Lass die Angst niemals dein Schicksal bestimmen
Parker hatte Recht: »Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war« – denn alles ist schlimmer!
Joys Leben ist das pure Chaos. Sie kann weder fliehen noch in ihre Heimat zurück; sie hat alles verloren.
Ängstlich blickt sie einer ungewissen Zukunft entgegen und kann nur an ihren kleinen Keks denken. Wie lange kann Holly ohne ihre Medikamente in den mexikanischen Fängen überleben?
Wem kann Joy überhaupt noch vertrauen? Und wo, verdammt noch mal, ist Parker?
Geschwister sind nie alleine, sie tragen immer den anderen im Herzen
gemalt von: Sarah Dopatka von Zeilenzumtee
Wie viel konnte ein Mensch ertragen? Entsetzliche Panik durchflutete mich, schnürte mir die Kehle zu. Holly, mein kleiner, unschuldiger Keks, war in den Klauen dieser schrecklichen Männer. Der Gedanke daran ließ meinen Magensaft hochkochen. Mir war speiübel. Das Medikament, das der Sanitäter mir gespritzt hatte, lähmte meine Empfindungen, sorgte dafür, dass ich nicht ausflippte oder wahnsinnig wurde. Das unkontrollierte Zittern und das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, ließen langsam nach, aber ich spürte deutlich, wie der Horror unter meiner Haut weiter lauerte und nur darauf wartete, mich völlig zu verschlingen.
Tränen nahmen mir die Sicht. Ich konnte nicht aufhören zu weinen und presste Mr. Floppy verzweifelt an mich. Nur er war mir geblieben – Floppy, das Plüschschaf, das Holly seit ihrer Geburt ständig bei sich getragen hatte. Er roch nach ihr – süß und gleichzeitig frisch, eine Mischung aus Waschmittel und Vanille.
Wenn ich die Augen schloss, sah ich ihr Gesicht vor mir. Mit ihren großen rehbraunen Knopfaugen, ihrem langen, schönen Haar und ihrem zauberhaften Lachen, das so ansteckend war. Die unzähligen Operationen und die vielen Monate im Krankenhaus, bestimmten von Anfang an ihr Leben, und trotzdem hatte mein Keks niemals den Kampfgeist verloren. Sie war das letzte Geschenk, das Mum uns hinterlassen hatte. Sie jetzt zu verlieren, würde mich umbringen, mich zerstören.
Deutlich hörte ich die Musik des Karussells und Hollys fröhliches Kinderlachen. Glücklich hatte sie uns von ihrem Pony aus zugewunken und ihre Augen hatten dabei geleuchtet. Es war lange her, dass ich meine kleine Schwester so zufrieden gesehen hatte.
Parkers Stimme hallte in meinen Ohren nach und ließ meinen Puls sofort in die Höhe schnellen: ›Du musst es für dich behalten und darfst niemandem vertrauen. Hast du mich verstanden?‹ Ich war so durcheinander, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Die graue Eminenz hatte nun ein Gesicht; eines, das mir bekannt war und nahestand – das meines Vaters. Er hielt sie alle zum Narren, aber was hatte das für uns zu bedeuten? Was bezweckte er mit dieser Täuschung? Alles war so verworren. Die Angst um Holly ließ die Wahrheit, die ich über Dad herausgefunden hatte, im dichten Nebel meines Hirns verschwinden.
Der Krankenwagen schunkelte leicht, während wir durch die Straßen von Virginia fuhren. Mein Körper entspannte sich, wurde schwerer, doch ich weigerte mich, die Kontrolle ganz abzugeben. Ich wollte nicht einschlafen und konzentrierte mich auf den FBI-Agent, der neben mir auf einer Bank saß. Schweigend starrte Special Agent Murphy auf sein Handy. Er mied meinen Blick, weil er wusste, dass ich auf eine erlösende Nachricht wartete. Seine Miene blieb ausdruckslos. Es gab keine Worte, die mich trösten konnten, nichts, was mich beruhigte. Holly war in Lebensgefahr. In jeder Minute ohne ihre Medikamente und einer relativ keimfreien Umgebung, war sie einem hohen Risiko ausgesetzt, ernsthafte Probleme zu bekommen. Sie war stark und ihr Körper hatte schon viele Male eine Infektion überstanden.
Der Rettungshelfer stand breitbeinig mit dem Rücken zu uns an einem Einbauregal. Erst jetzt bemerkte ich seine mit Schlamm verdreckten Slipper.
Slipper? Ich runzelte die Stirn. Ein Sanitäter trug während seiner Dienstzeit Slipper? Merkwürdig! Vielleicht hatte er noch eine Verabredung nach seiner Schicht? Wer wusste schon, was Rettungssanitäter in ihrer Freizeit taten?
Er war lieb und einfühlsam gewesen, hatte sanft mit mir gesprochen, und doch machte sich ein seltsames Gefühl in meiner Brust breit. Wahrscheinlich stand ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch oder wurde verrückt. Kein Wunder, nach allem, was ich herausgefunden hatte.
Ich drückte Mr. Floppy noch enger an mich und sog tief seinen Duft ein, der sich beruhigend und vertraut um mein Herz legte. Wir waren auf dem Weg ins Krankenhaus, um von dort aus in ein neues Safe House zu gelangen. Allein die Vorstellung, dass man mich von Virginia fortbrachte, jagte mir Angst ein. Holly war bestimmt noch in der Nähe, da konnte ich doch nicht einfach weg! Es fühlte sich an, als würde ich sie im Stich lassen.
Ein metallenes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Ich sah auf und mir stockte der Atem. Der Sanitäter richtete eine Pistole direkt auf Murphys Schläfe. Noch bevor wir begriffen, was geschah, drückte der Kerl im weißen Kittel ab. Ein Knall donnerte durch das Wageninnere. Erschrocken kreischte ich auf. Blut spritzte gegen die Wände und Agent Murphy brach tot zusammen. Mein Herz raste und meine Lungen rangen nach Luft. Todesangst lähmte mich, als der Typ die Waffe drohend auf mich richtete.
»Ganz ruhig, Prinzessin! Wenn du tust, was ich sage, darfst du ein wenig länger leben.« Er grinste teuflisch und polterte zweimal kräftig gegen die Wand, hinter der der Fahrer saß. Augenblicklich gab der Krankenwagen Vollgas. Es holperte und rumpelte, als hätten wir die asphaltierte Straße verlassen. Keinen Moment ließ er mich aus den Augen, und ich war mir sicher, dass mein Leben an einem seidenen Faden hing. Der Typ trat den toten Körper des Agents von der Bank und nahm darauf Platz.
Ich zitterte und heulte, konnte mich kaum beruhigen. Mein Gott!
Eine gefühlte Ewigkeit verging, während er mich eiskalt anstarrte und schweigend mit der Waffe bedrohte.
Plötzlich kam der Krankenwagen zum Stehen. Die Türen wurden aufgerissen und mehrere schwerbewaffnete Männer standen davor. Mein Gurt wurde gelöst. »Vorwärts! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, Prinzessin!«
Zitternd kletterte ich heraus, wurde grob von zwei fiesen Gestalten aufgegriffen und zu einem Wagen gebracht.
»Wo ist meine Schwester? Sie braucht dringend ihre Medikamente«, wimmerte ich.
»Halt´s Maul und steig ein«, herrschte mich einer der Männer mit einem mexikanischen Akzent an. Das waren Suárez‘ Männer! Unsanft wurde ich in den Wagen gedrückt, und Sekunden später rauschten wir mit hoher Geschwindigkeit durch den Wald. Ein Typ mit kurzen dunklen Haaren brüllte etwas auf Spanisch, das ich nicht verstand, und warf einen Strick nach hinten. Man fesselte und knebelte mich, was ich widerstandslos hinnahm. Ich dachte an Holly. Leise Hoffnung keimte in mir auf, dass sie mich zu ihr bringen würden. Mit ein bisschen Glück würden wir zusammen sein. Fest kniff ich die Augen zu und betete, dass sich dieser letzte Wunsch erfüllen würde.
»Mierda!«, fluchte der Fahrer, als wir den Wald verließen und uns wieder auf der Landstraße befanden. Mit laufendem Motor hatte er den Wagen angehalten. Wir blickten vor uns auf die Fahrbahn. Von Weitem flimmerte eine Straßensperre der Polizei auf dem Asphalt.
Lautstark diskutierten die Kerle und schrien sich gegenseitig an. Aus dem Wald dröhnten die Polizeisirenen immer näher – sie saßen in der Falle. Nervös brüllten sie durcheinander, bis ihr Anführer sie mit einem schrillen Pfiff zum Schweigen brachte. »Conduce a toda marcha no pares por la barricada«, befahl er. »Conduce a toda marcha no pares por la barricada!«
Augenblicklich verstummten seine Leute. Mein Herz hämmerte wie verrückt. Was hatten sie vor?
In der Ferne verschanzten sich mehrere Polizisten mit ihren Waffen hinter den Autos und warteten. Als der Fahrer den Motor ein paarmal aufheulen ließ, begriff ich, was sie vorhatten.
Nein! Das können sie nicht mit mir machen, doch es war zu spät. Der Fahrer gab Vollgas und ich wurde in den Sitz gedrückt. Mit hoher Geschwindigkeit rasten wir direkt auf die Sperre zu. Immer schneller kam uns die Barriere entgegen. Mein Blut preschte durch meine Adern und als wir nur noch wenige Meter bis zum Crash vor uns hatten, hielt ich den Atem an, kniff fest die Augen zusammen und erwartete meinen sicheren Tod.
Krachend rammten wir die Polizeiwagen und schoben sie ruckartig beiseite. Der Aufprall war gewaltig, das Geräusch von aufeinander knallendem Metall ohrenbetäubend. Alles geriet durcheinander. Glas splitterte, Schüsse flogen durch die Luft und wir kamen ins Schleudern. Der Fahrer verlor die Kontrolle. Wir glitten von der Fahrbahn ab und überschlugen uns mehrmals.
Es wurde dunkel um mich. Eine sanfte Stille breitete sich in mir aus – vollkommene Ruhe, Frieden – leicht und unbeschwert. Es war schön sich darin treiben zu lassen. Erinnerungen und Bilder durchfluteten mein Hirn. Mum, Dad ... Cathrin!
Der nervige Ton der Sirenen störte meinen Schlaf und ein stechender Geruch zerrte mich aus der Tiefe. Ich zwang mich, die Augen zu öffnen, und blinzelte. Vorsichtig hob ich meinen Kopf, spürte den dumpfen Schmerz hinter meiner Stirn. Alles war verschwommen, nur langsam klärte sich mein Blick. Ich stöhnte, riss mich aber zusammen, presste die Zähne aufeinander. Ich wollte mich bewegen, doch irgendwie war ich eingekeilt. Der Wagen stand Kopf. Irgendwo zischte es leise und es roch nun deutlich nach Benzin.
Ich musste hier raus. Ich versuchte den Kerl, der bewusstlos oder tot auf mir lag, mit aller Kraft von mir zu drücken. Meine Hände waren noch immer gefesselt und der Knebel erschwerte das Atmen. Unter größter Anstrengung schaffte ich es, meine Beine zu befreien. Kurz schaute ich zu ihm und musste schwer schlucken. Die Metallspitze eines Regenschirms ragte aus seiner Brust und Blut lief in kleinen Rinnsalen aus seinem Mund und den Ohren. Seine Augen starrten tot ins Leere. Panik ergriff mich, doch ich beherrschte mich, wimmerte leise vor mich hin.
Ächzend vor Anspannung drängte und drückte ich mich zwischen den Körpern und Glassplittern aus dem Wrack. Als ich es fast geschafft hatte, vernahm ich von außen Stimmen. Sanitäter rissen mit Gewalt an der verbeulten Tür des Wagens und zogen mich heraus. Sofort befreiten sie mich von dem Knebel und den Fesseln und brachten mich umgehend zu einem Krankenwagen. Ehe ich mich versah, war das Autowrack von Polizisten und Rettungsleuten umringt. Es wurde hektisch. Sie versuchten, einen der Männer zu reanimieren. Ängstlich blickte ich mich um. Ich war völlig durcheinander und zitterte, aber außer meiner schmerzenden Schulter, ein paar Schrammen und Prellungen schien mir nichts zu fehlen.
»Sie haben großes Glück gehabt, Miss.« Ein Arzt überprüfte gerade meinen Puls.
»Was ist mit meiner Schwester?«, brachte ich zitternd hervor.
»Dazu kann ich leider nichts sagen.« Der Arzt gab einem Sanitäter die Anweisung, sich um meine Verletzungen zu kümmern, dann wandte er sich wieder an mich. »Ich werde Ihnen etwas zur Beruhigung spritzen. Danach fühlen Sie sich besser. Entspannen Sie sich.« Noch bevor ich protestieren konnte, spürte ich schon die Nadel in meiner Haut. Kurze Zeit später wurde mein Körper schwer und ich sank in einen tiefen Schlaf.
***
Mit dem Geschmack einer alten Socke im Mund wachte ich auf. Sofort stürmten die Erinnerungen an die jüngsten Ereignisse auf mich ein und mein Magen krampfte, wenn ich an Holly dachte. Mein Hals war staubtrocken und jeder einzelne Muskel in meinem Körper brannte wie Feuer. Meine Schulter tat weh und ich fühlte mich furchtbar. Noch ein wenig benommen, öffnete ich die Augen. Wo war ich?
Es war dunkel, nur schemenhaft konnte ich Möbel erkennen. Gedämpft drangen die Geräusche eines Fernsehers und Männerstimmen zu mir. Schwerfällig richtete ich mich auf. Mein Kopf brummte grauenvoll und leichter Schwindel befiel mich, als ich mich aufsetzte. Noch etwas schwach auf den Beinen schleppte ich mich zur Tür.
Das grelle Licht im Flur tat weh und verstärkte die Kopfschmerzen. Es dauerte eine Weile, bis ich mich daran gewöhnt hatte. Barfuß folgte ich den Geräuschen, bis ich an der Schwelle eines großen Wohnzimmers stand. Die Frontseite bestand aus einem Panoramafenster, das mit langen Lamellen verhangen war. Zwei Männer saßen auf einem riesigen Sofa, während Director Bennet an einem massiven Tisch lehnte, mit einem seiner Männer irgendwelche Papiere durchging und nebenbei telefonierte. Als er aufsah und mich entdeckte, beendete er hastig das Gespräch. »Joy! Schön, dass du wach bist! Wie geht es dir?« Er wirkte gestresst und um seine Augen lagen dunkle Schatten. Alle Köpfe fuhren herum und musterten mich neugierig.
Plötzlich wurde ich von einer inneren Panik überwältigt. Meine Sicherungen brannten durch, als ich Director Bennet ansah. Er war der Boss – der, der angeblich alles unter Kontrolle hatte. Wie hatte er zulassen können, dass Cathrin entführt wurde? Es war wie eine Flut, die über mich hereinbrach. Kopflos lief ich auf ihn zu und schrie ihn an. »Wo ist sie? Wieso haben Sie das nicht verhindert?« Mit meinen Fäusten trommelte ich gegen seine Brust. Ich wollte ihn schlagen, ihn verletzen, ihn für diesen ganzen Mist verantwortlich machen. Meine Gefühle sprudelten über, ich begann zu weinen und zu schreien.
Er hielt mich an den Handgelenken fest. »Joy! Beruhige dich! Wir kriegen deine Schwester wieder, versprochen.« Blind vor Tränen nahm ich seine Worte wie durch Watte wahr. »Es wird alles gut werden.«
Ich wehrte mich, wollte mich von ihm losreißen, nur um weiter auf ihn einzuschlagen, aber ich hatte keine Kraft mehr und sackte in seinen Armen zusammen. Die Tränen wollten nicht versiegen, strömten aus mir heraus, bis ich schließlich ruhiger wurde und mich an seine Worte klammerte.
»Es wird alles gut werden«, redete er leise auf mich ein und streichelte mir übers Haar. »Schsch ... ist ja gut.«
Es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte. Er löste sich von mir. »Geht es wieder?« Er sah mich an und reichte mir ein Taschentuch. Nickend nahm ich es und schnäuzte die Nase. Die Männer starrten mich an, standen etwas unbeholfen da und sahen dabei zu, wie Director Bennet mich tröstete. Es war unangenehm, doch Bennet bemerkte mein Unbehagen. Er nahm mich bei den Schultern und drehte mich zu den Männern herum. »Alles in Ordnung.«
Ich schluckte und riss mich zusammen. »Ja.«
»Das sind Special Agents Steven Tucker, Tom Murder und Gregory Founder. Sie sind ab jetzt für deinen Schutz zuständig.« Die Männer nickten mir grüßend zu.
»Keine Sorge, wir kriegen die Schweine«, rief mir einer der Agents zu. Ein anderer gab ihm nickend Recht. Sie schienen sich ihrer Sache sicher zu sein, was mich hoffen ließ. Bennet gab ihnen mit einer Kopfbewegung den Befehl, den Raum zu verlassen.
Erst als wir allein waren, führte er mich zu einem Stuhl. »Komm, setz dich erst mal. Du wirst bestimmt hungrig sein.« Auf dem Tisch lag eine offene Schachtel mit Muffins und Donuts. Ich hatte tatsächlich Hunger. Er schenkte mir eine Tasse Kaffee und ein Glas Wasser ein. Gierig trank ich das Wasserglas in einem Zug aus.
»Greif zu. Der Arzt sagte, du musst essen, wenn du aufwachst.«
Ausgehungert biss ich in einen Donut.
»Ich bin sicher, dass du deine Schwester bald wieder in deine Arme schließen kannst. Du musst uns vertrauen und noch ein wenig Geduld haben.«
Mein Appetit verpuffte. Allein der Gedanke, wie verängstigt und verzweifelt mein Keks sein musste, schnürte mir die Kehle zu und trieb mir erneut die Tränen in die Augen. Ich legte den Donut beiseite.
»Sei ganz ruhig, Joy. Deine Schwester ist für diese Kerle nur Mittel zum Zweck. Wir kriegen sie zurück. Sie ist nicht die Person, die sie haben wollen, verstehst du?« Ich blinzelte die Tränen fort und erwiderte seinen Blick. Sie wollten Dad. Es war ein netter Versuch, mich zu trösten, trotzdem war jede Minute, die Holly bei diesen Verbrechern verbrachte, zu viel.
»Sie werden uns kontaktieren, und sobald sie das tun, verhandeln wir.«
»Das waren Suárez‘ Männer, hab ich Recht?«
»Ja. Bei dem Unfall konnten wir sie identifizieren.«
Sofort hatte ich die blutigen Bilder im Kopf. »Sind ... sind sie tot?«
»Zwei kamen ums Leben, die anderen beiden liegen auf der Intensivstation. Du hattest großes Glück, Joy. Ich bin sehr froh, dass dir nichts passiert ist.«
Ich hatte bei dem Unfall wirklich einen Schutzengel gehabt. Auch, wenn jeder Muskel in meinem Körper brannte und der Schmerz in meinem Kopf wütete, war das alles nichts gegen das Leid und die Angst in meinem Herzen.
»Wir arbeiten auf Hochtouren daran, Holly so schnell wie möglich zu befreien. Dein Vater hat die Nacht an einem anderen Ort verbracht und wird in den nächsten Stunden eintreffen. Vorerst müsst ihr hier untertauchen.«
»Wo genau sind wir?«
»In Milwaukee, Wisconsin, direkt am Milwaukee Bay. Dieses Safe House ist eine Penthouse-Wohnung und mit Überwachungskameras ausgestattet. Du bist also absolut sicher.«
In Milwaukee? Das war ein ganzes Stück von Virginia entfernt. Bennet ging zum Panoramafenster und schob die Lamellen beiseite. »Von hier aus hast du einen fantastischen Blick aufs Wasser und oben auf dem Dach ist ein Pool mit einer noch besseren Aussicht. Ich habe mir sagen lassen, dass die Sonnenuntergänge spektakulär sein sollen.« Er rang sich ein Lächeln ab, um mich aufzuheitern, damit scheiterte er aber kläglich. Das hörte sich so an, als könnte es Tage dauern, bis Holly befreit war. Ich würde keine ruhige Minute haben, bis sie wieder bei mir war. Krampfhaft versuchte ich, die Angst zu unterdrücken, und schloss die Augen. »Wie lange? Holly braucht ihre Medikamente, sonst ...« Ich schluckte und brachte kein weiteres Wort mehr über meine Lippen.
»Ich weiß, Joy. Wir tun, was wir können. Nimm ein Bad, versuche dich zu entspannen. Sobald ich neue Informationen habe, erfährst du es sofort, versprochen. Wir haben dir frische Kleidung besorgen lassen. Deine persönlichen Dinge werden im Laufe des Tages gebracht.«
»Was ist mit Parker und Mike? Konnten sie eine Spur entdecken?«
Bennets Lächeln verschwand und seine Miene wurde ernst. »Was deinen Freund Mike betrifft: Er ist ein Zivilist und darf sich nicht weiter in Gefahr begeben. Wir haben ihn nach Hause geschickt. Parker und Logan wurden suspendiert und vom Fall abgezogen.«
Was?! Sie wurden suspendiert? Irritiert starrte ich ihn an. »Warum?«
Genau in diesem Augenblick klingelte Bennets Handy. Er blieb mir eine Antwort schuldig. Hatte Parker sich nicht versetzen lassen wollen? Bedeutete eine Suspendierung nicht, dass sie unfreiwillig beurlaubt worden waren? Das hieß wohl, dass ich Chris so schnell nicht wiedersehen würde – vielleicht sogar nie wieder. Ich hatte gewusst, dass das bald auf mich zukommen würde, aber mit der Wucht der plötzlich zunehmenden inneren Leere hatte ich nicht gerechnet. Es fühlte sich so endgültig an, die Menschen, die mir am wichtigsten waren, verloren zu haben.
Bennet beendete das Gespräch, kam zum Tisch zurück und trank den letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse. »Wir schaffen das, okay?« Ich hätte gerne etwas von seinem Optimismus gehabt, aber die Angst lähmte mich weiter. Ich würde verrückt werden, so viel stand fest. Ich war nicht der geduldigste Mensch. Gerade was Holly anging, war mein Nervenkostüm nicht das stärkste. Ich musste mich ablenken, mich irgendwie beschäftigen. Wie gerne hätte ich jetzt meine Ledermappe mit den Zeichnungen bei mir gehabt!
»Ruh dich ein wenig aus, Joy. Du hast in den letzten Stunden viel durchgemacht. Nachher musst du mir alles erzählen; ich muss jedes Detail wissen. Alles könnte von großer Wichtigkeit sein. In Ordnung?«
Nickend stand ich auf und lief ins Zimmer zurück. Jemand hatte die Lamellen zurückgezogen und das Fenster geöffnet. Kühle Morgenluft strömte herein. Auf dem Doppelbett, in dem ich geschlafen hatte, entdeckte ich Mr. Floppy. Das Plüschschaf lag traurig und verlassen zwischen den Kissen. Sofort nahm ich es und drückte es fest an mich. War Mr. Floppy alles, was mir von Holly bleiben würde? Ein Schauer fuhr mir den Rücken hinunter. Ich musste mich zwingen, nicht an ein solches Ende zu denken. Holly war stark und eine Kämpferin, das hatte sie schon mehr als einmal in ihrem kurzen Leben bewiesen. Sie war zäh und willensstark – ich musste einfach daran glauben.
Ich blickte an mir hinunter. Ich trug immer noch das Kleid vom Bar-B-Que. Es war an einigen Stellen aufgerissen und Blut und anderer Schmutz klebten an mir. Ekel überkam mich. Ich öffnete die Schiebetür des Schrankes und fand tatsächlich frische Kleidung. Hinter einer Tür vermutete ich ein Badezimmer und war erleichtert, es diesmal allein nutzen zu können.
Lange ließ ich literweise Wasser an meinem Körper hinunterrauschen, seifte mich dreimal ein, bis sich endlich das Sauberkeitsgefühl einstellte. Das Wasser tat meinen geschundenen Muskeln gut und ich entspannte mich ein wenig. Ich wusch mein Haar und putzte mir anschließend gründlich die Zähne. Danach fühlte ich mich besser, doch jeder Gedanke an Holly ließ meine Angst und Ungeduld größer werden.
Die Suspendierung verunsicherte mich. Warum hatte Bennet Chris abgezogen? Parkers Worte hallten in mir nach: ›Du darfst es niemandem erzählen. Hörst du, Joy? Du musst es für dich behalten. Du darfst niemandem vertrauen ... niemandem vertrauen ...‹ Wir beide waren hinter Dads Geheimnis gekommen, kurz bevor Holly verschwunden war. Mein Vater war die graue Eminenz – er hatte die tätowierten Wurzeln, unsichtbar und nur durch ultraviolettes Licht zu erkennen, von denen Chris’ Vater vor seinem Tod gesprochen hatte. Je länger ich darüber nachdachte, desto weniger verstand ich den Sinn. Wieso gab sich Dad für einen Handlanger aus, wenn er selbst hinter dieser Identität steckte? Und wieso wollte Chris, dass ich niemandem die Wahrheit verriet? War es nicht wichtig, dass das FBI darüber informiert wurde?
Einige Zeit später stand ich Director Bennet Rede und Antwort. Ich erzählte ihm in allen Einzelheiten, was sich während des Bar-B-Ques ereignet und bei der Entführung im Krankenwagen zugetragen hatte. Es war alles viel zu schnell gegangen. Nur den Sanitäter, der auch Special Agent Murphy ermordet hatte, konnte ich genauer beschreiben. Am Ende meines Berichts flossen Tränen, weil die Erinnerungen an mir nagten. Hollys Lachen auf dem Karussell hallte in meinen Ohren nach.
»In Ordnung. Wie waren die Tage vor dem Bar-B-Que?«
Ich runzelte die Stirn. »Was meinen Sie?«
»Ist dir da etwas aufgefallen? Haben sich Parker oder Smith anders verhalten als sonst?«
Ich schüttelte den Kopf und spürte den Blick von Tucker auf mir. Bisher hatte er sich im Hintergrund gehalten, doch mit Bennets Frage schien seine Aufmerksamkeit plötzlich voll und ganz auf mir zu ruhen. Ich schätzte Special Agent Tucker auf dreißig. Er wirkte verschlossen und ruhig. Durch seine Brille erinnerte er mich an Harry Potter. Sie passte zu ihm. Zusammen mit seinem dunklen Haar und dem sprießenden Bart sah er eher aus wie jemand, der seine Nase lieber in Bücher steckte als in Polizeiermittlungen. Vielleicht war seine Erscheinung auch nur Tarnung. Er war neugierig, was Chris betraf, das sah ich ihm deutlich an. Die ganze Zeit über hatte er auf seine Notizen geblickt, doch bei der Erwähnung von Parkers Namen hatte er aufgesehen und mich interessiert gemustert.
»Nein. Nicht, dass ich wüsste.« Vieles war anders geworden seit der Sache in der Boutique. Natürlich schoss mir sofort die Schamesröte ins Gesicht. Verdammte Scheiße! Wieso konnte ich nicht lügen?
Bennet bemerkte meine Unsicherheit. »Tucker, lassen Sie uns einen Augenblick allein.«
Der Agent nickte. Ihm war deutlich anzumerken, dass er lieber geblieben wäre, doch ich war froh, dass er ging. Der Director lehnte sich zurück und musterte mich. Nervös nestelte ich mit den Fingern unterm Tisch. Ich kam mir wie ein kleines Mädchen vor. Wo war bitte meine Selbstsicherheit?
»Joy, du kannst ganz frei sprechen. Ich weiß über deine Beziehung zu Parker Bescheid. Es ist wichtig, dass du mir alles erzählst.«
Für einen Moment schloss ich die Augen. Mir war klar gewesen, dass meine Affäre und ihre pikanten, peinlichen Details irgendwann ans Licht kommen würden. Der Gedanke daran ließ meine Haut sofort prickeln. Schnell schob ich meine Gefühle beiseite, öffnete die Augen und hob ein wenig trotzig mein Kinn. »Und wenn schon? Das hat wohl nichts mit Hollys Entführung zu tun, oder?«
»Und was, wenn es vielleicht eine ganze Menge damit zu tun hat?«
Ich runzelte die Stirn und sah ihn verwirrt an. »Wie meinen Sie das?«
»Darüber darf ich nichts sagen, Joy. Deshalb ist es wichtig, dass du mir alles erzählst, auch wenn es dir unangenehm ist. Hat er sich manchmal merkwürdig verhalten? Hat er dir etwas anvertraut oder gesagt?«
Ich hielt den Atem an und war wie erstarrt. Parker war für mich schon immer ein Mysterium gewesen, aber so, wie Director Bennet redete, schien er ihm nicht zu vertrauen. Warum? War Chris nicht so etwas wie ein Sohn für ihn? Was ging hier vor sich? Wieder hörte ich Parkers Stimme in mir nachhallen. ›Du darfst es niemandem erzählen. Hörst du, Joy? Du musst es für dich behalten. Du darfst niemandem vertrauen ... niemandem vertrauen ...‹ Dann fielen mir Parkers Telefonate ein, die ich heimlich belauscht hatte. Schon damals hatte ich deren Inhalt seltsam gefunden. Ich war hin- und hergerissen, wusste nicht, was ich tun sollte.
»Ist es wegen der Affäre? Da kann ich Sie beruhigen. Noch bevor Holly entführt wurde, hat er sie beendet. Er wollte sich sogar versetzen lassen.«
Bennet kniff die Augen zusammen und sah mich an. »Ja, das weiß ich, aber ehrlich gesagt, habe ich seinen Antrag auf Versetzung nicht ernstgenommen. Ich kenne Chris sehr gut – er wollte das nicht wirklich.«
Wieso wurde ich das Gefühl nicht los, dass es um mehr ging als um unser Sexabenteuer? »Warum wurde Parker suspendiert?«, hakte ich noch einmal nach und hoffte auf eine Antwort.
Er fuhr sich durchs Haar und blickte mich nachdenklich an. »Eigentlich darf ich dir das nicht erzählen, aber ... Parker ist kein unbeschriebenes Blatt beim FBI. In der Vergangenheit gab es immer wieder Probleme mit ihm; er wurde deshalb schon mehrmals abgemahnt. Mit dir und der Entführung deiner Schwester hat er das Fass zum Überlaufen gebracht.«
»Aber wieso Logan? Ich meine, er hat doch nichts damit zu tun! Er war zusammen mit meinem Vater im Haus.«
»Weil er Parker gedeckt hat. Es wäre seine Pflicht gewesen, es zu melden. Somit sind beide aus dem Fall raus.«
Also hatte Logan die Arschkarte gezogen, weil Parker die Finger nicht von mir hatte lassen können und zu allem Überfluss auch noch Holly entführt wurde. Bennets Erklärungen verwirrten mich. Etwas stimmte nicht. Hatte Chris etwas mit Hollys Entführung zu tun? Steckte er mit meinem Vater unter einer Decke?
Wie sollte ich wissen, wem ich in dem Chaos noch vertrauen konnte?
»Bitte Joy, wenn du etwas weißt, dann musst du mir das sagen. Jede Kleinigkeit könnte von größter Wichtigkeit sein«, drängte er mich.
Jetzt wäre die Gelegenheit, Bennet von Dads großem Geheimnis zu erzählen. Wenn nicht dem Director des FBIs, wem sollte ich mich dann anvertrauen? »Da gibt es ...« Ich hielt inne. Ein Gefühl durchdrang meine Brust. Es war ganz plötzlich da. Es war, als würde es mich anschreien, das Geheimnis nicht preiszugeben. Ich erinnerte mich daran, was Chris mir von seiner Vergangenheit erzählt hatte, wie er mit Holly umgegangen war, wie viele ernste Gespräche wir gehabt hatten. Wie oft hatte ich hinter die Fassade des Bad Boys schauen dürfen und eine gebrannte Seele entdeckt. Parker war kein schlechter Mensch – zumindest konnte ich mir nicht vorstellen, dass er etwas mit Hollys Verschwinden zu tun hatte. Und dann sah ich wieder seine Augen vor mir, die mich anflehten, das Geheimnis meines Vaters für mich zu behalten.
»Ja?«
»Da gibt es ... nichts, was ich Ihnen sagen könnte.«
»Bist du sicher?« Bennet blickte mich eindringlich an. Ob er mir glaubte? Letztendlich konnte es mir egal sein. Vielleicht war es wirklich besser, mit der Wahrheit zu warten, bis Holly wieder bei mir war.
»Ja.«
»Na schön. Falls dir aber noch etwas einfällt, sagst du Tucker, dass du mit mir sprechen willst.« Einverstanden nickte ich und war erleichtert, als er sich erhob und unser Gespräch damit beendete.
Froh, endlich entlassen zu sein, saß ich den restlichen Tag mit Mr. Floppy im Arm vor dem Fernseher. Seit Wochen hatte ich keine Nachrichten mehr verfolgt. Ich suchte nach einer Schlagzeile, die mit uns zu tun haben könnte, doch außer einer Schießerei an der mexikanischen Grenze und vielen anderen Kleinverbrechen fand ich nichts. Früher hatte ich nie auf die Nachrichten geachtet. Jetzt dieses Chaos in der Welt zu beobachten, war schrecklich. Was war nur aus uns geworden? Immer ging es um Macht, Krieg und Geld. Es war ein ziemliches Scheißgefühl, so hilflos vor der Glotze zu sitzen, sich alles anzusehen und gleichzeitig zu wissen, dass ich mitten in dieser verkorksten Welt saß.
***
Director Bennet ließ mich einige Zeit später mit den Agents im Penthouse zurück. Die Männer beschäftigten sich mit Kartenspielen und Zeitunglesen. Ich beobachtete die Wanduhr im Wohnzimmer. Die Sekunden verstrichen nur langsam. Jedes Mal, wenn eine neue Stunde anbrach, hoffte ich, von den Nachrichtensendern irgendetwas zu erfahren.
Agent Tucker bestellte gegen Abend Pizza. Während sich die Männer darüber hermachten, zog ich mich in mein Zimmer zurück. Ich brachte sowieso keinen Bissen hinunter, also legte ich mich aufs Bett und schlief sofort ein.
Als ich wieder aufwachte, war es absolut still. Mein Magen knurrte und meine Kehle war wie ausgedörrt. Das Licht im Flur brannte und leise Musik erklang aus dem Wohnzimmer.
Agent Tucker stand am Panoramafenster und spähte in die Dunkelheit hinaus. Es war kurz vor drei Uhr nachts. Wahrscheinlich hatte er Nachtschicht. Lautlos ging ich barfuß über den Teppich und blieb am Sofa stehen. Obwohl ich leise war, hatte er mich gehört, drehte sich aber nicht zu mir um. »Dich hat wohl der Hunger aus dem Schlaf gerissen. Hab ich Recht?« Wie schafften es diese Agents immer, genau zu wissen, wer sich anschlich? Er wandte sich um. Nickend folgte ich ihm in die Küche. Die Einbauküche war riesig, sehr modern und sah unbenutzt aus. Er öffnete den Kühlschrank. »Es ist noch Pizza übrig.«
»Gern.« Ich setzte mich auf einen der Hocker und sah zu, wie er zwei große Stücke auf einen Teller lud. Er erwärmte sie in der Mikrowelle und reichte mir eine Wasserflasche.
»Gibt es irgendetwas Neues von meiner Schwester?«
Der Piepton der Mikrowelle zögerte seine Antwort hinaus. Er stellte den Teller vor mir ab und schenkte sich langsam und bedächtig ein Glas Wein ein. »Nein, leider noch nicht. Ich hätte gern eine andere Antwort für dich. Suárez wird uns kontaktieren – das ist so gut wie sicher. Aber hey, dein Vater kommt bald, da wirst du dich sicherlich freuen.« Er lehnte sich an den Küchentresen und trank einen Schluck.
Ich hielt beim Kauen inne und verzog den Mund. Der Agent hatte keine Ahnung, wie egal mir mein Dad inzwischen geworden war. Es war seine Schuld, dass Holly in den Händen dieser Verbrecher war. Dafür hasste ich ihn. »Wann kommt er genau?«
Er legte seinen Kopf schief und musterte mich. »In ein paar Stunden. Du bist wohl nicht besonders gut auf ihn zu sprechen, oder?«
Ich wollte gar nicht über ihn nachdenken. Jeder Gedanke war reine Verschwendung. Mein Vater hatte seine Maske fallen gelassen und mir gezeigt, dass er mehr als nur ein Fremder war – er war ein unkontrolliertes Monster. »Nach allem, was er getan hat, ist das auch kein Wunder, oder?«
»Verstehe. Logan hat gesagt, dass es einige Probleme gab.«
Neugierig blickte ich ihn an. »Allerdings.« Noch immer schockierten mich die Erinnerungen daran, wie mein Vater mich bedroht und übel beschimpft hatte. Chris hatte sich mehrmals mit ihm angelegt und ihm vor ein paar Tagen sogar seine Waffe an die Schläfe gehalten. Und jetzt kannte ich auch noch sein Geheimnis. Ich war mir noch nicht sicher, was das zu bedeuten hatte.
»Wie lange dauert so eine Suspendierung in der Regel?«
Tucker schaute in sein Weinglas und zuckte mit den Schultern, bevor er antwortete. »Keine Ahnung. Das entscheidet der Director. Warum fragst du?«
»Einfach nur so.« Das nahm er mir natürlich nicht ab.
»Parker und Logan haben vom Director mehr als nur eine Warnung bekommen, und trotzdem haben sie es wieder vermasselt. Ich würde sagen, das ist Pech«, sagte er mehr zu sich selbst. Es schwang Zufriedenheit in seiner Stimme mit.
»Sie haben wohl nicht viel für die beiden übrig, was?«
Unverzüglich verschwand die diebische Freude in seinem Gesicht und er wurde wieder ernst. »Eigentlich sollte ich mit dir nicht darüber reden, aber es wird sowieso angesprochen werden – nämlich dann, wenn sie sich in einem Disziplinarverfahren verantworten müssen.«
Sofort fühlte ich mich schuldig. Ich erinnerte mich, dass Parker von Problemen beim FBI gesprochen hatte. Logan hatte ihn auch gewarnt. Das roch nach richtigem Ärger, nach richtig viel Ärger.
»Director Bennet hätte die beiden erst gar nicht bei diesem Fall einsetzen dürfen. Wenn man es genau nimmt, hat er gegen die Vorschriften verstoßen, und das mehr als einmal. Die meisten Leute beim FBI glauben, dass Bennet das nur getan hat, weil er sich für Parker verantwortlich fühlt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Henrik Parker, Chris´ Vater, war sein Partner und bester Freund, bevor Bennet Director des FBIs wurde. Wusstest du das nicht?«
Natürlich wusste ich das, Chris hatte es mir selbst erzählt. »Nein.«
Er lächelte. »Henrik Parker gehörte zu den Besten. Er war so etwas wie eine Legende. Er war früher beim Secret Service und löste schneller Fälle, als eine Polizeistreife Donuts kaufen konnte. Er war einfach ein Fuchs. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, dass er in Wahrheit ein Verräter war. Als er starb und alles ans Licht kam, war das schlimm für Chris. Bennet hat sich seiner angenommen, ihn unterstützt. Er hat ihm so einiges durchgehen lassen, was natürlich den Neid vieler Kollegen auf den Plan rief. Es ist schon seltsam, wie Chris seine Fälle löst. Entweder hat er nur unverschämtes Glück oder er tritt in die Fußstapfen seines Vaters. Jedenfalls hat der Kerl mehr Erfolg, als gut für ihn ist.« Plötzlich blickte Tucker von seinem Weinglas auf. »Du solltest noch ein wenig schlafen.« Damit schlenderte er aus der Küche und ließ mich einfach stehen. Wie ich es hasste, so abgefertigt zu werden.
Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Das Ticken der Wohnzimmeruhr machte mich verrückt. Die Warterei auf Neuigkeiten quälte mich, und mit jeder Sekunde, die verging, wuchs meine Angst um Holly. Jedes Mal, wenn Tuckers Handy klingelte, zuckte ich erwartungsvoll zusammen. Ich saß auf dem breiten Fenstersims vor dem Panoramafenster und starrte auf die Milwaukee Bay.
Der Horror von Hollys Entführung überlagerte alles, und dass ich mich in Parker verliebt hatte, machte es nur noch komplizierter. Von Anfang an hatte ich gewusst, dass er mir das Herz brechen würde, und das hatte er auch getan. Früher hatte ich meine Enttäuschungen doch auch ganz gut wegstecken können, wieso war es diesmal schwieriger? Der Schmerz saß tief und ich hatte alle Mühe, ihn zu unterdrücken. Die Gefühle konnte ich zwar nicht abstellen, aber ich war wütend genug, um ihn zu verteufeln. Ich verdrängte das zarte Flattern in meinem Herzen, vergrub es in mir und beschloss, es nicht wieder aufsteigen zu lassen.
Erneut schreckte ich auf, als Tuckers Handy klingelte. Jedes Mal hielten wir inne. Mein Herz begann zu rasen.
»Es ist so weit, Leute. Er kommt.« Tucker bedachte mich mit einem vielsagenden Blick. Enttäuscht, dass es nur mein Vater war, der sich angekündigt hatte, sank ich auf das Fensterbrett zurück und wandte mich wieder teilnahmslos dem Leben draußen zu. Früher war ich immer total aufgeregt gewesen, wenn Dad von seinen Geschäftsreisen nach Hause gekommen war. Diesmal wäre es mir lieber, er würde fortbleiben – von mir aus auch für immer.
Die Funkgeräte rauschten und man hörte männliche Stimmen, die irgendwelche Nummern oder Codes durchgaben. Ich hatte keine Ahnung, was all das zu bedeuten hatte, hielt es für Agentenkram. Der Fernseher wurde ausgeschaltet und die leeren Pizzaschachteln und Kaffeebecher eilig in die Küche getragen. Die FBI-Agents benahmen sich, als würde der Präsident auf eine kurze Visite vorbeischauen. Selbst Tucker, der sonst Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte, wurde von den anderen beiden angesteckt. Aufgeregt lief er auf und ab, brabbelte irgendwas Unverständliches ins Funkgerät und gab Anweisungen.
Minuten später war der Spuk vorbei und mein Vater betrat das Wohnzimmer. Er wurde von vier Agents begleitet und sah noch schlechter aus als im Safe House in Virginia. Er wirkte völlig erschöpft. Seine Schultern hingen schlaff herunter, sein Gesicht war grau und fahl, seine Augen müde und leer. Die Kleidung schlotterte an seinem Körper. Er hatte noch mehr abgenommen. Aber ich hatte kein Mitleid mit ihm, ganz im Gegenteil.
»Mia! Meine kleine Malerin! Lass dich umarmen.« Er breitete seine Arme aus und wartete darauf, dass ich ihm entgegenlief. Darauf konnte er lange warten. Obwohl ich zugeben musste, dass ich fast auf sein Theater hereingefallen wäre, weil er wirklich sehr mitgenommen und traurig aussah. Nur eine Millisekunde zögerte ich, doch dann blieb ich vor ihm stehen und überkreuzte meine Arme. Erwartungsvoll rechnete ich damit, dass er mir eine lahme Erklärung nach der anderen um die Ohren schlagen würde. Enttäuschung war in seinen Augen zu lesen, als ich ihm die Umarmung verweigerte, aber damit konnte ich umgehen.
Er räusperte sich und blickte kurz zu den Agents, die uns zuhörten. »Ich verstehe, dass du sauer auf mich bist.«
»Sauer? Das trifft es noch nicht einmal ansatzweise, Daddy«, presste ich übelgelaunt hervor.
»Nun gut. Ich kann es nicht ungeschehen machen, aber eines sollst du wissen ... Ich vergebe dir, Mia. Ich vergebe dir deshalb, weil du noch jung bist und lernen musst, dich in meiner Welt zu bewegen.« Er lächelte mich lieb an.
Das konnte unmöglich sein Ernst sein. Fassungslos starrte ich ihn an, dabei wurde alles in mir kalt, selbst mein Herz. »Wie bitte? DU vergibst mir? Ausgerechnet du? Was stimmt nicht mit dir? Wie kommst du auf die Idee, dass ich mich in deiner Welt aufhalten will?«
»Meine Herren, würden Sie mich und meine Tochter für einen kleinen Augenblick alleinlassen?« Erhaben und sich seiner Sache absolut sicher, schaute er nur mich an, rechnete damit, dass die Männer auf sein Kommando hören würden.
»Ein Agent muss anwesend bleiben, Sir«, antwortete Tucker. Dad nickte kurz und setzte sich aufs Sofa.
»Ihr habt es gehört«, forderte Tucker die Leute auf. Einer nach dem anderen verließ den Raum, nur er selbst blieb, was mich, ehrlich gesagt, erleichterte. Das letzte Mal, als ich mit Dad allein gewesen war, hatte ich wirklich Angst vor ihm gehabt.
Als wir nur noch zu dritt waren, setzte sich Dad, schlug die Beine übereinander und faltete seine Hände.
»Setz dich!«, befahl er mir.
Ich war viel zu aufgebracht, um auf seinen Befehl zu hören. »Ich stehe lieber.« Schnippisch ging ich zum Panoramafenster hinüber und verschränkte die Arme.
»Wie du willst.« Er senkte seinen Blick und schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Ich verstehe, dass das alles nicht einfach für dich ist. Ich finde aber, du bist stark genug, um das auszuhalten. Du hast mein Blut und meinen Verstand. Es wird langsam Zeit, dass du dich damit abfindest und endlich versuchst, dein Schicksal anzunehmen. Ich kann meine Vergangenheit und meine Taten nun mal nicht ändern.«
Ich lachte höhnisch und konnte nur mit dem Kopf schütteln. Ich fragte mich, wie er wohl reagieren würde, wenn er erfuhr, dass ich sein schmutziges Geheimnis kannte.
»Ich meine es ernst, Mia. Ich habe dir verboten, dich mit dem Agent einzulassen – man kann ihm nicht vertrauen. Ebenso, dass ihr auf dieses Bar-B-Que gegangen seid. Das alles hat dazu geführt, dass Suárez uns gefunden und seine Chance genutzt hat. Jetzt haben sie etwas, das wir beide wiederhaben wollen - Holly.«
»Du gibst mir die Schuld, dass Cathrin entführt wurde?« Ich war fassungslos.
Er lehnte sich zurück und seufzte, als wäre er zufrieden, mich verletzt zu haben. »Ich bin schon lange in diesem Geschäft. Ich weiß, wie der Hase läuft. Du hättest auf mich hören sollen, dann wäre es nicht so weit gekommen. Aber du musstest den Moralapostel spielen, mich wie ein Monster behandeln und dich dann auch noch auf einen Kerl einlassen, der dich nur für seine Zwecke benutzt hat.«
»Was faselst du da? Chris hat mich nicht benutzt!«
Verärgert stand er auf; er hatte sich in Rage geredet. »Du glaubst mir nicht? Dann sag mir: Hat er dich nicht über mich ausgefragt? Wollte er nicht mehr Informationen über mich haben; Details, die vielleicht nur du wissen konntest? Hat er dich nicht nach Geld gefragt?«
Meine Gedanken rasten. Tatsächlich erinnerte ich mich daran, wie Parker mich nach Geld ausgehorcht hatte. Dieses merkwürdige Telefongespräch neulich ... Plötzlich lag so viel Misstrauen in meiner Brust.
»Er ist nicht der Typ, für den du ihn gehalten hast. Er ist skrupellos und spielt ein falsches Spiel.«
Das konnte nicht sein! Parker würde niemals ... Oder etwa doch? Verdammt! Ich wusste nicht, was ich glauben sollte. Es war ein Gedanke, der mir zuflüsterte, dass mein Vater Recht hatte, aber mein Herz wollte es nicht wahrhaben. Erst letzte Nacht hatte Agent Tucker über Chris einige Andeutungen gemacht.
»Sagen Sie es ihr! Sagen Sie meiner Tochter, mit was für einem Verräter sie sich eingelassen hat«, forderte Dad Tucker auf. »Erzählen Sie ihr, dass der Familie Parker die Spitzelei und der Verrat im Blut liegen.«
Tucker schaute erst zu Boden – offensichtlich fühlte er sich unbehaglich –, doch dann presste er die Lippen zusammen. »Es tut mir leid, Joy, aber er hat Recht. Chris Parker steht schon länger im Verdacht, ein Spitzel der grauen Eminenz zu sein.«
Es war wie eine schallende Ohrfeige und gleichzeitig der größte Witz, den ich je gehört hatte. Ausgerechnet ein Spitzel für die graue Eminenz! Parker war genauso überrascht gewesen wie ich, als wir hinter Dads Geheimnis gekommen waren. Er konnte nicht der Spitzel sein, sonst hätten mein Vater und Parker mir die ganze Zeit etwas vorgespielt. Oder etwa nicht? Für einen Moment war es absolut still im Wohnzimmer.
»Erzählen Sie ihr alles, Agent. Sie soll alles über ihn wissen«, forderte Dad ihn auf.
Tucker räusperte sich. »Das sind interne Informationen des FBIs, Sir. Ich bin nicht befugt ...«, widersprach er, doch ein Blick meines Vaters reichte aus, um den FBI-Agent zum Schweigen zu bringen. »Schon gut, sie wird es sowieso erfahren«, lenkte er ein. »Agent Bennet und Agent Hendrik Parker waren damals Partner. Die beiden arbeiteten undercover an dem Fall der Eminenz und standen kurz davor, ihn endlich zu entlarven. Als dies misslang, kam Bennet auf die Spur eines Maulwurfes aus unseren eigenen Reihen. Es war Hendrik Parker.
Über Monate hatte Chris´ Vater die Eminenz mit streng vertraulichen Informationen und pikanten Details versorgt. Dadurch war der Unterweltboss uns ständig mehrere Schritte voraus. Für uns alle war das ein Schock, weil – wie ich schon sagte – Hendrik der Held des FBIs war. Alle sahen zu ihm auf. Bevor wir Hendrik Parker überführen und festnehmen konnten, wurde er erschossen. Damals hatte Chris seine Spezialausbildung als Bester seines Jahrgangs gerade beendet und beim FBI angefangen. Ich erinnere mich noch, wie er ausgeflippt ist und nicht wahrhaben wollte, dass sein Vater ein Verräter war, aber die Beweislage war eindeutig. Bennet wurde befördert und Chris bekam einen Platz in unserer Abteilung.«
»Das macht Chris noch lange nicht zu einem Verräter«, warf ich ein, als Tucker eine längere Pause einlegte.
Er hob seine Hand und unterbrach mich. »Nach dem Tod seines Vaters trat Chris in seine Fußstapfen beim FBI. Er arbeitete wie ein Verrückter, sprengte mehr Kartelle als jeder andere von uns. Gleichzeitig gingen aber alle Operationen, die die graue Eminenz oder Suárez betrafen, schief. Deshalb glauben wir, dass er ebenso wie sein Vater ein Verräter ist, Joy. Das wäre sonst ein sehr merkwürdiger Zufall.«
»Und warum habt ihr ihn nicht verhaftet?«
»Weil uns die Beweise fehlen. Wir haben darauf gewartet, dass er einen Fehler macht, aber er scheint ein genauso gerissener Hund zu sein wie sein Vater.«
Das klang alles einleuchtend, und trotzdem war es schwer zu verdauen. Mein Herz weigerte sich, mein Verstand flüsterte mir ununterbrochen etwas zu. Wie sollte ich in all dem Chaos wissen, was die Wahrheit war? Parker konnte so lustig, liebenswert und einfühlsam sein. Einerseits waren die Zweifel berechtigt, andererseits passten sie nicht in das Bild, das ich von ihm hatte. »Vor ein paar Wochen habe ich ihn dabei belauscht, wie er während eines Telefongesprächs von irgendwelchen Millionen gesprochen hat. Er hat auch mich danach gefragt«, murmelte ich leise, mehr zu mir selbst.
***
»Verstehst du jetzt, dass du dich mit dem Teufel eingelassen hast?« Dad wollte auf mich zulaufen, doch ich hielt ihn davon ab. »Lass mich! Auch wenn Parker ein Scheißkerl ist, ändert das nichts. Vor ein paar Wochen hatte ich mit Verbrechern wie dir nichts am Hut, und jetzt stecken Holly und ich mittendrin.« Blind vor Tränen und mit aufgestauter Wut presste ich meine Hände zu Fäusten zusammen.
»Beruhige dich, Mia. Es wird alles gut«, sagte Dad sanft.
Ich war so machtlos. Dieses Scheißgefühl drohte mich zu übermannen. Ich konnte nichts tun – nichts! Ich war gefangen in einem Penthouse, zusammen mit Menschen, die ich nicht kannte; von einem fühlte ich mich verraten und verkauft. Meine Schwester war entführt worden, und ich wusste nicht, ob ich sie je lebend wiedersehen würde. Am schlimmsten waren die Angst, sie zu verlieren, und die Erkenntnis, dass ich absolut niemandem vertrauen konnte. Ich hatte keinen, mit dem ich reden konnte, ich war auf mich allein gestellt. Es war so niederschmetternd, dass ich am liebsten auf etwas eingeschlagen hätte. Holly brauchte dringend ihre Medikamente. Nicht auszudenken, wie schlecht es ihr ohne sie ergehen könnte. In meinem Kopf spielte sich der blanke Horror ab und ich hatte keine Geduld mehr, länger darauf zu warten, dass irgendwas passierte. Ich zwang mich, ruhiger zu werden, unterdrückte meine Wut und kontrollierte meine Atmung. »Egal, welche Meinung du vertrittst, was du von mir halten magst oder nicht – wir sollten uns darauf konzentrieren, Holly zu befreien. Sie schwebt in Lebensgefahr«, sagte ich voller Ungeduld.
»Wir tun alles, was in unserer Macht steht«, wandte Tucker ein.
Vehement schüttelte ich den Kopf. »Das reicht mir aber nicht. Ihr müsst sie jetzt sofort da rausholen. Wir können nicht länger warten. Kontaktiert diesen mexikanischen Drogenboss und schlagt ihm einen Deal vor. Jetzt!«
Verwundert blickte Tucker mich an. »Wie stellst du dir das vor?«
»Ganz einfach: Ihr schickt ihm eine Nachricht und fordert einen sofortigen Austausch. Holly gegen meinen Vater.«
Ich hätte wirklich gedacht, dass mein Vorschlag für Dad wie ein Schlag ins Gesicht sein musste. Im ersten Augenblick war er das vielleicht auch, aber er ließ sich nichts anmerken.
»Was ist? Schaut mich nicht so an. Wie lange will das FBI noch warten?«
»Das ... ist nicht so leicht, Joy«, war Tucker der Meinung.
»Und wieso nicht? Ihr wisst doch bestimmt, wie man diesen Kerl erreichen kann.«
»Das ist zu gefährlich. Diese Leute würden alles tun, um an deinen Dad zu kommen. Sie würden selbst deine Schwester töten. Wir müssen vorsichtig vorgehen.«
Wie erwartet, hielt sich mein Vater aus der Diskussion heraus. Ich konnte nicht fassen, dass er sich nicht für Holly einsetzte und alles dem FBI überlassen wollte. Es machte mich wütend und zugleich spürte ich eine kämpferische Energie. »Es wird höchste Zeit, dass wir das Ruder in die Hand nehmen und handeln! Oder bist du etwa bereit, Cathrin sterben zu lassen, um deine eigene Haut zu retten?« Ich fand Gefallen daran, so mit meinem Dad zu reden. So konnte ich meine Wut, Enttäuschung und Aggressionen etwas abbauen. In mir herrschte Aufbruchsstimmung. Am liebsten wäre ich sofort losgelaufen, hätte ihn bei Suárez persönlich abgeliefert und Holly dafür mitgenommen. Doch leider sah die Realität anders aus.
»Überlass es uns, wie wir unseren Job machen. Ich bin sicher, Director Bennet kümmert sich bereits um alles.« Damit hatte ich Tucker verstimmt. Wer ließ sich schon von einem Laien wie mir etwas vorschreiben? Ich blickte zu Dad, der damit zufrieden schien, dass Tucker mir den Wind aus den Segeln genommen hatte. Er ging zum Sofa zurück und setzte sich.
Mir wollte einfach nicht in den Kopf, wieso sie wertvolle Zeit verstreichen ließen. »Und wie lange wollt ihr noch warten?«
»Das weiß ich nicht. Mein Befehl lautet, euch hier zu beschützen.«
»Na, ganz toll. Das heißt, Holly muss unnötig leiden.«
»Beschäftige dich, Joy, und lass die Männer ihre Arbeit machen. Sie haben etwas mehr Erfahrung als du«, fuhr mir Dad über den Mund.
Es war nicht zum Aushalten. Ich konnte nicht länger die gleiche Luft atmen wie er und ging wutentbrannt in mein Zimmer. Aufgebracht tigerte ich auf und ab. Nach wie vor war er der Hauptverantwortliche für den ganzen Schlamassel. Egal, welche Verbindung Chris zur Eminenz – also zu meinem Vater – gehabt hatte, es änderte nichts daran, dass Dad an allem Schuld war. Jetzt war ich froh, dass ich ihn nicht mit seinem Geheimnis konfrontiert hatte. Wer wusste schon, zu was ich diese brisante Information noch brauchen würde.
Ich nahm Mr. Floppy in den Arm, legte mich aufs Bett und dachte nach. Das Einzige, was mich beruhigte, war, dass ich offensichtlich die kranken Gene meines Vaters nicht geerbt zu haben schien. Was Chris betraf, ärgerte ich mich über mich selbst. Wieso hatte ich zugelassen, dass er so viel Macht über mich und meine Gefühle bekommen hatte? Wem konnte ich überhaupt vertrauen, wenn selbst das FBI korrupte Agents hatte? War das der Grund, warum ich niemandem erzählen sollte, wer mein Vater in Wirklichkeit war? Ich war so wütend auf mich. Ich hatte mich naiv und kindisch benommen, aber damit sollte jetzt Schluss sein. Ich musste einen Weg finden, Holly und mich in Sicherheit zu bringen; an einen Ort, an dem uns niemand kannte und wo wir neu beginnen konnten – koste es, was es wolle.
Achtundvierzig Stunden und einige hitzige Diskussionen später rüttelte mich jemand mitten in der Nacht aus dem Schlaf. »Joy! Joy, wach auf. Es gibt Neuigkeiten.« Ich schreckte hoch. Dad hatte das kleine Nachtlicht eingeschaltet und saß neben mir auf der Matratze. Ich blinzelte noch etwas schlaftrunken, aber nur, bis sich die Erinnerung schlagartig in mein Bewusstsein drängte. Als ich in sein müdes Gesicht und seine glasigen Augen blickte, kroch Panik in mir hoch und eine eiskalte Faust umklammerte mein Herz. »Ist was mit Cathrin?«
»Wir müssen los. Sie erzählen uns alles auf dem Weg«, wich er mir aus. Er stand auf und ich folgte ihm mit weichen Knien. Alle Agents waren versammelt. Es herrschte eine angespannte Stimmung. Tucker telefonierte, während Murder und Founder eilig ihre Taschen ins Wohnzimmer schleppten.
»Wir sind quasi schon auf dem Weg, Sir«, sagte Tucker noch in sein Handy, bevor er auflegte und sich zu mir wandte. »Joy, es ist so weit. Wir fliegen nach El Paso.«
»Nach El Paso?«
»Ja, wir haben nicht viel Zeit. Zieh dich an, unser Flieger wartet. Den Rest erzähle ich dir unterwegs.« Das musste Tucker mir nicht zweimal sagen. Innerhalb weniger Minuten war ich angezogen und bereit.
Es war mitten in der Nacht, als wir das Penthouse verließen. In zwei Wagen mit abgedunkelten Scheiben fuhren wir zum Flughafen. Ich war froh, dass Tucker dafür gesorgt hatte, dass Dad in dem anderen Fahrzeug dicht hinter uns war. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart einfach nicht mehr wohl. Tucker redete unentwegt über das Headset mit seinen Kollegen, die im Minutentakt irgendwelche Codes durchgaben.
Endlich erreichten wir das Rollfeld und stiegen in die Maschine. Nervös setzte ich mich an einen Fensterplatz und fing an zu beten. Die Propeller starteten, der Motor brummte und der Schweiß stand mir auf der Stirn. Viereinhalb Stunden Flug lagen nun vor uns, und ich betete, dass diese schnell vorübergehen mögen. Krampfhaft umklammerte ich die Armlehnen beim Start.
»Flugangst?« Agent Tucker setzte sich neben mich und schnallte sich an. Ich antwortete nicht, war gar nicht in der Lage dazu. »Hier.«
Ich blinzelte. Er streckte mir einen Kaugummi hin. »Na, du musst die Augen schon aufmachen und deine Hände bewegen, wenn du ihn essen willst.«
»Ich weiß ja noch nicht mal, ob ich überhaupt einen möchte.«
»Doch, du willst einen. Das hilft. Na,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: © Any Cherubim Alle Rechte liegen bei der Autorin.
Bildmaterialien: Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski / www.alexanderkopainski.de
Lektorat: Bookrix GmbH Sandra Nyklasz / Anja Horn
Tag der Veröffentlichung: 08.01.2017
ISBN: 978-3-7396-9234-0
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine Geschwister
Sandra und Bubi
Geschwister sind nie alleine, sie tragen immer den anderen im Herzen