Seelensturm
Band 1
Any Cherubim
Für Anja H. aus F.
Solange ich stehen kann, kämpfe ich für dich,
solange ich atme, verteidige ich dich,
solange ich lebe, liebe ich dich.
Autor unbekannt
Grün: gemischte Gefühle, durcheinander
Gelb: emotional, besorgt, bedrückt
Orange: nervös, aufgeregt, beunruhigt
Rosa: verliebt, Freude, fröhlich, guter Dinge
Gold: romantische Stimmung, leidenschaftlich
Rot: wütend, aggressiv, verärgert, genervt
Lila: absolut glücklich
Schwarz: ängstlich, verzweifelt, traurig, Angst
Grau: gelangweilt, frustriert, beleidigt
Blau: entspannt, gelassen, ruhig, ausgeglichen
Weiß: geheimnisvoll, verschwiegen
Ein leiser Piepton riss mich aus dem traumlosen Schlaf. Das dünne Leintuch hatte sich um mein Bein und um den schönen jungen Körper neben mir verheddert. Vorsichtig befreite ich mich aus den Armen, die mich die ganze Nacht umschlungen hatten. Die Nacht war nicht nur stickig, sondern auch heiß gewesen - sehr heiß! Die Erinnerung löste ein befriedigendes Gefühl in mir aus. Ein kurzer Blick auf die Blondine und meine Lust war sofort wieder erwacht. Sie war schön, sie kannte ihre Reize und wusste sie auch gekonnt einzusetzen. Mit Erfolg hatte sie mich dazu gebracht, meine trüben und dunklen Gedanken zu vertreiben. Wobei ich mir nicht sicher war, ob der Tequila den größten Teil dazu beigetragen hatte.
Die blonde Schönheit stöhnte im Schlaf und drehte sich um, sodass ich ihren Rücken bewundern konnte. Sie gefiel mir, doch ihr Name war mir entfallen. Aber das war auch nicht wichtig, denn spätestens nach dem Frühstück würde ich sie nicht mehr wiedersehen. Ich hatte sie letzte Nacht gebraucht, sie hatte mich vergessen lassen - zumindest für ein paar Stunden.
Der Piepton holte mich wieder aus meinen Gedanken. Ich wusste, was der Ton zu bedeuten hatte. Es war mein Job, der mich rief. Leise stand ich auf, zog mir nur eine Jeans über und verließ mein Schlafzimmer. Im Flur lagen ihre Unterwäsche, mein Hemd und ihre achtlos auf den Boden geworfenen restlichen Klamotten, wie ein kleiner Wegweiser verstreut. Beim Vorbeilaufen hob ich alles auf, warf es auf das weiße Ledersofa und ging durch eine Nebentür in mein Arbeitszimmer. Kühles Weiß und Schwarz dominierten die Einrichtung. Ein großer, massiver Schreibtisch stand in der Mitte des Raumes. Mir gefiel schon immer die dunkle Eleganz und die klaren Linien an Möbelstücken.
Mein Laptop schaltete sich ein, als ich mit meinem Zeigefinger über den Scanner fuhr und er meine Fingerdaten ablas. Das Handy leuchtete erneut auf, während mein Rechner startete. Ich wusste, auch ohne hinzusehen, wer mich zu sprechen wünschte. Es war eine Weile her, seit ich Kontakt mit Rom hatte. Mein bester Freund stand schon länger auf ihrer Abschussliste. Auch wenn ich die Gesichter, die uns bezahlten, nicht alle kannte, wusste ich genau, dass sie keinen Spaß verstanden. Für meinen Geschmack sah Matteo das alles zu locker. Trotz meiner Warnungen amüsierte er sich mit Models, die für Schlagzeilen sorgten. Dadurch wurde sein Gesicht öfters in Boulevardzeitschriften abgelichtet und neugierige Presseleute fingen an zu recherchieren, was in unserem Job absolut verboten war. Wir hatten klare Regeln, die wir zu befolgen hatten. Ohne Fragen zu stellen, führten wir unsere Aufträge durch und hielten uns im Hintergrund. Wie unsichtbare Schatten, dazu waren wir ausgebildet worden.
Wie erwartet öffnete sich auf dem Bildschirm meines Computers ein Fenster mit der römischen Kennung. Sofort spürte ich das seltsame Gefühl, das mich seit einigen Monaten quälte. Ich wusste, dass die Ausschüttung von Gefühlen jeglicher Art für uns nicht möglich war, doch eindeutig identifizierte ich Schuld, Angst und Traurigkeit. Es war merkwürdig - mein Leben lang dominierten Hass, Kälte und Gewissenlosigkeit. Etwas stimmte mit mir nicht. Doch bevor ich nicht herausgefunden hatte, was falsch lief oder was mit mir geschah, würde ich es für mich behalten müssen. Sonst wäre mein Leben nicht mehr sicher.
»Guten Morgen, Luca. Wie geht es dir? Wir haben eine Weile nichts mehr voneinander gehört.«
Seine Stimme war mir vertraut - schon viele Jahre. Das Gesicht auf dem Bildschirm vor mir war immer noch dasselbe. Ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit eisblauen Augen lachte mich freundlich an. Ich kannte dieses Lächeln nur zu gut, um zu wissen, dass dahinter eine hässliche, hinterlistige Fratze steckte.
Die Übertragung des Bildes war besser als sonst. Rosig waren seine Wangen, doch das war eindeutig geschminkt, denn auf seiner linken Gesichtshälfte hatte er versucht, die große, lange Narbe zu überdecken und die restliche Haut wirkte grau und fahl. Ich grüßte ihn emotionslos zurück und hoffte, er würde bald zum Punkt kommen.
»Sag, geht es Matteo wieder gut?« Die Scheinheiligkeit in seiner Stimme ließ mich stocken. Sie wussten genau, dass Matteo hätte tot sein müssen. Nur durch mein Versprechen, ihn und seinen Lebenswandel ruhiger zu halten, hatten sie davon abgesehen, ihn zu köpfen.
»Ihr wisst doch, dass er noch einige Zeit brauchen wird, bis er wieder einsatzfähig ist.«
»Ja, ja ... aber ist er sich auch bewusst, welches Risiko wir damit eingehen? Ich hoffe für ihn, dass er begriffen hat, was ein unsichtbarer Schatten bedeutet, sonst könnte auch dein Kopf in Gefahr sein, Luca. Und das wäre wirklich sehr schade, bei deinem Talent und Können«, grinste er falsch wie eine Natter. Ich hatte seine Drohung verstanden und wollte das Gespräch so schnell wie möglich beenden. Die Erinnerung an mein Versprechen verstärkte nur meine Kopfschmerzen.
»Was willst du, Rabas?« Sofort verschwand das hinterhältige Grinsen und seine Miene wurde ernst.
»Du bekommst einen neuen Auftrag und diesmal darfst du ihn nicht enttäuschen.«
Mir war sofort klar, von wem er sprach. Er war mein Meister, mein Gönner, mein Richter und auch mein Todesurteil, wenn es ihm gefiel. Jeder kannte seinen Namen und was noch erschreckender war, wir kannten alle seine Macht, die größer war als alles, was sich die Menschen jemals vorstellen konnten. Er war ein Gott, er entschied über Leben und Tod und nur seiner Gnade war es zu verdanken, dass Matteo noch am Leben war.
Roy Morgion … der Name, der für Furcht und Respekt sorgte. Grausamkeit und Kälte waren die Attribute, die ihn auszeichneten. Härte und Disziplin hatte er uns gelehrt - Befehle ohne mit der Wimper zu zucken, auszuführen. Genau diesen Auftrag musste ich nun nutzen, um Matteo wieder in ein besseres Licht zu rücken. Ein enttäuschendes Ergebnis kam für mich nicht infrage.
Emotionen empfinden wir nur für unsere Brüder, ansonsten waren und sind sie ein lästiges Gepäck in unserem Leben. Dafür gibt es einfach keinen Platz. Doch seit einigen Monaten waren Gefühle in mir, die ich nicht erklären konnte. Ich fühlte mich von ihnen verfolgt. Während ich sie tagsüber gut zu vertreiben wusste, drangen sie nachts bis in meine Träume. Ich ließ mir nichts anmerken und ignorierte den Druck, der sich in meinem Magen aufbauen wollte.
»Wohin soll es diesmal gehen?«, fragte ich Rabas, der schon wieder grinste.
»Nach New York. Matteo wird dich begleiten. Eine Maori wird dir alle Informationen bringen.«
Ich nickte und dachte daran, wie schwer es das letzte Mal gewesen war, Matteo vor Morgion zu verteidigen. Diesmal würde ich nicht zulassen, dass er seinem Vergnügen nachging. Ich würde ihn an seinen Eid erinnern und ihn fürs Erste nicht aus den Augen lassen.
»Wann sollen wir aufbrechen?«
»Morgen früh. Er erwartet einen regelmäßigen Bericht.« Rabas machte eine kurze Pause, bevor er weiter sprach, und rückte noch näher zur Kamera. Jetzt war nur noch sein Gesicht zu sehen, das den Umfang des Bildschirmes völlig einnahm. Er drehte sich kurz um, um sicherzugehen, dass er keine Mithörer hatte.
»Keine Bilder, keine Presse, Luca. Nichts und niemand darf von euch Notiz nehmen. Denkt an euren Schwur und daran, was mit euch passiert, falls Fotos von euch in der Presse auftauchen sollten.« Dann war der Monitor schwarz und das Gespräch beendet.
New York also! Mein letzter Auftrag lag drei Monate zurück. Seit meinem 17. Lebensjahr reiste ich durch die ganze Welt, doch diese Weltstadt war noch nie mein Ziel gewesen.
Ich klappte den Laptop zu und sah aus dem Fenster. In Gedanken fuhren meine Finger ganz automatisch zu meinem Oberarm und berührten die Stelle auf der Haut, die eine Verhärtung aufwies. Dort lag das Zentrum meines Ichs. Jenes Zeichen, welches mich dazu bestimmte, ein Taluri zu sein. Ich trug es mit Stolz. Damit war ich ein Teil dieser Macht, ein Teil dieser tödlichen Familie, vor der wir alle Angst hatten und die wir doch so sehr liebten.
Diesmal würde ich nicht versagen. Das durfte ich einfach nicht. Ich würde alles tun, um zu verhindern, dass mein Erschaffer unzufrieden mit mir sein würde, aber auch, dass ich nicht gezwungen werde, meinen besten Freund zu töten, in einem grausamen Spiel, in dem ich mein Wort gegeben hatte.
Jade
Der Mond schien hell in dieser Nacht. Klar war der Himmel und die Sterne glitzerten. Der große Baum vor dem Fenster warf seine Schatten in unser Zimmer. Mit jedem kleinen Windstoß bewegten sich die Äste. Kühl strich die Nachtluft über meinen Körper, die von dem geöffneten Fenster hereinströmte. Meine Haut reagierte sofort darauf. Ich zog die Decke über meine Schultern und genoss das wohlige Gefühl meiner eigenen Wärme.
Alles schlief. Es war still im Haus, nur ich war noch wach, drehte mich unruhig zur Seite, strich mein langes, braunes Haar aus meinem Gesicht und lauschte der Stille. Die Geräusche des Tages waren verklungen und würden in ein paar Stunden von Neuem erwachen. Klapperndes Geschirr aus der Küche, der Rasenmäher auf dem Grundstück und die Menschen, die hier lebten und arbeiteten, würden wieder zu hören sein. Doch jetzt war alles stumm, nur die Alarmanlage, die uns bewachte, tat fast unhörbar ihre Arbeit.
Ich hatte das Gefühl, allein im Raum zu sein und doch sah ich meine Zwillingsschwester in ihrem Bett liegen - auf der anderen Seite des Zimmers. Ihre Decke hatte sie um ihren Körper geschlungen, sie schlief ruhig und fest. Amy liebte es, auszuschlafen, während ich gerne früh aufstand. Erst wenn die Sonne schon die Mittagszeit einläutete, erwachte sie. Ihre Haare waren zerzaust, und sie schien noch eine Weile zu brauchen, bis sie endlich richtig wach wurde. Die übliche Dusche vertrieb ihr die Müdigkeit schlagartig. Bis sie zum Mittagessen erschien, waren die Spuren ihres tiefen Schlummers meist verschwunden. Sie besaß die gleichen großen Augen, die gleiche kleine Nase, den gleichen vollen Mund, wie ich. Ihre Haare hatten genau den gleichen Farbton und auch die Länge war identisch. Erst beim näheren Hinsehen konnte man wenige, feine Unterschiede erkennen. Wir glichen uns, für jeden sichtbar, doch innerlich konnten wir nicht unterschiedlicher sein. Zwillinge von außen, jedoch innen zwei gegensätzliche Pole. Wir waren wie Yin und Yang, Sturm und Sonnenschein, hell und dunkel, sie laut und ich leise.
Amys grün-graue Augen waren einen Tick dunkler als meine und strahlten mehr. Wir achteten auf unsere Ernährung und waren beide schlank, doch war es ihre Figur, die in einem Kleid besser aussah. An meinen Armen, Beinen und am Bauch konnte man die sanften Linien, die meine Muskeln abzeichneten, erkennen. Es stimmte, dass ich sportlicher war als sie und trotzdem fand ich Amy schon immer hübscher. Ihre Linien waren zarter, femininer. Manchmal fragte ich mich, ob ich genauso anmutig und stilvoll wirkte wie sie. Den Leuten auf der Straße wurde sofort klar, dass wir Zwillinge sind. Ich liebte sie. Unsere Verbundenheit war stark - vielleicht stärker als bei anderen Geschwistern.
Es gab ein Geheimnis, von dem nur wir beide wussten. Wir sprachen nie darüber, doch wir spürten es. Ein Blick, eine Berührung und ich erkannte ihre Stimmung an der Farbe ihrer Aura, die aus ihrem Körper strömte. Für alle unsichtbar, nur für uns nicht. Es war eine besondere Verbindung - eine Gabe, die wir uns seit unserer Geburt teilten. Manchmal lästig, aufdringlich und nervig. So wusste ich ganz instinktiv, wenn sie wütend, traurig, aufgeregt oder glücklich war. Es brachte mich dazu, sensibel darauf zu achten, in welcher Verfassung meine Schwester sich gerade befand. Das Wissen, vier Minuten älter zu sein, gab mir das Gefühl, sie schützen zu müssen, sie in die richtige Richtung zu lenken, sie hin und wieder zurechtzuweisen. Sie mochte es nicht und manchmal stritten wir uns deshalb.
Ganz oft träumte ich davon, ihre Aura nicht mehr sehen zu können. Jenes Farbenspiel, das es mir möglich machte, ihre Stimmungen zu deuten und ihren Seelenzustand zu lesen. Woher diese Gabe kam, wusste ich nicht, sie war einfach von Anfang an da. Wir wurden so geboren, zumindest glaubte ich es. Einmal googelte ich danach, doch ohne Ergebnis.
Amy war etwas Besonderes und das bewies sie, als wir zehn Jahre alt wurden. Während des Unterrichts wurden sie und ihre Freundin ermahnt, endlich still zu sein und aufzupassen. Doch es gab nichts Schwierigeres für sie, als eine Schulstunde lang ihre Klappe zu halten. Wütend saßen wir im Auto und wurden von Terry, unserem Chauffeur, nach Hause gefahren. Am Ende der Stunde hatte unser Mathelehrer ihr eine Strafarbeit aufgebrummt, über die sie sich maßlos ärgerte. Ich wollte sie besänftigen, doch das schürte nur noch mehr ihre Wut. Das Rot, das sie wie ein Nebel umhüllte, schrie mir entgegen, während ich auf sie einredete. Doch plötzlich war es verschwunden. Wie einen Lichtschalter hatte sie es ausgeschaltet - einfach weg. Sie sah mich nicht mehr an. Und auch wenn ich sie berührte, ließ sie es nicht zu, dass ich ihre Stimmung lesen konnte. Amy schaffte es, ihre innere Verfassung für sich zu behalten. Völlig verwirrt starrte ich sie an und versuchte mit aller Kraft, ihren Zustand zu erfassen. Doch sie entzog mir jegliche Zustimmung. Mein eigenes verärgertes Rot durchdrang meinen Körper. Ich wollte es genauso verhindern, doch mein immer dunkler werdendes Grau zeigte ihr, wie frustriert ich darüber war. Von da an wusste ich, dass Amy im Gegensatz zu mir, in der Lage war, ihre Farben abzustellen. Ich war damals tief beleidigt. Bislang hatten wir alles geteilt. Es gab nichts, was sie vor mir geheim hielt. Es war das erste Mal, dass sie es geschafft hatte, etwas für sich zu haben - etwas, was sie nicht mit mir teilen musste. Tagelang hatte ich sauer kein Wort mehr mit ihr gesprochen, während sie mir triumphierend ins Gesicht lachte.
Den ganzen Tag über hatte ich mich auf die Abendstunden gefreut, die endlich Abkühlung versprachen. Ich blinzelte, als die letzten Sonnenstrahlen des Tages mein Gesicht streiften.
Für einen Moment trübte sich mein Blick. Eine Sekunde, in der ich unachtsam war, hätte im Ernstfall meinen Tod bedeuten können. Ich durfte nicht zulassen, dass die Erschöpfung mich vollkommen einnahm. Schnell verdrängte ich das Gefühl und schrie mich innerlich wach, ging wieder in Kampfstellung und war bereit, den nächsten Schlag abzuwehren.
Mein schwarzes Bustier war schweißgetränkt und meine Haut glänzte im Licht der Sonne. Mein langes, dunkles Haar hatte ich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und doch hatten sich einige Strähnen daraus gelöst. Sie klebten mir an Stirn und Nacken.
Unser Atem ging schnell und unsere Wangen glühten vor Anstrengung. Meine Arme fühlten sich schwer an, als ich den Stab anhob und versuchte, meine Gegnerin an den Beinen zu treffen. So flink mein Angriff war, konnte sie ihn doch abwehren. Ein weiteres Mal hob ich den Stock. Mit einer Drehbewegung traf ich sie so, dass sie strauchelte und mit dem folgenden Schlag ließ sie sich endgültig fallen. Sofort stand ich über ihr und zwang sie aufzugeben. Ihr Blick war wütend und ein Rot durchdrang ihren Körper gemischt mit einem Hauch Grau. Ich hatte gewonnen - wieder einmal. Das Rot wurde schwächer und das Grau überlagerte es schließlich. Sie war wütend über den verlorenen Kampf. Meinen Eichenholzstab legte ich beiseite, ohne sie aus den Augen zu lassen. Ich ließ von ihr ab und bot zur Hilfe meine Hand an. Verärgert schlug sie sie aus, stand auf und lief quer durch die Halle.
»Jetzt komm schon, Amy! Es war ein fairer Fight!«, rief ich ihr nach, sie ließ mich jedoch einfach stehen. Jede Spannung war aus meinem Körper verschwunden und ich warf meinen Kopf erschöpft in den Nacken. Fluchend sah ich zur Decke und ärgerte mich. »Mach dir nichts daraus, Jade! Sie muss noch viel lernen. Du warst gut heute!«, sagte Mr. Chang gelassen und kam zu mir gelaufen, während Amy die Tür mit einem lauten Knall zuschlug, der wie ein Donner in der Halle polterte.
»Achte mehr auf deine Atmung und du solltest noch mehr Kondition aufbauen. Daran müssen wir arbeiten.« Er hob unsere Stäbe auf. Er war ein paar Zentimeter kleiner als ich - schlank und zierlich. Trotzdem sollte man ihn nie unterschätzen. Das war das Erste, was wir von ihm lernen durften. Er war beweglich wie eine Katze und genauso präzise. Ich hatte viel erwartet von einem älteren Mann, aber nicht, dass er so sportlich und unglaublich geschickt in einem Kampf sein konnte.
Amy war genauso von dem Japaner beeindruckt gewesen wie ich. Sein ständiges Grinsen hatte sie anfangs auf die Palme gebracht. Und einmal hatte Amy ihn herausgefordert. Mit einer beeindruckenden, kurzen Bewegung hatte er sie damals bewegungsunfähig zu Boden geworfen. Es ging so schnell, dass ich es nicht genau sehen konnte. Seitdem hatten wir seine spezielle Art und auch sein breites Grinsen gelernt zu akzeptieren.
»Inneres Gleichgewicht, Jade! Immer langsam ein- und ausatmen«, wies er mich noch mal an und wiederholte beim Wegräumen der Stäbe seinen Satz immer wieder. Danach verbeugte er sich vor mir, während ich es ihm gleich tat. Damit schloss er das Training für heute. Ich nahm mein Handtuch, tupfte mir den Schweiß von der Stirn und trank den letzten Schluck aus der Wasserflasche.
Amy stand bestimmt schon unter der Dusche. Wenn ich sie noch erwischen wollte, sollte ich mich beeilen. Ich konnte mir schon denken, warum sie sauer war. Ich hatte am heutigen Trainingstag alle Kämpfe gewonnen. Es frustrierte sie und das konnte ich verstehen.
Ein Handtuchturban thronte auf ihrem Kopf, während sie, nur in Unterwäsche bekleidet, mich keines Blickes würdigte, als ich die Umkleide betrat.
»Amy! … Was soll ich denn tun? … Es tut mir Leid«, versuchte ich es, doch sie ignorierte mich und zog den grauen Schleier, der sie umgab, mit in die kleine Nische. Sie legte ihre Haarbürste an die Seite des Waschbeckens und schloss den Fön an. Herrisch bürstete sie ihr Haar, bis sie schließlich den Fön einschaltete, sodass eine weitere Unterhaltung nicht möglich war.
Achselzuckend ging ich duschen und ließ sie einfach stehen. Sie würde sich schon wieder einkriegen, denn schließlich wusste ich, dass nicht ich ihr Problem war.
***
Das warme Wasser tat meinen verspannten Muskeln gut und ich genoss den Wasserstrahl auf meinen Schultern, der sich wie eine Massage anfühlte. Mr. Chang hatte uns durch die ganze Halle gejagt. Selbst als ich glaubte, ein Sauerstoffzelt zu brauchen, hatte er kein Erbarmen mit uns. Immer wieder holte er aus uns Mädchen das Beste heraus. Er schaffte es, uns zu motivieren und gleichzeitig strahlte er so viel Ruhe und Sicherheit aus, dass es mir leicht fiel, mich auf ihn einzulassen. Am liebsten meditierte ich mit ihm. Anfangs sah ich keinen Sinn darin, im Schneidersitz völlig ruhig auf dem Boden zu sitzen. In der Zeit wären mir tausend Dinge eingefallen, die ich hätte erledigen können. Doch Mr. Chang konnte mir helfen, mich zu entspannen und ein erweitertes Bewusstsein zu schaffen, das ich selbst nicht für möglich gehalten hatte. Auch wenn Amy das anders sah, hatte sie einmal zugegeben, dass sie besser schlafen konnte, seit Mr. Chang uns trainierte.
Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie Amy den Fön ausgeschaltet hatte. Eine Tür war leise ins Schloss gefallen, als ich aus der Dusche kam. Schnell trocknete ich mich ab und zog mich an, nahm meine Sachen und lief aus der Halle.
Es war schon fast dunkel, als ich unsere kleine, private Sportanlage verließ. Zweihundert Meter vor mir lag unsere Villa. Ein kleiner Schotterweg führte direkt zum Haus. Ich rannte am Tennisplatz vorbei und hatte Amy fast eingeholt.
»Jetzt warte doch«, rief ich ihr hinterher. Und tatsächlich blieb sie stehen, drehte sich aber nicht zu mir um. Stumm bot sie mir ihren Arm an, in den ich mich einhaken sollte. Es war ihr halbes Friedensangebot und ich nahm es erleichtert an. Ihr grauer Rauch war verflogen.
»Es tut mir leid, Jade.«
»Ich weiß, aber sieh mal, Mr. Chang will, dass du gut wirst. Es ist sein Job. Außerdem will er, dass Onkel Finley mit dir zufrieden ist. Und ich will das auch.«
Beschämt senkte sie ihren Kopf. »Ich werde niemals so gut sein wie du, Jade. Du bist so talentiert. Du kannst das alles auf Anhieb. Ich dagegen muss mich für jede Übung abrackern. Ich bin nicht du«, meinte sie resigniert.
Da hatte sie recht. Sie war nicht ich und der Kampfsport war nicht ihr Ding. Dennoch könnte sie mit mehr Biss und Ehrgeiz gleiche Ergebnisse vorweisen, wenn Onkel Finley sie nur auch so antreiben würde wie mich. Doch stattdessen ignorierte er ihre mangelnde Disziplin.
»Soll ich dich das nächste Mal gewinnen lassen?« Abrupt blieb sie stehen und sah mich empört an.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Mr. Chang dir das abkauft? Das merkt er doch sofort. Außerdem ... was habe ich davon? Ich habe einfach keine Lust mehr. Seit zehn Monaten plage ich mich mehrmals in der Woche ab und das nur, weil wir es ihm versprochen haben«, beschwerte sie sich.
Ich sah in ihr Gesicht. Wieder einmal ließ sie mich an ihrem Gemütszustand nicht teilhaben.
»Ich verstehe einfach nicht, warum das Training für Onkel Finley so wichtig ist. Und überhaupt, ich finde, er sollte uns mehr Freiheiten lassen. Schließlich werden wir in ein paar Wochen achtzehn.«
Ich konnte sie gut verstehen. Onkel Finley ließ uns wirklich nicht viel Freiraum.
»Wir könnten mit ihm reden. Vielleicht sieht er es ein und lockert seine Regeln ein wenig. Komm!« Ich zog sie weiter. »Ich habe Hunger. Agnes hat bestimmt etwas zu essen für uns.«
Wir lebten, seit ich denken konnte, schon immer bei Onkel Finley. Genauer gesagt, seit wir 7 Monate alt waren. Er war der jüngere Bruder unseres Vaters. Wir wussten nicht viel über unsere Eltern. Dieses Thema schien ein wunder Punkt für Onkel Finley zu sein. Er sprach nicht gerne darüber, wobei er uns schon oft mit kleinen Geschichten aus seiner Jugend zum Lachen brachte. So wussten Amy und ich nur, dass sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Erinnerungen an sie haben Amy und ich nicht, nur einzelne Fotos, die im Haus verteilt hingen. Ein großes Familienfoto hing im Wohnzimmer, direkt über dem Kamin. Mum und Dad, mit zwei kleinen Babys.
Amy und ich kamen sehr nach unserer Mutter. Von ihr hatten wir die grün-grauen Augen, das Schokoladenbraun ihrer Haare und die vollen Lippen. Unser Vater Aaron strahlt stolz in die Kamera, während er Amy im Arm hält und Mum mich.
Eine stille Sehnsucht überkam mich jedes Mal, wenn ich das große Familienbild betrachtete. Es gab eine unsichtbare Verbundenheit, die ich zu meiner Mutter besonders empfand, ohne genau zu wissen, warum.
Als Amy und ich ein Jahr alt gewesen waren, zogen wir von Portland nach Bayville in der Nähe von New York. Dort kaufte Onkel Finley eine Villa mit einem großen Grundstück, das fortan unser Zuhause war. Er stellte Agnes, unsere Haushälterin, und ihren Mann Ron als Gärtner ein. Sie bezogen ein kleines Häuschen nicht weit von unserem Grundstück entfernt. Agnes und Ron waren so etwas wie Großeltern für uns. Vor allem Agnes umsorgte Amy und mich wie eine Mutter. Sie bekochte uns, sorgte für saubere Wäsche in unseren Schränken und erzog uns zu selbstbewussten jungen Damen.
Das Grundstück war riesig. Onkel Finley hatte einen kleinen See anlegen und ein weiteres Gästehaus bauen lassen, das nun seit ein paar Monaten Mr. Chang bewohnte. Als Amy unbedingt Tennisunterricht nehmen wollte, ließ er selbst dafür einen Platz errichten. Damals gab es hitzige Diskussionen, warum sie nicht - wie ihre Freunde - an einem offiziellen Ort spielen konnte. Jedoch war sein Angebot, dass sie alle auf dem Grundstück trainieren durften verlockend und es dauerte nicht lange, da hatten wir fast täglich Gäste aus der Schule da, die selbst mir das Tennisspielen schmackhaft machten. Gedanken, warum unser Onkel es nicht mochte, dass wir in einem örtlichen Verein spielten oder trainierten, machte ich mir damals nicht so sehr. Aber merkwürdig fand ich es schon.
Unser Haus bot mittlerweile wirklich alles, was unsere jugendlichen Herzen begehrten. Der Pool, der zehn Meter vom Haus entfernt war, glitzerte uns türkisblau entgegen. Das absolute Highlight war der alte Geräteschuppen, den Onkel Finley für uns hatte umbauen lassen. Direkt neben dem Tennisplatz entstand innerhalb weniger Wochen ein Sport- und Spaß-Center für uns. Zuerst verstand ich den Sinn darin nicht. Doch mit der Erklärung, dass er Ruhe im Haus brauchte, wenn Geschäftspartner kamen, gab ich mich zufrieden. Schließlich fanden wir es aufregend, unseren Schuppen in eine Disco, ein Kino und in eine kleine Sporthalle zu verwandeln, in der wir problemlos ein ganzes Flugzeug hätten unterbringen können. Man konnte es fast vergleichen mit der Turnhalle unserer Schule, nur war sie ausschließlich für Amy und mich bestimmt. Hier konnten wir laut sein, toben, feiern, aber auch trainieren.
Mit 16 wurde Amy rebellisch. Sie war nicht damit einverstanden, ständig zu Hause auf dem Grundstück zu sein. Sie wollte sich mit Jungs verabreden und abends ausgehen. Onkel Finley jedoch war sehr eigen, was dieses Thema betraf. Ich selbst hatte nicht so sehr das Bedürfnis, konnte meine Schwester aber verstehen. Es reichte ihr einfach nicht mehr aus, Freunde in unserem C.O.B (Center of Body), wie wir unser Spielhaus liebevoll nannten, zu empfangen. Sie wollte raus, ihre Freiheit genießen. Die Regeln, die Onkel Finley dazu aufstellte, waren besonders für Amy schwer einzuhalten. Unsere Bodyguards begleiteten uns ständig, egal wohin. Wir waren somit nie unter uns. Das hieß, selbst wenn wir, nach langem Bitten und unter strengen Auflagen, mal ins Kino durften, saßen sie eine Reihe hinter uns.
»So kann ja nie was laufen mit Chris«, hatte sie sich bei mir wieder einmal beschwert. Er war ihr neuer Schwarm und sie legte alles daran, mit ihm allein zu sein, in der Hoffnung, dass sie endlich einen Schritt weiter kamen, als immer nur Händchen zu halten.
Jetzt waren wir beide fast achtzehn und immer noch hatte sich nichts an Onkel Finleys kurzer Leine verändert. Genau wie damals durften wir unser Grundstück nicht ohne unsere Gorillas verlassen. Wir wurden zur Schule gebracht und wieder abgeholt, was wir mittlerweile jedoch beide in Ordnung fanden, da Clive uns schon mal selbst das Auto steuern ließ.
***
Wir hatten Hunger und Agnes wartete bestimmt schon mit dem Essen. Schweigend liefen wir zur Steintreppe, die zum Eingang des Hauses führte. Am Ende der Treppe glitzerte uns der große Pool himmelblau entgegen. Bis zum Haus waren es nur noch ein paar Meter. Die vielen Fenster der Villa waren hell erleuchtet. Abends wurden automatisch die meisten Lichter eingeschaltet, selbst wenn wir mal nicht zu Hause waren. Onkel Finley war der Meinung, er könnte so Einbrecher von ihrer möglichen Tat abbringen.
An der Seitentür gab Amy den Code für die Alarmanlage ein und mit einem Summen öffnete sich die Tür. Onkel Finley hatte das ganze Grundstück elektronisch absichern lassen und nur wenige Leute kannten die verschiedenen Codes dafür. Durch den großen Flur gelangten wir in die helle Eingangshalle. In der Mitte befand sich eine breite Steintreppe, die in den ersten Stock zu den Schlafzimmern führte. Direkt gegenüber der Treppe kam man in das großzügige Wohnzimmer und von dort aus ins Esszimmer. Das große Zimmer, das eigentlich dafür gedacht war, unsere Mahlzeiten dort einzunehmen, benutzten wir nur an Weihnachten oder Geburtstagen oder wenn wir mal Gäste hatten, was selten genug vorkam. Außerdem war es Agnes zu viel, das schwere Porzellan erst von der Küche ins Esszimmer, und dann wieder zurückzuschleppen. Es war viel gemütlicher und familiärer, wenn wir unsere Mahlzeiten in der Küche einnahmen.
Wir folgten in der Eingangshalle dem Geruch, der uns zu Agnes in die Küche führte. Sie hatte ein ganz fantastisches Gespür dafür, wann wir nach Hause kamen. Immer stand das Essen auf dem kleinen Tresen bereit, der direkt an die Einbauküche grenzte. In der Mitte des Raumes stand ein großer Esstisch. Dort saßen wir meistens gemeinsam mit Onkel Finley, wenn er zu Hause war. Ansonsten zogen Amy und ich es vor, auf den Barhockern zu sitzen. Das machte es für Agnes einfacher. »Hallo Agnes, was gibt es denn heute Leckeres?«, rief ich fröhlich, als wir die Küche betraten.
Freundlich lächelte sie uns entgegen, während sie unsere Teller mit dem köstlichen Gemüseauflauf belud. Wir begannen sofort zu essen und sie schenkte zwei Gläser Fruchtsaft ein. Agnes war eigentlich unser Mädchen für Alles. Sie kümmerte sich nicht nur um das Haus, sondern hatte mit viel Liebe einen großen Teil dazu beigetragen, dass Amy und ich gut erzogen waren. In all den Jahren hatte sie sich nie groß verändert. Seit ich denken kann, war Agnes eine kleinere, rundliche Frau mit kurzem, blondem, lockigem Haar. Nur in ihrem Gesicht sah man die Zeichen der Zeit. Sie war schon sehr lange mit Ron verheiratet, der sich mit großer Leidenschaft um unseren Garten und das Grundstück kümmerte. Leider war ihre Ehe kinderlos geblieben, so betrachtete sie uns als ihre Töchter.
Unser Verhältnis zu ihr war immer innig und liebevoll gewesen. Sie tröstete uns, wenn wir uns beim Spielen verletzten, sie las uns abends eine Geschichte vor, wenn Onkel Finley nicht zu Hause war und sie kannte unsere Träume und Ängste.
»Lasst es euch schmecken und schlingt nicht. Ihr wisst, dass das nicht gut ist. Man soll sich beim Essen immer Zeit nehmen«, maßregelte sie uns. »Und? Was habt ihr heute gemacht?«, fragte sie noch und lehnte sich zu uns an die Theke.
Während ich einen großen Schluck vom Saft nahm, erzählte Amy, wie lange wir an einer bestimmten Übung trainiert und gefeilt hatten.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie anstrengend das auf die Dauer ist. Also ich für meinen Teil falle nachher gleich ins Bett. Ich bin echt fertig heute«, erzählte Amy mit vollem Mund.
Agnes grinste und nickte verständnisvoll.
»Ach, ja! Das hätte ich beinahe vergessen«, fiel sie ihr ins Wort, »Terry wird euch morgen in die Stadt zum Einkaufen begleiten.«
Terry und Clive, genau wie Frank, gehörten zu unserem Sicherheitsteam.
„Unsere Bodyguards“, sagte Onkel Finley immer mit einem Lächeln. Das waren sie auch. Heimlich nannten Amy und ich sie unsere Gorillas. Es gefiel uns, und vor allem Amy liebte es, sie so zu necken. Egal wohin wir gingen, einer der Gorillas war immer dabei. Sie hielten sich zwar dezent im Hintergrund, doch allein schon das Wissen, ständig einen Kontrolleur dabei zu haben, nervte.
Ich hatte mich daran gewöhnt, doch Amy hatte schon mehr als einmal versucht, sie abzuschütteln. Meistens ohne Erfolg und immer mit einer darauf folgenden großen Auseinandersetzung mit Onkel Finley. Beim letzten Mal, als Amy sich davon schleichen wollte, hatte sie es geschafft, für zwei Stunden unsichtbar zu sein, was Onkel Finley und seine Mannschaft fast in den Irrsinn getrieben hatte. Der arme Terry hatte beinahe wegen Amy seinen Job verloren und nur durch das gute Zureden von Agnes, hatte Onkel Finley schließlich nachgegeben und Terry doch nicht gehen lassen. Doch auch er hatte es eine ganze Weile gemieden, Amy oder mich zu chauffieren. Nach langen Diskussionen konnte ich bei Onkel Finley erreichen, dass die Sicherheitsleute uns mehr Raum zum Atmen geben sollten. Sie sollten sich einfach noch weiter im Hintergrund halten. Wir brauchten schließlich mehr Privatsphäre. Ständig fielen wir durch unsere Begleiter auf. Es war schon peinlich genug, dass uns die Leute auf den Straßen begafften, wenn wir in einem dunklen Rolls-Royce unterwegs waren.
Wir versprachen Onkel Finley hoch und heilig, dass wir die Sicherheitsleute nicht mehr austricksten, wenn sie auf den Straßen einen gewissen Abstand zu uns hielten und wir mit einem unauffälligeren Auto unterwegs sein durften. Ganz langsam hatte er angefangen zu grinsen und erlaubte es uns schließlich. Für Amy war es leicht, Onkel Finley zu bestimmten Dingen zu überreden. Doch was die Gorillas anging, war er meist nie von seiner Haltung abgewichen. Doch diesmal hatte sie Erfolg gehabt und er gestattete uns ein paar Meter mehr Freiraum.
Amy hatte ihre Portion schon fast aufgegessen.
»Gut, hoffentlich finde ich auch ein paar Dinge«, sagte sie und schob ihren Teller von sich.
Agnes lachte, da sie genau wusste, dass man meine Schwester eher bremsen musste und sie nie ohne Tüten nach Hause kam. Sie fand immer etwas. Wir kamen meistens voll beladen aus der Stadt zurück. Es war schon lange her gewesen, dass wir in die New Yorker Innenstadt gehen durften. Für uns war es immer etwas Besonderes.
»Du solltest dir genau überlegen, was du brauchst, bevor wir losfahren. Sonst fällt dir wieder auf dem Rückweg ein, was du alles vergessen hast«, sagte ich und schob mir eine weitere Gabel mit Nudeln in den Mund. Amy verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse und streckte ihre Zunge raus.
»Ich kann doch auch nichts dafür, wenn ich einfach mehr Kleidungsstücke brauche als du. Du solltest dir lieber mal überlegen, ob du nicht etwas an deiner Garderobe ändern willst«, gab sie schnippisch zurück.
Ich verbiss mir einen weiteren Kommentar und half Agnes, unsere Teller in die Geschirrspülmaschine zu räumen. Fröhliches Gelb und ein klein wenig Rot strömte aus mir.
Amy verstand mein Farbenspiel und brabbelte munter weiter, indem sie aufzählte, welche Kleidung sie für mich aussuchen würde. Zugegeben, in meinem Kleiderschrank befanden sich hauptsächlich sportliche Sachen, da ich es bequem liebte. Mit ein paar Ausnahmen kannte man mich nur in Jeans, engen Sporthosen, T-Shirts oder Sweatshirts. Ich machte mir nichts aus Mode, im Gegensatz zu ihr. Sie hatte eine Vorliebe für trendige und teure Designerklamotten, welche sie ausschließlich trug. Ich fand, sie sah immer sehr hübsch aus, doch für mich war das zu anstrengend, stundenlang vor unserem Schrank zu verbringen und Hunderte von Stofffetzen anzuprobieren, um sich dann doch wieder anders zu entscheiden.
Jade
Es war Samstagmorgen, und da ich nicht mehr länger schlafen konnte, beschloss ich, joggen zu gehen. Amy hatte ich mehrmals versucht, wach zu bekommen, doch die Schlafmütze zog es vor, in ihrem warmen, kuscheligen Bett zu bleiben. Für mich war der Sport so etwas wie die Luft zum Atmen. Ich liebte es, mein Herz pochen zu hören, wenn meine Glieder warm wurden, obwohl es draußen noch kalt war.
Ich gab den Code der Tür ein. Sie summte leise und ließ mich hinaus. Kalte Luft schlug mir entgegen, als ich mich im Freien befand. Mein Atem hinterließ kleine grau-weiße Wolken. Es war noch sehr kalt an diesem frühen Morgen, doch die Sonne würde im Laufe des Tages die Temperaturen klettern lassen. Es war trüb und Nebel hatte sich gebildet.
Langsam lief ich los und versuchte einen Rhythmus zwischen meiner Atmung und meinem Lauf zu finden. Unser Grundstück war groß, sehr groß sogar. Es war mehr ein Park, in dem ich meine freie Zeit gern verbrachte. Das Grundstück hatte Onkel Finley mit verschiedenen Kameras und einem sensiblen Alarmsystem gesichert. Sobald jemand versuchen würde, das Grundstück zu betreten, in der Sicherheitszentrale ein Alarm ausgelöst. In wenigen Sekunden verriegelten sich alle Fenster und Eingangstüren elektronisch, sodass niemand mehr hineinkam. Wir waren besser bewacht als Fort Knox, witzelten wir manchmal.
Ich lief mehrere Runden um unseren See und sah den Schwänen dabei zu, wie sie majestätisch über das Wasser glitten. Schon als kleine Mädchen liefen Amy und ich Schlittschuh. Natürlich hatte Onkel Finley erst die Dicke des Eises fachmännisch überprüfen lassen, bevor wir darauf laufen durften. Er war ein sehr vorsichtiger Mensch. Wir kannten die genauen Gründe nicht, weshalb Onkel Finley so streng mit uns war. Amy und ich waren immer wohlbehütet und bewacht aufgewachsen. Er liebte uns wie seine eigenen Töchter und las uns so manchen Wunsch von den Augen ab. Jedoch schenkte er Amy mehr Aufmerksamkeit.
Nach dem vielen Geld zu urteilen, musste er eine wichtige Person mit noch wichtigeren Aufgaben sein. Wir wussten nur, dass er Senator war, für die Forschung arbeitete und viel unterwegs war. Wir stellten keine Fragen und ich hatte den Eindruck, mein Onkel war froh darüber.
Insgeheim fragte ich mich schon, was genau er tat. Einmal, als ich in sein Arbeitszimmer ging, hatte er müde ausgesehen. Sein Hemd war zerknittert, die Krawatte hatte er achtlos auf die Stuhllehne geworfen. Seine Stirn zeigte viele Falten. Er saß an seinem Schreibtisch, seine Hände waren zu Fäusten geballt und er rieb sich damit die Schläfen. Sorge spiegelte sich in seinem Blick. So hatte ich ihn noch nie gesehen.
»Vertrau niemandem, Kleines. Du kannst nie wissen, wer dein Freund oder Feind ist«, hatte er damals gesagt.
Es war der einzige Moment, in dem ich ihn so verletzlich gesehen hatte. Ich glaube, dass dies der Grund war, warum er uns nicht sorglos gehen lassen konnte. Möglicherweise hatte er Feinde. Und als er dies damals so zu mir sagte, wusste ich, dass Amy und ich seine Schwachstelle waren. Durch uns war er angreifbar. Also sorgte er dafür, dass man gar nicht erst an uns herankam. Onkel Finley wollte uns beschützen. Doch oft fragte ich mich, wovor?
Sonst war er ein fröhlicher Mensch. Er hatte eigentlich immer gute Laune, außer Amy hatte mal wieder etwas angestellt. Dann konnte er schon richtig sauer werden, doch lange hielt es nie an. Schnell verzieh er ihr, auch wenn er mit seinen Bestrafungen konsequent blieb. Manchmal verstand ich nicht, warum er mir gegenüber oft nachtragender war.
Nach dem Joggen duschte ich ausgiebig und kam noch pünktlich zum Frühstück. Amy hatte in der Zwischenzeit auch den Weg aus dem Bett gefunden, obwohl sie normalerweise noch schlafen würde. Doch heute war Samstag und sie konnte unsere erlaubte Shoppingtour nicht erwarten.
»Guten Morgen, Jade! Wie war das Laufen?«, begrüßte mich Agnes. Sie schenkte gerade Kaffee in eine Tasse ein, als ich die Küche betrat. Amy saß auf ihrem Hocker, in der einen Hand hielt sie ein Marmeladentoast und mit der anderen blätterte sie gerade in einem Modemagazin.
»Guten Morgen«, grüßte ich gut gelaunt zurück. »Es ist zwar noch frisch draußen, doch zum Laufen richtig angenehm.« Ich setzte mich an die Theke, während meine Schwester weiter selbstvergessen in ihrem Magazin blätterte. So vertieft sie in ihrer Zeitschrift las, bemerkte sie nicht, wie ein blauer Schweif sie umgab. Manchmal, wenn sie mit ihren Gedanken so beschäftigt war, vergaß sie schon mal, ihre Emotionen vor mir abzuschirmen. Jedes Mal schmunzelte ich darüber. Ich ließ mir nichts anmerken und bestrich mein Toast mit Butter und biss genüsslich hinein.
»Jade? Hast du schon von dem neuen Club in New York City gehört«, fragte sie mich und ich hörte die Begeisterung in ihrer Stimme. Ich überlegte kurz und schüttelte den Kopf. »Nein, hab ich nicht! Warum?«
»Er ist neu und heißt Collections, soll der angesagteste Club der Stadt sein. Die Promis und die besten DJs geben sich dort die Klinke in die Hand. Ich will da unbedingt mal hin, du nicht auch?« Begeistert funkelten ihre Augen. Auch wenn sie selbst wusste, dass Onkel Finley ihr es nie erlauben würde, in diesen Club zu gehen, reizte es Amy schon sehr.
»Na, lass das nicht deinen Onkel hören, Amy«, mischte sich Agnes ein und bedachte sie mit einem warnenden Blick.
»Ja, ja. Ich weiß schon«, gab sie knurrig zurück. Sie blätterte eine Seite weiter und war schon bei einem anderen Thema. »Auf jeden Fall will ich heute bei Bloomingdales oder bei Macy’s vorbeischauen.« Ein sanftes Orange schauerte kurz auf, bevor sie es abstellte. Sie war aufgeregt.
»Wann geht es los?«, wollte ich wissen.
»Gleich nach dem Frühstück. Terry wartet schon auf uns«, sagte sie und trank ihren Orangensaft in einem Zug aus. »Ich warte draußen auf dich, Jade. Wiedersehen, Agnes«, rief sie und schon war sie aus der Küche verschwunden.
Agnes schüttelte den Kopf, als sie Amys Toast noch auf dem Teller liegen sah und rief ihr hinterher »Du bist ja noch gar nicht mit dem Frühstück fertig!« Doch sobald sie es ausgesprochen hatte, war ihr klar, dass Amy ja doch nicht zurückkommen würde. »Dieses Kind! Sie wird nie lernen, sich richtig zu ernähren, wenn sie nicht richtig frühstückt«, schimpfte sie und schüttelte weiter den Kopf.
»Sei nicht böse, Agnes! Du kennst sie doch. Sie freut sich schon so lange auf die Einkaufstour. Wir werden in der City etwas essen, versprochen«, beruhigte ich sie, gab ihr einen Kuss auf die Wange, verließ die Küche, nahm meine Handtasche und machte mich auf den Weg zu den Garagen.
***
Terry hielt sich an die Abmachung und blieb dezent im Hintergrund. Er fiel gar nicht auf, und Amy und ich genossen unsere Freiheit, wenn auch nur für ein paar Stunden.
Die beliebte 5th-Avenue war in Manhattan an diesem Samstagvormittag gut besucht. Wir schlenderten von einem Laden in den nächsten. Die Auswahl an Kleidern und den dazu passenden Accessoires war riesig. Amy fand schnell einige kurze Sommerkleider, Tops und Blusen, die sie der Angestellten der Boutique in die Arme legte, damit sie sie schon einpacken konnte. Sie ließ es sich auch nicht nehmen, ein Abendkleid anzuprobieren.
»Wann willst du denn das tragen?«, fragte ich sie. Ich hatte es mir mit einem Glas Wasser auf einem Sofa bequem gemacht, während sie das kurze petrolfarbene Satinkleid anprobierte, das perfekt zu ihren Augen passte. Es hatte nur einen Träger an der linken Schulter und der geraffte Stoff wurde mit edlen und glitzernden Steinen zusammengehalten. Sie sah fantastisch darin aus. Es unterstrich ihre weiblichen Rundungen und ich wünschte in diesem Augenblick, als sie aus der Umkleide kam, ich könnte auch so schön aussehen.
»Ich kann mir doch so ein Kleid kaufen. Wer weiß, vielleicht lässt Onkel Finley uns doch einmal in einen Club. Man kann ja schließlich nie wissen«, erwiderte sie.
Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, dass er jemals zu einem Clubbesuch einwilligte, doch ich ließ ihr den Spaß.
»Und?«, fragte sie, drehte sich ein paar Mal und blieb schließlich, wartend auf mein Urteil, vor mir stehen. Musternd betrachtete ich sie. »Du siehst wirklich toll aus«, meinte ich anerkennend.
Zufrieden lächelte sie. Natürlich war ihr mein hellgrauer, aber doch leicht gelber Schweif nicht entgangen. Ich war nicht neidisch, im Gegenteil, ich bewunderte sie. Von uns beiden war sie diejenige, die ständig beim anderen Geschlecht punkten konnte. Heimlich, so dass Onkel Finley es nicht bemerkte, hatte sie schon Affären gehabt. Es war zwar nichts Ernsthaftes dabei, doch sie liebte den Flirt. So richtig verliebt war sie noch nie gewesen, genauso wenig wie ich.
»Dann nehme ich es und du solltest auch mal eins anprobieren. Man kann wirklich nie wissen, wofür du es gebrauchen kannst. Außerdem kann dein Kleiderschrank schon mal etwas Glamour vertragen«, zwinkerte sie mir zu.
Ich hatte zwar wirklich keine Lust darauf, aber ich wollte ihr die Laune nicht verderben und kratzte das kleine bisschen Lust zusammen, das ich brauchte, um mich aufraffen zu können. Sie scheuchte zwei Angestellte durch den Laden mit dem Auftrag, die schönsten Cocktail- und Abendkleider für mich auszusuchen. Es dauerte nicht lange und man brachte mir genau drei Kleider, die ich nie im Leben für mich selbst ausgesucht hätte.
»So, keine Widerrede, die probierst du jetzt an«, sagte meine Schwester und zog mich vom Sofa. Tief atmend gab ich mich geschlagen.
Zuerst zog ich ein kurzes, knallrotes Cocktailkleid an. Es sah nicht schlecht an mir aus, doch ich fühlte mich nackt darin. Außerdem fand ich die Farbe etwas zu gewagt. Während ich mich in ein rosa Seidenkleid zwängte, das knielang war und einen viel zu tiefen Ausschnitt hatte, klingelte mein Handy.
Der Anrufer ließ nicht locker, bis ich mein Handy endlich aus der Handtasche gefingert hatte.
»Ja, hallo?«
»Hi, ich bin es! Wo steckst du?«
»Tom«, entfuhr es mir erfreut, »ich bin gerade in einer Umkleidekabine. Wo bist du denn?«, wollte ich neugierig wissen. Ich klemmte mir das Telefon zwischen Ohr und Schulter ein und versuchte, mich wieder aus dem rosa Ding herauszuschälen.
»Ich bin auch in der Stadt. Können wir uns treffen?«
Ich nestelte das nächste Kleid vom Bügel und stieg aus dem rosa Albtraum aus. Ohne es mir genauer anzusehen, zog ich das schwarze Chiffonkleid über.
»Klar können wir uns treffen. Wann und wo?«, fragte ich leicht im Stress.
»Ich kann mir schon denken, wo du bist. Ich komme dorthin, bis gleich«, sagte Tom und ehe ich etwas erwidern konnte, hatte er schon aufgelegt.
»Wer war das?«, fragte Amy von draußen.
»Es war Tom. Er kommt hierher! Wir gehen einen Kaffee trinken.«
»Tom? Oh, das ist ja toll. … Freust du dich, ihn wiederzusehen?«, fragte sie und in ihrer Stimme klang Belustigung mit.
»Ja, sehr sogar. Er … hat mir schon gefehlt! Kannst du mir den Reißverschluss zumachen? So gelenkig bin ich nun auch wieder nicht«, gab ich genervt von mir. Amy kicherte, doch ich dachte mir nichts dabei. Ich bückte mich gerade, um den Saum des Kleides glatt zu streichen, als der Vorhang beiseitegeschoben wurde und sich jemand an meinem Reißverschluss zu schaffen machte. Es waren nicht die sanften, gut manikürten Nägel meiner Schwester, sondern männliche grobe Hände, die sich von hinten an mich herangeschlichen hatten. Verwundert erhob ich mich und blickte in den Spiegel.
»Tom Persky!«, entfuhr es mir überrascht.
Sein Grinsen war so breit, dass es sein ganzes Gesicht einnahm. Seine braunen Augen strahlten und ich erwiderte sein Lachen. Mit einer kurzen Drehung warf ich mich ihm voller Freude an den Hals. Sofort nahm ich sein Aftershave wahr, das ich so lange nicht mehr gerochen hatte. Er drückte mich fest an sich und hob mich ganz kurz an, bevor er mich sachte wieder auf die Erde stellte.
»Überrascht? So schnell hast du mich nicht erwartet, was?«
»Nein, das habe ich wirklich nicht. Seit wann bist du wieder in Bayville?«
»Seit gestern Abend! Meine Semesterferien haben früher angefangen.«
Ich löste mich sanft von ihm und sah ihn an. Es war eine Weile her, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Tom Persky, mein bester Freund und Vertrauter seit Kindheitstagen. Er war ein bisschen größer als ich, schlank, gut aussehend, zwei Jahre älter als wir und der unsportlichste Typ, den ich kannte. Er studierte Jura und sein Studium nahm viel Zeit in Anspruch. Dazu hatte er Bayville vor ein paar Monaten verlassen und wohnte jetzt in Washington.
Amy kicherte mal wieder verschwörerisch. Sie hatte gewusst, dass er schon in dem Geschäft stand, als er mit mir telefonierte.
»So, genug gekuschelt. Jetzt will ich aber sehen, wie du in dem Kleid aussiehst«, rief sie uns zu und sofort nahm Tom meine Hand, zog mich aus der Umkleide, nur um mich besser betrachten zu können. Sein Blick war prüfend. Unangenehme Wärme fuhr mir in die Wangen. Ich mochte es nicht, so betrachtet zu werden. Ich überging das Gefühl und sah an mir herab. Dieses Kleid war wirklich sehr schön. Es war vorne kurz und der hintere Saum war lang und fließend, fast wie eine Schleppe. Der Stoff aus schwarzem Chiffon war angenehm auf der Haut. Es hatte keine Träger. Meine Schultern waren frei und hinterließen ein unsicheres Gefühl, als ich in den Spiegel sah. Das Korsett, das das Oberteil bildete, war über und über mit schwarzen Glitzersteinen versehen, die weniger wurden, je tiefer man auf den Rock des Kleides blickte.
»Wow, Jade! Sieh dich an. Es ist wie für dich gemacht«, sagte Amy. Ehrliche Bewunderung schwang in ihrer Stimme mit. Auch Tom nickte mir grinsend zu.
»Wundervoll! Einfach wundervoll, Jade!«
Ich drehte mich noch ein paar Mal vor dem Spiegel, dabei funkelten und glitzerten die Steine.
»Meint ihr wirklich?« Immer noch unsicher sah ich von Amy zu Tom.
»Wenn du dir Gedanken machst, wegen deiner nackten Schultern, dann kannst du ein schwarzes Organzatuch darüber ziehen«, meinte Amy und ließ sich gleich, von der Verkäuferin, ein solches bringen. Und sie hatte recht. So könnte ich es mir vorstellen. Doch war mir klar, dass ich nicht so schnell die Gelegenheit bekommen würde, um es zu tragen.
»Jetzt noch die passenden Schuhe und deine Haare zurechtgemacht. Damit wärst du ein absoluter Hingucker«, meinte sie. Natürlich ließ sie sich davon nicht abbringen, dass ich ohne Tüten den Laden verließ. Zu dem Kleid kaufte ich noch die passenden High Heels und eine Handtasche. Unsere Einkaufsausbeute hatten sich Terry und Tom aufgeteilt. Ohne zu murren, trugen sie unsere Tüten und Taschen, bis wir beschlossen, unsere Tour für heute zu beenden. In Amys Lieblingsrestaurant gingen wir Mittagessen.
Wir plauderten mit Tom wie in alten Zeiten und hatten uns einiges zu erzählen. Die Perskys waren schon sehr lange Freunde der Familie. Tom, der einzige Sohn von Bob und Emilia Persky, war mit uns aufgewachsen. Früher hatte seine Mutter ihn fast täglich zum Spielen gebracht. Sie half Agnes und mit der Zeit wurden die beiden Frauen gute Freundinnen. Onkel Bob ging ein und aus bei uns und Onkel Finley vertraute ihm, daher waren die Perskys die Einzigen, die unser Grundstück betreten durften, wenn Onkel Finley nicht da war. Wir spielten oft Verstecken und verbrachten unsere Freizeit am See. Je älter wir wurden, desto enger wurde mein Verhältnis zu ihm. Dennoch wurden wir nie ein Liebespaar und wahrscheinlich würden wir auch nie eins werden, obwohl ich wusste, dass Onkel Finley es begrüßen würde. Meine Gefühle für ihn waren geschwisterlich. Doch je länger ich ihn ansah, desto mehr fiel mir auf, wie sehr ich ihn vermisst hatte. Die vielen Nachmittage im letzten Sommer, die wir zusammen am Pool oder auf einer Picknickdecke verbracht hatten, fehlten mir sehr.
Wir lagen oft in unserem Park und träumten von den Reisen, die wir später machen würden. Tom und ich wollten ganz Europa sehen. Im Geiste sah ich uns, nur mit einem Rucksack bepackt, über die Grenzen der Länder schreiten. Wir stellten uns den Geruch von Freiheit und Abenteuer vor. Fremde Kulturen wollten wir kennenlernen. Manchmal ging unsere Fantasie mit uns durch. Mit fünfzehn erstellte er eine Reiseroute für uns. Von Westen nach Osten durchstreiften wir mit dem Finger auf der Landkarte alle großen Städte, die wir uns zusammen anschauen wollten. Insgeheim wusste ich, dass dies immer ein Traum bleiben würde. Trotzdem liebte ich unsere Vorstellung und träumte mit Tom weiter. Das alles würde ich zu gern mit meinen eigenen Augen sehen.
Tom, ich und die weite Welt. Doch Träume sind Illusionen. Ich machte mir nichts vor. So wie Onkel Finley uns bewachte, würde er mich niemals gehen lassen. Tom wusste das und seltsamerweise hatte ich nie mitbekommen, dass er die Entscheidungen meines Onkels anzweifelte. Trotzdem konnte ich es in seinen braunen Augen vielversprechend aufblitzen sehen, wenn wir über unsere Tour sprachen. Von all dem wusste Onkel Finley nichts und ich wollte ihn damit auch nicht beunruhigen oder misstrauisch machen. Ich hatte keine Ahnung, ob es gefährlich war, was er beruflich tat, oder ob er viel zu übertrieben seine Grenzen um uns zog.
***
»Erzählt, was treibt ihr so den ganzen Tag«, fragte Tom und lehnte sich satt und zufrieden zurück. Ein Kellner hatte gerade unsere Teller abgeräumt und brachte für Tom und Amy das Dessert.
»Frag lieber nicht! Onkel Finley ist zurzeit nicht da und wenn nicht gerade Wochenende ist, langweilen wir uns schon sehr. Jade und ich trainieren jeden Tag. Doch meistens warte ich nur darauf, dass etwas Aufregendes passiert«, sagte Amy und fing an, ihren Eisbecher auszulöffeln.
»Jetzt übertreib mal nicht. Würdest du dich mit mehr Sachen beschäftigen, wäre dir nicht so langweilig.«
Ich fand, Amy machte es sich in dieser Beziehung zu einfach. Sie war schlicht und einfach zu faul, sich eine Beschäftigung zu suchen und jammerte lieber über ihr Leben.
Ich liebte es, im Park zu lesen, kümmerte mich um meine Hausaufgaben und verbrachte einige Stunden im C.O.B mit Jazz Dance oder dem Training. Es gab immer etwas zu tun.
»Und wie geht es Onkel Finley? Ist er immer noch mit Alegra zusammen?« Tom grinste bei der Frage und lachte, als Amy und ich, wie auf Kommando, unsere Augen verdrehten. Gleichzeitig strömte Rot aus Amy und mir. Jedoch schloss meine Schwester ihre Poren gleich wieder, so dass nur meine Stimmung für uns beide sichtbar war.
»Alegra Marten!«, höhnte sie. »Wenn ich den Namen nur höre, wird mir ganz schlecht!« Sie nahm einen Löffel voll Sahne und schob sich diesen in den Mund, um den bitteren Geschmack, den Alegra auf ihrer Zunge hinterließ, auszugleichen.
»Ja, leider! Sie hat ihn vollkommen um den Finger gewickelt. Uns bleibt nur zu hoffen, dass Onkel Finley erkennt, dass sie nur sein Geld interessiert. Morgen Nachmittag kommen sie wieder«, erzählte ich ihm.
Tom schüttelte seinen Kopf. Keiner konnte Onkel Finley in dieser Beziehung verstehen. Es war so offensichtlich, dass sie sein Geld mehr liebte, als ihn.
Er hatte sie vor ein paar Monaten von einer seiner vielen Reisen mitgebracht und seit dem wich sie ihm nicht mehr von der Seite. Sie benutzte Agnes als Dienstmädchen, telefonierte den ganzen Tag, und wenn sie nicht gerade damit beschäftigt war, ihre Nägel zu feilen und ihren Lidstrich nachzuziehen, dann gab sie sein Geld mit vollen Händen aus. Ich hatte schon mehr als eine Auseinandersetzung mit ihr gehabt. Selbst als ich Onkel Finley bat, sie fortzuschicken, wurde mir klar, wie groß ihr Einfluss mittlerweile war.
Keine Frage, Alegra Marten war eine sehr schöne junge Frau. Auch wenn ihr platinblondes Haar nicht echt aussah und sie auch bei ihrer Oberweite nachgeholfen hatte, war ihr Körper wirklich unfassbar sexy. Sie besaß Kurven und Linien, die einen Mann verrückt machen konnten. Es wunderte mich nicht, dass Onkel Finley ihr aus der Hand fraß. Trotzdem hoffte ich, dass er bald wieder vernünftig wurde und ihr endlich den Laufpass gab.
Tom grinste. »Ich finde das überhaupt nicht lustig. Was ist, wenn er eines Tages auf die wahnwitzige Idee kommt und sie heiratet? Ich könnte sie niemals als Stiefmutter akzeptieren«, meinte Amy.
Darüber hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht. Aber meine Schwester hatte recht. Oh mein Gott! Das darf nicht passieren! Falls es jemals dazu kommen würde, müssten Amy und ich uns etwas einfallen lassen, um das zu verhindern.
»Jetzt macht euch nicht so viele Sorgen. Finley ist kein Dummkopf. Er weiß schon, was er tut«, versuchte uns Tom zu beruhigen. Zu gerne hätte ich ihm geglaubt. Amy war da skeptischer als ich. Sie leckte mit dem Finger das geschmolzene Eis aus ihrem Becher, als ihr Handy klingelte.
»Ja?«
»Hi, Sandy!«
Sandy Tale war Amys beste Freundin und gleichzeitig bei uns in der Abschlussklasse. Ich hatte nichts gegen sie, aber sie schaffte es immer wieder, Amy so zu beeinflussen, dass am Ende die beiden echten Ärger am Hals hatten. Sie war ungewöhnlich uneinsichtig. Manchmal glaubte ich, sie hielt sich absichtlich nicht an Regeln. Mehrfach hatte sie schon die Schule geschwänzt, hatte Freunde, denen ich nicht über den Weg traute und die sonst auch nicht in unseren Kreisen verkehrten. Ihre Eltern kümmerten sich fast nie um sie. Sie waren geschäftlich mehr unterwegs als zu Hause. Sie konnte einem ja fast leidtun, doch ich fand es einfach nicht gut, wenn sie Amy in Dinge mit reinzog, die einfach nicht gut für sie waren.
»Wow! Wirklich? Und wann?«, fragte Amy und ihre Begeisterung ließ ihre Augen aufleuchten. Vorsichtig warf Amy mir einen Blick zu und sofort war ich aufmerksam.
»Warte mal«, sagte sie in ihr Handy, stand auf und verließ entschuldigend unseren Tisch. Natürlich war ich neugierig geworden. Was hatte Sandy für Neuigkeiten, die Amy so begeisterten?
Sie schlenderte nach draußen, während sie telefonierte. Tom schien sich zu freuen, einen Moment mit mir allein zu sein.
Ich lächelte ihn an. »Und wie sieht es bei dir aus? Hast du in Washington Freunde gefunden?«, wollte ich wissen.
Tom war noch nie der Typ gewesen, der gern im Mittelpunkt stand, dafür war er zu schüchtern. Er hatte noch nie viele Jungs um sich herum geschart. Seine Freundschaften waren meist von kurzer Dauer. Tom war zwar nie ein Eigenbrötler, doch die meiste Zeit verbrachte er bei uns.
Verlegen sah er in seine Tasse. «Naja, ich muss viel lernen, da bleibt nicht so viel Zeit für Freunde. Aber ich bin nicht einsam, wenn du das meinst.«
Seit er fortgegangen war, hatten wir uns nur ein paar Mal Nachrichten über unsere Handys geschickt.
»Und die Mädchen? Sind sie hübsch?«, versuchte ich mehr aus ihm herauszubekommen. Ich spürte, wie unangenehm es ihm war, darüber zu sprechen. Bisher war mir nicht bekannt, dass er sich jemals für ein Mädchen interessiert hatte.
Was war eigentlich los? Seit unserem Wiedersehen war irgendetwas anders als sonst. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sich etwas zwischen uns verändert hatte. Doch was? Tom war gehemmter mir gegenüber. Oder bildete ich mir das nur ein?
Ich wollte ihn gerade danach fragen, als Amy wieder kam. »So, da bin ich wieder!« Ihre Wangen leuchteten rötlich. Sie schien aufgeregt zu sein und wieder einmal ärgerte ich mich, dass ich ihre Stimmung nicht lesen konnte.
»Und? Was wollte Sandy?«, fragte ich daher neugierig.
»Oh, nichts Besonderes. Sie hat mir von einer Party im Collections erzählt, die heute Abend dort stattfinden soll und wollte mich dazu einladen. Aber ich habe ihr gesagt, dass Onkel Finley erst morgen wiederkommt und ich ihn erst fragen muss. Ist erledigt.«
Sie wusste genau, dass Onkel Finley sie nicht gehen lassen würde. Das Gefühl, dass sie mir etwas verschwieg, keimte in mir. Doch vielleicht täuschte ich mich auch. Amy wusste, wie ich über Sandy dachte und natürlich war ich misstrauisch. Daher wechselte sie gekonnt das Thema.
Jade
Einige Stunden später kamen Amy und ich mit vollem Bauch, guter Laune, einem neuen Lippenstift und einem zu unseren Outfits passenden Nagellack nach Hause. Für Agnes hatten wir ein schönes Halstuch mitgebracht. Ich war ziemlich geschafft und ging gleich nach oben, während Amy Agnes noch unsere Ausbeute zeigte.
Wir bewohnten zwei große Zimmer zusammen. Wir teilten uns eine Art Wohnbereich und ein großes Schlafzimmer, wobei jeder seine Seite hatte. Und das war auch wichtig, denn Amy war sehr unordentlich, um nicht zu sagen, chaotisch. Überall lagen Klamotten, die sie anprobiert und nicht wieder in ihren Schrank eingeräumt hatte. Gürtel, Schuhe, Modemagazine, CDs verteilten sich in beiden Räumen. Auch in unserem großen, gemeinsamen Badezimmer bestand ich auf Trennung, da ich sehr ordnungsliebend war. Hin und wieder, wenn Agnes ein kleines Donnerwetter losließ, sah meine Schwester es endlich ein und räumte ihren Bereich auf, da Agnes sich schon lange weigerte, dies immer wieder für sie zu tun.
Manchmal wünschte ich mir schon ein eigenes Zimmer, doch ich brachte es nicht übers Herz, mich von meiner Schwester zu trennen. Wir waren seit unserer Geburt zusammen. Und ich hatte schon immer das Gefühl, ich sollte ein Auge auf sie haben.
Ich hatte meine Kopfhörer aufgesetzt und hörte Musik, während sie endlich ihre Klamotten einräumte. Dazu tanzte sie zu der Popmusik, die laut in unserem Wohnzimmer dröhnte. Wir schliefen jeder in großen Betten, die jeweils im Raum gegenüberstanden. Auf jeder Seite standen kleine Nachttische. Das große Fenster in der Mitte teilte das Zimmer zwischen uns. Es war eine unsichtbare Grenze. Die Wände hatten wir selbst gestrichen und jede hatte auf ihre Lieblingsfarbe bestanden. Während ich mich für einen sanften Gelbton entschieden hatte, bestand Amy auf ihrer Lieblingsfarbe Rosa. Sie liebte rosa und pink. Eigentlich alles, was funkelte und glitzerte und typisch für Mädchen war. Die Seitenwand, an dem ihr Schreibtisch stand, war zugepflastert mit Postern von Popstars, deren Musik sie gerne hörte. Ganz besonders eine Band namens Bulls und dessen Frontmann sah man vorzugsweise an ihren Wänden. Ständig stellte sie unsere Anlage so laut, dass selbst ich schon den Text auswendig konnte. Es nervte mich, immer und immer wieder das Gleiche hören zu müssen.
Meine Gedanken wanderten zu Tom. Er war heute wirklich merkwürdig, dachte ich, während ich Amy beobachtete, wie sie zum Takt der Musik durchs Zimmer hüpfte. Als ich fragte, ob er Freunde gefunden hatte, reagierte er ungewöhnlich darauf. Ich kannte ihn schon fast mein ganzes Leben. Hatte er Sorgen? Ging es ihm nicht gut? Vielleicht hatte er sich das Jurastudium doch anders vorgestellt und bereute nun seine Entscheidung. Oder hatte er ein Mädchen kennengelernt? Schließlich wäre es nichts Ungewöhnliches gewesen. Man lernt jemanden kennen und verliebt sich. Das hätte er mir doch sagen können.
An diesem Abend schlief ich früh ein. Agnes hatte für uns einen Imbiss in den Kühlschrank gestellt und war dann in ihr wohlverdientes Wochenende gestartet. Sonntags hatte sie frei. Kurz vor 23 Uhr wurde ich durch einen kühlen Luftzug geweckt. Ein Schauer fuhr mir den Rücken hinunter. Ich reckte mich und zog meine Decke über die Schultern. Irritiert öffnete ich meine Augen. Wieso stand das Fenster offen? Hatte Amy es mal wieder vergessen zu schließen? Ich sah auf und entdeckte sie. Sie war auf das Fenstersims geklettert und sprang waghalsig genau in dem Augenblick, als ich mich weiter aufrichtete, um besser sehen zu können, auf die große Linde, die direkt vor unserem Fenster ihre dicken Äste ausstreckte.
»Amy?« Was tat sie da?
Sie hatte mich nicht gehört, als ich meine Decke von mir schob und ihr vom Fenster aus zusah, wie sie gerade am dicken Stamm der Linde hinunterkletterte.
Dann sah ich nur ihren Schatten, wie sie sich davon schlich.
»Amy! … Amy! Wo gehst du hin?«, rief ich ihr leise hinterher, doch sie gab mir keine Antwort. Sie hatte mich noch nicht einmal bemerkt. Ich wurde nervös. Was sollte ich jetzt tun? Vielleicht wollte sie nur im Park spazieren gehen? Amy und nur spazieren gehen? Wohl eher nicht!
Kurzerhand beschloss ich, ihr zu folgen. Eilig zog ich mir meine Jeans und Schuhe über und griff noch schnell nach meiner Lederjacke. Sicherheitshalber steckte ich mein Handy ein. Ich konnte ja nicht wissen, ob ich Hilfe brauchen würde.
Es kostete mich Überwindung, auf die Äste der Linde zu springen. Mutig war meine Schwester ja, das musste ich ihr lassen. Aber was sie konnte, schaffte ich schließlich auch. Ich sprang und hing im Baum, fand Halt an einem Ast, der mich trug. Ich hielt inne. Alles war gut gegangen. Lebensgefährlich würde ich mich nicht verletzen, falls ich stürzte. Es sah gefährlicher aus, als es in Wirklichkeit war. Vorsichtig kletterte ich zum dicken Stamm und hangelte langsam hinunter. Mein T-Shirt riss ein kleines Stück am Saum ein und war leicht verschmutzt.
Geschafft! Ich kam unbeschadet unten an und sah mich um. Es war still. Niemand hatte mich bemerkt. Leise und vorsichtig, um nicht entdeckt zu werden, folgte ich Amy in die Richtung, in die sie verschwunden war. Nirgends konnte ich sie entdecken. Alles lag still und friedlich da. Selbst die Schwäne hatten sich zurückgezogen und der See war ruhig und verlassen.
Hatte ich meine Schwester aus den Augen verloren? Aufmerksam ging ich leise weiter und hoffte, sie durch einen Schatten, der sich bewegte, zu entdecken. Was hatte sie vor?
Da! Ganz am äußersten Rand unseres Grundstücks konnte ich einen Schatten ausmachen, der auf die Steinmauer kletterte. Das war sie, das musste sie sein. Aber warum ging unser Alarm nicht los?
Ich rannte quer über die Wiese, vorbei an den Bäumen, bis ich schließlich an der Grundstücksmauer stand. Doch da war Amy schon weg. Ein Motor wurde angelassen und ich konnte hören, wie eine Autotür zugeschlagen wurde. Sie wird doch nicht …?
Schnell kletterte ich auf den Baum, dessen Äste über die Mauer ragten und die es zuließen, dass ich auf die Ziegelwand klettern konnte. Im letzten Augenblick konnte ich noch Sandys roten Pontiac erkennen, der viel zu schnell aus der Straße verschwand.
So ein Mist! Ich hatte sie verpasst. Unentschlossen, was ich nun tun sollte, saß ich auf dem Mauersteg und sah den Rückleuchten des Autos hinterher, in dem meine Schwester saß.
Kurz blickte ich hinter mich auf unser Grundstück. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass die Alarmanlage keinen Mucks von sich gegeben hatte. Niemandem war unser Verschwinden aufgefallen. Was war hier los? Hatte Amy die Überwachung außer Gefecht gesetzt? Was hatte sie vor? Da fiel mir das Telefongespräch im Restaurant wieder ein. Amy hatte mit ihrer Freundin Sandy telefoniert. Hatten sie dort ihren nächtlichen Ausflug geplant?
Diese kleine …, Mist! Ich hatte keine Ahnung, was sie vorhatten. Ein unangenehmes Gefühl machte sich breit. Mal wieder hatte Sandy meine Schwester dazu gebracht, sich Ärger einzuhandeln. Im Geiste ging ich das Gespräch noch einmal durch. Vielleicht wollten sie in den neuen Club? Aber der war eine ganze Ecke entfernt. Ich zog mein Handy aus meiner Gesäßtasche und wählte Toms Nummer.
»Hi, Tom! Ich bin es. Ich brauche deine Hilfe.«
»Jade! Was ist los?« Seine Stimme klang besorgt.
»Kannst du mit einem Wagen ganz an das Ende unseres Grundstücks, zur Bayville Ave kommen?«, fragte ich. Seine Stimme klang verschlafen. Ich hatte ihn geweckt.
»Was ist denn los? Seid ihr in Schwierigkeiten?«
»Nein, oder besser gesagt, ich weiß nicht genau. Kannst du kommen?«
Er schwieg für einen Moment. »Ich bin gleich da!«, sagte er und legte auf.
Kurz überlegte ich, ob ich jemanden informieren sollte, sah nochmals zu unserem Haus zurück. Soweit ich mich erinnerte, hatte Frank dieses Wochenende Schicht. Vielleicht war er mal wieder in der Überwachungszentrale vor dem Fernseher eingeschlafen und hatte deshalb nichts bemerkt. Falls ja, könnten wir Glück haben und unbemerkt wieder in unsere Zimmer gelangen.
Entschlossen, Amy zu finden, kletterte ich von der Mauer auf den Gehweg, ständig in Angst, den Alarm vielleicht doch noch auszulösen. Keine Menschenseele weit und breit. Während ich auf Tom wartete, ging ich ein paar Schritte den Weg entlang. Jeden Augenblick müsste er auftauchen. Ärger stieg in mir auf. Was dachte sie sich eigentlich dabei? Und wieso funktionierte unser Alarm nicht? Ich schüttelte den Kopf. Irgendetwas lief hier schief.
Ein paar Minuten später leuchteten Scheinwerfer auf. Der dunkle Wagen von Toms Vater hielt direkt neben mir. Ich stieg ein und sah in Toms fragendes Gesicht.
»Was ist los?«, wollte er wissen.
»Fahr los! Wir müssen Amy suchen. Sie ist aus dem Fenster geklettert und ich bin ihr gefolgt«, erklärte ich ihm.
»Was?« Fassungslos starrte Tom mich an und fuhr aus unserer Straße.
»Ja, aber …?« Er war genauso sprachlos wie ich.
»Ich habe keine Ahnung, was sie vorhat, aber ich glaube, wir könnten in dem neuen Club fündig werden. Wie hieß er noch? Collections oder so ähnlich!« Mittlerweile fuhren wir aus Bayville hinaus, der Landstraße entlang Richtung Queens.
»Du meinst den Club »Collections« in Queens? Aber das ist doch viel zu weit!«, bestätigte er meine Gedanken.
»Was glaubst du wohl, mit wem sie unterwegs ist?», gab ich sarkastisch zurück.
»Sandy hat sie abgeholt. Die kann was erleben, wenn ich die zwischen die Finger bekomme«, sagte ich sauer und sah stur geradeaus.
»Wieso tut sie so etwas? Sie weiß doch genau, dass Finley toben wird, wenn er das herausfindet!« Tom sagte genau das, was ich dachte. Mir wurde kalt und ich zog meine Jacke enger um mich, als mir klar wurde, welchen Ärger Amy nun wieder an der Backe hatte. Und ich war nicht besser, denn schließlich war auch ich aus dem Fenster verschwunden, auch wenn meine Gründe andere waren.
»Hast du eine Ahnung, wo der Club sich genau befindet?«
»Ja, ich kenne ihn. Wir werden vierzig Minuten brauchen, wenn wir schnell sind. Noch dazu ist es dort so voll, dass sie die Leute nur noch einzeln hineinlassen um diese Zeit«, meinte Tom und gab etwas mehr Gas.
Da kannte er Amy schlecht. Wenn sie wollte, kam sie überall hinein. Türsteher hin oder her.
»Ich war einmal da. Aber das ist schon eine Weile her«, sagte er und schaltete das Radio ein. Leise klang Musik aus den Lautsprechern. Ich war so wütend. Was dachte sich Amy eigentlich? Es gab so viele Leute, die Onkel Finley kannten. Sie konnte doch nicht allen Ernstes glauben, dass sie einfach eine Partynacht verbringen konnte, an so einem Ort, ohne dass er es je erfahren würde.
***
Endlich in Queens angekommen, steuerte Tom den Wagen auf einen großen Parkplatz. Mit Schrittgeschwindigkeit fuhren wir durch die Reihen der parkenden Autos. Es dauerte nicht lange, bis wir Sandys rotes Auto am Ende der vierten Reihe entdecken konnten.
»Da sieh mal! Das ist doch der Wagen, oder?«, fragte Tom und hielt an. »Du hattest recht, sie sind wirklich hier.«
»Na, die kann was erleben«, zischte ich stinksauer.
Tom parkte ganz in der Nähe und wir stiegen aus. Der Kies knirschte unter meinen Schuhen. Diese Nacht war kühl und die Luft hier war erfüllt von Leben. Schweigend lief ich neben Tom.
»Da! Siehst du die blaue Beleuchtung am Himmel? Das ist es«, sagte er und zeigte ein Stück die Straße hinunter in den Nachthimmel. Wir liefen direkt darauf zu und beim Näherkommen erkannte ich mehrere Scheinwerfer, die das Haus beleuchteten und deren Strahlen sich im Himmel auflösten. Unglaublich viele Leute liefen auf dieses Gebäude zu, es wirkte, als wurden sie magisch von den Scheinwerfern angezogen, wie die Motten vom Licht.
Endlich erreichten wir den Eingang. Eine große Menschenmasse wartete darauf, eingelassen zu werden. Auf den Zehenspitzen suchend, hielt ich in der Schlange nach Amy Ausschau. Auch Tom sah sich suchend nach den beiden um. Leider Fehlanzeige!
»Wird wohl nicht so einfach sein, hier rein zu kommen. Sieh dir das an, die Warteschlange ist riesig«, sagte ich laut und suchte weiter nach Amy.
Eine Gruppe junger Männer stand ein paar Meter vom Eingang entfernt und diskutierte lautstark, da man sie offensichtlich nicht einlassen wollte. Ich hörte ihnen eine Weile zu.
»Komm, ich habe eine Idee!«, meinte Tom, nahm meine Hand und zog mich direkt an der Schlange vorbei. Ein paar Leute fingen an zu murren, als sie bemerkten, dass Tom und ich uns einfach vordrängelten. Doch er achtete nicht darauf und ging direkt auf die Türsteher zu.
Vor dem Eingang standen gleich fünf davon, groß, breit und grimmig dreinschauend, alle mit einem Headset ausgestattet. Grüßend lief Tom auf sie zu. Erstaunt sah ich ihn an, er jedoch ignorierte mein fragendes Gesicht.
Tom blieb direkt vor einem der Türsteher stehen und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sie tauschten kurz ein paar Worte aus, während der Typ irgendwelche Anweisungen in sein Headset gab. Wartend vergingen Sekunden. Tom zwinkerte mir geheimnisvoll zu, als endlich ein Kerl auf uns zukam.
»Ich bin Andy, der Manager hier! Bitte folgt mir«, stellte er sich mir vor. Ein Mann mittleren Alters stand nun vor uns und hatte Tom und mich mit dem Kopf nickend begrüßt. Der Manager änderte plötzlich seinen grimmigen Ausdruck. Er lächelte sogar, was ihn gleich sympathischer wirken ließ. Er führte uns durch das große Foyer. Der Club war sehr edel und geschmackvoll eingerichtet. Große, goldene Spiegel hingen an den weißen Wänden, die mit ein paar künstlichen Fackeln beleuchtet wurden. Überall umsäumten schwarze Ledersessel kleine Beistelltische. Der Marmorfußboden zeugte vom Geschmack des Besitzers und ich hörte schon den Bass, der gedämpft zu uns drang. Tom hielt meine Hand und zog mich hinter sich her. Der Manager begleitete uns ans Ende des Eingangsbereichs und öffnete die Tür.
»Viel Spaß«, sagte er und grinste freundlich, während Tom und ich hindurchgingen. Ich konnte es nicht fassen. So schnell hatten wir freien Eintritt bekommen, während die anderen noch draußen standen. Was war Toms Geheimnis? Ich würde ihn später danach fragen müssen!
Jetzt schlug uns der Bass der Musik laut entgegen. Die Luft war warm und hitzig. Schließlich standen wir im Herzen des Collections. Bunte Scheinwerfer leuchteten in die Menschenmasse. Die Diskothek war sehr groß und proppenvoll. Rechts war die überfüllte Tanzfläche, der Boden leuchtete im Takt der Musik, unzählige junge Leute verausgabten sich beim Tanzen. Links erstreckte sich eine riesige Bar, hinter der einige Barkeeper ihre Shaker spektakulär durch die Lüfte warfen. An der Decke hingen vier Käfige, in denen sich junge Frauen sexy räkelten. In der Mitte zwischen Tanzfläche und Bar führte eine Treppe in die offene obere Etage. Von dort aus konnte man die Tanzfläche und die Bar überblicken. Bisher kannte ich solche Clubs nur aus dem Fernsehen.
Tom führte mich die Stufen hinunter, die uns von der Menge trennten. Wir drängten uns an überhitzten Körpern vorbei und ich fragte mich, ob wir Amy in diesem Getümmel finden würden. Das konnte dauern. Tom und ich blieben eng hintereinander und sahen uns suchend nach meiner Schwester um.
»Vielleicht haben wir von dort oben mehr Glück?«, schrie mir Tom zu. Die Musik war so laut, dass er dagegen anbrüllen musste. Ich nickte und Hand in Hand suchten wir uns einen Weg zur Treppe.
Nach den ersten Stufen blieb ich stehen und sah mich um. Die Musik war ganz nach Amys Geschmack. Ich suchte sie unter der tanzenden Masse. Hoffentlich war zu Hause unser Fehlen noch nicht in einen Alarm umgeschlagen. Die Zeit drängte und ich musste mich beeilen, wenn ich verhindern wollte, dass man unseren Onkel informierte.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich schließlich Sandy in dem Getümmel auf der Tanzfläche erkennen konnte. Genau in dem Moment, indem ich Tom meinen Fund zeigen wollte, tippte er mich an und zeigte auf zwei Personen, die am Geländer der oberen Etage standen.
Dort oben stand sie mit einem Fremden. Erleichterung durchflutete mich. Ihr ging es gut. Während sie hier flirtete und sich gedankenlos an diesen Kerl ranschmiss, hatte ich mir Sorgen gemacht. Aber das war typisch für sie. Wer war dieser Fremde? Woher kannte sie ihn? Er trug eine schwarze Lederjacke, war groß und breitschultrig. Meine Schwester hatte schon immer eine Vorliebe für coole, durchtrainierte Typen. Hin und wieder lächelte er sie an. Makellos weiße Zähne konnte ich sogar von den Treppenstufen aus erkennen. Seine blonden Haare schimmerten fast golden im Lichtkegel. Aber da war noch etwas anderes. Ich konnte es nicht richtig deuten, dennoch sagte mir mein Gefühl, dass Amy sich lieber nicht mit ihm unterhalten sollte.
»Da!«, rief mir Tom nahe meinem Ohr und zeigte auf Amy. Ich signalisierte ihm, dass ich meine abtrünnige Schwester schon entdeckt hatte, und gab ihm ein Zeichen, zu ihr zu gehen.
»Jade!«, hörte ich dumpf meinen Namen.
»Jade! Warte!«
Jemand hielt mich am Arm fest. Als ich mich umdrehte, erkannte ich Sandy. Sofort war meine Wut wieder da, und rot leuchtete es aus mir, als ich sie ansah. Sie wusste genau, wie ich über sie dachte. Erst vor ein paar Wochen hatte ich sie gewarnt und ihr versprochen, dass ich ihr Probleme machen würde, wenn sie Amy in Schwierigkeiten brachte.
»Sandy! Was glaubst du eigentlich? Bist du noch ganz bei Trost, meine Schwester hierherzubringen?«, schrie ich gegen die Musik an.
»Jetzt krieg dich wieder ein. Es ist doch für ein Mädchen in ihrem Alter völlig normal, auf Partys zu gehen. Du solltest dich entspannen und es genießen«, sagte sie schnippisch und sah mich herausfordernd an.
Am liebsten hätte ich sie von der Treppe geschupst, doch das konnte ich mir gerade noch verkneifen. Ich durfte mich von ihr nicht provozieren lassen. Stattdessen bedachte ich sie mit einem langen Blick und ließ sie einfach stehen. Ich drehte mich zu Tom und wollte die restlichen Stufen zu Amy hinauflaufen. Doch sie war verschwunden. Sie hatte gerade noch bei diesem Fremden gestanden, als ich mich kurz zu Sandy drehte. Ich konnte nur hoffen, dass ich sie nicht wieder verloren hatte. Es würde ewig dauern, bis ich sie hier wieder fand.
Der Kerl, mit dem sie geflirtet hatte, stand noch an der gleichen Stelle. Doch statt meiner Schwester waren zwei andere Mädchen bei ihm. Um eines legte er sogar einen Arm. Na toll, auch noch ein Playboy.
»Jade!«, schrie Amy. Sie stand eine Stufe über mir und sah mich an. Wenigstens versteckte sie sich nicht vor mir. Das hätte das Ganze noch in die Länge gezogen. Wir sollten zusehen, dass wir schnellstens nach Hause kamen.
Böse funkelte ich sie an. Signalrot strömte aus meiner Haut und Amy wusste sofort, wie wütend ich auf sie war. Dennoch versuchte sie, mich mit ihrem Dackelblick milde zu stimmen. Doch da war sie auf dem Holzweg. Sie konnte von Glück reden, dass ich versuchte, sie vor Onkel Finleys Strafe zu retten.
»Bitte, Jade, sei nicht sauer!«, flehte sie mich an.
Darauf ließ ich mich gar nicht erst ein. »Wir gehen sofort nach Hause«, erwiderte ich und trat einen Schritt beiseite, damit sie vorausgehen konnte. Für einen kurzen Moment schien sie zu überlegen, ob es sich lohnen würde, mit mir weiter zu diskutieren, doch sie sah ein, dass sie keine Chance hatte. Sie ließ ihre Schultern hängen und stieg trotzig die Stufen hinunter. Tom grinste mich wissend an und wir folgten ihr.
***
Wir hatten schon fast den Ausgang erreicht, als mich ein seltsames Gefühl befiel. Eine Weile dachte ich über diesen merkwürdigen Kerl nach. Es war nicht so, dass er mir gefiel, im Gegenteil, er verursachte ein warnendes und beklemmendes Gefühl in mir. Sein Blick bohrte sich in meinen Rücken, da drehte ich mich zu ihm um und tatsächlich, er sah mich an. Ein paar Sekunden war ich so irritiert und in einen innerlichen Konflikt verstrickt, dass ich Angst und gleichzeitig Gefahr wahrnahm. Meine Haut kribbelte heiß, was aber auch an der Luft hier liegen konnte. Es war zu dunkel und er stand zu weit von mir entfernt, als dass ich in seinem Blick hätte lesen können. Dann lächelte er plötzlich und hob seine Hand, als würde er mit seinem Finger auf mich zeigen. Es war kein freundliches Lächeln, sondern eher ein bestätigendes, was für mich überhaupt keinen Sinn ergab. Was hatte das zu bedeuten? Vielleicht verwechselte er mich mit Amy? Möglich wäre es durchaus, da er ja kaum, dass Amy weg war, schon zwei neue Miezen bei sich hatte. Wahrscheinlich hatte er nicht bemerkt, dass es uns doppelt gab. Ich grüßte nicht zurück, drehte mich um und verließ mit den anderen den Club. Ein eiskalter Schauer fuhr mir den Rücken runter und erleichtert atmete ich auf, als wir endlich das Collections verließen.
Auf der ganzen Heimfahrt sprachen wir kein Wort. Und das war auch gut so. Sandy hatte sich schuldbewusst kurz von uns verabschiedet und war allein nach Hause gefahren.
Eine Gänsehaut bildete sich auf meiner Haut, wenn ich an das Gesicht des Fremden dachte, doch jetzt sollte ich mein Unbehagen vergessen und mich darauf konzentrieren, dass wir wieder unbemerkt ins Haus kamen.
»Wo soll ich euch raus lassen?«, fragte Tom und sah kurz zu mir rüber, als wir Bayville wieder erreichten.
»Falls alles ruhig sein sollte, dann lass uns dort raus, wo du mich abgeholt hast.« Ich sah auf mein Handy. Keine Anrufe und keine Nachrichten. Die Chancen standen nicht schlecht. Erschrocken starrte ich auf die Uhr meiner Displayanzeige. Halb drei! Mein Gott, wie schnell die Zeit doch vergangen war.
Als Tom den Wagen in unsere Straße lenkte, an der das Grundstück angrenzte, atmete ich erleichtert auf. Alles war still und friedlich, wie wir es vorher verlassen hatten.
Er hielt und Amy stieg ohne Abschiedsgruß aus. Was glaubte sie eigentlich, wer sie war? Diesmal würde ich nicht locker lassen. Ich musste ihr klarmachen, dass ihr Verhalten total egoistisch war.
»Danke Tom!«, flüsterte ich ihm zu.
Er nickte. »Sei nicht so streng mit ihr, ja? Es ist ja alles gut gegangen«, versuchte er mich zu besänftigen.
»Noch sind wir nicht im Haus. Vielleicht hat sie heute Glück gehabt. Das nächste Mal werde ich sie nicht mehr decken. Sie kann nicht einfach abhauen, wer weiß, was alles hätte passieren können«, schimpfte ich und schüttelte den Kopf. »Danke! Ich ruf dich an«, sagte ich noch, lächelte zaghaft, bevor ich die Autotür öffnete und ausstieg. Tom fuhr los und ich drehte mich zu Amy um, die schon auf die Mauer geklettert war.
»Bleib sofort stehen, Amy!«, rief ich ihr hinterher, als wir uns sicher auf dem Grundstück befanden. Sie war circa zehn Meter vor mir und lief mit eiligen Schritten auf unser Haus zu.
»Amy!«, versuchte ich es noch einmal und tatsächlich blieb sie stehen.
»Was?«
»Tu nicht so! Ich glaube, du bist mir ein paar Erklärungen schuldig«, forderte ich sie wütend auf.
»Mein Gott, Jade, spiel dich nicht immer als mein Vormund auf. Du bist nicht meine Mutter«, antwortete sie gereizt, »nur weil du vier Minuten älter bist als ich, hast du noch lange nicht das Recht, über mich zu bestimmen und schon gar nicht, wie ein Kindermädchen hinter mir herzulaufen.«
Sie ließ mich stehen, ging über die große Wiese und tappte die Stufen zum Eingang unseres Hauses hinauf. Leise lief sie am Pool vorbei und spähte ins Innere des Hauses, bevor sie den Code der Tür eingab. Wir hatten wirklich Glück, niemand hatte uns bemerkt und falls doch, hätten wir uns eine gute Ausrede einfallen lassen müssen.
Leise schlich ich zur Überwachungszentrale und lauschte an der Tür. Frank schnarchte in aller Seelenruhe. Niemand hatte bemerkt, dass Amy und ich unerlaubterweise das Grundstück verlassen hatten. Und ich hoffte, das würde auch so bleiben.
Schnell schlich ich in unser Zimmer und schloss die Tür, denn ich hatte nicht vor, Amy aus der bevorstehenden Diskussion zu entlassen. Ganz im Gegenteil.
»So kannst du nicht mit mir reden. Weißt du, welche Sorgen ich mir gemacht habe? Außerdem, was glaubst du, wird Onkel Finley zu deinem Ausflug sagen, wenn er es erfährt? Ist dir noch nie in den Sinn gekommen, dass er dort auch Leute kennen könnte?«, rief ich ihr hinterher.
Sie zog sich gerade um. Achtlos warf sie ihre Kleidung auf den Zimmerboden, wie immer.
»Und wenn schon! Ich habe es satt, hier eingesperrt zu sein«, fauchte sie mich an, während ich ebenfalls meine Jacke auszog und wütend auf mein Bett warf.
»Versteh doch, ich will dich nicht bemuttern, aber du kannst nicht einfach in einer Nacht- und Nebelaktion aus dem Fenster klettern und mal eben kurz nach Queens in einen Club fahren. Das muss dir doch klar sein.« Aufgebracht stemmte ich meine Fäuste in meine Hüften und konnte einfach nicht begreifen, dass ihr das nicht in den Kopf ging.
»Es ist doch nichts passiert. Jetzt krieg dich wieder ein!«, wollte sie es verharmlosen.
Ich atmete tief ein und versuchte, mich zu beruhigen. Vielleicht fasste sie meine Bedenken wirklich als Bevormundung auf. Ich sollte wohl besser meine Verärgerung schlucken und in einem normalen Ton mit ihr reden. Nachdenklich hob ich ihre Kleidung auf.
»Wer war dieser Typ, mit dem du rumgemacht hast? Und wieso hat die Alarmanlage nicht funktioniert?«
Amy lag schon in ihrem Bett und beobachtete mich, wie ich ihre Sachen aufräumte.
»Also, das mit der Alarmanlage haben Sandy und ich letzte Woche rausgefunden. Genau weiß ich auch nicht, warum diese Stelle kein Signal auslöst. Aber ich werde den Teufel tun und es in der Zentrale melden und du wirst den Gorillas auch nichts sagen!« Ruckartig hatte sie sich aufgesetzt und sah mich ernst an.
»Hörst du, Jade!«, forderte sie mich auf. »Das ist die Möglichkeit für uns, ein paar freie Stunden zu haben, ohne dass wir gestört werden. Nur Sandy, du und ich kennen diese Stelle.«
»Und Tom!«, ergänzte ich.
»Na gut, Tom auch. Aber stell dir vor, wir könnten öfters mal allein unterwegs sein. Ungestört und frei sein!« Ihre Begeisterung fand sich in ihren Augen wieder. Dennoch schüttelte ich den Kopf. Auf der einen Seite konnte ich sie natürlich verstehen, aber andererseits - war es nicht gefährlich? Wir hatten keine Ahnung, was die wahren Beweggründe von Onkel Finley waren, uns so abzuschirmen. Ich überlegte hin und her. Es war schon verlockend. So könnte ich mal außerhalb unseres Grundstückes joggen gehen.
»Und dieser Typ? Ich fand ihn irgendwie … unheimlich«, gab ich zu bedenken. Die Erinnerung, wie er mich angesehen hatte, war wieder so präsent in meinem Kopf, dass sich meine Nackenhaare aufrichteten.
»Du meinst Matteo? Ist er nicht süß?«, schwärmte sie. Offenbar hinterließ dieser Mann ein ganz anderes Gefühl bei Amy als bei mir. Nachdenklich setzte ich mich auf mein Bett und sah sie an.
»Kennst du ihn schon länger?«
»Nein, er hat mich heute Abend angesprochen, kaum dass Sandy und ich den Club betraten. Er meinte, ich wäre ihm sofort aufgefallen.« Die Begeisterung für diesen Typ stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben.
»Du musst vorsichtiger sein. Du kennst ihn überhaupt nicht«, warnte ich sie.
»Jetzt sei doch nicht so eine Spielverderberin. Ich bin ja schließlich nicht gleich mit ihm ins Bett gesprungen. Und außerdem geht dich das gar nichts an!« Trotzig legte sie sich wieder in ihr Kissen. Ich sagte nichts mehr dazu und hoffte, dass es zu mehr auch niemals kommen würde.
»Versprich mir, dass du nicht mehr nach Queens gehst«, forderte ich von ihr. Das war das Mindeste, was ich von ihr verlangen konnte.
Sie verdrehte ihre Augen. »Mach dir doch keine Sorgen, Jade. Ich denke, ich kann schon ganz gut auf mich selbst aufpassen.«
Da war sie allerdings allein mit ihrer Meinung. Wann wäre sie heute Nacht nach Hause gekommen? Was hätte dieser Typ mit ihr gemacht? Nein, sie war überhaupt nicht in der Lage, auf sich aufzupassen und schon gar nicht, wenn sie mit Sandy unterwegs war.
»Versprich es mir einfach.«
Sie überlegte kurz. »Na gut, … Queens ist ab sofort passé. Aber ich will diese Möglichkeit nutzen, die wir jetzt haben. Wir sind zu jung, um hier zu versauern. Ich will mich mit Jungs treffen und tanzen ...«
Ja, das war Amy. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als ein Partyleben und Freiheit.
»Lass uns morgen weiter reden«, gab ich nach und gähnte laut. Ich legte mich in mein Kissen und kurze Zeit später war es still.
Jade
Lange fand ich nicht in den Schlaf, daher tat ich es meiner Schwester nach und schlief an diesem Sonntagmorgen aus. Onkel Finley und Alegra wurden erst um 14 Uhr erwartet, so hatte ich noch genug Zeit, mit Mr. Chang zu trainieren. Gegen elf zog ich meine Sportsachen an und machte mich auf den Weg zum C.O.B. Es versprach ein heißer Sommertag zu werden, der Wind blies mild und auf dem See zogen die Schwäne ihre Bahnen.
Etwas schien mit ihnen nicht in Ordnung zu sein. Zuerst hatte ich das wilde Geflatter für eine Art Spiel der Schwäne gehalten. Doch die Laute, die sie von sich gaben, deutete ich eher als Schreie. Hatten sie Angst? Ich blieb stehen und beobachtete sie eine Weile. Doch ich konnte nicht genau erkennen, womit sie ein Problem hatten. Ihr Geschrei wurde schließlich lauter und panisch peitschten ihre Flügel auf der Wasseroberfläche. Sie verloren durch das wilde Schlagen Federn, die wie durch ein aufgeschütteltes Kissen in der Luft langsam auf die Wasseroberfläche herabsegelten. Vorsichtig und leise lief ich in ihre Nähe. Was verstörte die Schwäne so? War dort etwas im Wasser? Ich konnte zumindest nichts erkennen. Ich sah mich weiter um. Dann bemerkte ich etwas. Auf einem Baum, der in unmittelbarer Nähe des Sees stand, konnte ich in der Baumkrone einen Vogel ausmachen. Es war eine Krähe. Ihre Federn waren völlig schwarz, nur in ihrem Gesicht hatte sie kobaltblaue Flecken. Sie hatte einen langen, geraden, spitz zulaufenden Schnabel. Der Vogel war ungewöhnlich groß. War das der Grund, warum die Schwäne so verrückt spielten? Die Krähe entfaltete ihre Flügel und es sah so aus, als würde sie sich gleich auf die Schwäne stürzen. Waren Krähen Fleischfresser? Hatte diese Krähe es auf unsere Schwäne abgesehen? Entschlossen, sie zu verscheuchen, ging ich ein paar Schritte auf den Baum zu und fuchtelte wild mit meinen Armen, in der Hoffnung, dass ich sie damit vertreiben konnte.
Der Vogel war davon kaum beeindruckt. Er saß still auf dem Ast und sah mich an. Merkwürdig! Die Schwäne wurden wieder ruhiger. Ich hatte ein komisches Gefühl, während die Krähe so still in der Baumkrone saß. Irgendwie spürte ich ihren Blick. Ich hatte keine Angst, dennoch schlich eine Kälte in mich, die mir fremd war. Dann plötzlich breitete sie ihre Flügel aus und flog im Sturzflug direkt auf die aufkreischenden Schwäne zu. Kurz bevor sie einen der Schwäne erreichte, erhob sie sich wieder in die Luft und verschwand laut krähend. Erschrocken sah ich ihr nach, bis ich sie nicht mehr sehen konnte. So etwas hatte ich noch nie erlebt. War das normal?
Es herrschte wieder Frieden auf dem Wasser, und als ich sicher war, dass der Vogel nicht wieder kam, lief ich in unsere Halle.
Mr. Chang war gerade dabei, einen Parkour aufzubauen.
»Ah, Jade! Gut, dass du kommst. Du kannst mir helfen«, sagte er und griff nach den Enden einer dicken Matte und wartete darauf, dass ich mit anfasste.
»Mr. Chang, haben Sie mitbekommen, was draußen auf dem See los war?«, fragte ich ihn. Ich half ihm und gemeinsam trugen wir die Matte ein paar Meter und legten sie hinter einem Schwebebalken auf den Boden.
»Nein. Was denn?«, wollte er wissen, als wir die nächste Matte ergriffen. Ich erzählte ihm die Geschichte, die ich eben beobachtet hatte. Aufmerksam hörte er zu. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Selbst als ich den Vogel vertreiben wollte, ließ er sich von mir nicht stören. Aber er war irgendwie schön! Ich hatte wirklich den Eindruck, dass er den Schwänen noch einmal einen Schrecken einjagen wollte, bevor er wegflog.«
Mitten in der Bewegung hielt Mr. Chang inne. »Wie sah der Vogel genau aus?«
Ich dachte kurz nach. »Er war schwarz, ziemlich groß und hatte leuchtend blaue Flecken im Gesicht. Er sah wirklich wunderschön aus.«
Mr. Chang sah mich sekundenlang sprachlos an.
»Kennen Sie diese Vogelart?«
»Bist du dir sicher, dass dieser Vogel blaue Wangen hatte?«, fragte er.
»Ja, ich habe ihn genau gesehen. Er war ungewöhnlich groß und hatte diese blauen Wangen. Warum fragen Sie? Kennen Sie diese Art?«
Mr. Chang sah auf seine Armbanduhr. »War es das erste Mal, dass du ihn gesehen hast?«, wollte er wissen, ohne dass er auf meine Frage einging.
Ich runzelte die Stirn. »Ja, ... ich meine, ... er ist mir noch nie vorher aufgefallen. Warum? Stimmt etwas nicht?«
»Nein, nein. Wenn dieser Vogel so aussah, wie du ihn beschrieben hast, dann könnte es sich um eine Maori-Krähe handeln. Sie stammt aus dem 18. Jahrhundert und war die größte Rasse ihrer Art. Sie galt eigentlich als ausgestorben, aber genau kann ich es nicht sagen«, sagte er, schien jedoch mit seinen Gedanken woanders zu sein. »Ich bin gleich wieder bei dir. ... Ich habe etwas vergessen«, sagte er und lief eilig in die Umkleide. Nachdenklich sah ich ihm hinterher.
Wow, eine ausgestorbene Rasse! Bestimmt irrte er sich, das wäre ja eine Sensation in Bayville. Es dauerte nicht lange, und er kam zurück. »Lass uns anfangen, Jade.«
Das folgende Training war sehr anstrengend, ich hatte den Eindruck, er forderte mehr von mir als sonst. Er scheuchte mich durch die Halle, als wäre der Teufel hinter mir her. Von Kraft- und Ausdauertraining durch verschiedene Techniken, bis hin zu Schlag- und Trittübungen. Er zeigte mir, wie ich meinen Körper besser schützen konnte und gleichzeitig, wie sich Tritte und Schläge besser platzieren ließen.
Stunden vergingen, bis ich völlig erschöpft und ausgepowert auf der Matte liegen blieb, als Mr. Chang mich, wie so oft während des Trainings, zu Fall gebracht hatte. Meine Gedanken kreisten ständig um diesen Typen, der gestern Nacht in mir die verrücktesten Gefühle ausgelöst hatte. Dieser seltsame Blick hallte intensiv in mir nach, sodass ich immer darüber nachdenken musste. Matteo hatte Amy ihn genannt. Wenn sie seinen Vornamen kannte, dann vielleicht auch seinen Nachnamen. Ich musste sie bei Gelegenheit danach fragen.
Mein Handy klingelte und riss mich aus meinen Gedanken, als ich nach dem Training unser Zimmer betrat. Ich sehnte mich nach einer Dusche.
»Hallo?«
»Hi, Jade. Ich bin es. Ich wollte nur wissen, ob alles in Ordnung ist. Du hast dich gestern Nacht nicht mehr gemeldet.«
Mist! Das hatte ich total vergessen.
»Oh, hi, Tom. Tut mir leid, es war gestern so spät und ich habe länger geschlafen als sonst. Aber alles ist in Ordnung. Niemand hat bemerkt, dass wir das Grundstück verlassen haben. Wir hatten Glück«, entschuldigte ich mich bei ihm.
»Das kannst du laut sagen. Was glaubst du, wäre los gewesen, wenn euch jemand gesehen hätte oder der Alarm ausgelöst worden wäre«, sagte Tom.
»Ja, das stimmt. Aber ich frage mich, wie Amy herausgefunden hat, dass sie über dieses Mauerstück klettern kann«, dachte ich laut.
»Vielleicht war es nicht das erste Mal, dass sie verschwunden ist«, überlegte er.
»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Aber ich bin froh, dass ich es rausgefunden habe. Du darfst es vorerst niemandem erzählen, ja?«
»Nein, natürlich nicht. Aber klär das mit ihr. Ihr muss klar werden, welchen Ärger sie sich einhandelt und so wie ich Finley einschätze, wird er es Amy deutlich spüren lassen, dass sie sich an seine Regeln halten muss.«
Tom kannte meinen Onkel genauso gut wie ich und wusste, dass Amy sich dadurch alle Bonusse bei ihm verspielte.
»Das mache ich. Und Tom …?«
»Ja?«
»Danke, dass du mir geholfen hast, sie zu suchen.«
»Du weißt doch, dass ich immer für dich da bin. Ich bin nur froh, dass Amy in dem Club war. Wenn sie woanders hingegangen wäre, dann hätten wir sie die ganze Nacht über suchen können.«
»Ja, wahrscheinlich«, pflichtete ich ihm bei und betrat das Badezimmer.
»Was machst du jetzt?«, fragte er.
Ich grinste. »Ich geh jetzt erst mal unter die Dusche. Mr. Chang hat mich mal wieder durch das C.O.B gescheucht und ich bin total verschwitzt. Sehen wir uns später?«, fragte ich noch, als ich meine frische Kleidung auf die hölzerne Wäschetruhe legte.
»Ja, ich denke schon. Meine Eltern sprachen davon, dass Finley essen gehen wollte. Vielleicht gehe ich mit. Außerdem habe ich dir auch noch etwas zu sagen«, meinte er. Sein Ton war leiser geworden. »Also, bis später«, verabschiedete er sich.
»Ja, bis bald«, sagte ich und legte dann auf.
***
Frisch geduscht und mit glänzendem Haar betrat ich einige Zeit später unser großes Wohnzimmer.
»Jade, da bist du ja endlich. Lass dich ansehen!«, rief Onkel Finley fröhlich. Er hatte es sich in seinem ledernen Ohrensessel bequem gemacht. Alegra saß auf dem großen Sofa und blickte gelangweilt zu mir. Wie immer hatte sie sich herausgeputzt, als würde sie gleich zu einer Party gehen. Ihr Make-up saß perfekt und ihre Frisur sah aus, als wäre sie gerade vom Friseur gekommen. Ich war es gewöhnt, von ihr nicht überschwänglich begrüßt zu werden. Doch ich zwang mich zu einem kurzen Nicken. Ich hatte schließlich Anstand.
Onkel Finley stand auf und schloss mich herzlich in seine Arme. Sein Aftershave kitzelte mich in der Nase, trotzdem genoss ich den vertrauten Geruch, den ich schon seit meiner Kindheit kannte. Ich hatte ihn vermisst. Zwei Wochen war er auf Geschäftsreise gewesen und endlich war er wieder zu Hause.
»Onkel Finley! Ich freue mich!«, lachte ich ihn an.
»Geht es dir gut?«, flüsterte er mir ins Ohr. »Du siehst geschafft aus!«
»Nein, … nein, es geht mir gut! Ich komme gerade vom C.O.B. Das ist alles!«
Seine braunen Augen musterten mich aufmerksam. »Und? Was gibt es für Neuigkeiten? Was läuft in der Schule so? Komm, setz dich zu uns und erzähl mir alles!« Er zog mich zur Sitzgruppe. Darauf bedacht, dass ich den größten Abstand zu Alegra auswählte, zog ich meine Knie an und machte es mir bequem. Nach dem Training hatte ich es mir verdient.
»Eigentlich gibt es nicht viel Neues. In der Schule läuft es wie immer. Amy und ich trainieren hart, so wie Mr. Chang es von uns erwartet.« Mehr wollte ich ihm nicht verraten.
»Wo ist Amy? Schläft sie noch?«, fragte ich verwundert, da sie ihm normalerweise, wenn er von einer Reise nach Hause kam, die ersten Stunden nicht von der Seite wich.
»Ich hab sie schon gesehen, jedoch nicht lange. Sie wollte wieder in ihr Zimmer und ihre Hausaufgaben erledigen.« Hausaufgaben? Soweit ich wusste, hatten wir so kurz vor den Ferien keine mehr auf. Doch ich wollte mir nichts anmerken lassen. Onkel Finley streckte sich in seinem Sessel, sodass sich sein dicker Bauch hervorschob.
»Was meinst du, Jade? Soll ich auch mal Trainingsstunden bei Chang ausprobieren?« Er fing an, seine Arme wie ein Karatekämpfer wild durch die Luft zu wirbeln, während er schreckliche Geräusche von sich gab, die eine Katze schreiend aus dem Haus gejagt hätten. Ich prustete vor Lachen laut los, da es wirklich komisch aussah. Es tat so gut, ihn zu sehen.
»Und? Wie waren deine Geschäfte?«, wollte ich wissen, auch wenn ich wusste, dass er mir darüber keine Auskunft geben würde. Das Leuchten in seinen Augen und sein Lächeln verschwand. »Hm ... die Geschäfte liefen gut, aber es war sehr anstrengend und ich bin froh, wieder zu Hause zu sein.«
Kurz dachte ich daran, dass er Sorgen hatte, doch als er wieder zu mir sah, meinte er: »In den nächsten Tagen werden wir Besuch von Vico Tramonti bekommen. Er ist ein alter Freund. Ich kenne ihn schon seit Jahren und freue mich sehr, dass er einen Umweg nach Bayville macht. Außerdem möchte ich euch heute Abend ausführen. Habt ihr Lust, mitzugehen?«
»Da fragst du noch? Natürlich!«, sagte ich freudestrahlend.
»Ich geh gleich und sage es Amy. Die wird sich genauso freuen!«, rief ich begeistert und sprang sofort vom Sofa auf. Im Augenwinkel sah ich noch, wie Alegra ihr Gesicht verzog, dennoch ignorierte ich sie einfach. Ich freute mich wirklich, endlich mal wieder mit Onkel Finley auszugehen. Außerdem konnte ich mir schon denken, in welches Restaurant er uns ausführen wollte.
Ich rannte die Treppen hinauf in unseren Wohnbereich und zog ein fröhliches Gelb hinter mir her. Neugierig, was Amy für wichtige Hausaufgaben zu erledigen hatte, betrat ich unser Wohnzimmer. Es wunderte mich nicht, dass sie auf unserem Sofa saß und fern sah. So sahen also Hausaufgaben aus! Als sie mich hörte, bemerkte sie natürlich meine Fröhlichkeit herausströmen und sah mich fragend an. Ich setzte mich zu ihr.
»Stell dir vor, Onkel Finley will mit uns heute Abend ausgehen«, erzählte ich ihr aufgeregt, während sie sich wieder dem Fernseher zuwandte.
»Schön, wird auch Zeit, dass wir wieder etwas gemeinsam unternehmen«, erwiderte sie nicht gerade überschwänglich vor Freude.
»Was ist los? Freust du dich gar nicht?«
»Doch, natürlich!«, meinte sie und sah wieder zum Fernseher. »Hast du schon mitbekommen? Man hat in New York die Leiche von einem jungen Mädchen gefunden. Das Mädchen war in unserem Alter und stell dir vor, sie war auch in dem Club, in dem wir gestern waren.« Aufmerksam hörte ich dem Nachrichtensprecher zu, wie er vom Mord an dem jungen Mädchens berichtete. Ein kleines Video von den trauernden Eltern wurde eingeblendet, deren einziges Kind das Mädchen gewesen war. Die Eltern weinten bitterlich. Sofort wich meine Fröhlichkeit und trauriges Grau stieg aus mir. Ich wusste, Amy empfand genauso, jedoch war ihr Vorteil, dass sie das Ausströmen abstellen konnte. Ein Journalist stand vor der Kamera, hatte ein Mikrofon in seiner Hand und berichtete von diesem schrecklichen Mord. »Die Polizei hat noch keinen konkreten Hinweis. Die Arme wurde enthauptet. Stell dir das mal vor! Das ist so eklig!« Amy verzog angewidert das Gesicht und schüttelte sich.
Wer tat so etwas Grausames? Ein Foto des Mädchens wurde eingeblendet. Sie war hübsch und noch so jung gewesen. Wie schrecklich!
»Hoffentlich finden sie dieses Schwein bald«, murmelte ich gedankenverloren. Amy schaltete den Fernseher aus und sah mich an.
»Und? Hat Onkel Finley was bemerkt oder was gesagt?«
Ich war noch völlig gefangen von dem Bericht und verstand erst nicht, was sie genau meinte.
»Wieso? Was soll er denn sagen?«
»Du weißt schon, was ich meine, wegen gestern Nacht!«, erklärte sie mir ungeduldig.
Ich schob das Bild des jungen Mädchens aus meinem Gedächtnis und war sofort wieder bei unseren Problemen.
»Amy, ich möchte, dass du dieses Schlupfloch, das du entdeckt hast, nicht ausnutzt. Du wirst dich nicht noch einmal abends davonschleichen und schon gar nicht die halbe Nacht in Clubs verbringen. Außerdem sind wir Schwestern und wenigstens eine von uns sollte wissen, wo die andere ist. Verstehst du, was ich meine?«
Sie verdrehte genervt ihre Augen, aber das war mir egal. Ich musste zu ihrer eigenen Sicherheit erreichen, dass sie sich an unsere Abmachung hielt.
»Jetzt tust du es schon wieder!«, fuhr sie mich an und richtete sich auf.
»Was denn?«, entgegnete ich ihr im gleichen genervten Ton.
»Na, du bevormundest mich! Du sagst mir, was ich zu tun und zu lassen habe!« Sie hatte recht, trotzdem musste jemand darauf achten, dass sie die Grenzen und Regeln einhält und da dies nicht gerade Onkel Finleys Stärke war, tat ich es.
»Was hast du gedacht? Dass ich stillschweigend zusehen würde, wie du dich ständig davon schleichst und ich keine Ahnung habe, wo du bist? Nein, das ist viel zu gefährlich. Also entweder wir haben einen Deal, oder ich werde es den Gorillas sagen«, erpresste ich sie. Es war die einzige Möglichkeit für mich, zu erreichen, dass sie es nicht übertrieb.
Immerhin schien sie zu überlegen. Natürlich würde sie sich darauf einlassen, denn ich wusste, ihre neu gewonnene Freiheit wollte sie nicht aufgeben.
»Aber gegen eine Party in Bayville wirst du nichts sagen, in Ordnung?«
Im Grunde hatte ich nichts gegen eine Party. Und wenn die auch noch in Bayville stattfinden würde, wäre der Kreis auch schon mal kleiner. Einmal könnte ich ein Auge zu machen und einfach so tun, als würde ich von nichts wissen. Meiner Schwester sollte ich diesen Wunsch erfüllen, solange der Alarm nicht ausgelöst wurde und es einen geheimen Ausgang für sie gab.
»Gut, aber unter der Voraussetzung, dass du mir sagst, wann diese Party stattfindet, wo und vor allem mit wem du dort hingehst. Und auch nicht die ganze Nacht hindurch.«
»Ach, Schwesterherz, ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann!«, rief sie, stand ruckartig auf und nahm mich freudestrahlend in ihre Arme. Damit hatten wir eine Abmachung. Trotzdem würde ich mir Sandy noch einmal zur Brust nehmen, gleich am Montag.
***
Gegen Abend hatten Alegra und Amy mal wieder eine Auseinandersetzung. Wie versprochen hatte Onkel Finley beschlossen, uns zum Essen auszuführen. Amy und ich freuten uns, da dies nicht sehr oft vorkam. Wir wollten nicht weit fahren und beschlossen, in Bayville im Mill Creek Tavern, zu Abend zu essen. Das Essen dort war lecker und Onkel Finley liebte die Steaks, die sie so gut würzten, wie in keinem anderen Restaurant. Nur Alegra schien mal wieder nicht zufrieden zu sein. Sie verabscheute Fleisch und war strikte Vegetarierin. Wir hatten das alle akzeptiert, auch wenn Amy sich manchmal über ihre Essgewohnheiten lustig machte. Meistens warf ich ihr einen warnenden Blick zu, doch innerlich lachte ich lauthals über ihren Witz. Ich wusste, dass das kindisch war, aber ich konnte nicht anders. Alegra war für Amy und mich die schrecklichste Person, die Onkel Finley jemals als Freundin hatte. Sie gewann so oft das Machtspiel zwischen uns, da wollte ich wenigstens ein kleines Gefühl von Genugtuung haben, wenn Amy sie auf die Schippe nahm.
»Wieso muss es immer dieses Restaurant sein? Ihr wisst doch genau, dass ich schon den Geruch von Fleisch verabscheue«, erwiderte sie trotzig, als Onkel Finley Amy und mir die Entscheidung, wo wir hingehen wollten, überließ.
»Warum denn nicht? Keiner sagt, dass du mitkommen musst!«, meinte Amy schnippisch.
Onkel Finley schenkte sich einen Drink an der Bar ein und hörte aufmerksam der Diskussion zu. »Na, na Amy!«, ermahnte er sie. »Ich habe den Mädchen versprochen, dass sie heute Abend entscheiden dürfen, Alegra. Außerdem, so schlimm ist es auch wieder nicht. Du kannst ja einen Salat essen, wenn du die Fleischgerichte nicht magst.«
Diese Zurechtweisung nahm Amy zum Anlass, Alegra frech ins Gesicht zu grinsen. Beleidigt überkreuzte diese ihre Arme und schmollte wie ein kleines Kind. Vielleicht konnte sie Onkel Finley mit dieser Masche kleinkriegen, uns jedenfalls nicht.
Also war es beschlossen. Wir würden heute Steaks essen.
»Aber spätestens um halb neun sind wir wieder zurück, Fin! Du hast es versprochen«, quengelte Alegra, als wir das Haus verließen. Ich konnte es nicht leiden, wenn sie sich aufführte wie eine verwöhnte Zicke. Onkel Finley konnte nicht hart bleiben und gab fast immer nach, wenn Alegra ihren Dackelblick auflegte. Jedes Mal, wenn sie das tat, sah er sie liebevoll an und versprach ihr die Welt.
Amy verdrehte ihre Augen und schenkte mir einen vielsagenden Blick. Ein geheimnisvoller, weißer Farbton entfuhr ihr. Ihre Augen funkelten wissend. Wollte sie mir irgendetwas sagen? Ich ließ mir nichts anmerken und wollte abwarten, denn vielleicht täuschte ich mich auch. Hin und wieder nutzten Amy und ich unsere Auren dazu, geheime Mitteilungen zu machen. Und diese hier schien eine davon zu sein.
Die ganze Fahrt über sendete sie mir ihr weißes Signal und grinste vielsagend. Ich war schon gespannt, was sich Amy diesmal hatte einfallen lassen.
Im Restaurant trafen wir auf Tom, den Onkel Finley von unterwegs aus angerufen hatte. Eigentlich wollte er die ganze Familie Persky einladen, doch leider waren Bob und Emilia bei einer Benefizveranstaltung, bei der Bob eine Rede halten sollte. Dafür ging Tom mit uns und ich freute mich darüber. Er setzte sich gleich links neben mich und Amy. Onkel Finley war sofort in ein Gespräch mit dem Restaurantbesitzer vertieft, nachdem der uns freudig begrüßt hatte. Onkel Finleys Trinkgelder waren bekannt ...
»Alles in Ordnung?«, fragte Tom und lehnte sich zu mir rüber, sodass nur ich ihn hören konnte. Ich wusste sofort, worauf er hinaus wollte. »Ja, alles in Ordnung. Wir reden später«, flüsterte ich zurück.
Amy blätterte länger als sonst in der Speisekarte und betonte absichtlich die Gerichte, die hauptsächlich aus vielen oder seltenen Fleischsorten bestanden.
»Jade, hast du nicht letztens erst gesagt, du hättest mal wieder Lust auf ein blutiges Steak? ... Oder sieh mal, es gibt hier auch Straußenfleisch!«, provozierte sie munter.
»Igitt!«, brachte Alegra angewidert hervor. Sie verzog ihr geschminktes Gesicht zu einer wirklich lustigen Fratze, sodass ich laut loslachen musste. Tom grinste und sah verlegen auf seinen Teller, während Amy ihre Show weiter genoss.
»Mochtest du dein Steak nicht lieber blutig, Tom?« Tom warf ihr einen warnenden Blick zu, da sie es nun wirklich übertrieb.
»Jetzt ist es genug, Amy!«, ermahnte Onkel Finley sie und sogleich wurde sie wieder ernster.
Alegra funkelte sie giftig an und ich hätte schwören können, dass sie meine Schwester innerlich verfluchte. Schließlich beruhigten wir uns alle wieder. Wir bestellten jeder unsere Gerichte, nur Alegra nicht. Sie bestand auf ihren einfachen Salat. Sie vergaß auch nicht zu betonen, dass dieser ja nicht fett mache, und grinste dabei Amy überfreundlich an. Wieder verzog Amy ihr Gesicht zu einer unschönen Grimasse und ich konnte spüren, wie sie sich schon die nächste Gemeinheit ausdachte. Der Kellner kam und brachte uns die kleinen Salate, die wir vor unseren Hauptspeisen aßen.
»Hey, da fällt mir ein, warum schreien Vegetarierinnen nicht beim Orgasmus?«, fragend sah sie in die Runde. Alle Augen waren auf Amy gerichtet.
»Weil sie auf keinen Fall zugeben wollen, dass ihnen ein Stück Fleisch so viel Freude bereitet.« Amy, Tom und ich fielen in schallendes Gelächter. Selbst Onkel Finley grinste, bevor Alegra ihn mit einem strengen Blick bedachte.
»Du hast deinen Spaß gehabt, Amy. Jetzt lasst uns essen«, war alles, was er zu ihr sagte, während Alegra sicher innerlich kochte. Wir fingen an zu essen, nur Amy kämpfte noch immer mit ihrem Lachflash, was Onkel Finley sauer werden ließ. Sie konnte sich nicht beruhigen, es trieb ihr sogar Tränen in die Augen. Sie musste so lachen, dass sie ganz rot im Gesicht wurde und sie sich ihren Bauch hielt.
Ich fand den Witz auch ganz lustig, verstand aber nicht, warum meine Schwester sich nicht mehr beruhigte. Irgendwann musste sie damit aufhören. Um sie daran zu erinnern, dass es jetzt genug war, schlug ich leicht an ihren Hinterkopf, damit sie endlich verstand, dass nur noch sie lachte und sie sich endlich beruhigen sollte. Doch dies hätte ich lieber lassen sollen. Amy verschluckte sich und der Salat, den sie im Mund hatte, preschte wieder heraus und landete direkt auf Alegras Dekolleté.
Einige Sekunden verschlug es uns schockiert die Sprache, bis Amy noch lauter prustete, so dass die anderen Gäste des Restaurants schon auf uns aufmerksam wurden. Das angekaute Grünzeug rutschte halb auf Alegras Busen. Sie schrie auf vor Wut.
Onkel Finley blickte die Übeltäterin finster an und Tom und ich mussten uns so fürchterlich zusammenreißen, dass wir nicht genauso lachten wie Amy. Alegra ließ ihr Besteck klirrend fallen, stand auf und verließ wütend unseren Tisch.
»Es tut mir leid, Onkel Finley. Das war wirklich keine Absicht. Es ist einfach so passiert«, versuchte Amy, sich zu entschuldigen.
»Ich frage mich wirklich, was in dich gefahren ist. Ich dachte, wir könnten einen schönen Abend miteinander verbringen. Ich war schließlich mehr als zwei Wochen nicht mehr zu Hause. Und was machst du?«
Beschämt ließ Amy ihren Kopf hängen. »Es tut mir leid, aber sie macht es mit ihrer Laune auch nicht besser«, verteidigte sich Amy kleinlaut.
»Du entschuldigst dich bei ihr oder wir fahren sofort nach Hause«, verlangte er und widmete sich seinem Salat.
Es blieb still an unserem Tisch, bis Alegra wieder kam. Die Spuren von Amys Spukattacke waren verschwunden. Stumm setzte sie sich zu uns an den Tisch und sah stur auf ihren Teller. Erwartungsvoll wartete Onkel Finley, dass Amy sich entschuldigte und sah sie auffordernd an. Ich konnte mir schon vorstellen, dass Amy alles andere als Lust dazu hatte, doch letztlich blieb ihr des lieben Friedens willen nichts anderes übrig.
Sie verdrehte ihre Augen, als Onkel Finleys stumme Aufforderung intensiver wurde.
»Es ... tut mir leid, Alegra. Ich wollte nicht, dass das passiert«, sagte sie und für mich klang es ehrlich. Alegra würdigte Amy keines Blickes, nickte aber. Damit hatte Alegra die Entschuldigung angenommen und für Onkel Finley war die Sache erledigt.
Die Stimmung war natürlich dahin, doch Onkel Finley versuchte sie zu retten, indem er uns geschickt in ein Gespräch verwickelte. Wir unterhielten uns über die Schule, über den Sommer, der nun endlich einer werden sollte.
Das Restaurant war nicht sehr groß, dafür gut besucht. Vor allem die Außenterrasse wurde im Sommer von den Gästen geschätzt. Manchmal gab der Besitzer spontan eine Party. Einmal waren wir dabei. Ich glaube, es war die erste Party, die wir miterlebten. Einen Anlass gab es nicht. Denn schließlich gab es jeden Tag etwas zu feiern, wenn man wollte.
So hatte auch an diesem Abend der Besitzer seine Musikanlage etwas lauter gedreht, als die meisten Gäste nach der Rechnung fragten. Eigentlich fand ich diese Strategie ganz interessant, denn dadurch blieben einige Gäste länger sitzen und die Bestellungen wurden erneuert.
Jade
Meine Wangen glühten. Die Luft im Restaurant war stickig. Ich stand auf und meldete mich gehorsam bei Onkel Finley ab, mit dem Hinweis, dass ich kurz auf die Terrasse wollte und Tom mich begleiten würde. Kurz überlegte mein Onkel, doch dann nickte er und sah uns beiden nach, wie wir durch die Tür verschwanden.
Die frische Abendluft tat gut. Sie roch nach dem Salz des Meeres und nach Sommer. Tom wirkte gehemmt. Etwas schien ihn zu bedrücken. Ständig meinte ich, er wollte etwas sagen, doch dann ließ er es wieder. Er trug eine dunkelblaue Hose und ein weißes T-Shirt. Die Farben passten sehr gut zu seinen braunen Augen. Der Wind zerzauste leicht sein Haar. Was war das nur mit ihm? Irgendetwas hatte sich verändert. Ich konnte es in seinem Gesicht lesen. Früher war es mir nie aufgefallen. Doch jetzt sah ich ihn genauer an. Manche Details sind mir nie aufgefallen oder ich hatte nicht so darauf geachtet. Die Konturen des Haaransatzes im Nacken oder seine Hände zum Beispiel. Er wirkte so … erwachsen. Ich hätte schwören können, dass er vor ein paar Wochen noch anders ausgesehen hatte.
Wir lehnten am Terrassengeländer und ich vermied es, ihn weiter anzusehen. Trotzdem brannte seit der gestrigen Nacht eine Frage in meinem Kopf, die ich unbedingt wissen musste.
»Wie hast du es gestern geschafft, dass der Türsteher im Collections uns so einfach reingelassen hat?« Bei dieser Erinnerung lächelte er verschwiegen.
»Ein Mann hat seine Geheimnisse«, sagte er und lächelte verschmitzt. Er wollte es mir also nicht sagen? Aber wieso? Sonst erzählte er mir doch immer alles. Er grinste verlegen.
»Erzähl mir lieber, wie Amy es geschafft hat, die Mauer zu überqueren, ohne den Alarm auszulösen«, wollte er wissen.
Ich sah wieder in die Ferne. Das Meer konnte ich rauschen hören, auch wenn sich noch einige Meter dazwischen befanden. Große Bäume versperrten uns die Sicht, doch auch so hatte dieser Anblick etwas Schönes.
Die Erinnerung daran ließ mich genauso grinsen wie ihn.
»Das wirst du nicht glauben. Sie hat eine Stelle gefunden, die keinen Alarm auslöst. Frag mich nicht, wie genau. Aber das hat sie gleich ausgenutzt.«
Tom schüttelte den Kopf. »Und das ist den Sicherheitsleuten bisher nicht aufgefallen?«
»Nein, soweit ich weiß nicht, deshalb habe ich mit ihr auch gesprochen und sie gebeten, nicht wieder nach Queens in irgendeinen Club zu gehen.«
Er runzelte die Stirn. »Und dem hat sie zugestimmt? Das passt gar nicht zu ihr, so wie sie nach ihrer Freiheit lechzt.«
Da hatte er wohl recht. Normalerweise hätte Amy sich auf ein Verbot von mir nie eingelassen. Ich wusste, dass ich sie nur mit einem Kompromiss dazu bringen konnte, die ganze Sache nicht auffällig auszunutzen.
»Sie hat mir versprochen, nicht mehr so weit wegzugehen, allerdings gab ich ihr meine Zustimmung, sich hin und wieder in Bayville für ein paar Stunden zu amüsieren.«
»In Bayville also«, gab er nachdenklich zurück.
»Wir haben vereinbart, dass wir es nicht melden werden.«
Tom runzelte die Stirn. »Was soll ich dazu sagen, Jade. Wenn sie euch erwischen, wird Finley sauer sein und zwar sehr«, betonte er seine letzten Worte. Er wusste, wie streng Onkel Finley sein konnte.
»Du wirst uns doch nicht verraten, oder? Wir haben beschlossen, diese Schwachstelle zwar hin und wieder auszunutzen, aber es nicht zu übertreiben. Außerdem kann ich sie verstehen, wir müssen auf viel verzichten. Und der Reiz, über die Mauer zu klettern, ist groß. Sie will sich nur ein paar freie Stunden gönnen. Abgesehen davon, stelle ich es mir einfach wundervoll vor, einmal außerhalb unserer Mauer zu joggen.«
»Du willst was?«, fragte er irritiert und sah mich fasziniert an.
»Ja, ich weiß, es hört sich bescheuert an. Aber ich stell mir schon lange vor, wie es wäre, mal in dem Wald beim kleinen Spielplatz zu joggen oder hier irgendwo am Strand. Es muss ein befreiendes Gefühl sein, ganz allein irgendwo zu sein. Das wäre jetzt meine Gelegenheit dazu. Du musst mir versprechen, niemandem etwas zu verraten.«
Tom überlegte und grinste dann wieder. Doch das tat er mehr, um mich zu verunsichern. Im Grunde wusste ich, dass er seinen Mund halten würde. »Dummerchen, das weißt du doch. Dennoch finde ich, solltest du mich für mein Schweigen bezahlen.«
Das waren ja ganz neue Töne. Doch er lachte schon, als er mein fragendes Gesicht sah.
»Jetzt schau nicht so entsetzt. Wie wäre es zum Beispiel, wenn wir gemeinsam joggen oder mal tanzen gingen?«
Tom und Sport? War er sich da sicher? Er war einfach nicht der Typ dafür.
»Na klar! Was soll ich auch allein im Bayviller Nachtleben, ohne dich?«, grinste ich und rempelte ihn leicht an. Er rückte noch näher zu mir und ich wurde verlegen. Unruhig trat er von einem Bein aufs andere.
»Jade, ... es gibt da etwas, was ich ...! Also, ich wollte ... dir etwas sagen«, stammelte er. Ich hörte ein leises Zittern in seiner Stimme und wurde aufmerksamer. Ich wollte ihn nicht ansehen, aus Angst, er könnte meine Unsicherheit entdecken, daher sah ich wieder zu den Bäumen vor uns. Plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit von einem Schatten abgelenkt.
»Da!«, rief ich und zeigte auf einen Baum, der ein paar Meter von uns entfernt stand. Sofort ließ Tom seine Worte fallen und folgte meinem Finger, der auf den Baum zeigte, auf dem diese merkwürdige Krähe saß. Ich konnte es nicht fassen. Beinahe hätte ich sie übersehen, doch das Kobaltblau in ihrem Gesicht war so leuchtend im Abendlicht, dass sie fast wie ein bunter Farbklecks wirkte. Sie saß ganz ruhig auf einem Ast und sah in unsere Richtung.
»Wow! Was ist das für eine Krähe?«, rief Tom erstaunt aus. Wir sahen beide gebannt zu ihr, wie sie regungslos auf ihrem Ast saß. »So eine habe ich noch nie gesehen! … Vielleicht ist sie ja aus einem Zoo entflohen? Sie sieht jedenfalls nicht so aus, als würde sie in der freien Natur leben«, meinte er. Genau in diesem Augenblick öffnete sie ihre Flügel und flog über uns hinweg. Bewundernd sahen wir ihr nach, bis sie verschwunden war. Ein merkwürdiges Gefühl hinterließ der Vogel in mir. Ihn ein zweites Mal zu sehen, war schon merkwürdig. Eine Weile schaute ich völlig in Gedanken der Krähe nach, bis mir einfiel, dass Tom eigentlich etwas sagen wollte.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht unterbrechen. Was wolltest du sagen?«
Liebevoll sah er mich lächelnd an und überlegte einen Augenblick. Mehrmals öffnete er dabei unentschlossen seinen Mund. »Ähm, ...!«
Die Terrassentür wurde aufgerissen. »Hey, ihr zwei, wir wollen gehen. Onkel Finley hat einen Anruf bekommen und will nach Hause«, funkte Amy genau in dem Augenblick dazwischen.
»Wir kommen!«, rief ich ihr zu. »Jetzt sag schon, was wolltest du sagen?«, fragte ich ihn ungeduldig, bevor er seine Worte wieder vergaß. Es fiel ihm nicht leicht und es schien etwas Ernsteres zu sein, sonst würde er nicht so stammeln. So kannte ich ihn gar nicht.
»Nichts! Ist schon gut! Lass uns reingehen, dein Onkel wartet.« Er grinste mich honigsüß an und schob mich zur Tür, als ich schon protestieren wollte. Durch die Unterbrechung von Amy hatte er den Faden verloren. Vielleicht gab es später noch eine neue Gelegenheit.
***
Ich bereute mein gut gewürztes Abendessen, denn kurz nach elf wachte ich von Durst geplagt wieder auf. Mir war heiß und meine Zunge so trocken, dass ich bei Amy nachsah, ob sie noch eine Flasche Wasser an ihrem Bett stehen hatte. Doch leider musste ich in die Küche laufen. Amy schlief schon, als ich leise unser Zimmer verließ. Für gewöhnlich arbeitete Onkel Finley in seinem Arbeitszimmer meistens noch bis spät in die Nacht hinein. Daher wunderte ich mich auch nicht, dass noch Licht brannte. Sein Arbeitszimmer war immer abgeschlossen, wenn er nicht zu Hause war, es war für uns Mädchen tabu. All seine Geschäftsgespräche hielt er hinter verschlossener Tür, daher staunte ich, als jene Tür nur angelehnt war.
Leise lief ich die Stufen hinunter, als ich plötzlich eine aufgebrachte Stimme hörte. Vorsichtig stieg ich ein paar Stufen weiter hinunter. Mit wem sprach er und wieso war er so aufgeregt? Wer war bei ihm? Erst als ich kurz vor seinem Arbeitszimmer stand, erkannte ich, dass er noch Besuch hatte. Leise lauschte ich.
»Wie konnte das passieren? Ich kann nicht glauben, dass sie Amy gefunden haben!«, rief er aufgebracht.
»Ich kann dir nicht sagen, ob es so ist, aber es gibt Anzeichen dafür. Einwohner berichteten von einer ungewöhnlichen Krähe, hier in dieser Gegend. Es ist möglich, dass es sich um eine Maori handelt. Wir können uns aber auch täuschen, Fin. Ich persönlich halte es für möglich, dass es der Spion war. Das Beste ist, wenn wir einfach unauffällig alles weiter beobachten, mehr können wir ohnehin nicht tun.«
Ich hörte, wie Onkel Finley nervös durchs Zimmer lief.
»Du bist gut, Vico!«, rief er sarkastisch. »Wir müssen Amy unter allen Umständen beschützen, statt hier abzuwarten. … Ich könnte mit ihr weggehen. Ich kann für die Mädchen ein neues Zuhause finden.«
»Glaubst du im Ernst, die würden sie nicht finden? Mach dir nichts vor, wenn die Taluris sie erneut finden wollten, dann würden sie das auch. Es war bisher eine Frage der Zeit und du wusstest das. Beruhige dich, Fin! Sag deinen Sicherheitsleuten, sie sollen die Augen und Ohren noch besser offen halten. Jetzt überstürzt Bayville zu verlassen, wäre einfach zu auffällig und würde noch mehr von ihnen herlocken«, sagte die Stimme, die mir unbekannt war. Wahrscheinlich gehörte sie diesem Vico.
Was war hier los? Mir pochte das Herz bis zum Hals. Wer suchte nach Amy? Wer waren diese Taluris? Gebannt trat ich näher an die Tür und lauschte.
»Aber ich muss doch irgendetwas tun können? Ich kann doch nicht tatenlos hier sitzen und einfach nur abwarten, bis sie sie zur Schlachtbank führen.«
Nach diesem Satz hörte ich, wie Onkel Finley sich in seinen Sessel vor dem Schreibtisch fallen ließ. Es wurde still im Zimmer. Sekunden vergingen, in denen sich Onkel Finley zu fassen versuchte. Ich hörte noch weitere Schritte, die durchs Arbeitszimmer liefen.
Ich hielt meinen Atem an, da ich glaubte, man könnte ihn sonst hören, und auch wie mein Herz raste. Was verheimlichte Onkel Finley uns?
»Wenn sich die Taluris hier aufhalten sollten, werde ich mit den Mädchen Bayville verlassen«, hörte ich Onkel Finley entschlossen sagen. »Ich werde veranlassen, dass man das Nötigste für eine Flucht zusammenpackt, außerdem soll mein Sicherheitsteam Nachforschungen anstellen. Dann werden wir schnell wissen, ob an euren Daten und Beobachtungen etwas dran ist.«
Jetzt hörte ich deutlich Schritte, die sich der Tür näherten. Schnell schlich ich barfuß weiter durch die Eingangshalle in die Küche, schloss leise die Tür und wartete herzklopfend ab, bis die Schritte verhallten.
Was war hier los? Das Gespräch zwischen Onkel Finley und dem Fremden wirkte verstörend auf mich. Wieso und vor wem war Amy in Gefahr? Und wer waren die Taluris? Und was hatte das alles mit dieser Krähe zu tun? Ich verstand kein Wort. Die gleiche Unruhe, die Onkel Finley in seiner Stimme hatte, beschlich mich. Eine Tür wurde geschlossen, als es schließlich im Haus still wurde. Jetzt konnte ich mich wieder sicher in mein Zimmer zurückschleichen, ohne erwischt zu werden. Schnell und lautlos nahm ich die Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und tappte leise nach oben in mein Bett.
Erst mal war an Schlaf nicht mehr zu denken. Meine Gedanken schlossen sich um das belauschte Gespräch. Jedoch ergab das alles für mich keinen Sinn. Irgendwann später fand ich endlich in den Schlaf.
Terry fuhr uns wie jeden Morgen zur Schule. Hätte ich gestern Abend das Gespräch nicht belauscht, wäre mir nicht aufgefallen, dass er ständig in den Rückspiegel sah.
Glaubte er, jemand würde uns verfolgen? Vorsichtig warf ich einen Blick aus der Heckscheibe unseres Wagens, doch nichts verdächtiges konnte ich dort entdecken. Auch auf dem Schulparkplatz ließ er sich an diesem Morgen mehr Zeit als sonst, bis er uns die Tür öffnete. Er wählte einen Parkplatz etwas abseits des Schulgebäudes.
»Wieso parkst du hier, Terry?«, maulte Amy während sie ausstieg. Auf dem Parkplatz direkt an der Privatschule gab es Lehrerparkplätze und dahinter, zwischen einer Wiese, die Parkplätze für die Schüler. Terry hatte die Limousine direkt an der Schulgrenze geparkt. Von dort aus hatte er einen guten Überblick auf das gesamte Gelände.
»Ich dachte, bei dem schönen Wetter würdet ihr euch gerne noch die Beine vertreten, bevor ihr den ganzen Tag in der Schule sitzt«, antwortete er und nur ich wusste, dass das eine Ausrede war.
»Also, bis heute Nachmittag«, sagte er freundlich. »Passt auf euch auf!«
»So ein Mist!«, fluchte Amy, als wir zusammen zum Schulgebäude liefen. Sie lief hinter mir her und wunderte sich, da ich nicht auf ihren Ärger reagierte.
»Was ist mit dir los? Warum bist du so still heute? Hast du schlechte Laune?«
»Nein, ich habe keine schlechte Laune. Ich hab nur schlecht geschlafen. Das ist alles«, erklärte ich ihr und hoffte, mein besorgtes Grau, ein Schweif verschwiegenes Weiß und das wenige Rot, würden ihr nicht auffallen. In Wahrheit ließ mich das Gespräch, das ich belauscht hatte, nicht mehr los. Doch ich musste mich zusammenreißen, wenn ich nicht wollte, dass Amy etwas bemerkte. Den ganzen Morgen über strömte diese Mischung aus mir, was meiner Schwester natürlich nicht verborgen blieb.
Sofort versuchte ich, an etwas anderes zu denken, damit meine Aura einen anderen Farbton abgeben würde. Doch es war schwer, sich nicht die tausend Fragen zu stellen, die ständig in meinem Kopf kreisten. Mein Glück war, dass Amy zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um genauer darauf einzugehen.
Wir hatten noch ein paar Minuten, bevor der Unterricht begann. Ich musste unbedingt noch mit Sandy sprechen. Sie stand schon mit ein paar anderen Schülern vor dem Haupteingang in der Sonne.
»Hi, ihr zwei!«, rief sie uns fröhlich entgegen. Amy begrüßte sie mit Küsschen, während ich sauer dreinblickte.
»Hi, Sandy! Kann ich dich kurz sprechen?«, fragte ich und entfernte mich ein paar Schritte von der Gruppe, die mich anstarrte.
»Klar, was ist los? … Ach, wenn du mir wegen der Sache von Samstag eine deiner Standpauken halten willst, dann kannst du dir das sparen. Ich weiß, was du mir sagen willst«, versuchte sie mich zu beschwichtigen.
»Ich will nur, dass du Amy nicht in Schwierigkeiten bringst und so eine Aktion, wie am Samstag, läuft nicht mehr!«
»Jetzt krieg dich wieder ein! Es ist ja schließlich nichts passiert! Außerdem kann Amy ja selbst entscheiden, ob sie mitkommt oder nicht«, gab sie schnippisch zurück.
Sandy nahm mich nicht ernst, so beschloss ich, meinen Tonfall warnender klingen zu lassen. Dazu trat ich noch näher zu ihr hin und sprach absichtlich leiser.
»Amy wird auf keinen Fall mehr mit dir nach Queens gehen. Meine Schwester und ich haben einen Deal, und wenn ich herausfinden sollte, dass sie sich nicht daran hält, weil du sie dazu überredet hast, dann werde ich dafür sorgen, dass du Schwierigkeiten in der Schule und auch mit der Fürsorge bekommst. Hast du mich verstanden? Ich meine das wirklich ernst, Sandy.« Damit ließ ich die perplexe Freundin meiner Schwester einfach stehen und ging ins Schulgebäude. Deutlich spürte ich ihren Blick in meinem Rücken, doch ich sah mich nicht mehr nach ihr um. Ob ich sie damit einschüchtern konnte, wusste ich nicht, doch was ich genau wusste, war, dass ihre Eltern ihr die Freiheiten kürzen würden, wenn die Fürsorge sich bei ihnen melden würde. Erklärungsversuche, warum ihre Tochter mutterseelenallein über Wochen hinweg ohne Aufsicht war, brachten auch reiche Eltern in Bedrängnis.
Sandy war Amys Freundin, nicht meine. Es war mir egal, was sie über mich dachte, solange ich Amy in Sicherheit wusste. Laut Onkel Finley war sie wirklich in Gefahr. Warum und wieso, musste ich erst noch herausfinden.
Den ganzen Vormittag konnte ich mich nicht konzentrieren. Beim Frühstück sah Onkel Finley nicht gut aus. Seine dunklen Schatten unter den Augen zeugten von einer schlaflosen Nacht. Seine Haut wirkte grau und in seinen Augen konnte ich Besorgnis lesen. Doch ich ließ mir nichts anmerken. Ich würde versuchen, herauszubekommen, was hier los war.
In den ersten beiden Stunden hatten wir Geschichte. Wie durch Watte nahm ich Mr. Enis Unterricht wahr. Auf die amerikanische Revolution hatte ich an diesem Morgen überhaupt keine Lust. Doch ich beherrschte mich und tat so, als würde ich interessiert mitschreiben.
Sandy und Amy wurden in dieser Stunde mehrfach ermahnt, ihre Privatgespräche endlich einzustellen. Doch erst, als ich meiner Schwester einen bösen Blick zuwarf, war es still in der Klasse. Als dann auch noch die dritte und vierte Stunde überraschend ausfiel, war ich froh, endlich über das nachdenken zu können, was ich gestern Nacht erfahren hatte.
Es war so schönes Wetter. Die Sonne strahlte bereits den ganzen Morgen am azurblauen Himmel und hatte die Luft angenehm erwärmt. Einige aus meiner Klasse beschlossen, sich auf der Schulwiese in die Sonne zu legen und zu chillen, während Amy mit ein paar Freundinnen zusammenstand und tuschelte. Ich konnte mir schon denken, worüber. Es war uns Schülern strikt verboten, das Schulgelände zu verlassen. Jedoch kümmerten sich die Lehrer nie darum, wenn sich einige von uns nicht an die Regeln hielten.
***
Ganz in der Nähe gab es das Roberts, einen Coffeeshop, in dem man die tollsten Kaffeekreationen und Milchshakes trinken konnte. Der Laden war sehr beliebt in Bayville und ein magischer Anziehungspunkt für junge Leute, da der Besitzer es geschafft hatte, einen Popstar als Werbeträger zu engagieren.
Ich betrat den Schulhof und streckte mein Gesicht in die Sonne. Zwei freie Stunden, nur für mich allein.
»Jade, ich will mit den anderen ins Roberts gehen. Gehst du mit?«, fragte Amy. Sie schien nervös zu sein. Unruhig nestelte sie mit ihren Fingern am Reißverschluss ihrer Jacke. Sie glaubte natürlich, dass ich ihr auch dies verbieten würde. Irgendwie tat es mir auch leid.
»Nein, aber geh nur. Ich bleibe hier und genieße die Sonne.«
Das Roberts war nur ein paar Minuten von unserer Schule entfernt. Außerdem waren noch einige Mädchen dabei. Sie lächelte mich an und winkte mir noch einmal zu, bevor sie sich umdrehte und verschwand.
Ich wiederum suchte mir ein einsames Wiesenstück aus, wo mich niemand sah und auch nicht stören konnte. Die Sonne war so warm, dass ich mir den Pullover auszog und ihn als Kissen benutzte. Bequem liegend schloss ich meine Augen und genoss die Ruhe, die mich umgab. Der Wind raschelte in den Bäumen und die Luft schmeckte nach Sommer.
Von einer Gefahr hatte Onkel Finley gesprochen, in der Amy sich befand. Immer mehr keimte der Verdacht in mir, dass er Feinde haben musste. War er beruflich an falsche Leute geraten, die vielleicht kriminell waren? Wurde er vielleicht erpresst? Oder hatte er selbst etwas Kriminelles getan? Das ganze seltsame Gespräch machte mir Angst.
Schnell setzte ich mich aufrecht hin und versuchte, die dunklen Gedanken zu vertreiben. Mr. Chang erzählte uns, dass Meditation zur inneren Gelassenheit und auch zu klareren Gedanken verhelfen konnte. Seit unserer ersten Trainingsstunde war die Meditation ein wichtiges Ritual. Vielleicht würde es mir danach besser gehen.
Ich setzte mich in den Schneidersitz, suchte eine bequeme Haltung und schloss die Augen. Mein Herz klopfte gleichmäßig und ruhig in einem Takt, doch meine innere Stimme konnte ich nicht eindämmen, der innere Frieden überkam mich nicht. Von Weitem hörte ich Schüler laut lachen und das Motorengeräusch einiger Autos, die an der Straße vorbeifuhren, störten meine Konzentration.
Aber da war noch ein anderes Gefühl. Ich war nicht allein. Sobald ich es das erste Mal gespürt hatte, wurde es stärker. Jemand beobachtete mich. Ich sah mich um, suchte das Gelände ab. Niemand war zu sehen, doch die Augen, die mich erspähten, fühlte ich ganz deutlich. Wie war das möglich? Konnte man so etwas fühlen? Oder überkam mich nur Panik, weil Amy in Gefahr schwebte? Noch einmal sah ich mich um. Die Schulwiese war leer. Ich sah zum Schulgebäude, zu den Fenstern. Vielleicht sah ein Lehrer oder ein Schüler zu mir herunter? Aber auch dort konnte ich nichts erkennen. Hinter mir lag der Village Woods Park. Ein kleiner Wald, der vielen Schulklassen schon ein paar Ausflüge beschert hatte. In manchen Sportstunden hatten wir dort für unseren alljährlichen Marathonlauf trainiert. Ich mochte diesen Wald schon immer. Onkel Finley war früher oft mit uns dort spazieren gegangen.
Lange sah ich in den Wald hinein. Vielleicht hielt sich jemand dort versteckt und wollte mich erschrecken? Doch nichts war zu sehen. Nur die vielen Bäume, die eng aneinander standen und einige Büsche.
Plötzlich hörte ich ein kurzes Krähen und dann sah ich sie. Gänsehaut überzog meine Haut. Sie hatte mich erschreckt. Diesmal saß sie auf einem Ast, ganz in meiner Nähe. Noch nie konnte ich sie aus so einer geringen Entfernung bewundern. Ihre kobaltblauen Flecken leuchteten in der Sonne. Ungewöhnlich war ihre Größe, fast beängstigend. Was war mit dieser Krähe? Der Fremde hatte sie gestern in dem Gespräch mit meinem Onkel erwähnt. War ich nun auch in Gefahr? Aber das war doch nur ein Vogel!
Zugegeben, er war ungewöhnlich und erzeugte in mir ein Unbehagen, dennoch war es nur ein Tier. Ich beobachtete ihn weiter, als er schlagartig von etwas abgelenkt wurde. Die Krähe wendete ihren Blick von mir und spähte in den Wald, dabei stieß sie ein lautes Krächzen aus und das Echo hallte aus dem Park. Es schien mir fast so, als würde sie jemanden rufen. Und tatsächlich. Ein weiterer Schauer überkam mich, als ich eine Gestalt im Dickicht des Waldes erkennen konnte. Da war ein Mann. Sein Gesicht konnte ich noch nicht erkennen. Er lief langsam näher und blieb an dem Baum, auf der die Krähe saß, stehen. Sein Blick ging mir durch und durch. Seine grauen Augen starrten mich unentwegt an. Er war groß und hatte einen breiten Oberkörper. Er sah sehr sportlich aus. Und er erinnerte mich an den Typ aus dem Club. Ich schätzte ihn auf etwas über zwanzig. Aber ich konnte mich auch täuschen. Sein pechschwarzes Haar war kurz und einige längere Strähnen hingen ihm lockig ins Gesicht. Seine Wangenknochen traten leicht hervor und von seinem Teint her hätte ich ihn südländisch eingeschätzt. Er trug eine dunkle Hose und ein weißes T-Shirt, das ich unter seiner schwarzen Lederjacke erkennen konnte. Er wirkte cool, unnahbar und draufgängerisch.
Ich wollte ihm etwas zurufen, doch meine Stimme hatte sich in Luft aufgelöst.
Ohne, dass er seinen Blick von mir nahm, streckte er seinen Arm aus und sofort flog die Krähe zu ihm, landete sanft auf seinem Unterarm. Bedächtig streichelte er sie. Immer noch sah er mich an und ich fragte mich, was das alles zu bedeuten hatte. Mein Körper war unfähig, sich zu bewegen. All meine Instinkte schrien, ich solle weglaufen. Das Gefühl, in Gefahr zu sein, wurde stärker, doch da war noch etwas, das ich nicht deuten konnte. Mein Blut rauschte in meinen Adern und ich fühlte Hitze, die mich bis in den letzten Winkel meines Körpers durchdrang. Meine Haut prickelte unter seinem Blick. Mein Gesicht, mein Oberkörper und meine Arme brannten wie Feuer und es pochte merkwürdig an einigen Stellen. Der Drang, über die pulsierenden Stellen zu streichen,
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Lektorat: Bookrix: Sandra Nyklasz / Anja Horn
Tag der Veröffentlichung: 19.04.2016
ISBN: 978-3-7396-4943-6
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