Der Zauber am Ende des Tages
Any Cherubim
Es ist schwierig, mit Lu befreundet zu sein. Sie ist wie eine Rebellion, stürzt sich in mein Leben und wirbelt alles durcheinander - bringt mich um den Verstand.
Matt fällt aus allen Wolken - ausgerechnet er muss Lucinda Godluc, die verrückte Pummelelfe heiraten.
Was sie verbindet – die Hoffnung, was sie trennt – die Vergangenheit.
Ist ihre Hoffnung stark genug, um die Vergangenheit zu vergessen?
Mein Herz rast, während ich das Gelächter höre und die vielen Blicke auf mir spüre. Ich bin nackt, stehe mitten in der Umkleide unserer Schwimmhalle und versuche verzweifelt, meine Brüste und Scham mit den Händen zu bedecken. Leise weine ich, während ich in die Gesichter blicke, die mir wie Fratzen von Monstern erscheinen. Tränen strömen mir übers Gesicht, meine Hände zittern und sind zu klein, um alles zu schützen. Verzweifelt drehe ich mich im Kreis und bemerke, wie das Lachen noch lauter wird. Ich will hier weg – so schnell wie möglich. Je mehr ich versuche, mich zu schützen, desto mehr lachen sie, spotten, zeigen mit dem Finger auf mich. Fies waren sie schon immer. Aber dies hier übertrifft alles, was ich bisher aushalten musste. Die Jungs aus meiner Klasse krümmen sich vor Lachen. Die Mädchen, die nie wirklich meine Freundinnen waren, kichern und Lynn, die Beliebteste, verschränkt ihre Arme und sieht mich herablassend an.
Ich will sterben – am liebsten hier und jetzt. Dann wäre alles vorbei und ich würde endlich fort sein – fort von diesem Ort, an dem ich sowieso nie sein wollte. Ich bin ihnen völlig ausgeliefert. Verzweifelt suche ich nach einem Kleidungsstück, mit dem ich mich bedecken kann – einem Handtuch oder einem Fetzen Stoff, irgendwas - doch hier ist nichts. Es ist hoffnungslos, die Tür ist versperrt.
Direkt davor steht der Junge, dem ich das alles zu verdanken habe - in den ich bis vor ein paar Minuten noch so verknallt gewesen bin. Oh Gott! Mein Herz rast so wild, als würde es gleich zerspringen. Ich schaffe es nicht, ihm in die Augen zu schauen.
»Lucinda, weißt du eigentlich, wie fett du bist?«, fragt Lynn und lacht hämisch dabei. Ich kann nichts erwidern, weil mein Mund zu trocken ist. Ich schluchze. Sie hat ja Recht. Ich bin dick, klein und hässlich. Ich habe rotes, kurzes Haar, Sommersprossen und eine Zahnspange. Und weil irgendjemand dort oben dachte, dass ich noch nicht hässlich genug war, hat man mich fast blind wie einen Maulwurf gemacht. Deshalb trage ich eine Brille mit dicken Gläsern und einem breiten Gestell.
Lynn ist der Mittelpunkt unserer Klasse. Hübsch, frech und Lieblingsschülerin der Lehrer. Wo sind die eigentlich, wenn man sie mal braucht?
»Lasst mich gehen«, flehe ich. Doch das scheint sie alle nicht zu interessieren. Sie lachen weiter und spotten über mich. Ich höre ein Klicken. Oh nein! Wann ist dieser Albtraum zu Ende?
Eine Kamera ist auf mich gerichtet. Jemand fotografierte mich. Ich spüre, wie die Kraft in meinen Beinen nachlässt - drohe, zusammenzubrechen.
»Das glaubt uns sonst keiner. Lucinda nackt! Die dicke Sau von Hinsdale! Hey, findet ihr nicht auch, dass sie aussieht wie ihr Hausschwein? Wie heißt dieses Vieh noch gleich?«, fragt Lynn und sieht zu dem Jungen, der als Einziger nicht lacht.
»Bertha«, murmelt er und grinst sie an. Das gleiche Grinsen, welches er auch mir schon geschenkt hat. Jetzt finde ich es nicht mehr süß. Es wirkt schmutzig und böse. Hasserfüllt blicke ich ihm entgegen. Wie konnte ich mich nur so in ihm täuschen? Wochenlang hat er mir Freundschaft vorgespielt und ich bin darauf hereingefallen!
Er sollte mich toll finden und witzig. Ich wollte so sein wie Lynn. Ich wollte sogar meine Haare wachsen lassen, damit er mich trotz meiner Extrakilos hübsch fand. Ich dachte, er spielt nur in der Schule den coolen Typen und ist privat ein wirklicher Freund. Doch da habe ich mich getäuscht. Jetzt hasse ich ihn dafür, fühle den Schmerz, der sich tief in mich hineinfrisst.
Mit aller Kraft versuche ich, mich auf den Beinen zu halten, und gerade als ich glaube, am Ende zu sein, wird die Tür von außen geöffnet und eine erwachsene Stimme scheucht meine Mitschüler aus der Umkleide. Jemand spricht mit mir und ich spüre warme Hände auf meinem Arm. Das Gelächter verstummt schließlich. Es ist jetzt still und ich kann nicht glauben, dass ich tatsächlich alleine bin. Zögerlich rapple ich mich auf, sehe mich um und öffne ein Schließfach nach dem anderen. Verdammter Mist! Wo sind nur meine Sachen?
»Lucinda?«
Ich blicke auf und sehe in das Gesicht von Mrs. Miller, meiner Sportlehrerin. Sie mag mich nicht sonderlich, aber jetzt erhoffe ich mir, dass sie mir helfen wird. Sie sieht an mir herunter und da bemerke ich ihren abwertenden Blick. Ihre Mundwinkel zucken, als würde sie sich ein Grinsen verkneifen.
»Ich suche meine Kleider. Mrs. Miller, bitte helfen Sie mir!« Sie mustert mich von Kopf bis Fuß. Ihre Blicke sind wie kleine Nadeln auf meiner Haut und zeigen mir deutlich, wie erschrocken sie über meinen Anblick ist. Sie stiert auf meinen Bauch.
»Wo hast du denn deine Kleider?«, will sie wissen, ohne sich zu rühren. Ein kleines Grinsen huscht über ihre Lippen.
Gerade möchte ich etwas sagen, als die Tür erneut aufgeht und weitere Lehrer die Umkleide betreten. Verzweifelt suche ich nach einem Versteck.
»Ich kann es nicht glauben, Camile. Wir haben alle gedacht, es sei nur ein Scherz, dass Lucinda nackt ist«, sagt einer der Lehrer.
Mein Schluchzen wird lauter und ich spüre, wie erneut Panik über mich hereinbricht, als sämtliche Lehrer sensationslüstern die Umkleide betreten und mich anstarren. Einige kichern hinter vorgehaltener Hand. Mein Geschichtslehrer reißt entsetzt die Augen auf - der Ekel steht ihm ins Gesicht geschrieben.
Nein! Ich will, dass es aufhört. Ich kann nicht mehr. Immer mehr Lehrer stehen jetzt in der Umkleide und niemand hilft mir. Ihre Gesichter verschwimmen vor meinen Augen und ich muss die Erniedrigung ertragen.
Rückwärts stolpere ich gegen die Wand, die ich kalt an meinem nackten Rücken spüre.
Jetzt treten die Lehrer näher und ich bekomme noch mehr Angst. Das Lachen wird noch lauter und plötzlich stehen nicht nur die Lehrer in der Kabine, sondern ganz Hinsdale! Sogar meine Eltern und Mrs. Reabut, die Verkäuferin aus unserer Bäckerei. Die Wände verschwinden und aus der Umkleide wird der große Platz vor dem Rathaus. Alle lachen laut, kommen langsam auf mich zu. Ihre Stimmen hallen plötzlich in meinen Ohren und sie strecken ihre Hände nach mir aus, als wollten sie nach mir greifen. Oh Gott!
***
Schweißgebadet schrecke ich hoch. Mein Atem geht schnell und ich brauche ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass es wieder nur der Traum war. Es ist schon ein paar Monate her, dass ich diesen blöden Traum das letzte Mal hatte. Nur sehr langsam verblassen die Bilder in meinem Kopf und zurück bleiben ein brummender Schmerz und die Erleichterung, endlich aufgewacht zu sein. Ich verdränge die Bilder schnell und versuche, nicht mehr daran zu denken.
Neben mir vernehme ich ein leises Schnarchen. Wo bin ich? Und wer zur Hölle ist dieser Typ?! Ich sitze nackt in einem fremden Bett, neben mir liegt ein Kerl und ich muss mich anstrengen, um mich zu erinnern, was in der letzten Nacht geschehen ist.
Ich blicke ihn an. Sein Gesicht hat er tief in die Kissen vergraben und sein Haar ist verstrubbelt. Eigentlich total niedlich. Er hat mir gefallen und er wirkte irgendwie verloren, wie er so einsam an der Bar saß. Ich habe eine Schwäche für einsame, schräge Kerle. Und dieser hier ist ein ganz besonderes Exemplar - typischer Anzugträger, aber irgendwie völlig deplatziert.
Sein Oberkörper hebt und senkt sich gleichmäßig. Plötzlich spüre ich wieder seine heißen Küsse auf meiner Haut, seine Berührungen an meiner empfindlichsten Stelle. Mannomann! Die letzte Nacht war wirklich ... heiß! Es kribbelt verräterisch in meinem Schoß und eine Welle der Lust erfasst mich. Kurz überlege ich, ob heute Morgen eine zweite Runde möglich wäre. »Reiß dich zusammen, Lu!«, ermahne ich mich im Stillen. »Du wirst dich jetzt brav anziehen und dann verschwinden.« Es muss noch ganz früh sein.
Erinnerungsfetzen von der Auseinandersetzung, die ich mit meinen Eltern hatte, bevor ich einfach abgehauen bin und in dieser Bar landete, blitzen auf. Meine Kopfschmerzen werden schlimmer, je mehr ich darüber nachdenke.
Leise stehe ich auf, sammle meine Klamotten ein, die verstreut überall auf dem Boden liegen, und schließe die Badezimmertür hinter mir.
Ich werfe einen Blick in den Spiegel und erschrecke. Mein Gott! Die Reste der Wimperntusche haben sich wie dunkle Schatten um meine Augen gelegt und meine Haare stehen wild vom Kopf ab. Ich wasche und kämme mich und finde sogar noch eine verpackte Einweg-Zahnbürste. Als ich angezogen und einigermaßen wach bin, riskiere ich einen Blick zu dem Typen. Ob er noch schläft? Eine Gänsehaut bildet sich, wenn ich nur daran denke, wie er mich heute Nacht genommen hat. Ich schmunzle, weil er sich als Leo vorgestellt hat. Er hat mich gestern angeschwindelt, da bin ich mir sicher. Aber jetzt will ich wissen, wie er wirklich heißt.
Kurzerhand beschließe ich, seine Sachen nach einer Visitenkarte zu durchsuchen. Meistens haben die Anzugträger welche in ihrer Brieftasche.
Ich schleiche zu seiner Hose, die neben dem Bett auf dem Boden liegt, und durchsuche sie. Mir klopft ein wenig das Herz. Wenn er jetzt aufwachen würde, würde er mich für eine Diebin halten.
Er bewegt sich, ich halte in meiner Bewegung inne. Im Schlaf legt er seine Hand auf meine Bettseite, ich hoffe inständig, dass er durch die Leere neben sich nicht wach wird. Aber er schläft weiter. Ich beeile mich, nehme seine Brieftasche und öffne sie. »Wollen wir mal sehen, ob Leo wirklich Leo ist«, flüstere ich und starre auf seinen Ausweis. Ich bin wie erstarrt und kann nicht atmen. Ich traue zuerst meinen Augen nicht, halte die Buchstaben für eine Sinnestäuschung.
Matt Baldwin
steht in großen Buchstaben auf seinem Ausweis. Sein wahrer Name hallt in mir nach, reißt meine alten Wunden auf, die sich wie tausend Nadelstiche auf meiner Haut anfühlen. Augenblicklich verkrampfe ich. Wut und Trauer, gemischt mit Hass lodern in mir auf. Matt Baldwin - jetzt verstehe ich auch, warum ich in dieser Nacht von meiner Vergangenheit geträumt habe. Wie schön, dass mein Unterbewusstsein noch funktioniert. Ich wünschte mir, dass meine Alarmglocken früher geläutet hätten.
Matt Baldwin. Ich starre ihn an. Natürlich! Wieso ist mir das gestern Abend nicht schon aufgefallen?
Er hat sich verändert, ist erwachsen geworden. Ich habe mir damals geschworen, ihn für alle Zeiten zu hassen. Sämtliche Sympathie, die ich gestern - und auch heute Morgen noch - für ihn empfunden habe, ist mit einem Mal vernichtet.
Er hat mich zum Gespött von ganz Hinsdale gemacht. Nach dieser Sache weigerte ich mich, in die Schule zu gehen, und als meine Eltern mich schließlich zwingen wollten, habe ich einfach geschwänzt. Das hatte natürlich Konsequenzen, aber ich war mehr als einverstanden, als man mich in ein Internat steckte. Dass dieses Internat weit weg von Hinsdale war, war mir nur recht. Je weiter, desto besser.
Ich wurde so von ihm erniedrigt, dass ich von da an beschloss, niemals mehr einem Jungen hinterherzulaufen. Nie wieder wollte ich mich so fühlen!
Die Erinnerungen und der Schmerz von damals brechen erneut in mir auf und ich kämpfe verzweifelt mit den Tränen. Ich muss hier weg - sofort! Ich schnappe meine Tasche und verlasse leise das Zimmer, in der Hoffnung, ihn nie wiederzusehen.
Matt
Seit Stunden saß ich in der vollen, verrauchten Bar in Hinsdale und genehmigte mir bereits den dritten Drink. Warm rann die goldene Flüssigkeit meine Kehle hinab. Das war genau das, was ich jetzt brauchte. Es schwächte den Schmerz, meinen verletzten Stolz und das Gefühl, versagt zu haben. Niemand achtete auf mich. Nur der Barkeeper polierte seine Gläser und blickte mich fragend an. Bestimmt wartete er darauf, dass ich anfangen würde, zu erzählen. Aber darauf konnte er lange warten. Mit niemandem wollte ich sprechen. Man sollte mich einfach in Ruhe lassen. Ich hatte die Schnauze voll von den gutgemeinten Ratschlägen und den Vorwürfen. Der schrille Ton meiner Mutter hallte noch in meinem Kopf, als ich ihr sagte, dass Hannah die Hochzeit abgesagt hatte. Danach herrschte Chaos.
Zwei Barhocker weiter setzte sich jemand neben mich.
»Einen Martini, bitte.« Die Stimme klang fast noch zu jung für Alkohol. Kurz linste ich zu ihr rüber, erhaschte einen Blick auf ihre Hände. Dann sah ich wieder in mein Glas. Ihr Nagellack war grün und ihre Nägel kurz - was kümmert´s mich!
Hannah trug selten Farbe auf ihren Nägeln. Sie war ein sehr natürlicher Typ – schön und ein kleines bisschen langweilig.
Hannahs Gesicht tauchte vor meinem inneren Auge auf. Verdammt! Wie konnte sie mir das nur antun? Und dann noch mit so einem Kerl?! Ich begriff es immer noch nicht. Nach allem, was ich für sie getan hatte, hat sie mich tatsächlich für so einen Stricher verlassen. Ekel überkam mich. Ich war so ein verdammter Idiot, war auf ihr unschuldiges Gesicht hereingefallen. Wie lange hatte sie mich schon mit ihm betrogen? Tage? Wochen? Monate? Ich sollte dem Kerl noch einmal ordentlich die Fresse polieren. Sein dämliches Gesicht hatte ich genau vor mir, wie es grün und blau von mir bearbeitet wurde, damals auf der Vernissage. Ich grinste zufrieden und leerte mein Glas.
»Was?«, fragte die Frau neben mir. Offensichtlich redete sie mit mir, aber ich war mir nicht sicher und so schaute ich mich um, ob sie auch wirklich mich angesprochen hatte.
»Meinen Sie mich?«, fragte ich und sah sie zum ersten Mal genauer an.
»Ja genau, Sie! Was gibt es zu grinsen?«, wollte sie in einem gereizten Ton wissen.
»Ich habe nicht wegen Ihnen gegrinst!«
Sie war hübsch, hatte lebendige braune Augen und kurzes dunkles Haar. Eine pink gefärbte Haarsträhne fiel ihr in die Augen. Obwohl ich Frauen mit langem Haar bevorzugte, gefiel sie mir. Mein Blick wanderte über ihren Körper.
Sie war schlank, trug Jeans, Stiefel und ein T-Shirt, das ihr auf einer Seite von der Schulter gerutscht war.
Auch sie musterte mich. Dabei kniff sie ihre Augen zusammen und sah mich fragend an. »Liebeskummer?«
Ich antwortete nicht auf ihre Frage, was sie als Zustimmung aufnahm. Sah man mir das etwa an?
»Ich kenne das«, sagte sie jetzt versöhnlicher. »Das ist immer Scheiße! … Hat sie dich beschissen?«
Sollte ich darauf antworten? Schließlich ging sie das einen feuchten Dreck an. Ich entschied mich, nichts darauf zu erwidern.
»Tut weh, oder?«, bohrte sie weiter.
Sie erinnerte mich wieder an dieses leere und schmerzhafte Gefühl, welches ich durch die Drinks betäuben wollte und Ärger stieg in mir auf. Mürrisch orderte ich mir einen weiteren.
»Dann war sie es bestimmt nicht wert!«, sagte sie, sprang von ihrem Hocker und setzte sich direkt neben mich.
»Mach dir nichts draus! Andere Mütter haben auch schöne Töchter.«
Genervt wischte ich mir über das Gesicht.
»Weinen hilft da nichts, das kann ich dir sagen«, meinte sie und legte ihre Hand tröstend auf meine Schulter.
Mitten in meiner Bewegung hielt ich inne und sah sie verwundert an. »Ich heule nicht!« Wie konnte sie nur glauben, dass ich weinte?! Ich war schließlich ein Mann! Seit Jahren hatte ich nicht mehr geweint. Obwohl Hannah mich schon sehr verletzt hatte.
»Ach so, ich dachte …!«, kicherte sie jetzt. »Nichts für ungut. Obwohl ich finde, euch Kerlen würde es mal guttun. Weinen kann sehr befreiend sein.«
Eigentlich wollte ich hier in Ruhe meinen Kummer ertränken, für ein paar Stunden meine Wunden lecken und jetzt saß eine nervige und plapperwütige junge Göre neben mir!
»Mir ist gerade auch zum Heulen zumute.«
Wollte ich das wissen? Ich schloss meine Augen, in der Hoffnung, dass sie sich in Luft auflöste und ich meine Ruhe haben würde. Leider war das nur eine Wunschvorstellung!
Sie wartete darauf, dass ich nach dem Grund fragte. Doch das tat ich nicht und blickte nur kurz zu ihr rüber.
»Mein Vater will mich zwingen, für ein Jahr mein Leben aufzugeben. Kannst du dir das vorstellen? Ich soll für sein Geschäft ein ganzes Jahr meines Lebens opfern und das, obwohl ich gerade dabei bin, eine Surfschule zu eröffnen.« In einem Zug trank sie ihren Drink aus und bestellte beim Barmann gleich den nächsten.
»Ich liebe meinen Vater, aber das ist einfach zu viel verlangt.«
Ja, das konnte ich verstehen. Aber das Leben war schließlich kein Ponyhof. Wir alle hatten unsere Probleme.
»Ein Jahr kann schnell vorbeigehen«, war das Einzige, was ich dazu sagte.
»Spinnst du?! Das Angebot für die Surfschule bekomme ich nur jetzt. Ein Freund von mir will das Geschäft aufgeben und bietet es mir für einen Spottpreis an. So ein Angebot bekomme ich nie wieder!«
»Tja, ich würde sagen, das nennt man dann Pech!«
»Und wenn ich mich weigere und dieses Jahr nicht durchziehe, dann dreht mein Dad mir den Geldhahn zu«, sagte sie und ignorierte meinen Kommentar. »Was ist mit dir? … Wirst du sie zurückholen - ich meine deine Freundin?«
Zurückholen? Ehrlich gesagt hatte ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Obwohl ich mir insgeheim wünschte, dass Hannah mich um Verzeihung bitten würde - auf den Knien natürlich!
»Nein, sie hat sich entschieden!«, murrte ich.
Sie schwieg endlich - Gott sei Dank. Nach einer Weile sah ich zu ihr rüber. Diese lebendige und fröhliche Art war aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie sah jetzt wirklich traurig aus und ich bekam ein schlechtes Gewissen. Etwas regte sich in mir und wollte sie am liebsten trösten. Doch ich hielt mich zurück.
Jemand warf ein paar Münzen in eine Musikbox und kurz darauf erklang ein Countrysong aus dem Lautsprecher.
»Hey, hast du Lust zu tanzen?«, fragte sie plötzlich, begeistert von ihrer Idee.
»Tanzen?«
»Ja, warum nicht? Komm schon …!«
Gut gelaunt hüpfte sie vom Barhocker und zog an meinem Ärmel.
»Nein, ich kann nicht tanzen«, versuchte ich, mich zu wehren.
»So ein Quatsch! Jeder kann tanzen. Ich werde es dir zeigen, du wirst sehen. Es hilft dir, wieder fröhlich zu werden.«
Obwohl ich mich erst weigerte, schaffte es die Kleine, mich vom Hocker zu ziehen. Sie legte einen Arm um meine Mitte und hielt meine Hand. Sie fing an, ihre Hüften im Takt der Musik zu bewegen.
»Du musst unbedingt lockerer werden! So aus den Knien heraus, siehst du?«
Die Drinks machten sich bemerkbar – gut.
Die junge Frau war einen ganzen Kopf kleiner als ich. Wie alt sie wohl sein mochte? Ich schätzte, noch jung, vielleicht anfang zwanzig.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte ich, während ich anfing, mich nach ihren Anweisungen zu bewegen.
»Lu.«
»Lu? Was ist denn das für ein Name? … Ich bin Leo«, log ich.
Sie lachte laut. »Leo?«
»Was ist so lustig daran?«
»Nichts! Leo ist total süß! Passt aber überhaupt nicht zu dir«, meinte sie und zog mich enger zu sich. Ihr süßer Duft stieg mir dabei in die Nase. Sie roch gut, anders als Hannah.
Wir tanzten weiter, und als die Musik endete, musste ich zugeben, dass ich mich tatsächlich besser fühlte. Die Kleine gefiel mir. Ich fand sie sogar ausgesprochen sexy, mit ihrer pinkfarbenen Haarsträhne und dem grünen Nagellack.
Zwei Stunden später saßen wir beide mehr als angeheitert an der Bar. Wir kicherten und blödelten, bis der Barkeeper schließlich die letzte Runde einläutete.
»Sollen wir gehen?«, fragte Lu.
»Und wohin?«
Ihr Lächeln verschwand und ihre Augen nahmen einen verruchten Ausdruck an. »Ich glaube, ich will mit dir schlafen.«
Mit allem hatte ich gerechnet, aber niemals mit so einer direkten Antwort. Sofort wurde ich hart.
Was war schon dabei? Ich war schließlich ein freier Mann und konnte tun und lassen, was ich wollte.
»Bist du immer so direkt?«
Ein diabolisches Grinsen lag auf ihren Lippen. Lu war eine Frau, die genau wusste, was sie wollte. Das imponierte mir. Sie war anders als Hannah – fröhlich, lustig und ein wenig verrückt.
***
Was für ein grauenhafter Morgen! Mein Kopf dröhnte, als wäre ein Panzer drübergefahren, und ein fieser Muskelkater machte sich in meinen Beinen bemerkbar. Das Tageslicht fiel hell und erbarmungslos ins Zimmer, weshalb ich eine Weile brauchte, bevor ich meine Augen öffnen konnte.
Ich blinzelte, sah mich um und jetzt fiel mir ein, warum meine Muskeln schmerzten. Ich ließ mich zurück in die Kissen fallen. Was für eine Nacht! Ich starrte zur Decke. Die Kleine von gestern hatte sich schon aus dem Staub gemacht - schade, ich hätte sie gern wiedergesehen.
Ein leises Summen ertönte. Ich richtete mich auf und suchte mein Handy. Ein kleines bisschen wünschte ich mir, dass Lu mich anrufen würde, aber da machte ich mir etwas vor. Ich wusste, dass sie meine Nummer nicht hatte - zu blöd!
Das Handy zeigte unzählige Nachrichten an, fast alle von meiner Mutter. Ich löschte alle bis auf zwei Nachrichten, die mich stutzen ließen.
Es ist merkwürdig, Bruderherz.
Mum plant irgendwas. Wenn ich du wäre,
würde ich nach Hause kommen. Sandy
Beweg deinen Hintern hier her, und
zwar flott! Ich glaube, es ist ernst. Sandy
Schon hatte mich der Alltag wieder. Durch Lu hatte ich alles vergessen - zumindest für ein paar Stunden. Mir fielen meine Probleme wieder ein und am liebsten wäre ich jetzt in diesem Bett geblieben und würde nie wieder daran denken. Verdammt!
Automatisch musste ich an Hannah denken, die mich für diesen Idioten verlassen hatte. Sie hatte mich eiskalt abserviert und sich für diesen Arsch entschieden. Damit war unsere Hochzeit abgesagt.
Als ich endlich den Mut aufgebracht und meine Eltern darüber informiert hatte, war meine Mutter ausgerastet. Schließlich hatte sie Monate damit zugebracht, die Hochzeit zu planen. Es sollte das Ereignis des Jahres werden.
Außerdem hatte ich ziemlichen Mist gebaut. Ich hatte den wichtigen Auftrag für unsere Firma in den Sand gesetzt und mich auf der letzten Vernissage echt danebenbenommen. Nach all diesen Ereignissen der letzten Tage fühlte ich mich ausgebrannt und zum ersten Mal richtig rat- und lustlos. Am liebsten hätte ich mich verkrochen und einfach alles vergessen. Ich seufzte tief - es half alles nichts, ich musste mich meinen Problemen stellen.
Bevor ich zum Duschen ins Badezimmer ging, streckte ich mich noch einmal im Bett aus.
Das warme Wasser lief über meinen Körper und ich spürte, wie sich meine Muskeln entspannten. Und während ich mit geschlossenen Augen mein Gesicht unter den Wasserstrahl hielt, dachte ich an Lu. An diese kleine, wenn auch etwas durchgeknallte, junge Frau. Sie war vorlaut, frech und ungehemmt - aber irgendwie süß. Was sie dann mit mir in diesem Motelzimmer angestellt hatte, brachte meine Lenden zum Kochen.
Mist! Ich war erregt, dabei wollte ich eigentlich die Dusche beenden.
***
Je näher ich unserem Grundstück kam, desto unwohler fühlte ich mich. Mein Magen rebellierte, mein Kopf hämmerte, mir war schlecht und ich hatte das Gefühl, dass meine Beine taub wurden. Ich kam mir vor wie ein kleiner Junge, der die Zeit absichtlich vertrödelte.
Auf unserem Grundstück angekommen, fuhr ich über den Kiesweg. Mehrere weiße Lieferwagen versperrten die Zufahrt zu meinem Parkplatz. Bestimmt ließ meine Mutter gerade das große Zelt im Garten abbauen und die Blumenarrangements wieder abholen.
Ich parkte hinter einem der Lieferwagen und beim Aussteigen hörte ich auch schon ihre Stimme. Innerlich wappnete ich mich für ein Donnerwetter. Wie gewohnt gab sie den Angestellten Anweisungen.
»Die Rosen will ich draußen im Garten haben und die Lilien sollen die Eingangshalle schmücken. Sorgen Sie ja dafür, dass Sie keine Wassertropfen auf dem Marmorboden hinterlassen«, sagte sie mit drohendem Zeigefinger zu einer jungen Frau. Die Angestellte nickte und hatte Schwierigkeiten, das Liliengesteck, das größer als sie selbst war, unbeschadet ins Haus zu tragen.
Verdutzt wunderte ich mich, wieso sie die Blumen ins Haus schaffte. Während ich dem Blumengesteck hinterher schaute, entdeckte sie mich. Sie sah mehr als sauer aus und stemmte ihre Hände in die Hüften. »Wieso kommst du erst jetzt? Und wieso gehst du nicht an dein verdammtes Handy?« Sie seufzte. »Egal, du wirst es mir wahrscheinlich sowieso nicht erzählen. Komm ins Büro, dein Vater und ich müssen mit dir sprechen«, befahl sie, ließ mich stehen und ging eilig ins Haus zurück.
Mutter duldete keinen Widerspruch, deshalb folgte ich ihr durch die Eingangshalle. Überall waren Angestellte, die beschäftigt durchs Haus liefen. Aus unserer Küche hörte ich Geschirr klappern und es duftete nach Essen. Ein merkwürdiges Gefühl befiel mich. Was war hier los? Die Hochzeit wurde doch abgeblasen!?
»Pssst ... Matt!« Sandy steckte ihren Kopf durch die Tür unserer Bibliothek und winkte mich zu sich.
Meine Schwester Sandy konnte mir bestimmt sagen, was hier vor sich ging.
»Wieso bringen die Leute den ganzen Kram ins Haus, statt ihn wieder mitzunehmen?«, fragte ich und schloss die Tür hinter mir.
Sandy fuhr mit ihrem Rollstuhl ans Fenster und drehte ihn gekonnt in meine Richtung. Mittlerweile hatte sie den Bogen mit dem Ding echt raus.
»Mum und Dad haben echt getobt, weil du sie einfach vor vollendete Tatsachen gestellt hast. Und gestern war Godluc da. Sie waren stundenlang im Büro.«
»Godluc? Wieso?« Jetzt hatte sie meine volle Aufmerksamkeit.
»Das weiß ich nicht genau. Ich weiß nur, dass es um dich ging und dass sie irgendwas unterzeichnet und anschließend sogar mit Champagner angestoßen haben.«
»Angestoßen?«
»Ja, ich hab dir doch geschrieben. Wieso bist du nicht nach Hause gekommen?«
Fragend ruhten ihre blauen Augen auf mir. Sie wirkte müde und blass. Bestimmt hatte sie sich wieder mal Sorgen um mich gemacht.
»Ich war unterwegs. Aber ich kümmere mich darum. Danke, dass du mich warnen wolltest. Hast du deine Medikamente schon genommen?«
Sie hasste es, wenn ich sie danach fragte. Sie fühlte sich von uns allen kontrolliert und genau deshalb verdrehte sie die Augen.
»Jetzt geh schon, bevor Mum einen Anfall bekommt ... Und vergiss nicht, mir hinterher alles zu erzählen.« Ich zwinkerte ihr zu und schon war ich aus der Tür.
Mit Millionen Ausreden und Erklärungen stand ich vor der Bürotür meines Vaters. Jetzt würden bestimmt einige unangenehme Szenen auf mich zukommen, auch wenn eine leise Stimme mir zuflüsterte, dass ich es verdient hatte. Trotzdem hoffte ich, dass es nicht so schlimm werden würde.
Ich zupfte meinen verknitterten Anzug zurecht und klopfte schließlich an. Tief durchatmend betrat ich das Büro meines Vaters.
Matt
Mein Vater saß im Anzug an seinem schweren Eichentisch, während meine Mutter neben ihm stand und mit ihm irgendwelche Unterlagen durchging. Sofort unterbrachen sie ihre Unterhaltung. Ihre Anspannung konnte ich in ihren Gesichtern erkennen - ich wusste, dass sie gerade noch über mich gesprochen hatten.
Meine Mutter trug, wie immer tagsüber ein schwarzes Kostüm und meinen Vater kannte ich nicht ohne Anzug.
Das Büro kam mir heute viel kleiner vor, als würde es mich erdrücken, je weiter ich hineinlief. Deshalb blieb ich stehen und blickte zu meinem Vater.
»Setz dich, Matt!« Er zeigte auf den Stuhl vor dem Schreibtisch.
»Wird Zeit, dass du dich mal blicken lässt, Junge. Wir haben einiges zu besprechen.«
Erwartungsvoll setzte ich mich. Ruhig lehnte er sich in seinem Chefsessel zurück und faltete die Hände, als wollte er über seine Worte nachdenken. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass hier irgendetwas faul war.
Ich sollte etwas sagen, mich vielleicht erklären. »Wenn es um den geplatzten Auftrag mit Bilfon geht, das kann ich erklären ...«, versuchte ich, mein Fehlverhalten zu rechtfertigen. Mir war klar, ich hatte wirklich Mist gebaut.
»Geplatzter Auftrag!«, erhob meine Mutter ihre Stimme vorwurfsvoll. Mein Vater legte besänftigend seine Hand auf ihren Arm.
Doch wie so oft ließ meine Mutter seine Nähe nicht zu und schüttelte seine Hand ab. »Nein, John! Matt muss ein für alle Mal lernen, dass unsere Firma kein Spielplatz ist, auf dem er tun und lassen kann, was er will. Wie konntest du nur, Matt?«, senkte sie ihre Stimme und wandte sich jetzt mir zu. »Wenn du schon Bilfons Tochter vögeln musst, dann hättest du wenigstens dafür sorgen können, dass er das nicht mitbekommt.«
»Aber ...«, stammelte ich.
»Wie dem auch sei«, unterbrach mein Vater sie. »Das Kind ist nun in den Brunnen gefallen und wir müssen zusehen, wie wir es da wieder herausbekommen. Matt, wie du weißt, ist Baldwin Industries in ... na ja in gewissen Schwierigkeiten. Wir hätten diesen Auftrag dringend gebraucht. Dir muss doch klar gewesen sein, dass dir Bilfon mit seinem italienischen Temperament die Hölle heißmacht und uns den Auftrag nicht erteilen wird, wenn er dich mit ihr erwischt.«
Da hatte er Recht, aber ich war an diesem Abend einfach zu besoffen gewesen. Außerdem sollte Bilfon mal seiner Tochter auf den Zahn fühlen - so ein Früchtchen - schließlich war ich auch nur ein Mann.
»Und was Hannah betrifft, wir können ihr noch nicht einmal böse sein, Victoria.«
»Ich werde das dem Mädchen nicht verzeihen! Wegen eines Fehltritts gleich alles hinzuwerfen! Wenn ich immer gleich aufgegeben hätte, dann würde es diese Firma heute nicht mehr geben.«
»Vic, das gehört nun wirklich nicht hierher«, protestierte mein Vater. Ich unterdrückte ein Grinsen, weil ich das erste Mal mitbekam, wie mein Vater rot wurde, als meine Mutter aus dem Nähkästchen plauderte.
»Wie dem auch sei. Wir haben gestern Abend eine Lösung gefunden und dein Vater und ich erwarten von dir, dass du deinen Fehler wiedergutmachst und diesen Vertrag hier unterschreibst.« Sie reichte mir ein Stück Papier und blickte mich erwartungsvoll an.
Ich nahm die Unterlagen und überflog die erste Seite. An der Einleitung blieb ich hängen und musste plötzlich die Luft anhalten, als ich kapierte, was dort stand.
»Ihr wollt mit Godluc fusionieren? Seid ihr verrückt!?«, platzte es aus mir heraus. Diese Firma war schon lange scharf auf uns. Godluc war schon vor ein paar Monaten an uns interessiert gewesen und nur durch das Verhandlungsgeschick meines Vaters, konnten wir eine feindliche Übernahme verhindern - und jetzt das!? Mir war nicht klar, wie dramatisch unsere finanzielle Lage wirklich war.
»Wir haben keine andere Wahl, Matt. Diese Fusion ist unsere einzige Chance.«
Meine Augen wanderten ungläubig wieder zu dem Vertrag, bis mich der Absatz mit den Vereinbarungen stocken ließ. Einen Satz musste ich mehrmals lesen, weil ich nicht glauben konnte, dass er dort wirklich stand.
»Was?! Ich soll heiraten?! Spinnt ihr? Das kann doch unmöglich euer Ernst sein!«
»Es ist nur für ein Jahr, Matt«, versuchte mich meine Mutter zu besänftigen. Aber ich hörte deutlich das Schwanken in ihrer Stimme - sie war nervös.
»Ein Jahr?« Entrüstet stand ich von meinem Platz auf. »Wie stellt ihr euch das vor? Was ist mit Hannah? Was, wenn sie wieder zu mir zurückkommt?«
Vater war sichtlich verwirrt. »Wieso? Ich dachte, sie hat dich sitzen gelassen.«
»Ja, aber ... vielleicht merkt sie, dass es ein Fehler war und ...«
»Mach dich nicht lächerlich, Matt! Sie kommt nicht zurück und falls doch, wird sie ganz schnell erkennen, dass es vorbei ist. Außerdem stecken wir in der Klemme. Wir brauchen die Fusion. Godluc hat die Hochzeit zur Bedingung gemacht.«
»Aber ich kann doch nicht einfach irgendeine Frau heiraten! Ich kenne sie doch überhaupt nicht.«
Mutter lachte. »Natürlich kennst du sie. Lucinda Godluc. Wart ihr nicht zusammen in einer Klasse, bevor sie auf das Internat ging?«
»Lucinda? Lucinda Godluc, die ... Pummelelfe?«, gab ich geschockt und schrill von mir. Es war viele Jahre her, dass ich an sie gedacht hatte. Ein altes und nagendes Gefühl tauchte plötzlich auf und mit ihm das Bild, welches ich von Lucinda hatte - rothaarig, übergewichtig, mit Zahnspange und Brille - das Klassenopfer. Sie war ein merkwürdiges Kind, eben anders als wir anderen, sie hatte überhaupt nicht zu uns gepasst.
Damals hatte sie in ihrem rosa Elfenkostüm im Garten gespielt und war auch in diesem Aufzug mit ihrem Hausschwein Bertha Gassi gegangen, wie mit einem Hund - das war schon sehr ungewöhnlich und seltsam gewesen.
»Pummel was ...?«, unterbrach Vater meine Gedanken.
Pummelelfe - das war ihr Spitzname, den wir Jungs ihr damals gegeben hatten.
»Nichts!«, erwiderte ich schnell. »... Also, wenn ich euch richtig verstanden habe, wird Godluc mit Baldwin fusionieren, wenn ich seine Tochter heirate?« Wieso tat ein Vater so etwas? Die Zeiten, in denen Hochzeiten von Vätern arrangiert wurden, waren längst vorbei. »Was verspricht er sich davon?«, wollte ich wissen. Alles in mir sträubte sich gegen diesen Gedanken. »Ich kann und will die Pummelelfe nicht heiraten.« Wer wusste schon, wie verrückt sie heute noch war?
»Dir wird nichts anderes übrig bleiben, wenn wir die Pleite abwenden wollen«, antwortete Mutter kühl. Auch jetzt, als es um ihren Sohn ging, sprach die tüchtige Geschäftsfrau aus ihr. »Hättest du den Auftrag an Land gezogen, wäre uns das wahrscheinlich erspart geblieben.«
»Mutter, ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe und du musst ihn mir nicht ständig unter die Nase reiben«, brauste ich auf.
»Godlucs Tochter hat sich einer Gruppe von Tieraktivisten angeschlossen. Dabei kam es in der Vergangenheit immer wieder zu einigen Konflikten mit der Polizei. Ich glaube, er will einfach, dass sie vernünftig wird und du ihr zeigst, wie man Verantwortung für so eine große Firma übernimmt. Außerdem kann er sich keine schlechte Presse mehr leisten. Ständig taucht sein Name in Verbindung mit seiner Tochter und den Aktivisten in den Zeitungen und im Netz auf«, sagte mein Vater.
»Das ist ein Scherz, oder?« Ich hoffte so sehr, dass mein Vater endlich zu lachen anfing und mir sagte, dass sie mich nur reinlegen wollten. Doch ihre Gesichter blieben so ernst wie immer.
»Das ist kein Scherz, mein Junge. Die Frau hat bisher nichts erreicht in ihrem Leben, bis auf ihren Collegeabschluss. Sie ist das einzige Kind von Godluc und wird eines Tages alles erben. Bis dahin will Clint sichergehen, dass seine Tochter gelernt hat, die Geschäfte zu führen. Er weiß natürlich, wie gut du dich bei uns bisher gemacht hast. Das hat er gestern mehrmals erwähnt.«
Eine Tieraktivistin! Ja, das passte zu ihr. »Aber gleich heiraten? Und wie stellt ihr euch das vor? Ich hab Lucinda schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Außerdem wird sie ganz bestimmt nicht einwilligen.«
»Das hat sie bereits.« Mutter konnte sich ein siegessicheres Grinsen nicht verkneifen. »Die Hochzeit findet morgen statt.«
»Was? Ihr seid ja verrückt. Ich kann doch nicht morgen schon heiraten?«
»Doch! Es ist alles vorbereitet.« Ungeduldig sah sie auf ihre Armbanduhr. »Wir sollten uns beeilen. Clint und Lucinda müssten in einer halben Stunde hier sein. Dann könnt ihr euch ein wenig kennenlernen und ein paar Details besprechen. Ich erwarte von dir, dass du dich diesmal an deine Pflichten hältst, und alles tust, um die Firma zu retten.«
Mir fehlten die Worte. Ich wusste schon immer, dass Baldwin Industries oberste Priorität hatte, aber das meine Eltern ihre Firma mir vorzogen, das verletzte mich schon sehr. Ich biss so fest auf meine Zähne, bis sie knirschten. Nach all den Ereignissen war mir nach einem Drink zumute. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich lockerte die Krawatte und öffnete den ersten Knopf meines Hemdes.
Ausgerechnet Lucinda Godluc - die Pummelelfe!
Mein Vater erhob sich und ging um den Schreibtisch herum. Beim Vorbeilaufen drückte er mir die Schulter. »Du wirst sehen, das Jahr wird schnell vorübergehen. Du bringst ihr einfach bei, was sie wissen muss. Natürlich werden wir innerbetrieblich durch die Fusion einige Änderungen vornehmen müssen, aber ich denke, mit Godluc haben wir es nicht ganz so schlecht erwischt. Mit der Fusion ziehen wir unseren Kopf aus der Schlinge.« Er lief zu der kleinen Bar und schenkte uns einen Whiskey ein. Mein Vater wusste genau, wie ich mich gerade fühlte. Als er mir das Glas reichte, bemerkte ich, wie seine Hand zitterte. Ich tat so, als hätte ich nichts gesehen. Diese ganze Sache nahm ihn mehr mit, als er zugeben wollte. Ich sah die ganze Hoffnung, die in seinem Blick lag und mir wurde schlecht dabei, sodass ich ihm nicht länger in die Augen schauen konnte. Die Firma war sein Lebenswerk und es lag an mir, ob wir alles verlieren würden oder nicht.
Ungeduldig wippte Mutter mit dem Fuß, während ich da saß - völlig überrumpelt, wütend und durcheinander.
»Du wirst sehen, Matt. So ein Jahr geht bestimmt schnell vorbei. Und wer weiß? Vielleicht könnt ihr ja Freunde werden in dieser Zeit.«
Ich war nicht in der Lage etwas darauf zu antworten. Meine Mutter hatte ja keine Ahnung.
»Also, auf mich wartet noch viel Arbeit. Dein Anzug wurde heute Morgen schon geliefert, ich habe ihn in dein Ankleidezimmer bringen lassen.« Sie schenkte mir einen versöhnlichen Blick, der nur dazu beitrug, dass ich mich noch mehr gefangen fühlte.
Damit rauschte sie aus dem Zimmer und ließ mich und meinen Vater allein.
Normalerweise trank ich so früh keinen Alkohol, aber das hier und heute war alles andere als eine normale Situation. Als der Alkohol warm meine Kehle hinunter rann, spürte ich, wie ich mich etwas entspannte.
Vater setzte sich wieder in seinen Sessel und musterte mich. »Ehrlich gesagt, können wir froh sein, dass du etwas mit der Tochter von Bill hattest. Denn sonst hättest du Hannah vielleicht verlassen müssen, oder wir wären in eine aussichtslose Katastrophe gesteuert. Wer weiß, ob der Auftrag von Bilfon gereicht hätte, die Firma zu retten.« Er nahm ebenfalls einen Schluck und blickte in die goldgelbe Flüssigkeit in seinem Glas. »Vielleicht ändert Bilfon ja noch seine Meinung. Was hat er eigentlich zu dir gesagt, als er dich mit ihr erwischt hat?«
»Er hat natürlich getobt und ich kann von Glück reden, dass er mich nicht umgebracht hat.« Mein Vater lachte auf.
Bilder dieser Nacht flackerten in meinem Gedächtnis auf und ließen ein schlechtes Gewissen zurück. Schnell versuchte ich, sie mit einem weiteren Schluck, zu verdrängen.
»Ich kann dir nur den Rat geben, treffe mit Godlucs Tochter ein paar Vereinbarungen. Niemand verlangt, dass ihr die Ehe vollziehen oder euch in irgendeiner Form näherkommen müsst. Es ist eine geschäftliche Vereinbarung. Allerdings hat deine Mutter Angst, dass die Sache in der Öffentlichkeit negativ aufgenommen werden könnte. Und damit Lucinda der Presse kein neues Futter liefert, schicken wir euch in die Flitterwochen. Anschließend wird Lucinda hier im Haus ein Zimmer bekommen.«
Das wurde ja immer besser. Ich kippte den restlichen Whiskey in einem Zug hinunter. Panik breitete sich in mir aus. Das Brennen des Alkohols tat gut und half mir, dieses Gefühl einzudämmen. Für ein paar Augenblicke tat es das auch - dann konnte ich nicht länger auf dem Stuhl sitzen und lief unruhig durch das Büro.
»Ich muss mich für ein Jahr an diese Frau binden. In aller Öffentlichkeit den liebenden Ehemann spielen. Ich weiß wirklich nicht, ob ich das kann, Vater.«
»Beruhige dich. So schlimm wird das schon nicht werden, Matt. Sprich mit ihr, ihr könnt trotz allem eure ... Abenteuer haben - da bin ich mir sicher. So, wie ich hörte, ist die junge Frau auch kein Kind von Traurigkeit.«
Ich konnte mir zwar beim besten Willen nicht vorstellen, dass es auch nur einen Mann auf diesem Planeten gab, der sie freiwillig anfassen würde, doch heutzutage gab es die abartigsten Dinge.
»Ehrlich gesagt wundere ich mich, dass sie zugesagt hat, weil ... weil ... sie hasst mich.« Mein schlechtes Gewissen hatte ich jahrelang gut versteckt, es tief vergraben,
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Texte: © Any Cherubim Alle Rechte verbleiben beim Autor. Kopie und Weitergabe sind ausdrücklich untersagt.
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Lektorat: A. Horn / Dr. Andreas Fischer / Sandra Nyklasz
Tag der Veröffentlichung: 10.12.2014
ISBN: 978-3-7368-6353-8
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