Broken Feelings - Gefunden
Any Cherubim
Prolog
Cat, 10 Jahre alt
Endlich Ferien! Noch nie hatte ich es so eilig wie heute, aus unserer Limousine auszusteigen. Ich hasse es, wie Mr. Claus, unser Chauffeur, den riesigen Wagen gemächlich durch die Straßen lenkt. Auf uns wartet der Sommer – warme Tage, an denen ich nichts anderes vorhabe, als an meinem Geheimversteck zu arbeiten, in den Himmel zu starren und vielleicht heimlich mit Grandpa Bambam und seinem Motorrad ein paar Runden zu drehen, wenn Dad im Dienst ist. Außerdem werde ich endlich erfahren, wer in das letzte Haus gegenüber unserem Grundstück einzieht. Dad hat neulich erwähnt, dass er es wieder vermietet hat.
Heute Morgen haben –Becky und ich einen Umzugswagen entdeckt, der direkt vor dem Haus geparkt hat. Angestellte der Umzugsfirma schleppten Möbel und Kartons hinein, und die Fenster wurden geöffnet. Aber das Spannende ist, dass kurz bevor Martha, unsere Haushälterin, uns zum Frühstück gerufen hat, ein Kinderfahrrad und ein Skateboard in der Garage abgestellt wurden – es zieht also eine Familie ein.
»Da läuft Ashley Miller«, bemerkt Becky. Wir schauen durch die Heckscheibe, wie sie an der Landstraße entlanggeht. »Sie hat bestimmt den Schulbus verpasst. Mr. Claus, halten Sie an, wir nehmen sie mit.«
»Nein, ich will schnell nach Hause. Fahren Sie weiter, Mr. Claus«, sage ich bestimmend, weil ich Ashley nicht leiden kann.
»Cat, sei nicht so fies!« Sie weist den Chauffeur an, rechts ranzufahren. Ich rolle mit den Augen und verschränke beleidigt die Arme. Becky weiß genau, wie gemein Ashley zu mir ist.
Mr. Claus steigt aus und bietet Ashley an, sie heimzubringen, was die dumme Gans sofort annimmt. Unsere Mütter sind beste Freundinnen, schon allein deswegen, findet Becky, sollten wir nett zu ihr sein. Aber genau das fällt mir schwer. Meine Schwester ist knapp zwei Jahre älter als ich und tut so, als wäre sie erwachsen. Wir haben beide Moms grüne Augen geerbt, die lange dunkle Lockenmähne, eine schmale Nase und die vollen Lippen, sodass die Leute uns oft für Zwillinge halten. Trotz der Ähnlichkeit könnten wir nicht unterschiedlicher sein. Becky ist das, was meine Eltern als wohlerzogen bezeichnen. Sie ist niemals ungehorsam, lernt fleißig, ist die Beste der Schule und zur Krönung auch noch ein großes Gesangstalent. Kurzum: Sie ist die Vorzeigetochter, auf die Mom und Dad sehr stolz sind.
Geduld ist nicht gerade meine Stärke. Ehrlich gesagt ist es eine Qual. Deshalb wackle ich unruhig mit dem Fuß, bis Ashley endlich eingestiegen und angeschnallt ist.
»Danke«, sagt sie zu Becky und schaut mich spöttisch an. Sie weiß genau, dass sie es meiner Schwester zu verdanken hat, jetzt in unserer Limousine zu sitzen.
Als Mr. Claus losfährt, grinst er mich durch den Rückspiegel an, weil er es gut findet, dass Becky sich diesmal durchgesetzt hat. Für seinen Geschmack kommt das viel zu selten vor. Mr. Claus ist ein älterer Mann mit weißem Haar, Vollbart und klaren grauen Augen. Seit ich ihn kenne, versuchen die Erwachsenen uns weiszumachen, dass er der Weihnachtsmann ist. Aber mal ehrlich: Nur weil er ihm ähnlichsieht, am Waldrand von Papenfus Creek wohnt und dazu Claus heißt, bedeutet das noch lange nicht, dass er der Santa Claus ist. An dieses Märchen glaube ich schon lange nicht mehr, auch wenn ganz Pleasant Hill das Gerücht mit allen möglichen Geschichten aufrechterhält. Ich bin zehn Jahre alt und weiß genau, wie der Hase läuft.
Endlich kommen wir in Pleasant Hill an und lassen Ashley vor ihrem Haus aussteigen. Sie murmelt ein »Danke« zu Becky und knallt die Tür zu.
Mr. Claus gibt Gas, und wir fahren heim – zum ›Spence-Anwesen‹, wie die Leute es immer nennen.
»Am Sonntag in der Kirche hast du ganz wunderbar gesungen, Rebecca. Aus dir wird bestimmt mal eine Berühmtheit«, meint Mr. Claus erfreut.
»Danke.« Beckys Wangen färben sich rosa, verlegen streicht sie sich über den Schulrock. Das tut sie immer, wenn sie ein Kompliment bekommt. Daran gewöhnt sie sich wohl nie.
Jetzt hat er mich im Visier. Ich weiche seinem Blick aus, weil ich ahne, was er sagen will. Das Lächeln, das er eben noch auf den Lippen hatte, ist verschwunden und einem ernsten Zug gewichen. »Ich weiß, dass du es warst, die in meinen Schuppen eingebrochen ist.«
Ich versteife mich. Mist!
»Wenn du das noch einmal tust, dann muss ich es deinem Vater melden.«
Ich presse den Mund zusammen und blicke schuldbewusst auf meine Hände. Ich habe gehofft, dass er mich nicht erkannt hat, als ich vor ein paar Tagen in seinen Werkzeugschuppen eingedrungen bin.
»Weißt du, du hast mir einen Schrecken eingejagt, Kleine. Um ein Haar hätte ich dich mit einem Einbrecher verwechselt und tatsächlich geschossen. Meine Flinte war geladen, und ich hätte dich verletzen können.«
»Es tut mir leid, Mr. Claus.«
»Was wolltest du in meinem Schuppen?«
Ich schaue aus dem Fenster und suche fieberhaft nach einer Ausrede, aber mir fällt nichts ein. Dort gibt es tolle Holzbretter, die ich für mein Versteck gebrauchen kann. Jede Menge davon liegt auf einem Haufen. Er hätte bestimmt nichts bemerkt, wenn sein Hund nicht gebellt hätte. Ich brauchte nur drei Bretter.
»Nichts. Es kommt nicht wieder vor, Ehrenwort«, verspreche ich eingeschüchtert.
Mürrisch nickt er und beäugt mich. »Na gut. Vielleicht solltest du deine Ferien mit etwas Sinnvollerem verbringen, Mädchen.«
»Können Sie anhalten, mir ist schlecht«, presse ich hervor, um ihn vom Thema abzulenken. Sofort bremst er, und ich steige aus.
Er sieht mit sorgenvoller Miene zu mir. »Ist alles okay, Kleine?«
»Ja, geht schon. Ich brauche nur frische Luft, ich laufe den Rest.«
»Catherine«, sagt Mr. Claus mit warnendem Unterton, aber darauf achte ich nicht und will losgehen.
»Was hattest du in Mr. Claus´ Schuppen verloren?« Becky ist ebenfalls ausgestiegen.
»Nichts!« Eilig laufe ich voran.
»Cat! Warte.« Sie holt mich ein. »Was hat Mr. Claus gemeint, als er irgendwas von seiner Flinte geredet hat?«
»Keine Ahnung, du hast dich verhört«, lüge ich und rolle mit den Augen.
Jeder hat doch ein Recht auf Geheimnisse, oder? Becky hat schließlich auch welche.
»Du kannst es mir sagen, Cat. Du weißt, ich verrate dich nicht an Mom und Dad.« Ich ignoriere sie. »Wo willst du denn hin? Du weißt, wir müssen nach Hause.«
»Mir ist übel, ich laufe den Rest«, fauche ich und marschiere unbeirrt weiter.
Manchmal geht sie mir mit ihrem Getue echt auf die Nerven. In ganz Pleasant Hill hält man sie für einen Engel. Ich liebe sie, aber gelegentlich kann ich ihre Makellosigkeit nicht ertragen. So wie jetzt.
»Cat, komm schon! Ich habe gleich Gesangsprobe. Mom wird Fragen stellen, wenn wir nicht gleichzeitig auftauchen, und Mr. Claus bekommt Ärger.«
»Du kannst ja mitkommen«, schlage ich ihr vor, weiß aber, dass sie das nie machen würde.
Sie lässt die Schultern hängen. »Wieso tust du immer Dinge, die dich in Schwierigkeiten bringen?«
»Und wieso tust du immer genau das, was alle von dir erwarten? Das ist langweilig und … Argh!« Verärgert winke ich ab, lasse sie stehen und trotte weiter.
Becky wird nicht nachkommen. Es liegt nicht in ihrer Natur, etwas Verbotenes zu tun – niemals. Was Mr. Claus betrifft: Er kennt mich und weiß, dass ich meine Freiheiten brauche. Und im Augenblick bin ich froh darüber, dass er mich gehen lässt, denn ich bin gern allein.
Es ist ein schöner Tag. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, und eine laue Brise bläst mir ständig eine Locke ins Gesicht. Aus meiner Hosentasche hole ich ein Erdbeerbonbon, das Martha nach Grandmas Rezept selbst hergestellt hat. Ich stecke es mir in den Mund, und plötzlich ist alles beinahe perfekt. Heute Nachmittag werde ich an meinem Versteck weiterarbeiten. Vor einigen Tagen habe ich eine kleine Höhle in einem Felsen am Papenfus Creek Sea entdeckt. Sie ist schwer einsehbar, verborgen zwischen Büschen und Bäumen und absolut genial, um mich unsichtbar zu machen. Seither richte ich mich dort ein. Mit Sträuchern habe ich den staubigen Boden ausgefegt und größere Steine und Äste aus dem Weg geräumt. Aus unserem Keller habe ich eine Laterne, einen alten Teppich, Kissen und Decken mitgenommen und es mir gemütlich gemacht. Ich liebe die Stille am See, an den sich nur selten jemand verirrt. Dort kann ich meinen Gedanken nachhängen, den Ärger in der Schule und zu Hause vergessen – einfach tun und lassen, was mir gefällt.
Ich nähere mich dem Spielplatz. Früher, als Grandma noch lebte, sind wir oft hergekommen. Während Grandma Becky auf der Schaukel anschubste, spielte ich mit Grandpa Bambam Baseball. Überhaupt tue ich all die Dinge lieber, die einem Jungen ähnlichsehen. Ich klettere auf Bäume und hasse alles, was rosa ist. Für meine Mutter der blanke Horror. Manchmal zwingt sie mich, zu ihren Veranstaltungen Kleider anzuziehen, die befreundete Designer für mich geschneidert haben. Schrecklich!
Kurz bevor ich den Zaun des Spielplatzes erreiche, der von dichten Büschen umringt ist, höre ich ein gehässiges Lachen. Ich brauche nicht lange, um Mason Halloways Stimme zu erkennen. Abrupt bleibe ich stehen und spähe zwischen den Blättern hindurch. Mason und seine Freunde ärgern oft andere Kinder; sie nehmen ihnen in der Schule das Pausenbrot ab und spielen sich als Rowdys auf. Ich habe mich schon einmal mit ihm angelegt, obwohl er älter ist als ich. Auch diesmal verspüre ich keine Angst. Im Gegenteil: Ich würde ihm gern mal eins auf die Nase hauen. Verdient hat er es. Sein jetziges Opfer ist ein Junge, den ich hier noch nie gesehen habe. Er kann sich nicht rühren, weil er mit Unmengen von Klebeband an dem Hundeverbotsschild festhängt. Selbst quer über seinem Mund haftet ein Stück. Mason ist wirklich fies. Der Junge ist schmutzig, und in seinen Augen funkelt Wut.
»Was sagst du jetzt, Schwabbel?« Grinsend zieht Mason neues Packband auf und geht um den Jungen herum, während seine Freunde ihn mit Sand bewerfen. Etwas abseits auf der Wiese liegen eine Tasche und Lebensmittel, die er wahrscheinlich eingekauft hat. Wie kann man nur so gemein sein? Ich weiß, dass ich mich aus Dingen, die Ärger bedeuten, raushalten sollte, aber in diesem Fall muss ich einschreiten. Das kann ich Mom und Dad später schon irgendwie erklären.
Mutig trete ich ihnen entgegen. »Hey ihr Flachpfeifen, habt ihr keine Hobbys?«
Augenblicklich verstummt das Gelächter, und die Jungs schauen zu mir rüber.
»Sieh an, Catherine Spence, die Kinderpolizei von Pleasant Hill. Zieh Leine, Cat! Das hier geht dich nichts an.« Mason kommt mit seinen Freunden auf mich zu und baut sich drohend vor mir auf. »Oder möchtest du genauso enden wie Schwabbel?« Er deutet auf sein Opfer.
»Das schaffst du ja doch nicht.«
»Ach ja? Du hast ne große Klappe für ein Mädchen.«
»Für ein Mädchen kann ich auch ziemlich fest zuschlagen.«
Die Jungs lachen. »Geh und spiel mit deinen Puppen, Cat.«
»Du glaubst mir wohl nicht, was?«, frage ich finster. »Mach ihn los. Sofort!«
Mason verschränkt abwartend die Arme. »Sonst …?«
»… wirst du am Ende heulend zu deiner Mom rennen.«
»Ganz schön frech, die Kleine. Los, zeig's ihr«, meint einer von Masons Freunden.
Mason tritt näher und funkelt mich unheilvoll an. »Ich zeige dir gleich, wer flennend nach Hause rennt.«
Mir ist klar, dass ich den Kürzeren ziehen könnte, aber es gibt kein Zurück. Die Wut in mir kocht über. Ich balle die Faust, gehe einen Schritt auf ihn zu, hole aus und donnere sie ihm mit aller Kraft ins Gesicht – genau so, wie Grandpa Bambam es mir gezeigt hat.
Treffer! Mason taumelt, schaut ungläubig und hält sich eine Hand vors Gesicht. Leider erholt er sich zu rasch von der Überraschung, stürzt sich auf mich und wirft mich zu Boden. Sofort schreien seine Kumpels und feuern ihn an. Wir kämpfen, ringen und wälzen uns über die Wiese. Mason ist viel stärker als ich, und in kürzester Zeit lassen mich meine Kräfte im Stich. Schmerz jagt durch meinen Bauch und Kopf. So gut ich kann, schlage ich zurück, kratze, kneife und versuche mich von ihm zu befreien, doch er schafft es, meine Hände festzuhalten und sich auf mich zu setzen.
»Was sagst du jetzt, du dumme Kuh? Gibst du auf?«, brüllt er außer Atem. Aus seiner Nase tropft Blut, und auch sonst habe ich ihm einige Schrammen verpassen können.
»Niemals«, presse ich hervor und erinnere mich an Grandpas Rat, den er mir einmal gegeben hat: ›Wenn du aufgeben willst, denk darüber nach, warum du angefangen hast‹.
Kurz schiele ich zu dem Jungen hinüber und werfe dann Mason mit einem Ruck von mir. Er ist überrascht, als ich ihm meine Faust in seine Kronjuwelen zimmere. Jaulend und kreischend kippt er um und krümmt sich vor Schmerz.
Meine Knöchel tun weh, und ich habe einen seltsamen Geschmack im Mund. Ich stehe auf und spucke roten Speichel aus. »Und jetzt haut ab, bevor ich es meinem Vater sage und er euch drankriegt.«
Wutentbrannt schaut Mason zu mir auf. »Das wird dir noch leidtun, Cat.«
Er lässt sich von seinen Freunden aufhelfen, und sie verziehen sich vom Spielplatz. Mein Herzschlag beruhigt sich, als sie aus dem Blickfeld sind, aber mein Auge schwillt an.
Schnell mache ich mich daran, das Band vom Mund des Jungen zu entfernen. Er wischt sich die Tränen ab.
»Solche Idioten! Wieso sind wir überhaupt hierhergezogen? Verdammter Mist!«, flucht er, zieht sich das restliche Klebeband vom Körper und klopft den Sand von der Kleidung.
Er ist älter als ich, hat dunkle Haare und ziemlich dicke Pausbacken. Sein T-Shirt ist verdreckt und eingerissen, am Hals und an den Armen hat er rote Striemen. Während ich seine Sachen von der Wiese aufhebe und sie in seine Tasche stecke, richtet er sich auf und mustert mich neugierig. Sein Zorn scheint verflogen. Erst jetzt bemerke ich die Sommersprossen auf seinen Wangen und das Blau seiner Augen. Es ist frisch und klar wie der Himmel, sein Blick ist dankbar, aber auch beschämt und traurig.
Er sagt nichts und beobachtet, wie ich eine Packung Milch in seine Tasche lege und sie ihm gebe. »Hier. Ich denke, ich habe alles eingesammelt.«
»Danke«, murmelt er ein wenig verlegen.
»Was hast du getan, dass Mason so gemein zu dir war?«
»Keine Ahnung. Ich kenne den Typ ja nicht mal.«
»Du bist doch viel stärker und kräftiger als er. Hast du dich nicht gewehrt?«
Er lacht verschmitzt. »Natürlich, aber ich hatte keine Chance.«
Er senkt den Blick und scharrt mit den Turnschuhen im Sand. Dabei lässt er die Schultern hängen. Plötzlich kommt er mir sehr verletzlich vor.
»Ich bin leider nicht so stark, wie ich vielleicht aussehe. Ehrlich gesagt hatte ich ziemlich große Angst.« Er spricht so leise, dass ich ihn kaum hören kann.
»Wie heißt du?«
»Noah Graham. Und du?«
»Ich bin Catherine, aber alle nennen mich Cat.«
Er mustert mich. »Bist du mit Superwoman oder Catwoman verwandt, oder so was?«
Ich kichere. »Wie kommst du denn darauf?«
»Du scheinst Superkräfte zu haben. Das war echt cool, wie du dich mit ihm geprügelt hast. Das hat noch niemand für mich getan.« Ich kann nicht leugnen, dass es mich freut, mit Superheldinnen verglichen zu werden, aber es stimmt mich traurig, denn so wie er sich anhört, muss er schon öfter schlechte Erfahrungen gemacht haben. Er deutet mit einem Finger auf mein Gesicht. »Dein Auge hat was abbekommen, du blutest an der Lippe.«
»Ich weiß.« Ich winke ab. »Halb so schlimm.«
»Meine Mutter ist Krankenschwester. Wenn du willst, kann sie es sich ansehen.«
Vielleicht keine dumme Idee, bevor ich Mom und Dad unter die Augen treten muss. »Wo wohnst du denn?«
»Wir sind heute erst in ein Haus in der William Road gezogen.«
Ich strahle. »Dann gehören dir das Fahrrad und das Skateboard?«
Er runzelt die Stirn. »Äh ... ja, ich habe ein Fahrrad und auch ein Skateboard, aber ...«
»Dann sind wir Nachbarn«, rufe ich erfreut aus. »Wir wohnen schräg gegenüber in dem großen Haus.«
»Dann seid ihr die Bonzen mit der Mega-Villa und dem riesigen Park?«
Ich zucke mit der Schulter. »Ja.«
Sein Gesicht erhellt sich. »Wahnsinn! So würde ich auch gern leben. Meine Eltern sind gerade mit dem Umzug beschäftigt. Mom hat mich gebeten ein paar Sachen zu besorgen. Bei der Gelegenheit wollte ich mir Pleasant Hill ansehen und bin leider auf diese Idioten gestoßen.«
Langsam schlendern wir vom Spielplatz. »Mach dir nichts draus. Du hast Glück gehabt, dass ich vorbeigekommen bin.«
»Stimmt. Machen die so was öfter?«
»Ja, leider. Am besten gehst du ihnen aus dem Weg.«
»Das werde ich tun.«
»Oder du wehrst dich.«
Darauf antwortet er nicht, wechselt geschickt das Thema und erzählt mir stattdessen, dass er aus Idaho kommt und in einer Stadt namens Twin Falls aufgewachsen ist. Sein Vater hat hier in Pleasant Hill eine Stelle als Hausmeister an der Highschool angenommen, seine Mutter arbeitet als Krankenschwester. Er hat keine Geschwister und ist froh darüber.
»Warum willst du keine Geschwister?«
Er zuckt mit den Schultern. »Das ist kompliziert. Und wenn, dann hätte ich gerne einen großen Bruder.«
»Also, ich habe eine ältere Schwester – na ja, sie ist zwölf –, aber manchmal geht sie mir tierisch auf die Nerven.«
»Dann ist sie genauso alt wie ich.«
Es ist leicht, sich mit Noah zu unterhalten. Ich mag seine sanfte, ruhige Art, die selbst auf mich entspannend wirkt. Als wir in unsere Straße biegen, stoßen wir auf Becky, die ungeduldig an der Toreinfahrt steht und auf mich wartet. Als sie mich entdeckt, hält sie sich erschrocken die Hand vor den Mund.
»Was ist passiert?« Sie kommt auf mich zu und sieht sich mein Veilchen genauer an. Neugierig und misstrauisch schaut sie zwischen Noah und mir hin und her.
»Du kannst mir glauben, dass Mason Halloway nicht viel besser davongekommen ist. Der hat geheult wie ein Baby«, sage ich siegreich.
In Beckys Blick liegt das Bedauern, mit dem sie mich stets ansieht, wenn mir mal wieder ein Donnerwetter zu Hause bevorsteht.
»Dad ist da. Wir sollten uns beeilen.« Sie deutet zur Toreinfahrt, wo sein Dienstwagen vor dem Haus parkt.
»Das ist übrigens Noah. Er wohnt seit heute hier. Noah, das ist meine ältere Schwester Becky.«
»Hi.«
Sie nicken sich kurz zu, bevor ein schriller Pfiff uns unterbricht. Wir drehen die Köpfe in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen ist. Dort steht ein Mann auf dem Wiesenstück vor Noahs Haus. So wie ich es erkenne, hat er eine Halbglatze, einen Schnauzer und eine Brille. Rauchend schaut er zu uns und macht eine ungeduldige Handbewegung, als niemand von uns reagiert. Noahs Gesicht versteinert sich, sein Mund wird zu einem schmalen Schlitz.
»Das ist mein Vater. Ich muss gehen. Wir sehen uns«, murmelt er, ohne seinen Dad aus den Augen zu lassen.
Er läuft los, bleibt aber mitten auf dem Weg stehen und sieht zu mir zurück. Auch wenn ich instinktiv weiß, dass er genau wie ich zu Hause Ärger bekommt, lächelt er und winkt mir zu.
1
Cat
Genervt zog ich mir die Decke über den Kopf und versuchte das Stöhnen auszublenden, das aus Inmas Zimmer kam. Ich liebte meine beste Freundin und gönnte ihr den Spaß, aber manchmal könnte ich sie wirklich erwürgen.
Es war Sonntagmorgen – andere Leute wollten um diese Zeit schlafen. Ich freute mich ja, dass sie guten Sex hatte, aber konnte sie den nicht leiser genießen? Ihr Gekicher und der verzweifelte Versuch, ihren Übernachtungsgast zur Ruhe zu ermahnen, hatten mich aus dem Schlaf gerissen. Seufzend schaltete ich die kleine Nachttischlampe ein und krabbelte aus dem Bett.
In der Küche setzte ich Teewasser auf und biss in einen Muffin. Drüben kündigte sich jeden Moment das Ende der heißen Nummer an. Es war Punkt fünf Uhr morgens, als Inma laut und unüberhörbar ihren Höhepunkt herausschrie. Dann herrschte friedliche Stille – endlich.
Ich goss das kochende Wasser in die Tasse und schwenkte gähnend den Teebeutel, als ich mitten in der Bewegung innehielt. Mit hochgezogenen Brauen beobachtete ich, wie ein Typ splitterfasernackt zum Kühlschrank lief. Er war schlank, fast drahtig, und hatte längeres, unordentliches braunes Haar, das wirr zu allen Seiten abstand. Sein Po war klein, schmal und weiß. Er nahm sich etwas zu trinken und wollte wieder gehen, blieb aber abrupt stehen, als er mich registrierte.
Ich kannte ihn.
»Hi!« Ich lächelte breit. »Netter Hintern.«
Er grinste zurück, statt zu erröten. »Hi! Wir kennen uns.« Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, wenigstens die Hände vor sein Teil zu halten oder rot anzulaufen, aber er schlenderte völlig unbekümmert auf mich zu. »Ich bin Simon, Simon Curtis. Schön, dich kennenzulernen.«
»Du bist der Liftboy aus dem Hotel, stimmt´s?«
»Genau. Und du bist Catherine, die Neue im Empire Heaven und Inmas beste Freundin.«
»Richtig, aber nenn mich Cat.«
»Ich hoffe, wir haben dich nicht geweckt.«
Ich war ja einiges gewohnt, aber das?
»Na ja, ihr wart nicht zu überhören«, gab ich zu und versuchte, mich auf sein Gesicht zu konzentrieren.
Ich wäre an seiner Stelle vor Scham im Boden versunken, aber ihm schien seine Nacktheit nichts auszumachen.
»Sorry, aber deine Freundin ist der Hammer und süß wie ein Cocktail.« Sein Grinsen wurde noch breiter. Dabei entblößte er ein paar schiefe Zähne, die irgendwie zu ihm passten. Er stand vor mir und hatte eine Hand in die Hüfte gestemmt. Ich hatte freien Blick auf sein Gehänge. Er griff nach einem Muffin und biss hinein. »Ich liebe ihr spanisches Temperament«, sagte er mit vollem Mund. Temperament? Nervenbündel traf es eher. »Inmaculada Penas Rodea – klingt das nicht wie ein exotischer Cocktail?«
Ich kicherte. »Das stimmt.«
Irgendwie fand ich es niedlich, wie er von ihr schwärmte.
»Wir werden versuchen, ab jetzt leise zu sein«, versprach er. »Also dann, bis später.« Er lief aus der Küche, blieb aber auf halbem Weg stehen und drehte sich kauend, das Gebäck in seiner Hand betrachtend, noch mal zu mir um. »Hm ... der ist gut. Hast du den gemacht?« Ich nickte. »Wirklich mega!«, sagte er und wackelte mit seinem schneeweißen Hintern hinaus.
Selbstbewusst war der Kerl ja. Kopfschüttelnd sah ich ihm hinterher, in der Hoffnung, das Bild irgendwann wieder aus dem Kopf zu bekommen.
Nachdem ich meinen Tee getrunken hatte, war an Schlaf ohne Albträume von Simon sowieso nicht mehr zu denken. Ich beschloss, joggen zu gehen. Ich war schon halb aus der Küche raus, als mein Blick auf den Kalender an der Tür fiel. Ein bestimmtes Datum hing wie ein Damoklesschwert über mir. Seit Tagen beherrschte es meine Gedanken – der 28. Juni.
Die Erinnerung daran schärfte die blassgewordenen Bilder, die sich tief in mein Gedächtnis gebrannt hatten. Manchmal glaubte ich, dass ich mich niemals davon befreien konnte, egal wie weit ich von Pleasant Hill fortging, aber ich musste nach vorne schauen und die Vergangenheit endlich ruhen lassen. Keine leichte Aufgabe, aber meistens half mir das Joggen dabei, den Kopf freizubekommen.
Oft lief ich durch den Golden Gate Park zum Strand, wo der Sonnenaufgang den Himmel in ein fantastisches Farbspektrum tauchte. Heute war es bewölkt, aber das machte nichts.
Es dämmerte bereits, als ich mein Ziel erreicht hatte. Das Meer rauschte, ein paar Möwen stritten, und der Wind kühlte meine überhitzten Wangen. Es war still und friedlich – danach hatte ich mich die letzten Jahre gesehnt. Seufzend schaute ich zum Horizont.
In wenigen Stunden war es so weit. Morgen war mein erster Tag im Empire Heaven, einem der luxuriösesten Hotels in ganz San Francisco. Hier einen Job zu bekommen war gar nicht so leicht gewesen, aber Inma, die dort als Zimmermädchen arbeitete und vor einigen Jahren Pleasant Hill verlassen hatte, hatte sich für mich mächtig ins Zeug gelegt und den Personalchef mit ihrem Charme überzeugt, mir eine Chance zu geben. Der Rest war nur noch Formsache gewesen. Nach einem kurzen Vorstellungsgespräch hatte ich den Kellnerjob in der Tasche gehabt und konnte beruhigt aufatmen. Die Zusage war mein Befreiungsschlag, denn ich wollte auf keinen Fall nach Hause zurück, nicht an den Ort, der mir die Luft zum Atmen genommen hatte.
Langsam machte ich mich auf den Rückweg. Von Weitem sah ich schon die Appartementanlage, in der Inma und ich wohnten. Sie befand sich am Golden Gate Park, nur ein paar Blocks vom Meer entfernt. Eine sauteure Gegend, aber wir hatten Glück, dass Inmas Eltern das Appartement gekauft hatten und ich für einen Spottpreis dort wohnen durfte.
Seit ein paar Wochen lebte ich nun in San Francisco und hatte mich vom ersten Augenblick in die Stadt verliebt. Neben den Touristen-Hotspots wie der Golden Gate Bridge, Fisherman’s Wharf und Alcatraz hatte ich noch einige andere Highlights der Stadt erkundet. Ich liebte die Haight Street im alten Hippie-Viertel. Dort hatte ich ausgefallene Klamotten-, Buch- und Plattenläden sowie zahlreiche nette Cafés und Restaurants entdeckt. Manchmal fuhren Inma und ich zu einsamen Buchten und atemberaubenden Aussichtspunkten, die die Stadt von oben zeigten. San Francisco fühlte sich an wie ein niemals endender Urlaub – warm und freundlich.
Durch meinen Umzug konnte ich in der Nähe meines Vaters sein. Mehr wollte ich nicht. Das Einzige, was ich vermisste, war das gute Essen unserer Haushälterin Martha. Sie war all die Jahre mein Fels in der Brandung gewesen und hegte so etwas wie mütterliche Gefühle für mich. Sie war stolz, dass ich es vorgezogen hatte, mir einen Job in Dads Nähe zu suchen, damit ich mich um ihn kümmern konnte. Auch wenn er das nicht wollte und ein riesiges Theater deshalb veranstaltet hatte. Aber die Chance hatte ich mir nicht entgehen lassen können und mich über seinen Kopf hinweggesetzt.
Mom war ausgerastet, weil ich mal wieder ihre Pläne durchkreuzt, auf den überteuerten Platz an der Uni gepfiffen und das Studium abgebrochen hatte. Dad war ebenfalls sauer, aber selbst die Drohung, mich nicht länger finanziell zu unterstützen, hatte mich kaltgelassen. Dad würde sich schon irgendwann daran gewöhnen. Was meine Mutter von mir dachte, war mir herzlich egal. Hauptsache, ich war fort. So oft ich konnte, besuchte ich meinen Vater. Seit dem Schlaganfall vor wenigen Jahren war von dem einst so stolzen und mächtigen Polizei-Chef nicht mehr viel übrig.
Das erste Jahr nach dem Hirnschlag war am schlimmsten gewesen. Dad war bettlägerig, konnte sich weder bewegen noch sprechen. Seine Gliedmaßen hingen schlaff an ihm herunter und er brachte außer einem erstickten Seufzen kein Wort heraus. Sein Erinnerungsvermögen hatte auch gelitten und zeitweise erkannte er mich nicht einmal. Für uns alle war das eine schreckliche Zeit, aber für meinen Dad musste es unerträglich gewesen sein. Er – ein Mann, der mitten im Leben stand, stets alles im Griff hatte und nie von anderen abhängig gewesen war – war nun ein schwerer Pflegefall. Dabei konnten wir froh sein, dass er überhaupt noch am Leben war.
In mühsamen Therapiestunden hatte man versucht ihm alles wieder anzutrainieren. Es hatte sich wie eine Ewigkeit angefühlt, bis sich kleine Erfolge einstellten. Es kam mir wie ein Wunder vor, ihn nach so langer Zeit am Rollator stehen und später dann wenige Zentimeter laufen zu sehen. Bald darauf folgten die ersten Worte. Das hatte ich schon nicht mehr zu hoffen gewagt. Trotzdem dauerte es lange, bis Dad drei Schritte gehen und deutlicher sprechen konnte. Auch sein Gedächtnis ließ ihn hin und wieder im Stich. Manchmal erkannte er mich nicht oder brachte vergangene Ereignisse durcheinander. Aber ich war stolz auf ihn, denn er war eisern und trainierte hart, auch wenn mir klar war, dass er nie wieder ganz der Alte sein würde. Sein rechter Arm war heute noch steif und man merkte ihm die Sprachprobleme deutlich an. Er kam ins Stottern und verschluckte ganze Wörter, aber wenigstens konnte ich mich mit ihm unterhalten. Es gab natürlich gute und schlechte Tage, aber zuletzt hatten die guten überwogen.
Vor ein paar Monaten hatte er uns dann mit dem Wunsch überrascht, in ein spezielles Pflegeheim nach San Francisco gehen zu wollen. Bei mir stieß er damit auf Unverständnis, denn er bekam die teuersten Therapien, die beste Pflege auch bei uns zu Hause. Ich konnte nicht verstehen, dass er sich selbst aufs Abstellgleis rangierte, während meine Mutter ihr Luxusleben normal weiterführte. Erst als er mir in einem ruhigen Gespräch anvertraute, dass er es nicht länger ertragen könne, wie Mom ihren Affären im Haus nachging, verstand ich ihn. Von da an war für mich klar, ich würde ihn nicht im Stich lassen und mit ihm kommen. Es tat weh, ihn so leiden zu sehen, ich wollte ihm nicht das Gefühl geben, dass er allein war. Diese Vorstellung war für mich unerträglich gewesen.
Als ich zur Tür hereinkam, saßen Inma und ihr Freund am Frühstückstisch.
»Ich bin wieder da«, rief ich Richtung Küche und zog die Schuhe aus.
Zu meiner Erleichterung ersparte Simon mir einen zweiten Blick auf seinen nackten Körper, allerdings waren seine Klamotten genauso verstörend. Er trug ein bauchfreies Top und eine zu tief sitzende Jogginghose. Das völlig zerzauste Vogelnest perfektionierte den seltsamen Look. Im Stillen taufte ich ihn Spike. Ich fand einfach, dass er aussah wie ein Schoßhündchen namens Spike. Inmas Hang für kuriose Typen war wirklich legendär, aber dieses schräge Exemplar schoss eindeutig den Vogel ab.
Ich setzte mich zu ihnen. »Hey ihr zwei. Noch wach?«
»Morgen ... Tut mir leid, dass wir dich geweckt haben. Bist du sauer?« Inma warf mir ihren typischen Dackelblick zu und schob ihre Unterlippe vor. Das tat sie immer, wenn sie sich entschuldigte. Sie errötete nicht einmal, obwohl ich alle Phasen ihrer Ekstase mitangehört hatte.
»Du hast Glück, dass ich erst morgen arbeiten muss und mich nachher noch mal hinlegen kann.«
»Übrigens, die hat jemand für dich abgegeben.« Sie deutete auf den Boden vor der Anrichte.
Dort stand in einem Putzeimer ein üppiger Strauß Blumen. Genauer gesagt waren es Rosen, blaue Rosen.
Ich stellte sie auf den Tisch. »Was ist denn das?«
Im ersten Moment glaubte ich, es wären welche aus Kunststoff, aber als ich die Blüten berührte, waren sie zart und weich, die Dornen stachelig, und die Blätter hatten ein natürliches Grün. Sie waren echt, wunderschön und geheimnisvoll. So was hatte ich noch nie gesehen. Becky hätte sich sofort in sie verliebt. Um den Strauß befand sich eine Papiermanschette mit dem Logo des Blumengeschäfts. Mystic Garden stand in schwarzen Buchstaben darauf.
»Ich habe keine geeignete Vase gefunden, deshalb kam Simon auf die Idee, sie in den Eimer zu stellen. Da ist noch ne Karte.«
Inmitten des riesigen Straußes steckte ein kleiner Briefumschlag, den ich erst jetzt entdeckte. Ich öffnete ihn und las:
Egal, wie weit du fortgehst,
du kannst vor der Wahrheit nicht davonlaufen.
Was hatte das zu bedeuten? Ich las die Karte noch einmal, kapierte aber nicht, was der Absender mir damit sagen wollte. Welche Wahrheit?
Inma reckte neugierig ihren Hals. »Und? Von wem sind die?«
»Keine Ahnung, es steht kein Name drin.« Der Bote musste sich geirrt haben. »Bist du sicher, dass der Strauß an mich adressiert war?«
»Ja, der Kurier hat nach dir gefragt. Warum?«
Schweigend gab ich ihr die Karte. Sie las den Satz laut vor, sodass auch Simon ihn hören konnte.
»Welche Wahrheit?«, fragte er, balancierte eine riesige Portion Marmelade zu einer Brötchenhälfte und verteilte sie. Genüsslich biss er hinein.
»Das wüsste ich auch gern.«
»Merkwürdig! Und du kannst dir nicht vorstellen, wer dir das geschickt haben könnte?«
Ich stellte den Eimer wieder zu Boden und setzte mich. »Nein, zumal die Rosen ein kleines Vermögen gekostet haben müssen.«
»Sie sind wunderschön. Findest du nicht auch, Simon?«
»Joa, sind schon krass, aber nicht ganz mein Stil.«
Nicht sein Stil? Ich schmunzelte, denn Spikes Stil war wohl kaum in Worte zu fassen. Pusteblumen passten eher zu ihm. Egal, wer der Absender der blauen Rosen war, er würde sich schon melden. Selbst schuld, wenn er nicht mal mit seinem Namen unterschrieb.
»Erzähl, wo wirst du im Hotel anfangen?«, fragte Spike mit vollem Mund.
»Im Restaurant.«
»Oh, im Ivy Blue, dann unterstehst du direkt Mr. Wilsons Regiment.« Er verzog das Gesicht.
»Warum schaust du so?«
»Bis vor Kurzem war ich auch noch Kellner.«
»So? Und warum jetzt nicht mehr?«
Er kaute bedächtig, bevor er antwortete. »Wir hatten Differenzen«, wich er aus und trank von seinem Kaffee.
Inma winkte ab. »Du kannst es ruhig erzählen, Simon.« Spike schien das Ganze irgendwie peinlich zu sein, deshalb redete Inma für ihn weiter. »Wilson hatte ihn auf dem Kieker, weil ihm bei einer Hochzeitsfeier eine Rotweinflasche aus der Hand gefallen ist und bei einer anderen Veranstaltung ein voller Aschenbecher. Er wurde sozusagen strafversetzt.«
»Ich habe mich tausendmal entschuldigt«, verteidigte sich Spike.
»Na ja, wäre es mein Hochzeitskleid gewesen, das du mit Rotwein ruiniert hättest, hätte ich dich umgebracht«, meinte Inma gelassen.
Ich kicherte. »Mindestens!«
Spike machte ein knittriges Gesicht. »Das ist doch nur passiert, weil ...«
»… weil?« Inma sah ihn fragend an.
»Ich war eben abgelenkt.«
Sie lachte. »Genau, weil du mal wieder nicht bei der Sache warst. Aber mach dir nichts draus, ich finde, dass du in deinem Liftboyoutfit total scharf aussiehst«, säuselte sie und küsste ihn.
»Okay Leute, ich geh dann mal duschen und lege mich hin«, sagte ich, bevor es zwischen ihnen wieder ausartete.
Ich nahm den Eimer mit den Rosen und ging in mein Zimmer.
Ich hatte vorgehabt, am späten Nachmittag die letzten beiden Umzugskartons auszuräumen, sobald ich von meinem Nickerchen erwachte, aber heute hatte ich genauso wenig Lust dazu wie in den vergangenen Tagen. Es befanden sich ohnehin nur Bücher darin.
Lediglich die Pinnwand mit den alten Fotos hängte ich über dem Schreibtisch auf. Einen Moment verharrte ich und schaute die Bilder an. Auf den meisten waren Inma und ich zu sehen. Witzige Automatenbilder, auf denen wir schräge Grimassen zogen. Schmunzelnd wanderte mein Blick zu dem einzigen Foto, das mich an meine Vergangenheit erinnerte. Darauf waren Becky, Noah und ich zu sehen. Wehmütig und mit schwerem Herzen strich ich mit dem Finger über die Aufnahme.
Sie fehlten mir.
***
Als Inma und ich am nächsten Morgen auf den Parkplatz hinter dem Empire Heaven fuhren, zuckte mein Magen. Noch nie hatte ich für so ein luxuriöses Unternehmen gearbeitet, und ich freute mich auf den Job. Wir stiegen aus und liefen zum Personaleingang. Inma hielt ihre Mitarbeiterkarte gegen einen Sensor, der an der Wand befestigt war. Schon summte die Tür auf. Sie trat ein, und die Tür flog hinter ihr zu. Ich zog meine vorläufige Plastikkarte hervor und tat es ihr gleich.
Inma wartete bereits auf mich. Hinter den Kulissen des Hotels waren die Räumlichkeiten nicht sehr einladend. Die Wände waren grau und erinnerten an kalte Krankenhausflure. Kein Vergleich zur Lobby.
»Du musst jetzt hier entlang.« Inma deutete auf die Beschilderung an der Decke. Sie drückte mir noch einen Kuss auf die Wange und bog links in einen Flur ab.
Ich beherzigte ihren Rat und verbot mir, dabei ein Erdbeerbonbon zu essen. Ich liebte diese Dinger, aber es kam bestimmt nicht gut an, wenn ich später damit im Restaurant auftauchte. Also verkniff ich es mir und machte mich auf den Weg. Keine Ahnung, wie ich es schaffte, trotz Inmas Anleitung mitten in der Hotellobby zu landen. Wahrscheinlich hatte ich einen Wegweiser übersehen.
Bewundernd stand ich in der Halle und bestaunte wieder die Szenerie. Das Empire Heaven versprach nicht zu viel. Es war edel und prunkvoll, und die Architektur ein Meisterwerk. Marmorböden, weiße Säulen und viel Licht durchfluteten die Eingangshalle. Es war eine Mischung aus modernem Stil und klassischer Eleganz. Am meisten beeindruckten mich der gläserne Aufzug und die großen, üppigen Pflanzen, die sich in der Hotelhalle befanden. Das war einfach ein Anblick, an dem ich mich nie sattsehen konnte. Schon bei meinem Vorstellungsgespräch hatte mir der Mund offen gestanden.
»Catherine?«
Ich fuhr herum. Neben dem Lift erkannte ich Spike. Er sah in seinem hellroten Fummel und mit der winzigen Kappe wie ein Kapuzineräffchen aus.
Schmunzelnd ging ich zu ihm. »Hi Spike. Schön, dich zu sehen.«
»Spike? Ich heiße –«
»Oh ... tut mir leid. Ich weiß natürlich, dass du ... Simon heißt. Ich hatte ...«
»Spike?« Er überlegte. »Hört sich männlich und gefährlich an. Gefällt mir.«
Ich kicherte. »Ernsthaft?«
»Ja. Das ist irgendwie cool.«
Das war nicht cool, sondern verrückt. »Okay, Spike. Kannst du mir sagen, wie ich ins Personalbüro komme?«
»Aber natürlich. Du gehst jetzt einfach hier entlang, und dann biegst du in den Flur ein. Es müsste die vierte Tür sein. Es steht aber auch angeschrieben.« Er deutete in eine völlig andere Richtung als die, die ich eingeschlagen hätte.
»Na gut. Danke.«
»Gern geschehen.«
Ich hob die Hand zum Abschied und fand mich wenig später endlich im richtigen Büro wieder.
»Guten Morgen. Mein Name ist Catherine Spence. Ich bin die neue Kellnerin.«
Eine Sekretärin mittleren Alters sah zu mir auf. »Ah, ja. Guten Morgen.« Sie erhob sich und suchte in einem Stapel nach Unterlagen. Dann kam sie an die Theke. »Willkommen. Als Erstes brauche ich ein paar Unterschriften.« Sie breitete einige Papiere aus. »Die Hausordnung bitte gründlich lesen und einhalten. Dann habe ich noch einen Fragebogen für den Sicherheitsdienst und den Berechtigungsschein für die Arbeitskleidung. Bevor Sie Ihre Dienstkleidung in der Wäscherei abholen, melden Sie sich bitte bei Mr. Robinson. Er ist der Leiter des Security Service im Haus. Bitte unterschreiben Sie hier, dort und da, dass ich Ihnen alles ausgehändigt habe.«
Sie zeigte mit dem Finger auf die leeren Stellen, an die ich mein Gekritzel setzen sollte.
Mit den Papieren unterm Arm machte ich mich auf den Weg zur nächsten Station. Nach der kleinen Weltreise kam ich endlich im Büro des Sicherheitsservice an. Zaghaft klopfte ich und ging hinein. Der Raum war größer, als ich erwartet hatte. Mehrere Bildschirme flackerten, ein Radio dudelte im Hintergrund, und an einer Wand hing ein riesiger Grundriss des Hotels, auf dem unzählige farbige Stecknadeln Punkte auf der Karte markierten. Einige Männer in Anzügen hatten sich vor einem Monitor versammelt und unterhielten sich.
»Wir warten, bis Holder zurückkommt, dann wissen wir mehr«, sagte einer von ihnen. Er war blond und groß und schien der Chef der Truppe zu sein.
»Wir kennen ihn doch. Diese Art von Befragung könnte länger dauern«, meinte ein kleinerer Kerl, und alle lachten.
»Meine Herren«, ermahnte der blonde Typ. »Es ist Montag. Ich denke, er hat sich am Wochenende genug ausgetobt.«
»Die Weiber scheinen voll auf ihn abzufahren.«
»Er ist ne Wundermaschine.«
»Ich würde sagen, der Kerl hat's einfach drauf.«
Sie lachten schmutzig.
Ich erinnerte mich, dass Inma Holder schon mehrfach erwähnt oder besser gesagt von ihm geschwärmt hatte. Dieser Holder sollte ein unfassbar gutaussehender Typ sein, der nichts anbrennen ließ. Egal – es wurde Zeit, auf mich aufmerksam zu machen, bevor ich noch mehr intime Details von den männlichen Mitarbeitern erfuhr. Ich räusperte mich. Tatsächlich drehte sich einer von ihnen zu mir und stieß seinen Kollegen an.
»Guten Morgen.« Ich lächelte freundlich. »Ich störe nur ungern, aber ich suche Mr. Robinson.«
Die Männer glotzten mich an, als wäre ich eine Fata Morgana. Schließlich kam einer von ihnen auf mich zu. Er hatte warme braune Augen, mit denen er mich neugierig musterte. »Guten Morgen, und Sie sind?«
»Catherine Spence. Ich bin die neue Kellnerin.«
Er ging zu einem Schreibtisch, nahm einen Ordner und blätterte darin. »Ah ja, richtig, Ms. Spence.«
»So wahr ich vor Ihnen stehe!«, witzelte ich.
Sein Blick wanderte von meiner dunklen Lockenmähne, die ich ordentlich zu einem Dutt zusammengebunden hatte, über meine Oberweite, hinunter zu meinen Beinen, die in meiner Lieblingsjeans steckten.
»Entschuldigen Sie, wir haben Sie nicht kommen hören. Willkommen. Mein Name ist Dylan Bishop. Leider ist Mr. Robinson nicht da. Es geht um Ihre Zugangskarte, richtig?«
»Genau.«
»Dann folgen Sie mir, ich kümmere mich darum.« Er deutete zu einer Tür auf der anderen Seite des Raums. »Haben Sie das Passfoto dabei?«
»Ja.« Ich gab es ihm, und wir gingen ins Nebenzimmer. Es war ein kleines Büro mit nur einem Schreibtisch, einem Computer und einem Drucker. Er bot mir neben dem Tisch einen Platz an, während er aus einer Schublade ein Plastikkärtchen herausholte und den PC anwarf.
»Haben Sie den Fragebogen schon ausgefüllt?«
»Nein, noch nicht. Der wurde mir eben erst im Personalbüro ausgehändigt.«
»Okay, kein Problem. Sie können ihn auch morgen vorbeibringen. Haben Sie schon mal in einem Hotel gearbeitet?«, erkundigte er sich, während er mein Foto einscannte.
»Nein, bisher hauptsächlich in Restaurants und als Verkäuferin in Modegeschäften.«
»Leben Sie schon immer hier in San Francisco oder sind Sie zugezogen?«
Ganz schön neugierig, der Kerl. »Zugezogen.«
»Wie gefällt Ihnen unsere Stadt?«
Gehörte diese Frage wirklich zum Job? »Sehr gut. San Francisco ist toll, aber auch ein teures Pflaster.«
Er sah auf und hob die Brauen. »Das stimmt. Ich kenne ein paar Kneipen und Cafés, wo die Preise in Ordnung sind.«
War das etwa ein Versuch, ein Date zu bekommen? Mit seinem breiten Oberkörper, dem kurzen Haar und dem kleinen Grübchen am Kinn war er echt süß.
»Sind Sie immer so direkt?«
»Nur bei hübschen Kellnerinnen, die neu bei uns anfangen.« Ein Charmeur war er also auch noch. »Und woher kommen Sie?«
»Pleasant Hill. Und wie steht's mit Ihnen? Verheiratet? Kinder? Irgendwelche Straftaten? Schmutzige Geheimnisse?«, gab ich seine Fragen zurück.
Er lachte laut. »Nein, nein, nein und ... vielleicht.« Er zwinkerte. »Ursprünglich komme ich aus New York, lebe aber schon seit ein paar Jahren hier.«
Die Maschine begann geräuschvoll zu arbeiten.
»Und was hat Sie hierher verschlagen?«
»Sollte ich nicht eher Sie ausfragen?« Amüsiert tippte er auf der Tastatur. »Der Job hat mich in die Stadt geführt. So, fertig. Ihre Schlüsselkarte ist jetzt aktiv.«
Er nahm sie aus der Vorrichtung, befestigte sie an einem Kartenhalter und übergab sie mir.
»Dann war's das schon?«
»Fast. Ihre Übergangskarte.« Er streckte mir seine flache Hand entgegen, worauf ich das Plastikteil ablegte. Neugierig schaute ich die neue Zugangskarte an. »Das ist jetzt Ihre personalisierte Karte. Damit kommen Sie in fast alle Räume des Hauses. Sie loggen sich zu Beginn Ihrer Schicht beim Betreten am Personaleingang ein und am Ende wieder aus.«
»Okay, und was mache ich, wenn ich das Ding einmal vergessen sollte?«
»In diesem Fall wenden Sie sich an die Mitarbeiter am Empfang.«
»Gut.« Ich stand auf. »Danke, Mr. Bishop.«
»Dylan«, bot er mir an.
»Okay. Cat.«
Bevor er mich weiter angraben konnte, verließ ich amüsiert den Security-Bereich und machte mich auf den Weg zur Wäscherei, wo ich meine Arbeitskluft ausgehändigt bekam. Sie bestand aus einer schwarzen Hose, einer weißen Bluse, einer langen Schürze und einem Namensschild. Nicht gerade mein Kleidungsstil, aber bei Arbeitskleidung hatte man keine Wahl. Mit dem Stapel Klamotten fand ich mich in der Küche des Restaurants mit dem außergewöhnlichen Namen Ivy Blue ein. Hier ging es ziemlich hektisch zu. Suchend sah ich mich nach jemandem um und stieß beinahe mit einem Kellner zusammen, der gerade ein volles Tablett hereintrug.
»Entschuldigen Sie, wo finde ich Mr. Wilson?«
»Bist du die Neue?«, fragte er und stellte das Tablett ab. Ich nickte. »Du bist spät dran. Komm mit.« Eilig ging er durch die Restauranttür. »Warte hier.« Dann lief er durch das Lokal.
Ich sah mich um. Wow! Mein Arbeitsplatz war wirklich wunderschön. In dem großen Raum waren unzählige elegant gedeckte Tische. Die Pflanzen, ein Piano und der moderne Einrichtungsstil schufen eine gemütliche Atmosphäre, und wer einen Fensterplatz ergatterte, konnte die Aussicht auf das Meer genießen.
»Ms. Spence?«
»Ja?«
»Guten Morgen, ich bin Mr. Wilson, der Maître.«
»Hallo.« Ich musterte meinen neuen Boss.
Er war mittleren Alters, hatte gefärbtes dunkles Haar, das er streng zurückgekämmt trug, und einen Vollbart, der exakt gestutzt war. »Ich dulde niemals Unpünktlichkeit und erwarte Pflichtbewusstsein.«
Oh Mann! Der gab ja gleich den Ton an. »Entschuldigen Sie mein Zuspätkommen, Sir. Ich war im Sicherheitsbüro und in der Wäscherei. Bis ich –«
Er hob die Hand. »Schon gut. Für die Zukunft wissen Sie Bescheid.« Er sah sich um und schnippte mit dem Finger. Kurz darauf kam eine Kellnerin auf uns zugeflogen. »Ms. Conner, bitte weisen Sie Ms. Spence in unsere Gepflogenheiten ein. Ich stelle Sie in Ihre Verantwortung.«
Mit hocherhobenem Haupt wandte er sich von uns ab und lief zu einem der Tische. Merkwürdiger Kauz!
»Hi, ich bin Maja, und wie du schon mitbekommen hast, ist er heute mal wieder übelst gelaunt.« Sie verzog das Gesicht.
»Allerdings.«
Ich schätzte Maja auf mein Alter. Mir gefielen ihr frecher Kurzhaarschnitt und ihr warmes Lächeln.
»Dann wollen wir mal. Komm mit, ich zeige dir als Erstes den Pausenraum. Dort kannst du dich umziehen.« Sie führte mich durch die Küche in ein spärlich eingerichtetes Zimmer. »Wie heißt du?«
»Catherine, aber alle nennen mich Cat.«
»Okay, Cat. Es wird stressig, so viel verrate ich dir jetzt schon. Wilson kann echt ungemütlich werden, wenn es nicht nach seinen Vorstellungen läuft. Und glaub mir, ihm entgeht wirklich nichts. Also kontrollier lieber alles doppelt.« Sie öffnete einen Metallspind. »Hier kannst du deine persönlichen Sachen verstauen. Hast du schon mal gekellnert?«
»Ja, ein paarmal.«
»Gut, dann weißt du im Grunde schon, wie es abläuft. Präg dir nur ein: Wenn der Gast zufrieden ist, bist du gut. Wenn du seine Wünsche von den Augen abliest, bist du der Knaller und Wilson wird dich lieben. Nicht weniger erwartet er. Anfang der Woche ist meistens ein Meeting. Da bekommen wir die Schichtpläne ausgehändigt und Infos, welche Veranstaltungen im Haus stattfinden. Hier, das ist unser Wochenplan.« Sie drückte mir einen Zettel in die Hand. »Am Freitag nächste Woche findet eine Geburtstagsfeier von irgendeinem Verwandten des Präsidenten statt. Und weil wir gerade einen personellen Engpass haben, macht Wilson eine absolute Ausnahme und du darfst den Service mit mir übernehmen.«
»Wow! Wird der Präsident etwa auch hier sein?«
»Gott bewahre! Das Tamtam reicht auch so schon und ist nervig genug.«
Ausgerechnet Freitag, der 28. Juni. Nun gut, ich würde es irgendwie hinter mich bringen.
Maja kramte aus ihrer Handtasche einen Schokoriegel. »Nervennahrung.« Sie zuckte mit den Brauen. »Willst du auch einen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Danke.«
»Ich sterbe, wenn ich keine Schokolade bekomme. Nur Wilson darf mich nicht beim Naschen erwischen. Er mag es nicht, wenn wir außerhalb unserer Pausen essen.«
»Er scheint wirklich ein strenger Typ zu sein.«
»Oh ja, das kannst du laut sagen, aber der kocht auch nur mit Wasser, keine Angst.«
Maja biss noch einmal großzügig von ihrem Riegel ab, bevor wir uns an die Arbeit machten. Neben unzähligem Tafelbesteck, das wir polieren mussten, zeigte sie mir, wie die Tische eingedeckt wurden, gab mir die Speisekarte zum Auswendiglernen mit und erklärte, auf welche Gäste besonders geachtet werden sollte. Ich hatte Spaß, und so vergingen die Stunden wie im Flug.
2
Cat
»Und? Wie hat es dir gefallen?«, fragte Inma, als wir auf dem Weg nach Hause waren.
»Ganz gut. Maja war sehr nett und hat mir alles gezeigt. Morgen soll ich mit dem Service beginnen. Und bei dir?«
»Wie immer. Manche Leute scheinen ihre Kinderstube zu Hause vergessen zu haben, oder die Kohle hat ihnen das Gehirn aufgelöst.«
»Wieso?«
»Der Kerl aus Zimmer 417 – irgend so ein Geschäftsmann – hatte heute Morgen wohl einen Tobsuchtsanfall, und im Zimmer nebenan war ich eine ganz Stunde damit beschäftigt, seltsame Flecken vom Teppich zu wischen.«
Ich verzog das Gesicht. »Igitt! Wie eklig.«
»Du sagst es.« Inma fädelte sich in den Verkehr ein. »Wen hast du sonst noch kennengelernt?«
»Einen Typen vom Sicherheitsbüro.«
Sie blickte ein paarmal mit großen Augen zu mir rüber. »Wirklich? Etwa Holder?«
»Nein, er heißt ... Dylan, Dylan Bishop.«
»Ah, Dylan. Die Jungs vom Sicherheitsservice sind schon eine Sünde wert, aber ich rate dir, lass bloß die Finger von ihnen. Die Geschäftsleitung sieht es nicht gern, wenn Mitarbeiter intime Beziehungen pflegen.«
Ich hob die Brauen. »Das sagt genau die Richtige. Was ist denn mit dir und Spike? Ist natürlich rein platonisch, wie ich letzte Nacht mitbekommen habe.«
Sie legte die Stirn in Falten. »Spike?«
Oh Mist! Ich hatte den Spitznamen laut ausgesprochen. »Ich meine Simon, sorry.«
»Wie kommst du auf Spike?«
»Er erinnert mich eben an einen Schoßhund, der Spike heißt. Ist nicht böse gemeint, nur eine Spinnerei von mir.«
Zuerst guckte Inma ein wenig verdutzt, brach aber dann in schallendes Gelächter aus. »Jetzt, wo du es sagst, kann ich tatsächlich eine Ähnlichkeit erkennen.« Sie schüttelte den Kopf. »Du kommst immer auf Ideen, Cat! Aber mal unter uns: Was hältst du von ihm?«
»Ähm ...« Was sollte ich antworten, außer, dass er überhaupt kein Schamgefühl besaß, ein kurioser Typ war und doch irgendetwas Treuherziges an sich hatte? »Ich finde ihn nett.«
Die Männer, mit denen Inma bisher zusammen gewesen war, waren alle entweder zu abgedreht oder zu ernst für sie gewesen. Ich hatte mich immer gefragt, was sie an ihnen fand. Das war bei Spike nicht anders, jedenfalls tat er ihr gut, und solange das so war, war ich zufrieden.
»Er ist der verrückteste und gleichzeitig tollste Mann, dem ich je begegnet bin.«
Ich betrachtete sie. Inma sah glücklich aus. Schon lange hatte sie nicht mehr so gestrahlt. Ihre letzte Enttäuschung schien sie endlich hinter sich gelassen zu haben.
Wir erreichten unsere Appartementanlage, parkten in der Tiefgarage und stiegen aus.
»Was hältst du davon, wenn wir uns heute Pizza bestellen?«, schlug sie vor, als wir zum Fahrstuhl liefen.
»Das hört sich gut an, ich sterbe vor Hunger.«
In der Wohnung angekommen, ließ Inma sich stöhnend aufs Sofa fallen. »Ich bin erledigt für heute.«
In meiner Gesäßtasche summte mein Handy. Ich zog es heraus und schaute auf das Display. Sofort versteifte ich mich.
»Es ist meine Mutter. Bestell du die Pizzen.« Ich lief in mein Zimmer, um ungestört telefonieren zu können. »Mom?«
»Hallo Catherine.« Ihre Stimme klang kühl und distanziert – fast wie immer. Sie wusste genau, dass ich es nicht leiden konnte, wenn sie mich mit vollem Namen ansprach. »Du hast, seit du fortgegangen bist, nur einmal angerufen und da die meiste Zeit mit Martha gesprochen. Ich wollte mal fragen, ... wie es läuft.«
Seit wann interessierte sie sich für andere, vor allem für ihre Tochter? »Gut. Ich hatte heute meinen ersten Arbeitstag und bin eben nach Hause gekommen.«
»Schön. Ich hoffe, du weißt, dass bald der 28. Juni ist.«
Es war unnötig mich daran zu erinnern. »Ja, das weiß ich.«
Wie könnte ich diesen Tag je vergessen?
»Pater Danham wird einen Gedenkgottesdienst halten, an dem die ganze Gemeinde und einige Gäste teilnehmen. Es wäre gut, wenn du dabei sein könntest.«
Diesmal machte sie sich noch nicht einmal die Mühe, ein klein wenig Interesse an meinem Leben zu heucheln.
»Gut für mich oder für deine Publicity?« Ich konnte die Stichelei nicht unterlassen.
»Cat, das ist nicht fair.«
»Erzähl du mir nicht, was fair ist, Mom. Tut mir leid, aber ich werde nicht freibekommen«, sagte ich kühl.
Gott, war ich froh, so weit entfernt von Pleasant Hill zu sein. Ganze zwei Flugstunden trennten mich von dem Mist, den ich in meinem Heimatort hinter mir gelassen hatte. Abwesend starrte ich auf die blauen Rosen im Eimer.
»Deine Schwester ist tot, und meine einzige Tochter hasst mich.« Sie begann zu weinen.
Ich rollte mit den Augen. Diese Show zog sie immer ab, wenn sie nicht weiterwusste. Seit Becky tot war, war nichts mehr wie früher. Alles hatte sich verändert. Seit dem Tag ihrer Beerdigung kam es mir vor, als hätten wir unsere Familie ebenfalls zu Grabe getragen. Keiner von uns hatte ihren Tod überwunden, aber Mom schaffte es, dass ich stets ein schlechtes Gewissen hatte und mich schuldig fühlte.
Ich lenkte ein. »Ich kann meinen Boss nicht gleich um Urlaub bitten, Mom.
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Any Cherubim
Cover: Casandra Krammer
Lektorat: Anja Horn; Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 23.01.2020
ISBN: 978-3-96714-036-1
Alle Rechte vorbehalten