell, meiner Psychotante, wie ich sie liebevoll nannte, konnte ich die Backflashs mithilfe eines Gummibandes loswerden.

Das Bing der Mikrowelle reißt mich aus meinen Gedanken, und endlich kann ich meinen Hunger stillen. Nach dem Essen sehe ich nach Aiden, aber der schläft tief und fest, sodass ich mich langweile. Als Kinder sind mein Bruder und ich durchs Haus gerannt, haben überall Verstecken gespielt, und einmal hat Aiden versehentlich eine teure Vase umgeworfen. Das gab ein ziemliches Donnerwetter.

In all der Zeit hat sich hier nicht viel verändert. Die Einrichtung ist dieselbe, und noch immer schwingt ein seltsames Unbehagen in mir, wenn ich an Toms Kinderzimmer vorbeikomme. Ich bleibe stehen und schaue den Flur hinunter zu seiner Tür. Seit der Sache von damals bin ich nie wieder hineingegangen. Ich erinnere mich, dass Mom Tage, sogar Wochen, dort drin verbracht hat. Ich höre ihr Weinen und ihre Rufe. Meine Brust zieht sich bei diesen Gedanken zusammen. Atme, Emily, atme!

Sofort wende ich den Blick ab und betrete mein Zimmer. Ich sollte nicht zu viel an die Vergangenheit denken. Das ist nicht gut für mich.

Gelangweilt zappe ich durch die Kanäle und weiß nichts mit mir anzufangen. Schließlich stehe ich am Fenster und schaue in den Garten. Vielleicht hätte ich doch mit meinen Cousinen gehen sollen. So müde wie Aiden ausgesehen hat, schläft er bestimmt die Nacht durch.

Kurzerhand beschließe ich, mir diese Flüsterbar doch mal näher anzuschauen, zupfe mein Haar zurecht, lege ein wenig Lippenstift auf und mache mich auf den Weg zur Garage. Dort nehme ich Dads Wagen und gebe die Adresse von Popcorns Einladung ins Navi ein.

Nach zwanzig Minuten bin ich da, aber von einer Bar ist weit und breit nichts zu erkennen. Oder war es ein Club? Dann würde ich laute Musik erwarten, die bis zur Straße dröhnt. Ich parke, steige aus und suche. Nichts. Hier sind nur ein Waschsalon, ein Lebensmittelgeschäft und ein Tattooladen. Seltsam. Ich kontrolliere die Angaben auf der Karte. Der Waschsalon ist die Adresse! Ich spähe von außen durch die Scheibe. Eine Frau sitzt wartend mit Strickzeug vor den Waschtrommeln. Ansonsten ist niemand hier.

Gerade will ich mein Handy aus der Tasche ziehen, da verlassen zwei Typen die Münzwäscherei. Wo kommen die plötzlich her? Ich betrete den Laden und schaue mich um. Langsam geht mir ein Licht auf. Der Eingang des Angels Share muss irgendwo hier drin sein. Und tatsächlich, die hinterste Waschmaschine sieht anders aus. Neugierig laufe ich an der Frau vorbei, die mich völlig ignoriert, und bleibe vor der Maschine stehen. Ein Zettel hängt daran, auf dem in dicken Buchstaben ›Defekt‹ steht. Neugierig öffne ich die Trommeltür. Zuerst fällt mir nichts auf, doch dann bemerke ich, dass das Innere der Maschine ungewöhnlich groß ist, und höre einen dumpfen Bass, der aus einem dahinterliegenden Raum kommen muss. Voller Entdeckerfreude steige ich in die riesige Trommel und taste die Rückwand ab. Tadaa! Sie lässt sich öffnen. Kurz schaue ich in den Waschsalon zurück. Die Frau blickt nicht einmal auf, ich verschwinde ganz in der Maschine und folge einigen Stufen nach unten.

Auf der anderen Seite erwartet mich laute Musik. Wow! Ich bin beeindruckt. Ein gutes Versteck für einen exklusiven Club. Die Bar ist voll, überall sind gut gelaunte Menschen, und eifrige

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Any Cherubim
Cover: Wolkenart Media Design; www.wolkenart.com
Lektorat: Anja Horn
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 11.03.2021
ISBN: 978-3-96714-140-5

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